Sepia und die Verschwörung von Flohall - Theresa Bell - E-Book

Sepia und die Verschwörung von Flohall E-Book

Theresa Bell

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Beschreibung

Ein Jahr lebt Sepia nun in Flohall und bald muss sie sich in ihrer ersten Prüfung beweisen. Das hält sie nicht davon ab, mit Niki und Sanzio heimlich ein alchemistisches Theaterstück zu besuchen. Doch die Tintenmagie spielt wieder verrückt: Texte verdrehen sich zu kryptischen Botschaften, Tintenwesen berichten von unheimlichen Ereignissen und ein Beben geht durch die Stadt. Wird Flohall von einer Vergangenheit eingeholt, die noch viel dunkler ist als der Tintenkrieg? 
Die Sepia-Trilogie:
Band 1: Sepia und das Erwachen der Tintenmagie
Band 3 erscheint im Frühjahr 2026

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

»Sepia atmete tief ein und rief die Tintenmagie«

Die Tintenwesen sind zurück im funkelnden Flohall und plötzlich spielen die Buchstaben in Sepias Händen verrückt. Wie soll sie so ihre erste Lehrlingsprüfung bestehen? Und was hat das Ganze mit dem uralten Buch zu tun, das angeblich von Flo, der Gründerin der Stadt, geschrieben wurde? Zum Glück muss Sepia diesen Rätseln nicht ohne ihre Freunde Niki und Sanzio nachgehen. Als dann noch eine unheimliche Kreatur durch die Gassen streift, wird ihnen klar: Flohall ist erneut in Gefahr!

Die Autorin

© Wiebke Lück

Theresa Bell, wollte als Kind am liebsten Schauspielerin oder Piratin werden, studierte aber am Ende doch Japanologie und Germanistik. Sie liebt fantastische Geschichten, Kaffee und Zeichnen. Ihre Freizeit verbringt sie fast immer mit einem Stift in der Hand am Schreibtisch, irgendwo im Internet oder durch ihre Wahlheimat Hamburg streifend.

Theresa Bell auf Instagram: https://www.instagram.com/theresabellauthor/

Der Verlag

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Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Theresa Bell

Sepia und die Verschwörung von Flohall

Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov

Thienemann

Lernen wir träumen, darin finden wir vielleicht die Wahrheit.

Friedrich August Kekulé (1829–1896)

Mitternachtsgeschenke

Rosmond, der sechste Monat des Jahres

Es war schon beinahe Mitternacht und Flohall leuchtete, als seien alle Sterne vom Himmel gefallen. Lichter flackerten in den Straßen und Musik schwebte durch die Nacht. Hier und da huschten Gestalten durch die Dunkelheit – ein paar Nachzügler auf dem Weg zu einer Feier, eine Katze auf der Suche nach Beute oder kleine Schatten aus Tinte und Magie.

Tief in den Vierteln der Stadt, in der Bleiernen Gasse, stand in der Bibliothek der Druckerei Silbersilbe ein Mädchen am Fenster und blickte hinaus in die klare Sommernacht. Auf ihrer Hand saß etwas, das wie ein dicker schwarzgrauer Tropfen aussah. Der Tropfen bewegte sich und streckte zwei kleine Flügel von sich. Drei dunkle Schatten deuteten den Schnabel und die Augen an. Der Tintenvogel drehte den Kopf und sah das Mädchen kurz an, öffnete dann seine rauchigen Flügel und erhob sich in die Luft. Als er davonflatterte, blieben nur ein paar Tintentropfen in der Luft hängen und sanken langsam zu Boden.

Sepia betrachtete ihre Fingerspitzen. Heute schimmerten ihre Nägel schwarzgrün und die Tinte zog sich in Kringeln bis zu ihren Fingerknöcheln hoch. Seit sie erfahren hatte, dass Tintenmagie durch ihre Adern floss, wurden ihre Kräfte mit jedem Tag stärker. Noch vor einem Jahr hätte sie ihre Hände am liebsten versteckt, doch das war vorbei. Sepia liebte es jetzt, wie die Tinte je nach Stimmung ihre Farbe änderte. Nur hatte sie noch immer nicht ganz verstanden, wie diese Magie tatsächlich funktionierte.

Ein Klimpern holte sie aus ihren Gedanken und einen Augenblick später glitt ein kleiner Bleibuchstabe, ein S, über ihr Handgelenk und begann, um ihre Finger zu tänzeln.

»Na, bist du aufgeregt?«, fragte sie das magische kleine Werkzeug und der Buchstabe flitzte ihren Arm entlang und verschwand in ihrer Brusttasche.

»Ich hab’s gleich!«, erklang hinter ihr nun eine Stimme und Sepia drehte sich um. Ihre beste Freundin Niki wühlte in einem großen Beutel und beförderte im hohen Bogen ein paar krümelige Zitronenkekse, ein blaues Stofftaschentuch und Papierknäuel auf den Boden.

Daneben stand ihr bester Freund Sanzio und sah kopfschüttelnd dabei zu. »Kommt schon, wir müssen runter«, drängte er und deutete zur Tür. »Es geht gleich los und im Gegensatz zu deiner Mutter weiß Silbersilbe nicht, wann man sich kurzfassen sollte. Er wird ganz sicher eine ewig lange Rede halten.«

»Silbersilbe!«

Wie um Sanzios Worte zu bestätigen, schallte der Name von unten zu ihnen herauf. Schon den ganzen Abend über waren Gäste in die Druckerei geströmt und das diesjährige Funkelfest näherte sich seinem Höhepunkt. Sepia schloss das Fenster und ging zu ihren Freunden. Alle drei trugen ihre besten Sachen, so dunkel wie der Nachthimmel.

»Da sind sie ja!« Niki zog den Kopf aus dem Beutel und richtete sich schwungvoll und mit wild zerzaustem Haar auf. In der Hand hielt sie zwei dünne Stäbchen aus glänzendem Metall.

Sanzio runzelte die Stirn. »Sternfeuer? Das kannst du doch auf dem Mondmarkt kaufen.«

»Das habe ich selbst gemacht, du Fliegenkopf!«, erklärte Niki empört und hielt ihm das Stäbchen unter die Nase.

»Selbst gemacht?« Sepia nahm eines vorsichtig in die Hand. »Und die funktionieren?«

»Wenn du meinst, ob sie fliegen können und um dich herumtanzen, dann nicht«, gab Niki zu und wurde ein wenig rot um die Nase. »Aber sie brennen!«, fügte sie stolz hinzu.

Sanzio hob eine Augenbraue. »Also sind das nur … lange Kerzen.«

Niki verschränkte die Arme. »Das war eine vertintenteufelte Arbeit! Das Pulver dafür kann man nur zu Vollmond anrühren, sonst funktioniert die ganze Sache nicht. Ich habe also insgesamt zwei Monate gebraucht, um sie herzustellen, und du willst wirklich meine Funkelfestgeschenke infrage stellen?«

»Nichts läge mir ferner!«, sagte Sanzio versöhnlich und griff dann nach seinem Mantel, der auf dem großen Sessel lag. »Wo wir schon dabei sind, Geschenke auszutauschen … das ist für euch.« Feierlich überreichte er jeder von ihnen ein sehr dünnes Büchlein.

Sepia nahm ihres in die Hand und strich über die feste dunkelblaue Pappe. Es war etwas schief gebunden und ein paar Leimflecken klebten auf dem Einband. Neugierig schlug sie das Buch auf. Alle Seiten waren leer.

»Ich habe sie selbst gemacht«, nuschelte Sanzio. »Eigentlich bin ich noch lang nicht so weit, ganze Bücher zu binden und sie sind nicht perfekt –«

»Das ist großartig! Keine Widerrede!«, unterbrach ihn Sepia lächelnd.

»Ja, für ein Notizbuch gar nicht übel«, sagte Niki, grinste breit und blätterte vorsichtig durch ihr eigenes goldgelbes Büchlein.

Jetzt zog Sepia zwei schmale Umschläge hervor. »Das hier ist von mir.«

Nervös wippte sie auf den Zehen vor und zurück und beobachtete, wie Niki und Sanzio zwei kleine Papiertiere aus den Umschlägen zogen. Nikis Tier hatte einen rot gestreiften Körper mit langen Armen und Beinen, einen Katzenkopf und Vogelschwingen. Sanzios hingegen hatte einen Eulenkopf und der menschliche Körper schillerte in vielen Grüntönen. Sepia hatte die einzelnen Gliedmaßen mithilfe von kleinen Metallnadeln verbunden, sodass sie beweglich waren wie Gliederpuppen.

»Das ist wunderschön!« Staunend bewegte Niki die weißen Flügel ihres Katzenvogels.

Sanzio steckte seine Eulenfigur vorsichtig in die Brusttasche seines Hemds und in diesem Moment rief unten jemand mit lauter Stimme: »Die Rede!«

Sofort wurde das Stimmengewirr in der Druckerei leiser.

»Wenn ihr mich fragt, könnten wir auch einfach in deinem Zimmer bleiben«, meinte Niki und gähnte. »Ich will Silbersilbe nicht zu nahe treten, aber es hätte nicht erst die halbe Druckerei abbrennen müssen, damit ihr alle eure eigenen Zimmer bekommt. Wie hast du es nur so lange mit Jenson in einem Schlafsaal ausgehalten?«

»Erinnere mich nicht daran«, antwortete Sepia und schauderte bei dem Gedanken an ihre ersten Monate in der Druckerei.

Sanzio öffnete die Tür. »Na kommt, lasst uns hören, was Silbersilbe dieses Jahr zu erzählen hat.«

Die Druckerei platzte bereits aus allen Nähten. Die Eingangstür stand sperrangelweit offen und noch immer drängten Besucher herein und verstopften den engen Flur der Werkstatt. Die drei bahnten sich einen Weg in die Küche. Der sonst so gemütliche Raum mit dem grünen Kachelofen in der Ecke war bis zum Bersten voll mit Menschen. Der große Tisch bog sich unter einer gigantischen Schale mit Bowle, Krügen voller Minzlimonade, einer riesigen Zitronentorte, Bergen von Zimtbrötchen und Platten mit gegrillten Gemüsespießen. Sepia zwängte sich nach vorn zum Buffet und schnappte sich drei Gläser Minzlimonade. Dann quetschten sie sich durch die vielen Gäste hindurch bis zu der Tür, die von der Küche in den Innenhof führte.

Der Hof war kaum wiederzuerkennen: Der übliche Berg ausrangierter Stühle, Koffer, Tintenflaschen und Druckpressen war fortgeräumt worden und die Steinfliesen glänzten blitzblank. Weiße Wimpelketten spannten sich von einer Seite zur anderen und Kerzen tauchten den Hof in warmes Licht. In einer Ecke hatte Silbersilbe sogar eine winzige Bühne aufbauen lassen und zwei Geigenbaumeister, mit denen er befreundet war, spielten schon den ganzen Abend ein fröhliches Lied nach dem anderen.

Sepia, Niki und Sanzio drängelten sich bis zum Rand des Hofes und kletterten auf einen kleinen Mauervorsprung. Von hier hatten sie eine hervorragende Sicht über die Gästeschar.

Jetzt trat der Druckermeister Aelius Atramento, genannt Silbersilbe, höchstpersönlich auf die Bühne, rückte sein tintenschwarzes Halstuch zurecht und strich seinen silbrig glänzenden Anzug glatt. Neben ihm stand Nikis Mutter Magia Perugina, die großartigste Malerin in Flohall und dazu die eleganteste Frau, die Sepia kannte. Folio Seidenhand, der berühmteste Buchbinder der Stadt, flüsterte ihr gerade etwas zu und nippte breit lächelnd an einem Glas Bowle. Wie immer trug er einen maßgeschneiderten dunkelgrünen Anzug mit goldenen Knöpfen und eine dazu passende Weste.

Einen Augenblick später klopfte Silbersilbe mit einem Löffel gegen sein Glas und die Musik verstummte. Er erhob die Stimme: »Funkelnde Grüße!«

Ein Jubeln ging durch die Menge.

»Ihr habt noch nicht gesungen!«, rief irgendwo jemand.

Silbersilbe ignorierte den Hinweis. »Der Abend neigt sich dem Höhepunkt zu und ich möchte die Gelegenheit nutzen, über das zu sprechen, was war und was kommen wird. Zunächst aber vielen Dank für die Ehre, euch alle meine Gäste nennen zu dürfen.« Wieder verfiel die Menge in tosenden Applaus. »Und das, obwohl sich mal wieder niemand von euch an das Geschenkverbot gehalten hat«, fuhr der Meister fort und nickte vielsagend zu einem Tisch hinüber, der unter einem Berg von Geschenken zusammenzubrechen drohte.

Sepia entdeckte eine absurd riesige Pflanze mit fächerförmigen Blättern und lachte leise. Ein paar Bleiläuse huschten durch das dichte Blätterwerk und Silbersilbe fuhr mit seiner Rede fort.

Sepia hörte nur noch mit halbem Ohr zu und beobachtete lieber die vielen Gäste. Jenson, einer der beiden ältesten Lehrlinge der Druckerei, stand wie immer mit wichtigtuerischer Miene in der ersten Reihe zwischen den Buchbinderlehrlingen Quarto und Demi. Alle drei versuchten ganz offensichtlich, sich gegenseitig zu überragen. Paginas roten Schopf entdeckte Sepia inmitten einer größeren Gruppe von Lehrlingen aus anderen Werkstätten. Dabei standen auch Frida und Georgia, die beiden Lehrlingsmädchen des Atelier Panthea. Im Gegensatz zu Fridas fröhlichem Gesicht starrte Georgia mit düsterer Miene vor sich hin.

»Da vorne ist Medya!«, flüsterte Sanzio plötzlich und winkte einem großen Mädchen zu, das gerade durch die Tür getreten war. Statt ihrer üblichen steingrauen Kleidung trug die Tintendiebin heute ein langes rot-schwarzes Kostüm, das im goldenen Kerzenlicht schimmerte. Nach ihrem Abenteuer im letzten Jahr hatte Medya ihnen beigebracht, wie man aus Bettlaken Seile knoten und mit Enterhaken klettern konnte. Doch nachdem Sepia und Sanzio mehr als einmal schmerzhaft feststellen mussten, dass sie dafür kein Talent hatten, sahen sie lieber regelmäßig Niki dabei zu, wie sie eine Mauer nach der anderen erklomm.

»Silbersilbe hat die Tintendiebe eingeladen?«, flüsterte Niki überrascht. »Ist das nicht ein bisschen riskant für sie?«

»Nicht nur die Tintendiebe«, antwortete Sepia mit leiser Stimme. »Er hat auch den halben Schleich eingeladen, als Dank für die Hilfe im letzten Jahr. Ihr hättet Jenson hören sollen, als er davon erfahren hat. Ich glaube, er befürchtet, Silbersilbe hat den Verstand verloren. Aber der hat nur gesagt: Beim Funkelfest geht es um Freundschaft und die setzt keine Grenzen.«

»Ja, davon hat Jenson natürlich keine Ahnung«, brummte Sanzio.

»Ich hoffe nur, der Stadtrat bemerkt sie nicht.« Niki deutete auf eine Gruppe von sechs Gestalten, die etwas abseits standen, und trotz ihrer dunklen langen Roben nicht ganz ins Bild passten. Sepia schauderte bei ihrem Anblick. Denn der Stadtrat von Flohall hatte eine befremdliche Eigenheit: Seine Mitglieder trugen in der Öffentlichkeit immerzu glatte Masken, die nur zwei kleine Löcher für die Augen aufwiesen. Es war eine Tradition und trotzdem fand Sepia es unheimlich.

»Die wurden wohl aus Höflichkeit eingeladen, wie jedes Jahr«, vermutete Niki.

Sanzio beobachtete den Stadtrat ebenso skeptisch. »Kein Wunder, dass Francesco abgesagt hat. Wo der Stadtrat ist, kann die Garde nicht weit sein.«

Silbersilbe räusperte sich laut. »Und damit ist es wohl nicht übertrieben, wenn ich sage, dass das letzte Jahr für uns alle mehr als turbulent war.«

»Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts«, flüsterte Niki und Sanzio rieb sich nickend über die Narbe über seinem linken Auge, eine Verletzung, die er sich beim Kampf gegen den Alchemisten Regiomontamus und seine Aschegeister zugezogen hatte.

»Doch es wird nicht langweilig!«, fuhr Silbersilbe fort. »Wie jedes Jahr stehen auch in diesem Herbst in allen Werkstätten und Schulen die Prüfungen an. Und diesmal habe ich die Ehre, dass zwei Lehrlinge meiner eigenen bescheidenen Druckerei sogar ihren Abschluss machen werden. Pagina Güldenkorn und Jenson Barmeno werden uns, wenn alles gut geht, in diesem Jahr noch verlassen, um ihre große Wanderschaft anzutreten.« Er deutete auf die beiden ältesten Lehrlinge. Pagina lächelte breit, Jenson reckte sein Kinn noch ein wenig höher.

»Und für alle anderen Lehrlinge steht ebenfalls eine Prüfung an – für manche sogar die allererste.« Silbersilbes Blick wanderte über die Menge, bis er Sepia entdeckt hatte.

Sie schluckte. Die Gedanken an ihre erste Buchdruckprüfung schob sie gern so weit von sich, wie sie nur konnte.

Silbersilbe hob sein Glas. »Doch bis das Lernen und Schwitzen und Bangen beginnt, gibt es auch eine Menge zu feiern, ganz besonders heute Abend. Und wie ich sehe, ist es bereits Zeit für den Funkenflug. Also… lasst uns beginnen!«

Damit gab er ein Zeichen. Sofort erloschen die Lichter und der Hof versank in Dunkelheit. Wildes Rascheln, Murmeln und aufgeregtes Kichern erfüllte die plötzliche Schwärze, als alle Anwesenden nach ihren Kerzen, Flammstäben und Streichhölzern suchten. Nacheinander flackerten überall im Hof kleine und große Lichter auf und Bewegung kam in die Menge. Die Menschen drängelten sich wieder ins Haus, durch die Küche, den Flur und die Haustür hinaus in die Stadt, um das Licht zu feiern.

Auf einmal kam Sepia eine Idee und sie hielt Niki und Sanzio zurück. »Ich habe einen Plan, kommt mit!«

Sie warteten, bis die meisten Gäste die Druckerei verlassen hatten und auch Silbersilbe außer Sicht war. Dann eilte Sepia voraus und wieder die Treppe hinauf, durch den ersten Stock, vorbei an ihrem Zimmer und weiter in den zweiten Stock. Ihr Herz machte einen aufgeregten Satz. Kurz entschlossen erklommen sie die Stufen zum dritten Stock – und zu Silbersilbes Zimmern.

Oben angekommen blickten Niki und Sanzio sich mit großen Augen um. »Ich dachte, es ist euch mehr oder weniger verboten, hier hinaufzukommen«, bemerkte Niki schmunzelnd.

»Na ja«, sagte Sepia grinsend. »Er hat es nie ausdrücklich verboten und außerdem muss er es nicht erfahren, oder?«

Sanzio blickte sich ehrfürchtig um. Es gab nur zwei weitere Türen hier oben, beide waren verschlossen. Dazwischen stand ein einfacher Beistelltisch, auf dem sich ein Berg Briefe stapelte.

»Was ist das denn?« Niki griff neugierig nach den Briefen. »Alle mit dem gleichen Siegel. Vom Stadtrat. Wohl wichtige Korrespondenz, was?«

Sanzio pflückte ihr den Brief aus den Fingern und legte ihn sorgfältig wieder zurück auf den Tisch. »Was uns absolut nichts angeht!«

Niki rollte mit den Augen. »Als ob ihr nicht wissen wollt, was drinsteht.«

»Das war nicht das, was ich euch zeigen wollte«, sagte Sepia gespielt streng, obwohl sie auch neugierig war. Stattdessen deutete sie nach oben zu einer Kordel, die über ihnen im Halbdunkel baumelte. »Sondern das hier.«

Sie zog an der Kordel und an der Zimmerdecke öffnete sich eine Luke. Lautlos glitt eine schmale Leiter herab und kühle Nachtluft strömte ihnen entgegen.

Niki machte große Augen. »Wow! Dieses Haus überrascht einen immer wieder aufs Neue!«

Nacheinander kletterten sie die Leiter hinauf und raus auf das schmale Dach der Druckerei. Auf einem schiefen Dachvorsprung machten sie es sich gemütlich. Unten erstrahlte die Bleierne Gasse im Licht, das sich in den unzähligen Scherben vor Türen, auf Fensterbänken und Balkons spiegelte. Sanzio zog eine kleine blaue Streichholzschachtel hervor und Niki zückte ihre selbst gebastelten Sternfeuerstäbe. Nach ein paar Sekunden zischte es und rote, blaue und violette Funken sprühten in alle Richtungen und tauchten ihre Gesichter in buntes Licht. Und obwohl es kein richtiges Sternfeuer war und die Funken nach wenigen Sekunden wieder erloschen, fand Sepia, dass dieser Abend nicht magischer werden könnte.

Nestors Nussschale

Nach dem Funkelfest versank Flohall für einige Tage in wohliger Sommerträgheit. Die Werkstätten und Geschäfte waren geschlossen und die Menschen tummelten sich stattdessen in den Cafés und am Hafen. Die Aufträge in der Druckerei lagen auf Eis und obwohl sie eigentlich für ihre erste große Prüfung lernen sollte, genoss Sepia die freie Zeit und gemeinsam mit Niki und Sanzio streunte sie nach Herzenslust durch die Stadt. An einigen der langen Sommertage betrat Sepia die Druckerei erst wieder, als es draußen schon dunkel war – die Hosentaschen voller Zimtbrötchenkrümel und neuer Erinnerungen.

Eine Woche später aber erschienen bunte Segel am Horizont und die ganze Stadt erwachte aus ihrer Trägheit. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Gassen: Der schwimmende Markt war gekommen!

Sepia erfuhr an diesem Morgen, dass niemand wirklich sagen konnte, wann der schwimmende Markt stattfand und dass es Jahre her war, seit die Schiffe und Boote das letzte Mal in den Hafen gekommen waren. Auch Sepia, Niki und Sanzio wollten den Schiffsmarkt auf keinen Fall verpassen und bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge am Hafen.

»Wie viele Schiffe kommen denn insgesamt?«, fragte Sepia und versuchte, das Ende der langen Reihe von Masten und Segeln und Schiffsrümpfen zu erkennen. Genau vor ihnen hielt gerade ein schwarz gestrichener Schoner, an dessen Spitze die Gallionsfigur einer schuppigen Meereskreatur prangte.

»Schwer zu sagen, ungefähr hundert werden es bestimmt sein. Manche bleiben auch nur einen Tag oder ein paar Stunden, andere eine ganze Woche«, erklärte Sanzio und schirmte die Augen mit den Händen gegen das gleißende Sonnenlicht ab.

Niki blickte sich fasziniert um. »Vielleicht sind auch ein paar Piraten dabei.«

»Selbst wenn, die würden sich sicherlich nicht zu erkennen geben«, meinte Sanzio. »Vor allem nicht an so einem Tag. Die Garde ist hier.«

Er deutete auf eine Gruppe Wachleute, die sich am Ankerplatz eines riesigen Schiffes aufgestellt hatte und eine Schneise durch die Menschenmenge frei hielt. Muskulöse Frauen und Männer schleppten riesige Kisten, Stoffrollen, Fässer und Holzbalken die Planke herunter und luden sie auf Karren.

Neugierig beobachtete Sepia, wie der erste Karren Richtung Stadt davonzuckelte. »Sieht aus wie Material für ein Zelt oder so etwas.«

»Das glaube ich jetzt nicht!«, rief Niki plötzlich.

Sepia und Sanzio drehten sich zu ihr um. Niki deutete auf ein kleines, rotes Segelschiff, das direkt hinter dem großen Frachtschiff angelegt hatte. Seine Segel waren mit Flammen bemalt und der Bug hatte die Form eines Vogelkopfes. Eine bunt gekleidete, mit Reisetaschen beladene Gruppe stapfte von Deck und eilte in Richtung Stadt.

»Sie sind es wirklich«, murmelte jetzt auch Sanzio wie verzaubert und beide schienen drauf und dran, den Leuten hinterherzurennen.

Sepia runzelte die Stirn. »Könntet ihr mich bitte aufklären?«

»Das sind Theaterleute!«, erklärte Sanzio begeistert.

»Und nicht irgendwelche«, fiel Niki ihm ins Wort. »Das ist die Kompanie Feuervögel!«

»Ein Wandertheater!«

»Die sind berühmt!«

Fasziniert blickte Sepia der bunten Truppe nach. »Wollen wir ihnen folgen?«

Niki schüttelte den Kopf. »Das wäre toll, aber ich muss unbedingt zu Nestors Nussschale. Der Laden ist nur heute hier und ich muss wissen, ob es da Sulfurschwänzler gibt. Die brauche ich unbedingt für meine Experimente. Nicht einmal auf dem letzten Mondmarkt habe ich sie gefunden und das will was heißen. Manar hat mir die Nussschale empfohlen und wenn es sie da auch nicht gibt, bin ich aufgeschmissen.«

»Sulfurschwänzler klingt wie etwas, das man gar nicht finden sollte«, brummte Sanzio. »Wozu brauchst du das überhaupt?«

»Das ist ein Geheimnis.« Niki grinste vielsagend. »Oder eher: eine Überraschung.«

Sepia hakte sich bei Niki unter. »Na schön. Also erst zur Nussschale …«

»… und dann zum Sagensegel!«, schloss Sanzio und schaute sehnsüchtig zu einem prächtigen Schiff hinüber, das schon von weit her auffiel. Statt Planken schien es vollständig aus übereinandergeschichteten Büchern zu bestehen und seine weißen Segel waren über und über mit Worten beschrieben. Die Besatzung trug weiße, ebenfalls beschriftete Gewänder und Sepia beobachtete, wie sie Bücherstapel über das Deck schleppten, und sich die ersten Buchbegeisterten am Steg drängten.

Dagegen wirkte Nestors Nussschale wie ein heruntergekommener Schuppen auf Wasser. Das Boot machte seinem Namen alle Ehre. Es war klein, versank beinahe im Wasser und nur ein schiefes Deckshaus ragte empor. Über der offenen Tür hing ein von Wind und Wetter verblichenes Schild und wies den Weg ins Innere.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, wisperte Sepia und warf einen skeptischen Blick auf den dunklen Eingang.

Niki nickte entschlossen. »Ja, das ist es!«

Die durchgebogene Planke zum Eingang quietschte und knackte unter ihren Füßen und kaum, dass sie das Deckshaus betreten hatten, schien es Sepia, als würden sie in eine neue, chaotische Welt eintauchen.

Bis unter die Decke stapelten sich die eigentümlichsten Objekte. Auf einer Schiffstruhe direkt neben dem Eingang stand ein Schild mit der Aufschrift Echte Schatzkarten zu versunkenen Reichtümern. Die Kiste quoll über von vergilbten Pergamentrollen. An den Wänden bogen sich Regale unter goldenen Ferngläsern, verrosteten Schwertern und Schachteln voll mit glitzerndem Schmuck. Dazwischen hingen Hüte, Steuerräder und Landkarten. Über ihren Köpfen spannten sich die buntesten Flaggen, und völlig unterschiedliche Weltkugeln aus Glas drehten sich in der staubigen Luft. Eine Frau betrachtete gerade eingehend eine riesige Kralle und in einer Ecke wühlte ein Mann hoch konzentriert in einer Kiste voll leuchtender Perlen. Zwischen all den Artefakten saß halb im Dunkel verborgen ein Mann auf einem Stuhl und schlief offenbar. Seine braunen Arme waren mit Tätowierungen übersät und ein wallender roter Bart bedeckte seine Brust.

»Das ist Nestor Narius«, wisperte Niki. »Ihm gehört die Nussschale. Ich habe mal gehört, er hat schon jedes Meer bereist.«

Ein leises Rascheln ließ Sepia aufschauen. Witwe und Waise schwebten dicht unter der Decke. Sepia konnte sich nicht erinnern, dass die beiden Papierkinder ihnen zum Hafen gefolgt waren, aber zwischen den vielen kuriosen Gegenständen fielen sie kaum auf.

»Wo kommen die denn plötzlich her?«, murmelte Sanzio.

»Keine Ahnung, ich habe sie schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen«, antwortete Sepia und winkte den Papierkindern stirnrunzelnd zu. Die beiden raschelten wie zur Begrüßung und schwebten neugierig zwischen einer Weltkugel und einem großen ausgestopften Vogel hindurch tiefer in den Laden.

Sanzio beobachtete sie skeptisch. »Ich sage es nur ungern, aber sie tauchen immer dann auf, wenn sie dich vor etwas warnen wollen. Wie das letzte Mal, als du im Schleich fast in den Graben gefallen wärst. Plötzlich waren sie da und haben dir irgendwie gezeigt, dass das Brett morsch ist.«

»Sie kommen nicht immer, wenn sie mich vor etwas warnen wollen«, widersprach Sepia.

Aber sie blickte nachdenklich zu den Papierkindern auf. Die beiden waren ihnen im letzten Jahr in der Großbibliothek zum ersten Mal begegnet und hatten ihnen aus der ein oder anderen Patsche geholfen. Sie sprachen zwar nicht, doch sie konnten Sepia trotzdem immer wieder ganz deutlich zeigen, was sie ihr mitteilen wollten, und waren in der Tat häufig aufgetaucht, wenn Sepia in Gefahr war.

Die Papierkinder schwebten tiefer in das schummrige Zweilicht des Ladens und hielten vor einem Geländer, das im Dunkel kaum zu erkennen war. Neugierig folgte Sepia ihnen.

»Da geht eine Treppe nach unten!« Sie deutete auf die dunklen Holzstufen.

»Oh, da müssen wir runter!«, rief Niki und hintereinander kletterten sie die schmale Treppe hinab.

Witwe und Waise folgten ihnen leise knisternd. Mit jeder Stufe veränderte sich die Atmosphäre um sie herum und Sepias Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Unten angekommen blickten sie sich fasziniert um. Hier war es noch dunkler und das Schiff wiegte sich sachte im Wasser hin und her. Die Luft war warm und es roch nach Mottenkugeln und Salzwasser. Ein einziger enger Gang führte durch den vollgestopften Schiffsbauch und endete vor einem zerschlissenen Vorhang. Im Gegensatz zu der chaotischen Souvenirsammlung oben ähnelte Nestors Nussschale hier unten einem Museum des Verbotenen. Ein paar wenige Kunden beugten sich leise murmelnd über Tierschädel, die aussahen, als hätten sie einmal Fabeltieren gehört. Sepia näherte sich einer gläsernen Vitrine, in der zehn schimmernde Füllerspitzen lagen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um die kleine Plakette darüber zu lesen:

Die Fingerspitzen

des Tintenteufels

»Wer’s glaubt«, murmelte Sanzio, hielt jedoch Abstand.

Da lief Niki auf eine kleine Sammlung Gläser in einem verstaubten Regal zu.

»Das könnte es sein!« Sie beugte sich über die Gläser und betrachtete jedes einzelne ganz genau, wandte sich dann um und hielt triumphierend ein Gefäß in die Höhe. Darin lagen ein paar jämmerliche vertrocknete Gräser.

»Sieht für mich nicht aus wie irgendwas mit einem Schwanz«, bemerkte Sanzio unbeeindruckt und Niki verdrehte kichernd die Augen. »Es ist eine Pflanze, was hast du denn gedacht?«

Offenbar erleichtert, nicht weiter in der Nähe der merkwürdigen Füllerspitzen sein zu müssen, trat Sanzio näher zu Niki und sie begann ihm zu erklären, was an den Blättern so besonders war.

Sepia schlenderte weiter den Gang hinunter, bis sie vor dem Vorhang ganz am Ende ankam. Erst als sie jetzt genau davorstand, entdeckte sie den Durchgang dahinter. Auf einem von Salz verblichenen Holz über dem Türbogen hing ein unscheinbares Schild:

Verfluchte Objekte. Betreten auf eigene Gefahr!

Langsam schob Sepia den Vorhang zur Seite. Dahinter lag ein weiterer winziger Raum, nicht größer als eine Besenkammer. Die Gegenstände hier unterschieden sich auf den ersten Blick nicht von den anderen kuriosen Waren. Neben dem Gemälde einer griesgrämigen Frau lehnte ein Gehstock mit einer Fratze als Knauf und daneben saß eine alte Puppe auf einem Stapel noch älterer Bücher.

Und dann hing da noch ein Wandspiegel. Er war so klein, dass er Sepia zwischen einer alten Wanduhr und einer Landkarte fast nicht aufgefallen wäre. Der Rahmen war wohl einmal golden gewesen, jetzt war er blassbraun und dunkle Flecken bedeckten die Unterseite. Ein Riss zog sich durch das dunkle Spiegelglas. Auf einer kleinen silbernen Plakette stand in geschwungenen Buchstaben:

Alchemistischer Spiegel aus dem Hause Laskaris. Authentische Antiquität aus dem Tintenkrieg. Wer hineinschaut, soll sein wahres Selbst erkennen.

Sepia fühlte plötzlich, wie die Tintenmagie ihre Hände hinaufkroch und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie sollte das lieber nicht tun, das ahnte sie, doch ihre Neugier siegte. Sie beugte sich ein wenig, um in den niedrig hängenden Spiegel schauen zu können. Ihr Gesicht erschien auf dem Spiegelglas. Das tintenschwarze Haar, die dunklen Augen, geteilt durch den Riss im Glas. Eine leichte Aufregung überkam sie und Sepia wartete, doch ihr Gesicht blieb so, wie es war. Vorsichtig legte sie die Hände auf den Rahmen des Spiegels.

Plötzlich ging ein Beben durch den Schiffsbauch. Die Bücher um sie herum begannen zu wackeln, die Puppe verrutschte, Gläser klirrten. Erschrocken zog Sepia die Hände zurück.

In diesem Moment erschien hinter ihrem Spiegelbild ein weiteres Gesicht. Sepia erstarrte vor Schreck. Dieses Gesicht war nicht … menschlich. Alles, was sie erkennen konnte, war ein fahler, langer und hautloser Schädel. Am Ende seiner knöchernen Schnauze schauten lange Zähne hervor und tiefe Augenlöcher schienen Sepia anzustarren.

Einen Wimpernschlag später war die Fratze verschwunden und hinter Sepia raschelte es. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dieses Wesen nicht im Spiegel war … sondern direkt hinter ihr. Sepia wirbelte herum und sah gerade noch, wie sich eine dunkle Gestalt umwandte und hinter dem Vorhang verschwand. Sie stürzte ihr hinterher, riss den Vorhang zur Seite und prallte mit Niki und Sanzio zusammen.

»Habt ihr das gesehen?«, rief Sepia.

Die beiden hörten kaum zu. Niki packte sie am Ärmel. »Ein Erdbeben, komm schnell, wir müssen nach oben!«

»Da war gerade jemand!«, beharrte Sepia, während Niki und Sanzio sie durch den engen Gang zurück und die Treppe hinaufzogen.

Sie sah sich nach allen Seiten um, aber von der unheimlichen Gestalt war nichts mehr zu sehen. Oben herrschte nervöse Aufregung. Die Leute drängten nach draußen und sogar Nestor Narius war durch das Beben offenbar aus seinem Schlaf erwacht. Leise vor sich hin fluchend stapfte er durch seinen Laden und brachte all die klirrenden Flaschen und umherschwingenden Objekte wieder zum Schweigen. Das Beben war schon wieder verebbt – so schnell, wie es begonnen hatte.

»Kommt, nichts wie raus hier!«, sagte Sepia und wandte sich zur Tür. Sie wollte keinen Moment länger auf diesem Schiff sein.

»Willst du diese Grashalme noch kaufen?«, fragte Sanzio, aber Niki schüttelte den Kopf.

»Vielleicht ein anderes Mal, lasst uns verschwinden.«

Draußen erwartete sie ein roter Sonnenuntergang und der Hafen brummte noch immer. Die Aufregung hatte sich wohl ebenso schnell gelegt, wie das Beben selbst.

Trotz der Sonne zitterte Sepia. Sie senkte die Stimme. »Da unten war jemand«, wiederholte sie und schaute zurück zu dem dunklen Kutter. »Als das Beben losging, ist hinter mir jemand aufgetaucht. Oder etwas. Es hatte kein richtiges Gesicht, eher einen Schädel wie von einer Ratte, nur viel größer.«

Niki und Sanzio sahen sie erschrocken an. »Etwa ein Tintenwesen?«, fragte Niki alarmiert.

Sepia schüttelte den Kopf. »Das ist das Seltsame daran. Ich habe keine Verbindung gespürt. Bei allen anderen Tintenwesen fühlt es sich an wie ein gemeinsamer Herzschlag, wenn wir uns nahe sind. Aber da war nichts. Außer, dass es unheimlich war. Und ihr habt wirklich niemanden gesehen?«

Sanzio und Niki tauschten einen schuldbewussten Blick, dann erklärte Sanzio: »Alle, die da unten waren, sind bei dem Beben nach oben gelaufen. Wenn die … Person eine Kapuze trug, ist sie uns wohl nicht aufgefallen.«

Das war keine Person, wollte Sepia sagen.

Sie dachte an den Spiegel zurück. War da vielleicht gar niemand hinter ihr gewesen? Was, wenn das ein fieser Streich eines seltsamen Zauberspiegels gewesen war? Oder wenn sie tatsächlich ihr wahres Gesicht gesehen hatte? Schnell schob sie die düsteren Gedanken zur Seite.

»Du hattest jedenfalls recht«, sagte sie schließlich zu Sanzio und deutete noch einmal zu Nestors Nussschale. Gerade waren Witwe und Waise unbemerkt aus der offenen Tür geflattert, wie zwei Zeitungsseiten, die der Wind herausgeweht hatte. »Sie wollten mich wohl tatsächlich warnen.«

»Aber wovor?«, fragte Niki und blickte missmutig zurück zu dem schiefen Boot. »Vor dem Beben?«

Sepia zuckte ratlos die Schultern. »Oder vor dieser seltsamen Gestalt. Auch wenn ich nicht weiß, was das da unten überhaupt bedeutet hat.«

Eine Weile betrachteten sie nur das alte Boot, während der Wind ihre Haare zerzauste. »Gehen wir nach Hause«, schlug Niki irgendwann vor und Sepia nickte. Auch Sanzio hatte nichts einzuwenden. Für heute hatte selbst das Sagensegel seinen Reiz verloren.

Ein unerwünschter Auftrag

Als Sepia am nächsten Morgen zum Frühstück in die Küche kam, saßen die anderen Lehrlinge bereits am Tisch. Der Duft von Kaffee, Minze und geröstetem Brot hing in der Luft und auf dem Kachelofen dampfte die Kaffeekanne.

»Es war ein Erdbeben!«, sagte Optima gerade und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. »Ich war in der Violinstraße und da haben sie es auch gespürt. Und sie konnten sich nicht daran erinnern, dass es hier schon mal gebebt hat.«

Pagina bröselte Nüsse über ein Stück Brot mit Zitronencreme und griff nach der Morgenzeitung. »Das ist trotzdem kein Grund, gleich in Panik zu verfallen.«

Sepia wollte sich gerade eine Tasse Zimtmilch eingießen, da flog die Tür abermals auf und Silbersilbe stürmte herein.

»Gibt es noch Kaffee?«, rief er zerstreut und klopfte suchend seine schwarze Schürze ab.

Ohne von ihrer Flohaller Fußnote aufzusehen, nickte Pagina zum Kachelofen. »Im Kessel.«

»Wo habe ich denn meine Brille schon wieder gelassen?« Verwirrt schaute Silbersilbe an sich herunter und Sepia musste grinsen. Sie deutete auf seinen Kopf. »Die steckt in deinem Haar.«

Silbersilbe seufzte und fischte die Brille aus seinem wirren Haarschopf. »Natürlich, da hat sie sich versteckt! Danke, Sepia.« Dann goss er sich einen riesigen Becher Gewürzkaffee ein, gab gesüßte Nussmilch dazu und ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen.

Eine Weile war nur das leise Gluckern im Kessel und das Rascheln der Zeitungen zu hören. Die warme Milch und der behagliche Morgen vertrieben langsam das ungute Gefühl vom Vortag aus Sepias Bauch. Durch den Dampf ihrer Tasse beobachtete sie, wie Silbersilbe gerade mit hoch konzentrierter Miene den sechsten Löffel Zucker in seine Tasse gab. Die Zwillinge Caslon und Melior beobachteten ihn mit Gesichtern, als habe er den Verstand verloren.

Als er die Blicke bemerkte, räusperte Silbersilbe sich und nahm Haltung an. Hastig sagte er: »Zu meiner Verteidigung: Süßes am Morgen vertreibt …«

In diesem Augenblick schlug Pagina mit einem lauten Klatschen die Fußnote auf den Tisch. Silbersilbe verschluckte sich an seinem Kaffee.

»Hast du das gewusst?«, rief sie und hielt ihm die Zeitung unter die Nase.

Jenson grummelte missbilligend. Silbersilbe hatte den Lehrlingen schon vor Monaten angeboten, ihn nicht mehr Meister zu nennen. Er behauptete, das fühle sich schrecklich alt an. Aber Sepia ahnte, dass es eher mit den Ereignissen zu tun hatte, die sie alle im letzten Jahr durchgemacht hatten. Wenn man gemeinsam dem Tod entkommen war, verloren Rangordnungen wohl an Bedeutung. Nur Jenson liebte Rangordnungen, das wusste Sepia zu gut. Er hatte Silbersilbes Angebot ignoriert und sprach ihn weiterhin mit so großer Ehrerbietung an, dass es für alle peinlich war außer für ihn selbst.

»Was gewusst?«, krächzte Silbersilbe hustend und wischte sich Tränen aus den Augen.

Pagina las vor: »Überraschend! Neue Stadtratsvorsitzende Henrica Dornblatt verkündet gleich zwei Unglaublichkeiten!«

Sepia horchte auf.

»Ein Ereignis, das es seit dem Tintenkrieg nicht mehr in Flohall gegeben hat. Die Entscheidung hat für große Aufregung im Stadtrat gesorgt, wie ein anonymer Hinweisgeber der Fußnote mitteilte. Nach mehr als dreizehn Jahren wird zum ersten Mal wieder der Floball stattfinden – vermutlich das nach dem Funkelfest größte Fest der Stadt!«

»Der Maskenball?«, rief Jenson entrüstet und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kommt man darauf, so ein gefährliches Fest zu geben? Mit Masken! Jeder könnte sich dort herumtreiben, absolut jeder und man hätte keine Ahnung, wer sich unter den Verkleidungen versteckt! Fremde, Magierinnen, Tintendiebe, Alchemisten – Leute, die dort nichts zu suchen haben. Niemand könnte es kontrollieren!«

»Das klingt doch großartig«, sagte Sepia herausfordernd.

Jenson funkelte sie giftig an.

Da hob Silbersilbe die Hand. »Beruhigt euch. Um auf deine Frage zurückzukommen, Pagina, ja, ich habe davon gewusst. Ich bin froh, dass der Stadtrat es endlich offiziell macht.«

Jenson stand auf, beugte sich über Paginas Schulter und überflog den Artikel. Aufgebracht las er vor: »Der Floball soll in diesem Jahr traditionell zum Abend des Laubmond 31 stattfinden.« Er tippte mit dem Finger auf die Seite. »Das ist am Abend der Prüfung! Wie kommen sie denn auf so eine verrückte Idee?«

Noch bevor Silbersilbe etwas antworten konnte, las Jenson weiter vor. »Außerdem, so wurde uns zugetragen, soll es anlässlich des Floballs und der Großprüfung der Lehrlinge eine Sensation geben, wie man sie in Flohall noch nie erlebt hat. Wenn wir das als seriöse Zeitung anmerken dürfen: Wer sich dieses Ereignis entgehen lässt, ist ein kolossaler Fliegenkopf und sollte aus der Stadt gejagt werden. Denn es wird nichts Geringeres zu sehen sein, als das älteste Schriftstück Flohalls. Das wertvollste Buch innerhalb dieser Mauern, angeblich mit Drachenblut geschrieben von der Gründerin unserer Tintenstadt: Das Herz von Flohall.«

Niemand sagte ein Wort. Caslon und Melior hatten aufgehört zu essen und starrten Jenson mit weit aufgerissenen Augen an und Optima fiel ein Stück Brot aus dem offenen Mund. Sepia verstand nicht, was so erstaunlich war, doch jedes Wort in dem Artikel klang aufregend.

Ein lautes Klappern ließ alle zusammenzucken. Silbersilbe hatte seinen Löffel auf den Tisch fallen lassen. Sein Gesicht war bleich geworden und nach einer gefühlten Ewigkeit murmelte er schließlich: »Warum um alles in der weiten grünen Welt sollte irgendjemand dieses Buch ans Tageslicht holen?«

Ohne weitere Erklärung sprang er auf und verließ fluchtartig die Küche. Sepia hörte, wie er die Treppen hinaufstürmte.

»Was hat das denn zu bedeuten?«, fragte Optima verwirrt.

»Warum ist dieses Buch so besonders?«, fügte Sepia hinzu.

Jenson verdrehte die Augen. »Hast du nicht zugehört? Es ist das wertvollste Objekt in dieser Stadt, nicht mal irgendein Buch der drei Meister selbst könnte es damit aufnehmen.«

»Ich habe zugehört, du bist ja nicht zu überhören. Du hast leider nicht erklärt, was in diesem Buch steht, das es so wertvoll macht«, erwiderte Sepia und amüsierte sich über Jensons wütenden Gesichtsausdruck.

»Darin steht die Gründungslegende von Flohall«, unterbrach Pagina ihr Wortgefecht und legte die Zeitung zur Seite.

Sepia runzelte die Stirn. »Die Legende von Flo und dem Tintendrachen? Die kennen hier doch alle. Warum sollte das Silbersilbe etwas ausmachen?«

»Und warum sollte so ein Buch überhaupt etwas Besonderes sein, die Legende kann man in jedem Buchladen Flohalls kaufen«, murmelte Optima. Caslon und Melior nickten.

Pagina seufzte. »Hört zu, ich weiß es auch nicht sicher. Es gibt da ein Gerücht über dieses Buch, eigentlich ist es ein Ammenmärchen, nicht mehr als ein Witz.«

Jenson schnaubte verächtlich. »Ach komm schon, du meinst doch nicht …«

»Sie hat danach gefragt!«, verteidigte Pagina sich, dann wandte sie sich wieder Sepia zu. »Also, es stimmt, die Legende wurde etliche Male geschrieben, gedruckt und erzählt. Doch dieses Buch ist anders. Es heißt, dieses Buch habe Flo selbst geschrieben. Es ist die Legende. Die erste.«

Caslon schnaubte und Optima lachte kurz auf. »Sie ist eine Sagengestalt! Ich weiß ja, dass es hier so einige eigentümliche … Wesen gibt.« Optima warf Sepia einen Blick zu, den sie nur stur erwiderte. »Aber das geht zu weit. Das ist ein Märchen, mehr nicht. Das erklärt nicht, warum Silbersilbe reagiert hat, als hätte ihm jemand seine Zimtmilch weggenommen!«

Sepia schwieg. War das, was Pagina sagte, wirklich so unmöglich?

Jenson stand auf. »Wie auch immer, es ist Zeit, also lasst uns mit der Arbeit anfangen.«

Sepia hatte keine Gelegenheit, Silbersilbe zu fragen, was ihn so erschreckt hatte, denn den restlichen Morgen fehlte von ihm jede Spur. Erst am Nachmittag betrat er wortlos die Werkstatt und begann, ein paar Papiere zu sortieren. Anspannung hing in der Luft und die Druckerei war ungewöhnlich aufgeräumt. An den quer durch den Raum gespannten Leinen hing kein einziges Blatt Papier, alle Bleilettern in den Setzkästen waren sortiert und der Boden gefegt.

Silbersilbe drehte sich zu seinen Lehrlingen um. Er schien nicht ganz bei der Sache zu sein und betrachtete stirnrunzelnd seine Notizen. »Also gut, fangen wir an. Heute ist der …« Er grübelte kurz und nickte dann, »… vierundsechzigste Übungstag für die Große Flohaller Lehrlingsprüfung. Ihr wisst natürlich schon, was euch in zwei Monaten erwartet. Und ihr wisst, dass ich weiß, dass ihr es wisst, doch die Tradition verlangt nun mal, dass ich vor jeder Übung die Prüfung erkläre. Also, lasst euch von diesem alten Mann hier noch ein weiteres Mal erzählen, was ihr ohnehin schon wisst, und nehmt so viele Ratschläge mit, wie ihr könnt. Bei dieser Prüfung muss jede und jeder Einzelne von euch eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Und insbesondere für dich, Sepia, wird es eine echte Herausforderung sein, weil es deine Erste ist.«

Sepia nickte beklommen.

»Die erste Prüfung der Buchdruckkunst betrifft nur das Schriftsetzen, allerdings läuft sie wie alle anderen Prüfungen auf Zeit. Und du musst sehr sorgfältig sein. Denn es geht um Schnelligkeit, Perfektion und Kreativität. Jeder einzelne Buchstabe muss den richtigen Abstand zum letzten haben, jedes Satzzeichen will mit Bedacht arrangiert sein. Du musst den Text lesen können, obwohl du ihn spiegelverkehrt und auf dem Kopf stehend setzt. Und das alles auf Zeit. Glaub mir, das kann ganz schön die Augen verwirren und das Hirn aufweichen. Bei meiner Prüfung damals war es mein Kollege Borgis Korpus, der ganze drei Tage mit dem Setzen eines einzigen Absatzes verbracht hatte, bis man den völlig aufgelösten Borgis von den Setzkästen wegzerren musste. Natürlich wurde er disqualifiziert, der Gute war völlig besessen von Perfektion und ging danach zur Erholung für ein Jahr auf die Wolkenquellinseln. Aber ich muss zugeben, sein Satz war wahrlich makellos.« Für einen Augenblick starrte Silbersilbe in Erinnerungen versunken in die Luft, bis sich Pagina leise räusperte.

Der Meister blinzelte ertappt. »Wo war ich? Ah, die Zeit! Zeit ist alles. Heute üben wir zum ersten Mal mit der genauen Prüfungszeit, nämlich einer ganzen Stunde. Seid ihr bereit?«

Alle Lehrlinge nickten und Sepia setzte sich auf ihren Platz vor den Setzkästen. Ein leises Rasseln erklang hinter ihr und sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. In der Ecke, gleich neben der Tür hatte sich eine kleine Gruppe Bleiläuse versammelt, die das ganze Geschehen vergnügt zu beobachten schien. Der lebendige Metallbuchstabe in ihrer Hosentasche machte dagegen keine Anstalten, sich zu bewegen. Kein beruhigendes Stupsen und nicht mal ein aufgeregtes Pieksen.

Silbersilbe hob die Hand und schon war es so weit. »Los!«, rief er und Sepias Kopf wurde leer gefegt. Sie las den Übungstext, der vor ihr lag. Es war ein Rezept: