Serafina - Marie Louis - E-Book

Serafina E-Book

Marie Louis

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Beschreibung

Königreich Bayern, 1851 Eine sorgsam arrangierte Ehe gehört zur obersten Pflicht der privilegierten Nachkommenschaft des Adels, um in der hierarchisch geordneten Gesellschaft aufzusteigen. So auch für Serafina, die erstgeborene Tochter des machtbewussten Grafen Lennard. Ungewollt durchkreuzt sie die Pläne ihres Vaters, als sie einem Sintojungen das Leben rettet und sich schützend vor einen Fremdling stellt. Missfällig löst Fürstensohn Immanuel die Verlobung und wendet sich von ihr ab. Um dem gesellschaftlichen Niedergang zu entgehen, trifft Graf Lennard im Namen Serafinas ein Heiratsarrangement mit dem unbekannten Conte Vittorio di Braida aus dem königlichen Italien. Zutiefst gedemütigt nimmt Serafina Reißaus und verirrt sich in das Lager jener Sinti, dessen Kind sie vor dem Ertrinken bewahrt hatte. Obwohl sie eine Gadschen ist, wird sie an das nächtliche Lagerfeuer geladen. Fasziniert von dem fremden Volk taucht Serafina in das Leben der Sinti ein und verliert ihr Herz an den fremdartigen Najuk, der sie vom ersten Augenblick in den Bann gezogen hat. Einzig die verworrene Weissagung einer alten Sinteza schwebt wie ein trübkalter Herbstnebel über ihr, welche ihren Lauf nimmt, als sie in derselben Nacht nach Hause gebracht wird, um ihrem neuen Leben als Contessa di Braida entgegenzutreten. Doch als Dante Vittorio di Braida am Tag der Hochzeit seine Aufwartung macht, schlägt Serafina widerspenstig die mahnenden Worte der Prophezeiung in den Wind: Jeder nur nicht ER! "Höre den Rat der Gerechtigkeit: Wäge klug ab. Entscheide besonnen und wohlüberlegt. Sei dir bewusst, dass du für alles Weitere selbst verantwortlich bist." Abschließender Ratschlag der Prophezeiung.

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Ähnliche


Marie Louis

Serafina

und Die Prophezeiung der Sinti

Impressum

© Telescope Verlag 2022

www.telescope-verlag.de

Lektorat: Vanessa-Marie Starker

Cover Foto: Agnes Herda Photo

Model: Tamara Roming

Hast Du die Wahl zwischen einem guten Buch und der Liebe, dann entscheide Dich für das Buch.

Denn dort gibt es die Liebe, die Du so nie findest.

Marie Louis

Kapitel 1

1851 Königreich Bayern

Es war leise. Zu leise! Auch wenn Serafinas Schwester Sophie samt deren Freundinnen versichert hatten, dass sie sich still verhalten würden, so war es doch zu ruhig. Kein Getuschel, kein dezentes Gekicher – nichts! Es war nicht einmal das Gezwitscher der ansonsten so ausgelassenen Vögel zu hören. Serafina öffnete seufzend ihre Augen und blickte direkt in die mächtige Baumkrone der alten Eiche, welche sie mit ihren wuchtig knorrigen Ästen überragte. Die Blätter wiegten sich sanft unter der lauen Brise des Sommerwindes, so dass ab und an das strahlende Blau des Himmels hindurchblitzte. Es war ein herrlicher Sommertag und das kühle Wasser des Flusses umschmeichelte ihre nackten Füße, während sie entspannt am Flussufer im Gras lag. Mit einem verträumten Lächeln wackelte sie mit ihren Zehen und blinzelte dem friedvollen Sommerblau des Himmels entgegen. Hätte ihr Verlobter sie so sehen können, wäre er bei diesem Skandal augenblicklich im Erdboden versunken. Schlimm, dass sie als Dame von Stand ihre Füße in der Öffentlichkeit entblößte, noch schlimmer war die Tatsache, dass sie diese im Fluss badete.

Normalerweise nahm Serafina niemanden zu ihren heimlichen Ausflügen mit, doch Coletta, die Gouvernante, hatte ihr für den heutigen Tag die Verantwortung für ihre liebreizende Schwester aufgedrängt. Natürlich war diese kein Dummkopf. Sie hatte des Öfteren ihre ältere Schwester verschwinden sehen, sich stets gefragt was diese wohl trieb und hatte die Gunst der Stunde prompt ausgenutzt, indem sie vehement darauf bestanden hatte, dieses Mal mitkommen zu dürfen. Nur widerwillig hatte Serafina dem Drängen ihrer jüngeren Schwester nachgegeben, sie aus dem tristen Alltag, unter welchem nur Damen aus feinem Hause zu leiden schienen, zu befreien, indem sie mit an den Fluss dürfe. Sophie hatte allerdings hoch und heilig schwören müssen, niemandem von dem kleinen Ausflug oder gar dem geheimen Plätzchen am Flussufer zu erzählen. Natürlich war ihre geschwätzige Schwester dem nicht nachgekommen, denn dummerweise hatte Serafina das Wort niemand nicht genau spezifiziert und nicht extra betont, dass dies auch ihre Freundinnen einschließen würde. Und nun war Serafinas geheimes Plätzchen nicht mehr geheim.

Bedauernd setzte sich die junge Frau auf. Das grüne warme Gras kitzelte dabei ihre Handflächen. Sie strich sich ihr langes, schwarzbraunes Haar aus dem Gesicht, während ihr Blick die ungewöhnlich stillen Frauen, die sich in der Nähe befinden mussten, suchte. Schließlich entdeckte sie diese nicht unweit der mächtigen Eiche flussaufwärts. Dicht aneinandergedrängt starrten sie gemeinsam auf den breiten Fluss hinaus. Serafina kniff ihre Augen zusammen und folgte den Blicken. Die Wasseroberfläche reflektierte glitzernd die Sonne, so dass sie im ersten Moment außer dem sanften Dahinströmen nichts erkennen konnte. Doch dann entdeckte sie ein kleines Bündel, welches auf dem Wasser trieb. Langsam erhob sie sich, um besser sehen zu können. Als würden ihre Bewegungen die Frauen aus ihrer Starre reißen, begannen diese wie wild zu gestikulieren.

„Das ist ein Kind!“ Eine der Gesellschafterinnen presste sich entsetzt eine Hand auf den Mund. „Es wird ertrinken!“

„Jemand muss es retten!“

„Bist du noch ganz bei Trost!“ Serafinas Schwester stupste jene, die gesprochen hatte, angewidert an. „Das ist sicher ein Zigeunerbalg. Von denen gibt es schon genug!“

„Aber dafür kann das Kind doch nichts.“

Das Wispern der Zurechtgewiesenen erstarb beinahe unter der scharfen Geziertheit Sophies. „Also wirklich, auf wessen Seite stehst du überhaupt? Dieses Pack bringt nur Verderben, Krankheit und Streit in unser Land. Einer mehr oder weniger, was macht das schon?“

Serafina hörte nicht weiter zu. Sie riss sich ihr Jäckchen herunter und zog mit zittrigen Fingern, die plötzlich ungewöhnlich starr waren, an den Schnüren ihres Überrocks. Nur mühsam unterdrückte sie ein herzhaftes Fluchen. Diese Kleidung war nicht nur erniedrigend, sondern eine Zumutung für jede Frau. Wenn die hohen Herren ihre Kleider selbst anziehen müssten, würden sie eine derart groteske Garderobe erst gar nicht schneidern. Besorgt schnellte ihr Blick zu dem Bündel auf dem Fluss, welches genau in diesem Moment an ihr vorbeitrieb. Mit einem tiefen Knurren löste sie die letzte Verschnürung und warf den Überrock zu Boden. Vielleicht war es noch nicht zu spät! Mit einem Satz sprang sie in den Fluss. Das Wasser schlug über ihr zusammen. Keuchend stieß sie die Luft aus ihren Lungen. Dass es so kalt sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Beinahe panisch kämpfte sie sich an die Oberfläche. Sie war keine gute Schwimmerin, schließlich schickte es sich nicht für eine Frau, sich außerhalb einer Badewanne in unbekannte Gewässer zu begeben. Allein ihren heimlichen Ausflügen zum Fluss hatte sie es zu verdanken, dass sie sich wie ein sonnenverbrannter Frosch über Wasser halten konnte – glaubte man zumindest den hilflosen Worten des Stalljungen, der ihre mühseligen Bemühungen stets mit einem verzweifelten Lächeln kommentiert hatte.

Mühsam durchbrach sie die Wasseroberfläche. Dass die Frauen am Uferrand, allen voran ihre Schwester, hysterisch kreischten, bekam sie gar nicht mit. Wo war das Kind? Ihre Finger wurden steif und ihre Zähne begannen zu klappern. Nur am Rande registrierte sie, dass der sanfte Fluss gar nicht so friedfertig war wie angenommen, sondern eine trügerische Strömung besaß. Sie trieb schneller ab, als ihr lieb war. Da entdeckte sie das Kind. Es bewegte sich nicht und trieb ein Stückchen vor ihr. Entschlossen kämpfte sie sich in seine Richtung. Immer wieder ging sie unter, immer wieder kämpfte sie sich hoch. Hustend und prustend holte sie schließlich das Kind ein. Sie krallte danach und bekam es auch tatsächlich zu fassen, so dass sie es zu sich heranziehen konnte. Bei dem Versuch, dessen Kopf aus dem Wasser zu hieven, ging sie unter. Obwohl sie ihr Oberkleid ausgezogen hatte und nur noch das Unterkleid trug, versuchte das Gewand sie in die Tiefe zu reißen. Dumpf vernahm sie das Schreien der Frauen, sowie die schrille Stimme ihrer Schwester, die das Geschrei ihrer Freundinnen grell übertönte. Serafina war zum ersten Mal für den gellenden Tonfall Sophies dankbar, denn so wusste sie, in welche Richtung sie strampeln musste. Erneut ging sie unter, während sie ihre Arme weit über ihren Kopf hochstreckte, um das Kind nicht mit in die Tiefe zu reißen. Als ihre Zehenspitzen im schlammigen Sand eintauchten, hätte sie beinahe vor Erleichterung aufgeschluchzt. Das Ufer konnte nicht mehr weit sein. Sie stieß sich vom Boden ab und kam wieder an die Oberfläche. Röchelnd blinzelte sie das Wasser aus ihren Augen. Die Böschung war nur drei Armlängen von ihr entfernt. Dankbar schluchzte sie auf, augenblicklich bahnte sich der Fluss einen Weg in ihre Lungen. Von heftigem Husten geschüttelt, presste sie das Kind an sich, während sie die letzten Schwimmversuche unternahm. Wild um sich schlagend kämpfte sie sich auf das Ufer zu. Wimmernd krallte sie nach dem Gras der Böschung, doch Halme entglitten ihren nassen Fingern. Serafina schrie innerlich auf. Verzweifelt angelte sie nach dem nächsten Büschel und dieses Mal bekam sie es, ohne abzurutschen, zu fassen. Doch der Strom des Flusses zog unerbittlich an ihr. Hilflos musste sie mitansehen, wie das Grasbüschel unter der Kraft des zerrenden Stroms nachgab und samt Wurzeln aus dem Boden gerissen wurde. Dieses Mal schrie sie laut auf. Mehr verzweifelt denn überlegt, krallte sie nach allem, was als rettender Anker dienen konnte, und bekam schließlich die dünne Wurzel eines Busches, welche aus der Böschung herausragte, zu fassen. Diese bog sich unter der Macht der Strömung, die an der Hilfesuchenden zerrte, hielt jedoch stand. Keuchend zog sich Serafina mit aller Kraft zum Ufer, hievte das leblose Kind an Land und kletterte schwerfällig hinterher. Heftig hustend rutschte sie auf den Knien zu dem bewegungslosen Körper, beugte sich darüber und drehte es auf den Rücken. Das Wasser tropfte an ihr herab und behinderte ihre Sicht. Zitternd strich sie sich das Nass aus dem Gesicht. Das Kind mochte gerade mal zwei Jahre alt sein, es hatte pechschwarzes Haar und obwohl es einen dunklen Hautton hatte, wirkte die Haut bleich und wächsern, so dass das Netz der Adern unheimlich hindurchschimmerte. Serafinas Herz setzte aus, ihr Magen wurde flau. Es kostete sie enorme Kraft, das leblose Bündel zu berühren. Völlig geschwächt rüttelte sie daran. Es bewegte sich nicht. Wie in Zeitlupe setzte sie sich auf ihre Fersen und starrte auf die Hände. Sie zitterten, waren Blau und begannen zu schmerzen. Und da überkam sie von einer Sekunde auf die andere Panik. Wie von Sinnen riss sie das Kind zu sich, legte es mit dem Bauch auf ihre Oberschenkel, so dass der Kopf über ihre Knie nach unten hing. Ohne zu wissen, was sie tat, begann sie auf den Rücken des Kindes einzudreschen. Sie konnte nicht denken, konnte nichts fühlen – sie funktionierte nur. So bemerkte sie auch nicht Sophie und ihre Freundinnen, die sie panisch umringten und hysterisch auf sie einredeten. Immer wieder schlug Serafina dem Kind auf den Rücken. Atme! So atme doch endlich! Bitte! Oh, Herr! Alles um sie herum schien schwarz zu sein, sie konnte nicht hören, nichts sehen, sie konnte nichts anderes tun, als auf den winzigen Rücken einzuschlagen. Und so bemerkte sie nicht, wie das Wasser aus Mund und Nase des Kindes ran. Alles was sie wahrnahm, war die unnatürliche Schwere des kleinen Körpers, welcher keinem Lebewesen mehr glich, sondern einem toten Etwas. Die Beinchen und Ärmchen baumelten leblos im Takt der Schläge, der Kopf wirkte grotesk verdreht.

Das Kind atmet nicht – ich habe versagt! Endlose Leere überkam Serafina. Unbemerkte Tränen strömten über ihr Gesicht, während sie dumpf aufgab. Sie rollte das Kind von ihrem Schoß und ließ sich kraftlos sitzend ins Gras fallen, dabei stellte sie die Beine auf, um dann schutzsuchend ihre Arme um die Knie zu schlingen. Benommen schaukelte sie sich vor und zurück, ohne das Gesichtchen des Kindes aus den Augen zu lassen. Seltsam bleich lag es im grünen Gras vor ihr, das schwarze Haar klebte in leichten Locken an ihm. Bestimmt war es wellig, wenn es trocken war. Jemand schien sie an den Schultern gepackt zu haben – sie zu rütteln, Fragen zu stellen, aber sie verstand den Sinn nicht. Es ist tot. Herr vergib mir.

In diesem Moment drang ein Wimmern an ihr Ohr. Ganz leise, ganz zaghaft. Beinahe hätte sie es nicht gehört. Doch da! Da war es wieder. Serafina sprang auf alle Viere und beugte sich erneut über das Kind. Es atmete. Die Brust hob und senkte sich kaum merklich. Es wimmerte. Unendliche Erleichterung durchströmte Serafina. Sie riss das Kleine in ihre Arme und begann hemmungslos zu weinen. Es lebte! Sie presste den schwarz gelockten Kopf fest an sich, hielt ihre Hände schützend um den schwachen Körper gelegt und konnte nichts anderes tun, als ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Mit jeder Minute wurde das Wimmern kräftiger, bis es schließlich mit ihr um die Wette schrie. Allmählich löste leises Lachen Serafinas Schluchzen ab. Das Kind hatte überlebt. Sie schob es ein Stückchen von sich und blickte in das schreiende Gesichtchen. Es war nicht mehr so blass und der bläuliche Schimmer war verschwunden. Dankbar lächelnd schloss sie die Augen.

Mit der Erleichterung kam das Empfinden für ihren Körper zurück. Ihr war entsetzlich kalt. Die Zähne klapperten mit ihren zitternden Gliedern um die Wette. Sie stand torkelnd auf. Bestimmt ging es dem Kind genauso. Sie musste es wärmen. Immer noch wie im Nebel gefangen, sah sie sich um und registrierte dumpf die aufgeregt schnatternden Frauen, welche wie wild mit ihren Händen gestikulierten.

„Sophie, kannst du mir bitte dein Schultertuch geben?“ Serafina erschrak. Ihre Stimme hatte entsetzlich dünn geklungen.

„Was? Bist du von Sinnen? Was fällt dir überhaupt ein, dein Leben für dieses Balg zu riskieren. Wirf es sofort wieder in den Fluss zurück, oder ich erzähle Vater von deinem Irrsinn.“

Der schrille Unterton traf Serafina wie eine Backpfeife. Ihr Blut fing zu kochen an. Dementsprechend gewann ihre Stimme wieder an Schärfe. „Ich muss das Kind wärmen. Gib mir dein Schultertuch.“

„Den Teufel werde ich tun!“

„Wenn du schon dem Kind das Tuch nicht geben möchtest, dann gib es wenigstens mir. Ich friere.“

„Erst wenn du das Balg wegwirfst.“

Serafina wurde wütend. „Bist du noch ganz bei Sinnen? Wie kannst du deine Angst und deinen Hass an diesem Kind auslassen? Gib mir das Schultertuch!“

Sophie trat mit hocherhobener Nase zurück. „Die Zigeuner sind ein bösartiges Volk.“

Serafina blickte in das Gesichtchen des schreienden Kindes. Wie konnte ein so süßer, unschuldiger Knirps boshaft sein? Flehend sah sie zu ihrer Schwester auf. Es brauchte Wärme. Doch Sophie wandte sich ab. Zitternd presste Serafina den kleinen Körper wieder an sich. Da trat eine der Frauen heran und reichte ihr mit gesenktem Blick und unter heftigem Gezeter ihrer blondgelockten Freundin, ihr eigenes Schultertuch. Dankbar lächelnd nahm Serafina es entgegen und hüllte das Kind darin ein. Alles würde gut werden. Sachte schaukelte sie es in ihren Armen. Das Kleine hörte zu weinen auf. Mit großen schwarzen Augen sah es zu seiner Retterin auf. Wie schön du bist. Serafina lächelte und stupste dem Kind auf die winzige Nase. Ob es ein Junge oder ein Mädchen war?

„Ich werde Vater berichten, was du getan hast!“

Aufgebracht sprang die Ältere auf, während sie das Kind schützend an sich gepresst hielt, welches nun wieder zu schreien begann. Ehe sich die Schwestern versahen, entbrannte ein heftiger Streit, darüber hinaus entzog sich ihrer Aufmerksamkeit, wie eine kleine Gruppe Menschen sich ihnen rasch näherte. Erst ein herzzerreißender Schrei ließ die streitenden Frauen herumfahren. Als eine wildschreiende Fremde auf Serafina zu schoss, versteckte sich Sophie mit entsetztem Gurgeln hinter ihren Freundinnen, welche ebenfalls hastig zurückwichen. Die zerlumpte Frau riss der überrumpelten Serafina das Kind aus den Armen, ehe sie heftig schluchzend auf der Wiese zusammenbrach. „Bakhti… Bakhti…“ Sie drückte das Kleine an ihre Brust und küsste es immer und immer wieder. Fremde seltsam klingende Laute prasselten auf den dunklen Lockenschopf nieder. Sie musste die Mutter des Kindes sein.

Serafina beugte sich zu der teils weinenden, teils lachenden Fremden herab und berührte diese an der Schulter. Sie wollte ihr Mut zusprechen, doch die Mutter musste ihre Geste wohl für einen Angriff gehalten haben, denn sie sprang wie von der Tarantel gestochen auf und stieß ihre vermeintliche Angreiferin mit aller Kraft zurück. „Na, nah`n!“

Serafina, immer noch geschwächt von ihrer Rettungsaktion, torkelte aus dem Gleichgewicht gebracht weiter nach hinten, als sie es unter normalen Umständen getan hätte. Sie kam rückwärts ins Stolpern und fiel. Sie glaubte, die entsetzten Schreie ihrer Schwester zu hören, ehe das eiskalte Wasser des Flusses über ihr zusammenschlug. Die eisige Kälte griff unbarmherzig nach ihr, gewillt ihrer Gefangenen die letzten Kräfte zu rauben, um sie diesmal auf ewig in die Tiefe zu reißen. Der Unterrock, immer noch schwer durch die Nässe, sog sich erneut mit Wasser voll und schien Fässer zu wiegen. Serafina versuchte zu paddeln, versuchte, gegen den Sog anzukämpfen, aber sie hatte keine Kraft mehr. Sie spürte, wie die Strömung des Flusses unermüdlich an ihr zupfte. Panische Angst schoss wie ein Orkan durch sie hindurch, lähmte ihre Bewegungen und ihr Denkvermögen. Wo war oben? Wo unten? Ihre Lungen brannten und der Drang einzuatmen wurde immer stärker. Obwohl sie wusste, dass es Narretei war, jetzt zu atmen, verlangte ihr Körper mit aller Macht nach Luft. Ein roter Schleier zog vor ihre Augen und sie begann wie wild zu rudern. In dem Moment, als sich ihr Mund wie von selbst gepeinigt öffnete, um tief Atem zu schöpfen, prallte sie gegen etwas Hartes. Statt nach Luft zu saugen, stieß sie durch die getroffene Wucht den letzten Rest Sauerstoff aus, den sie nicht mehr hatte. Doch genau dieser Umstand verhinderte, dass das Wasser reflexartig tief in ihre Lungen gesogen wurde. Serafina spürte, dass sie etwas gepackt hatte und sie in eine ganz andere Richtung gezerrt wurde. In dem Moment, in welchem grelle Blitze durch ihren Kopf zuckten, durchbrach sie die Wasseroberfläche. Gierig sog sie die Luft unter lautem Röcheln ein. Noch ehe ihre Lungen vollgepumpt waren, presste sich eine Hand auf ihren Mund, so dass das Atemholen abrupt ein Ende fand. Protestierend ging sie erneut unter. Serafina kämpfte mit aller Macht gegen die Umklammerung an, das Blut rauschte wie ein Orkan durch ihre Ohren. Für einen kurzen Moment schaffte sie es an die Oberfläche, doch dann traf sie ein heftiger Schlag an der Schläfe. Bunte Lichter zuckten an ihren Augen vorbei, während die Kraft rasend schnell aus ihren Gliedern floss und sie wieder unterging. Wie nebenbei bemerkte sie die reisende Kraft der Strömung, welche heimtückisch an ihr zupfte. Ihr Kopf sank kraftlos nach vorne und nur schemenhaft bekam sie mit, wie sie erneut die Oberfläche des Wassers durchbrach. Die Hand vor ihrem Mund verschwand und Serafina konnte endlich wieder atmen. Gierig sog sie die Luft ein, welche sich stechend einen Weg in ihre brennende Lunge bahnte. Diese zog sich unter dem kühlen Luftstrom zusammen, so dass ihr Körper von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde. Der Kampf zwischen Hustenreiz und Atemschöpfen raubte der halbertrunkenen Frau die letzten Kräfte. Benommen ließ sie zu, dass sie von ihrem Retter aus dem Wasser ans Ufer gezogen wurde. Nun war es an ihr, wie das Kleinkind zuvor, hilflos auf dem Rücken zu liegen. Blinzelnd versuchte sie das Wasser aus ihren Augen zu vertreiben, welches ihr den Blick verzerrte. Ein fremder Mann hatte sich über sie gebeugt und begutachtete sie mit kritischer Miene. Sein blondsilbernes langes Haar klebte an seinem Kopf, Wasser tropfte auf Serafina nieder, so dass sie keine Zweifel daran hegte, dass dieser Fremde sie aus dem Fluss gefischt hatte. Plötzlich fühlte sie sich am Kinn gepackt. Hilflos ließ sie zu, dass ihr Gesicht immer wieder von Seite zu Seite gedreht wurde. Alles was sie tun konnte, war, dem Mann unentwegt in die Augen zu starren. Diese waren so blau und strahlend, wie der Himmel selbst und seine wettergegerbte Haut unterstrich die Intensität der Himmelsfarbe. Schließlich wurde ihr Gesicht zur Seite gedrückt. Sie konnte den intensiven Blick regelrecht auf ihrer Schläfe spüren. Serafina hatte den betäubenden Schlag völlig vergessen, doch je eingehender der Fremde diese Stelle betrachtete, umso mehr schien sie zu schmerzen. Stöhnend schloss sie ihre Augen. Mit was hatte er zugeschlagen? Mit einem Hammer? Instinktiv wollte sie danach tasten, aber ihre Hand wurde aufgefangen, noch ehe ihre Finger die Blessur erreicht hatten. Der Griff des Fremden war fest und unnachgiebig. Prompt folgte ein Schwall fremd klingender, exotischer Worte, welche sie wohl ermahnen sollten, denn verstehen konnte sie davon nichts. Ob er dem fahrenden Volk angehörte? Diese Sprache hatte sie bisher noch nie vernommen, auch wenn sie glaubte die gleichen Akzente wie bei der fremden Mutter herauszuhören. Serafina versuchte dem hartnäckigen Griff zu entkommen, indem sie ihren Kopf zurückdrehte. Wie hypnotisiert starrte sie in das intensive Blau des Fremden. Es schien, als wäre der Himmel zu ihr herabgestiegen. Sie lächelte in die Himmelsfarbe hinein und ließ sich von der dunklen melodischen Stimme davontreiben, welche immer noch ihr galt.

Das nächste, was sie mitbekam, war aufgeregtes Geschrei, Gekläffe und Hufgetrappel. Ihr Retter war verschwunden. Benommen versuchte Serafina sich aufzurappeln, aber es war so furchtbar anstrengend, dass sie sofort wieder aufgab. Stattdessen drehte sie sich auf den Bauch, stützte sich mit ihren Unterarmen am Boden ab und sah sich um. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff.

Wo zum Teufel kam ihr Verlobter plötzlich her? Ganz in adliger Manier saß dieser auf seinem schnaubenden Pferd, welches er immer wieder nach vorne traben und seine Reitgerte niedersausen ließ. Ihre Schwester, sowie deren Freundinnen standen kreischend abseits. Serafina konnte nicht heraushören, ob diese vor Entsetzen oder vor Wut kreischten, während eine Handvoll exotischer Frauen nicht unweit am Boden knieten und ihre Hände flehend Richtung Reiter erhoben hatten. Ihr fremdartiges Jammern schien ihren Verlobten nur weiter in Rage zu treiben. Doch worauf schlug dieser ein? Serafina strich sich die Haare aus dem Gesicht und blinzelte. Zwei von Vaters Jagdhunden umrundeten zähnefletschend einen knienden Mann und jedes Mal, wenn dieser schützend die Hand hob, stimmten sie ein furchtbares Gekläffe an.

„Du Hurensohn. Du Mörder, elendiges Pack! Das wirst du büßen. Eine wehrlose Frau anzugreifen und sie ermorden zu wollen.“ Die Stimme ihres Verlobten klang heißer vor Verachtung. Die Gerte fuhr auf den knieenden Mann nieder.

In diesem Augenblick erkannte Serafina den Mann vom Fluss. Das Entsetzen, welches in ihr hochschoss, ließ ihren Körper nach oben schnellen. Mit einem Satz rannte sie los. Noch ehe ihr Verlobter ein weiteres Mal die Gerte erheben konnte, sprang sie vor dessen Pferd und riss dabei ihre Hände hoch. „Nein, Immanuel, was tun Sie da! Hören Sie sofort auf! Er hat mir das Leben gerettet!“

„Aus dem Weg, Weib!“

Der Fürstensohn gab seinem Pferd die Zügel frei, so dass dieses einen Satz nach vorne stob. Hätte der Fremde sie nicht von hinten gepackt und zur Seite gewirbelt, hätte das Reittier sie wohl umgerissen.

Ungläubig starrte Serafina auf ihren Verlobten. Er hatte in Kauf genommen, dass sein Pferd sie verletzen würde. Zähneknirschend ballte sie ihre Hände zu Fäuste, als auch schon die Reitgerte auf sie niederschoss. Sie riss ihre Arme schützend hoch. Innerlich wappnete sie sich gegen den Schmerz, welcher sie gleich treffen würde, doch er kam nicht.

Stattdessen hörte sie, wie Immanuel wutentbrannt aufheulte. „Du Bastard! Wie kannst du es wagen Hand an meine Verlobte zu legen! Genügt es nicht, dass ihr dreckiges Pack unser Land durchstreift, müsst ihr auch noch unsere Frauen töten?“

Das Blut schoss rauschend in ihre Ohren. Wie betäubt ließ Serafina ihre Arme sinken. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie sich schutzsuchend auf die Knie gekauert hatte. Der Fremde vom Fluss stand wie eine mächtige Felswand über ihr. Er hatte die Reitgerte des rasenden Reiters gepackt und so den Schlag abgefangen. Wütend starrten beide Männer einander in völliger Regungslosigkeit an. Die plötzliche Stille ließ das Rauschen in ihren Ohren anschwellen. Selbst Sophie, deren Freundinnen, sowie die eben noch jammernden Zigeunerinnen schienen wie in Stein gemeißelt. Einzig und allein Immanuels Pferd tänzelte nervös, während die Hunde leise knurrend auf die noch so geringste Bewegung der Männer lauerten – bereit jederzeit anzugreifen. Serafinas Magen hob sich. Zu Atmen wagte sie nicht. Äußerst langsam erhob sie sich, ohne dabei ihren Verlobten aus den Augen zu lassen. Dessen ansonsten so feines Gesicht wirkte fratzenartig und hassverzerrt. Wie hässlich er plötzlich aussah! Verschwunden war das Galante, das Charmante und jede Form von Attraktivität. Seine hervorquellenden Augen hatten sich in den Blick des verhassten Gegenübers gebohrt, unfähig, sich von ihm zu lösen. Serafina spürte eine kalte, schwarze Klaue, welche sich ihrem Herzen näherte. Statt ihre langen dürren Finger um ihr Herz zu legen um es zu zerquetschen, bohrte sie einen spitzen Finger tief in ihr Herz hinein. Keuchend griff Serafina sich an die Brust, während die Kälte sich wie Gift in ihr ausbreitete. Kaum noch fähig einen klaren Gedanken zu fassen, drehte sie sich zu dem Fremden um. Dieser war groß, so dass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um dessen Gesicht studieren zu können. Sein Blick begegnete seinem Angreifer – nicht voller Hass, sondern abschätzend und wachsam. Seine Gesichtszüge konnte Serafina nicht deuten, doch die geduckte Haltung des Fremden verriet Erfahrung im Kampf. An seinem nach oben ausgestreckten muskulösen Arm lief eine dünne Blutspur herab, während die Unterarmsehne vor Anspannung zu platzen drohte, da die Faust die Gerte fest umklammert hielt. Das Rauschen in Serafinas Ohren verschwand. Sie fühlte sich seltsam kurzatmig. Irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass dieser Mann nicht mehr lange zögern und ihr Verlobter gnadenlos unterliegen würde. Ihr Herz, eben noch laut klopfend, kam zum Erliegen.

„Bitte!“, flehend sah sie zu dem Fremden auf. „Bitte treten Sie zurück!“

Keine Sekunde ließ dieser seinen Gegner aus den Augen, dennoch hatte sie das Gefühl, dass er sie gehört und verstanden hatte. Es dauerte eine Weile, bis ein Ruck durch dessen Körper ging. Er öffnete seine Faust, wartete kurz ab, dann wich er zurück. Instinktiv trat Serafina mit ihm den Rückzug an, während sie sich mit pochendem Herzen zu ihrem Verlobten umdrehte. Dieser starrte immer noch auf den vermeintlichen Mörder. Erst als das Pferd sein Gewicht verlagerte, schien er aus seiner Erstarrung zu erwachen. Sein Blick glitt von dem verhassten Fremden zu ihr herab.

„Meine Verlobte stellt sich auf die Seite dieses Verbrechers? Sie wendet sich gegen mich und siezt niederes Volk?“

Serafina blieb augenblicklich stehen. Ihr Verlobter hatte sie soeben auf ihren Platz verwiesen, indem er sich der förmlichen Anrede bedient hatte. Bisher hatte er sie noch nie daran erinnert, dass er von Rang und Gesellschaft über ihr Stand. Zögernd trat sie an das Pferd heran und ergriff dessen Zügel. Sie legte beruhigend ihre Hand an den warmen Hals des Tieres, während sie zu seinem Reiter aufblickte. „Dieser Mann hat mir das Leben gerettet, nachdem ich in den Fluss gefallen war, daher gebiete ich ihm Ehrerbietung. Fürstliche Gnaden, Sie wissen, dass ich nicht schwimmen kann. Ist es wirklich Ihr Wunsch diesen Mann für seine beherzte Tat zu bestrafen? Immanuel, ich ersuche Sie, statt ihn die Peitsche spüren zu lassen, sollten Sie diesem Mann Ihr Wohlwollen schenken, denn ohne ihn wäre ich vermutlich tot.“

Serafina hätte schwören können, dass ihr Verlobter für einen Augenblick stutzte, denn seine Augen hatten sich für einen Moment geweitet, ehe er diese wieder finster zusammenkniff. Als sich die Gerte erneut gegen sie wandte, war es an ihr, die Augen ungläubig aufzureißen. Mit einem wütenden Aufschrei sprang sie zurück und landete direkt in den Armen des Fremden. Dieser zog sie mit einem Arm schützend an sich, während er die niedersausende Gerte erneut mit seiner Hand abfing. Doch dieses Mal zerrte er die Reitgerte nach unten. Immanuel, dessen Arm in der Schlaufe der Gerte festhing, wurde durch den unerwarteten Zug aus dem Sattel gerissen. Serafinas Retter sprang zurück, so dass sie taumelte. Immer noch entsetzt darüber, dass ihr Verlobter sie hatte schlagen wollen, klammerte sie sich haltsuchend an der nächstbesten Möglichkeit fest und das war der Fremde.

In dem Moment als Immanuel sich vom Boden aufrappelte, fiel Sophie in Ohnmacht. Ihre Freundinnen schrien überfordert auf, während die Zigeunerinnen ebenfalls aufsprangen. Serafina blickte in das krampfhaft zuckende Gesicht ihres Verlobten. Dieser kämpfte um den letzten Rest seiner Würde. Am ganzen Körper zitternd schwang er sich wieder in den Sattel. Nervös, durch den hölzernen Reiter, tänzelte das Pferd einmal im Kreis. Immanuel brachte es mit schroffen Fersentritten zum Stehen.

„Sie kommt augenblicklich zu mir!“ Herrisch streckte er die Hand nach Serafina aus.

Ihr Herz setzte aus. Was sollte sie tun? Einerseits war er ihr Verlobter und sie ihm Gehorsam schuldig, dennoch hatte er heute eine Art an den Tag gelegt, welche ihr Angst einjagte. Stets war er beherrscht und freundlich gewesen, niemals hatte er Hand oder Wort erhoben, schon gar nicht gegen sie und dennoch schien etwas wildes, böses, wenn nicht sogar unkontrollierbares in ihm zu schlummern. Beinahe panisch schüttelte sie ihren Kopf.

„Sie wollten mich schlagen.“ Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder. Sie klang ungewöhnlich dünn.

„Sie macht sich lächerlich!“

Serafina sah zögernd zu ihrem Retter auf. Eine Schramme auf seiner Stirn blutete. Sofort verspürte sie den Wunsch, das feuchte Haar, welches ihm an der Stirn klebte, zur Seite zu schieben, damit die Wunde frei blieb. Sie unterdrückte den Impuls, indem sie ihre Hände ballte und wieder zu ihrem Verlobten blickte. Warum bekam sie kaum Luft? Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn sie den Fürstensohn jetzt zurückwies, dann würde sie nicht nur ihn gegen sich aufbringen, sondern auch ihrer beider Familien. Der Skandal wäre vorprogrammiert. Und da das Geschlecht ihres Verlobten hochrangiger war, würde das Haus ihres Vaters in Ungnade fallen. Sie löste sich aus der schützenden Umarmung des Fremden, indem sie einen Schritt nach vorne trat. Im selben Moment hörte sie, wie ihre Schwester stöhnend zu sich kam. Obwohl Sophie manchmal ein richtiges Miststück sein konnte, so liebte sie ihre Schwester dennoch. Durch die Gunst ihres Vaters war sie zarter besaitet, schwächer und anfälliger für Aufregungen. Sicherlich würde sie sich kaum auf den Beinen halten können, geschweige denn alleine nach Hause gelangen. Vater würde sie umbringen, wenn seinem kleinen, goldgelockten Engel zu viel zugemutet würde. Serafina holte tief Luft, zählte langsam bis drei, ehe sie sich zwang ihrem Verlobten direkt in die Augen zu blicken. „Ich habe eine Bitte an Sie, verzeihen Sie mir diese, denn der Wunsch, Ihnen vor den Kopf zu stoßen liegt mir fern, ebenso das Abstreiten Ihres beherzten Eingreifens zu meiner Errettung. Sophie ist sehr geschwächt und unmöglich in der Lage, nach Hause zu laufen. Zeigen Sie Güte, indem Sie meiner Schwester Hilfe zu Teil werden lassen. Geleitet sie zu Pferd zu Vaters Anwesen. Ich werde Ihnen, im Schutz der tugendhaften Damen, voller Ehrfurcht folgen.“

Es war nicht Demut, welche Serafina die Augen niederschlagen ließ, sondern Angst. Sie hatte hinter Immanuels Fassade blicken können und was sie gesehen hatte, jagte ihr Unbehagen ein. Lange blieb es still.

Schließlich lenkte ihr Verlobter sein Reittier an Serafina vorbei zu seiner künftigen Schwägerin. Diese erhob sich einer alten Frau gleich und ließ sich von ihren Freundinnen in den Sattel helfen. Sophie blickte dankbar auf Serafina herab, während Immanuels Worte wie Peitschenhiebe hinterher schossen: „Ich werde dem Vater meiner zukünftigen Gemahlin berichten. Wir werden sehen, welche Bestrafung er für seine Tochter als angemessen erachtet. Ich erwarte, dass diese mir unverzüglich und auf direktem Wege folgt, ansonsten werde ich die Hunde auf dieses Lumpenpack hetzen – Rettung hin oder her.“

Mit diesen Worten trieb er seine Fersen in die Flanken des Pferdes und preschte davon. Sophies Gesellschafterinnen hielten ihre Köpfe betreten gesenkt, während sie sich umgehend auf den Weg machten um dem Fürstensohn sowie der Comtes zu folgen. Sie hatten nur noch einen Wunsch: weg von diesem schrecklichen Ort.

Serafina schlang die Arme um ihre Mitte. Sie fror entsetzlich. Ihr Blick war starr auf die sich entfernenden Damen gerichtet. Nach einer geraumen Weile bemerkte sie eine Bewegung am Rande ihres Blickfelds. Eine Zigeunerin hatte sich von ihrer Gruppe gelöst und näherte sich ihr zögernd. Es war die junge Mutter des Kindes, welches Serafina gerettet hatte. Das Kind lag erschöpft schlummernd in den Armen seiner Mutter, dabei wirkte es so friedlich, dass Tränen in Serafina hochschossen. Behutsam strich sie über das kleine Gesichtchen. Wie hübsch es doch war. Zaghaft lächelte sie die Mutter an.

Diese erwiderte scheu das Lächeln. „Prosjačiti, dass ich in flyssa… stieß. Ich dachte, Sie wollen murdar – … töten.“ Ihre ungewöhnlich dunkle Stimme, sowie die seltsame Sprachmelodie machten die junge Frau noch fremdartiger als ihre farbenfrohe Kleidung und ihr Aussehen es ohnehin taten. Serafina kam nicht umhin zu bemerken, wie hübsch die Fremde war. Schwarze lange Locken umrundeten ihr zartes Gesicht, welche nur ihr knallrotes Kopftuch zu zähmen vermochte. Mandelförmige dunkle Augen blickten die Retterin ihres Kindes um Entschuldigung heischend an. „Ich werde vergessen nini, Luladja.“

Sie nahm Serafinas Hand auf und küsste sie dankbar, ehe sie sich wieder zu ihresgleichen umdrehte, um gemeinsam mit ihnen den Rückweg anzutreten.

Serafina sah den Frauen lange nach, bis sie fast aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Sie war so unglaublich müde. Sie wünschte sich, in ihr Bett zu kriechen, um nie wieder zu erwachen. Erschöpft rieb sie über ihr Gesicht. Wie sollte sie es jemals nach Hause schaffen? Die Sonne ging langsam unter und sie fror entsetzlich. Seufzend drehte sie sich um und lief direkt in ihren Lebensretter hinein, den sie völlig vergessen hatte. Überrascht blickte sie zu ihm auf. Sein Finger legte sich unter ihr Kinn. Während er sie ausgiebig musterte, spürte sie, wie die Erschöpfung immer weiter voranschritt. Abgeschlagen ließ sie ihren Kopf auf seine Brust sinken, als seine Arme sich erneut schützend um sie legten. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre eingeschlafen, wenn er sie nicht unversehens an den Schultern gepackt und in die Richtung ihres Zuhauses gestikuliert hätte. Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Irgendwann musste sie ja nach Hause und sich dem Unvermeidbaren stellen. Was Immanuel und Sophie wohl ihrem Vater erzählen würden? Erneut wurde sie an der Schulter gepackt. Beinahe genervt drehte sie sich zu dem Zigeuner um. Ehe sie etwas sagen konnte, wedelte er mit ihrem Überrock sowie ihrem Jäckchen vor ihrer Nase herum. Mit einem Schlag wieder hellwach, sah sie an sich herunter. Obwohl sie ihr Unterkleid trug, kam sie sich plötzlich nackt vor. Beschämt verschränkte sie die Arme vor ihren Brüsten, welche skandalöserweise zur Hälfte aus dem Dekolleté des Unterkleids herauslugten. Der Zigeuner bemerkte ihre Reaktion und grinste frech. Empört schnappte Serafina nach Luft, entriss ihm das Kleid, drehte sich um und hatte alle Mühe das Überkleid über ihr immer noch nasses Unterkleid zu streifen. Als sie die Schnüre vorne festzurren wollte, ließen ihre steifen Finger sie unversehens im Stich. Da sie wusste, dass der Zigeuner ihrer Sprache nicht mächtig war, begann sie zu fluchen, denn um Hilfe brauchte sie ihn nicht zu bitten. Diese widerspenstigen, kleinen, lästigen, unnötigen Schnüre. Wer hatte diesen Mist überhaupt erfunden und vor allem warum? Fluchend warf sie ihre Arme in die Luft. Der Teufel sollte diese Verschnürung holen, dann schnürte sie sich eben nicht ein. Nur sachte drang das Lachen des Zigeuners an ihr Ohr. Lachte er sie gerade aus? Wütend fuhr sie zu ihm herum und ehe sie sich versah, begann er die Bänder an ihrem Kleid zu ordnen und festzuzurren. Seine Finger waren geschickt und bewiesen, dass er nicht zum ersten Mal mit einem Frauenkleid hantierte. Schmollend ließ Serafina ihn gewähren. Immer wenn er die Schnüre ruckartig anzog, kam sie ihm für einen winzigen Moment näher, so dass sie sogar seine Wärme spüren konnte, welche ihr eisiger Körper regelrecht aufzusaugen schien. Überrascht stellte sie fest, dass er darüber hinaus gut roch. Schließlich hielt er inne. Er hatte es fast geschafft. Warum machte er nicht weiter? Serafina blickte an sich herab und bemerkte, dass seine Hände über ihren Brüsten schwebten. Wenn er jetzt weiter machen würde, würde er sie unsittlich berühren. Sie spürte, wie Hitze in ihr hochschoss, dummerweise führte dies zu einer tiefen Röte in ihrem Gesicht. Als wäre das nicht genug, wurde sie sich seiner Nähe nun allzu deutlich bewusst. Sie konnte seinen Atem spüren, welcher die Haut ihres Dekolletés streifte. Ihre Atmung beschleunigte sich und ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Der Zigeuner starrte auf seine Finger, während sie gegen die Hitze ankämpfte, dann ging ein Ruck durch seinen Körper und mit schnellen Bewegungen zurrte er die restlichen Schnüre fest. Wie von der Tarantel gestochen sprang er nach hinten.

Weg war die Hitze, weg war sein Duft und fort sein heißer Atem. Zurück blieb nur das sanfte seltsame Kribbeln in Serafinas Bauch. Verwirrt schlang sie die Finger ineinander. Schließlich begann er zu grunzen und deutete wieder in Richtung ihres Zuhauses. Als sie sich nicht in Bewegung setzte, stieß er sie ungehalten an. Empört riss sie ihre Augen auf. Wie konnte er es wagen? Er rumpelte sie erneut an, damit sie sich endlich auf den Weg machen würde. Doch er erreichte nur das Gegenteil. Serafina stieß ihn vor die Brust. „Was fällt Ihnen ein? Glauben Sie ich bin ein Hund, den man herumschubsen kann? Ist dies der Dank dafür, dass ich einem Kind Ihrer Sippe das Leben gerettet habe, indem ich mich fast selbst ertränkt hätte...“ Erneut ließ sie ihre Fäuste gegen seine Brust krachen und kam ihm einen Schritt nach, als er zurückwich. „...ich habe das Leben des Kindes verteidigt, nur, um aufs Neue in den Fluss gestoßen zu werden...“, wieder schmetterte sie ihre Hände auf seine Brust. „...ich habe mich vor den Fürstensohn gestellt, um Prügel von Ihnen abzuwenden...“ Als sie nochmal zuschlagen wollte, fing er ihre Fäuste geschickt ein. „Lassen Sie mich sofort los! Wie können Sie es wagen?“ Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen seinen Griff, doch statt losgelassen zu werden, erreichte sie nur, dass er sie mit einer heftigen Bewegung dicht zu sich heranzog. Augenblicklich erlahmte ihre Gegenwehr. Seine Augenbrauen waren tadelnd nach oben gezogen, während seine himmelblauen Augen sie vorwurfsvoll ansahen, dabei machte er leise Schnalzlaute, ganz so, wie die Köchin es zu tun pflegte, wenn die Küchenmagd sich wieder einmal dumm angestellt hatte. Serafinas Puls passte sich den missbilligenden Zungenschnalzern an. Ein Knurren stahl sich in ihre Kehle. Wie konnte dieser Flegel es wagen sie zu tadeln? Serafina hatte nur noch einen Wunsch: dass er sich an seiner Zunge verschluckte! Ohne zu überlegen, holte sie mit ihrem Fuß aus und donnerte ihn gegen sein Schienbein. Im selben Augenblick schoss ein scharfer Schmerz durch ihre Zehen. Verflucht! War dieser Kerl aus Eisen? Sie unterdrückte ein schmerzerfülltes Keuchen, indem sie sich auf die Lippen biss. Als sie jedoch in das Gesicht des Fremden aufblickte vergaß sie ihre Wehwehchen augenblicklich und wich vorsichtshalber zurück, denn die Augenbrauen ihres Gegenübers hatten sich gefährlich zusammengezogen. In seinen himmelblauen Augen schien eine Gewitterfront aufzuziehen. Atemlos wich sie weiter zurück. All das Fremde, all die Mystik, die dem Zigeuner eine faszinierende Aura verliehen hatte, war verschwunden – stattdessen stand ein Krieger vor ihr, welcher den fantastischen Sagen alter Zeiten entsprungen zu sein schien: groß, muskulös, bedrohlich und entschlossen. In ihrer Panik bekam Serafina einen Schluckauf, dabei kam sie rückwärts zum Stolpern und landete unsanft mit dem Hintern im Gras. Unfähig ihren Blick von ihm zu wenden, blickte sie hicksend in das finstere Gesicht, während er wie eine brodelnde Gewitterwand über ihr verharrte.

Doch plötzlich lachte der Fremde leise vor sich hin. Serafina blinzelte. Die Veränderung, welche er offensichtlich durchlebte, machte sie sprachlos. An die Stelle des unerbittlichen Kriegers war ein lustiger Kerl getreten, dessen Augen vor Schalk geradezu blitzten. Sein dunkles Lachen hätte durchaus ansteckend sein können, doch Serafina beschlich das leise Gefühl, dass sie gerade ausgelacht wurde. Hicksend wie misstrauisch kniff sie ihre Augen zusammen. Unversehens vollzog er eine galante Verbeugung, welche momentan am Hofe die neueste Mode war und reichte ihr zuvorkommend die Hand. Jetzt verspottete er sie auch noch! Erbost rappelte sie sich auf, und zwar ohne seine dargebotene Hand zu ergreifen. Hölzern strich sie ihr Kleid glatt und hob naserümpfend ihren Blick.

„Sie sind ein unverschämter, anmaßender, arroganter Mistkerl. Ich wünsche unverzüglich nach Hause gebracht zu werden.“

Seine Augen weiteten sich. Die Gewitterfront war längst aus seinem Blick verschwunden. Stattdessen lachte er aus vollem Halse. Serafina ballte ihre Hände. Warum diese zitterten, erklärte sich ihr nicht. Sie wusste nur, dass sie jetzt würde gehen müssen, ansonsten würde sie diesen Mann erwürgen. Aufgebracht raffte sie ihre Röcke und wollte sich auf den Weg nach Hause machen. Doch da entdeckte sie nicht unweit von ihnen einen Jungen mit abstehenden Ohren. Frederick! Also doch! Des Öfteren hatte sie das Gefühl gehabt heimlich beobachtet zu werden, es aber immer wieder als Hirngespinst abgetan, zumal ihr niemand aufgefallen war. Sie hätte auf ihr Bauchgefühl hören müssen! Ganz sicher hatte der Junge von ihren Ausflügen zum Fluss gewusst und sie an ihren Verlobten verpetzt. Deswegen hatte Immanuel sie heute finden können! Sie hätte es wissen müssen. Dieser Bursche, ein fieses, kleines, mieses Wiesel, das stets Unruhe stiftete, um das ein oder andere Privileg zu erhaschen, welches sein Küchenjungendasein etwas angenehmer gestalten würde. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, als der Küchenjunge hinterhältig grinste, ehe er herumwirbelte und los rannte.

„Nein, nein, nein!“ Vergessend, dass der Fremde sie nicht verstehen konnte, wirbelte sie hilfesuchend zu ihm herum und wedelte aufgeregt mit einer Hand Richtung Flüchtigen. „Der Junge… wir müssen…“ Ein Blick in die himmelblauen Augen und Serafina raffte fluchend ihre Röcke, machte auf dem Absatz kehrt und nahm die Verfolgung auf. Die Adelstochter hatte keine Zeit dem Fremden irgendwie verständlich zu machen, dass sie den Jungen erwischen mussten, bevor dieser das Gutshaus erreichen würde. Sie drehte sich nicht mehr um, auch dann nicht, als ein langgezogener Pfiff ertönte. Sie rannte so schnell wie sie konnte. Ihre Lungen, welche vor kurzem ums Überleben gekämpft hatten, schrien unter der Anstrengung gepeinigt auf. Serafina kam ins Straucheln. Der Junge war verdammt flink.

Da hörte sie Hufgetrappel hinter sich. Rennend blickte sie sich um, nur um dann fassungslos stehenzubleiben. Wie aus dem Nichts heraus preschte im wilden Galopp ein schwarzes Ross direkt auf den Zigeuner zu. Letzterer schien keine Angst vor dem donnernden Ungetüm zu haben – im Gegenteil, er blieb stehen, auch dann als es direkt auf ihn zu hielt. Kurz vor dem Fremden beschrieb es einen Bogen, dieser Griff in die Mähne des Pferdes und schwang sich im vollem Galopp auf dessen Rücken. Serafina klappte die Kinnlade herunter. Wer war dieser Mann? Das kannte sie nur aus Büchern. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, der so geschickt im Reiten gewesen war. Sofort vergaß sie all ihre Überlegungen, als sie bemerkte, dass das schwarze Ungetüm genau auf sie zuhielt. Ehe sie sich versah, wurde sie gepackt und wie ein Sack Mehl quer vor dem Reiter über das Pferd gewuchtet. Damenhaft war etwas anderes. Gepeinigt schloss Serafina ihre Augen. Blieb ihr heute denn gar nichts erspart? In vollem Galopp preschten sie Richtung Gutshaus. Der Küchenjunge war in dem Gestrüpp des kleinen Waldes untergetaucht, welcher direkt im Garten des Landgutes mündete. Serafina versuchte verzweifelt, sich mit ihren Händen am Pferd abzustützen, einmal um dem Jungen nachzuspionieren, nur um dann festzustellen, dass dieser verschwunden war und zum anderen, damit ihr Bauch nicht zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der Küchenjunge würde vor ihnen beim Gestüt ankommen.

Donnernd nahmen sie den Weg zum Anwesen, welcher ebenfalls durch das Wäldchen führte. In einer scharfen Kurve kam das Pferd zum Stehen. Erleichtert stellte Serafina fest, dass die Stelle von dem Zigeuner geschickt gewählt worden war. Die Bäume verbargen sie vor neugierigen Blicken vom Haus her. Obwohl sie äußerst unbequem lag, wollte sie nicht absteigen. Innerlich bettelte sie den Reiter an, er würde kehrtmachen, um sie weit fortzubringen. Doch stattdessen gab er ihr einen Klaps auf den Hintern.

Empört giftete sie ihn an: „Was fällt Ihnen ein? Kennen Sie denn gar kein Schamgefühl?“ Obwohl er nichts verstand, grinste er sie jungenhaft an. Serafina ließ sich maulend vom Pferd gleiten, strich ihre Röcke glatt und wusste nicht, wie sie es jetzt schaffen sollte, das letzte Stückchen Weg Richtung Haus anzutreten. Der Rappe schnaubte leise und stieß ihr mit seinen Nüstern sachte in den Rücken, ganz so, als wüsste er um ihre Angst. Serafina blickte zu Tier und Reiter. Letzterer verbeugte sich leicht, ehe sein Pferd wendete. „Addio!“

Ein kleiner Stich, einem kühlen Windhauch gleich, strich durch ihre Brust, während sie dem Fremden nachblickte, bis er fast gänzlich verschwunden war, dann zog sie ihre Schultern zurück, richtete sich gerade und machte sich daran, die verbliebenen Meter hochzulaufen. Als sie um die Kurve bog, bemerkte sie schon vom Weiten die versammelte Gesellschaft vor dem Haus. Sie alle schienen auf sie zu warten. Tapfer schritt sie ihnen entgegen. Die stummen, vorwurfsvollen Blicke starr auf sie gerichtet.

Immanuel, Sophie, Mutter, die Gesellschafterinnen, sowie die Dienerschaft nahmen sie mit betont ausdruckslosen Mienen in Empfang. Serafina entdeckte den unheilvoll grinsenden Küchenjungen, der sich hinter seiner Mutter, der Köchin, versteckt hatte und gelobte im Stillen Rache. Na warte, du mieses Frettchen!

„Komtess?“ Fräulein Coletta, ihre Gouvernante, trat steif und streng wie stets auf sie zu. Ihre Gesichtszüge verrieten nichts. „Ihr Vater befindet sich in einer Besprechung. Er erwartet Sie anschließend zu sehen. Bis dahin wünscht er, dass Sie in Ihren Gemächern warten.“

„Natürlich!“ Serafina schloss innerlich die Augen. So ging ihr Vater nur vor, wenn er sie zu bestrafen gedachte. Schon seit ihren Kindertagen hatte er es so gehalten und sie wusste, dass sie seine bereits feststehende Entscheidung mit keinem Wort, mit keiner Geste der Welt würde ändern können. Es kostete sie allen Mut, Richtung Eingang, durch die versammelte Gesellschaft zu gehen.

Kaum hatte sie den ersten Schritt getan, rümpfte Fräulein Coletta ihre strenge Nase. „Haben wir heute auf unser Schuhwerk verzichtet?“

Serafina unterdrückte den Impuls an sich herabzublicken. Erst jetzt spürte sie die spitzen Steinchen unter ihren Fußsohlen. Ihre Stiefeletten standen wohl immer noch am Flussufer. Sie schluckte, blinzelte die aufsteigenden Tränen fort und schritt hocherhobenen Hauptes durch das gestrenge Empfangskomitee. Als sie an ihrer Mutter vorbeiging, hielt diese ihren Blick steif nach vorne gerichtet. Das Schuhwerk war ein Geschenk des Cousins Baron Leonhard gewesen. Serafina war überzeugt, dass dies der Höhepunkt ihrer Demütigung gewesen sei. Sie ging auf direktem Weg in ihr Zimmer, streifte sich, ohne auf die Gouvernante zu warten, die Kleidung ab und kroch in ihr Bett. Sie zog das Federbett bis zu ihrer Nasenspitze hoch, drehte sich auf die Seite, so dass sie aus dem Fenster blicken konnte. Mit schweren Augenlidern blinzelte sie wie leergefegt in den lauen Sommerabend hinaus. Sie war müde und hellwach zugleich. Am liebsten hätte sie geweint, doch das Lachen saß ihr hinterhältig in der Kehle, so dass sie sich zu nichts von beidem entschied. Was für ein Tag ... was für ein Abenteuer ... was für ein Mann. Das Letzte, das sie wahrnahm, waren die hellen himmelblauen Augen des Zigeuners, der ihr das Leben gerettet hatte.

Kapitel 2

Zwei Wochen musste Serafina ausharren, bis ihr Vater sie endlich zu sich rief. Zwei Wochen hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen dürfen und außer ihrer Gouvernante, hatte niemand Zugang zu ihr bekommen. Zwei endlos lange Wochen hatte sie vollkommen alleine verbracht. Niemand hatte einen Weg zu ihr gefunden, weder die Dienerschaft noch ihre Mutter oder Schwester. Einzig und allein Coletta hatte Zugang gehabt und auch nur, um ihr Essen zu bringen und das Geschirr wieder abzutragen. Serafina hatte die Zeit zunächst mit Erleichterung verbracht, doch nach zwei Tagen war ihre Stimmung umgeschlagen – erst in Unruhe, dann Wut, Angst, Verzweiflung und schließlich in Resignation. Als sie schon geglaubt hatte, den Rest ihres Lebens in ihrem Bett verbringen, um einsam und verlassen sterben zu müssen, war ihr die Botschaft überbracht worden, dass ihr Vater sie am nächsten Morgen zu sehen wünschte. Obwohl ihr die vergangenen zwei Wochen wie die Ewigkeit vorgekommen waren, so erschien ihr die letzte Nacht des Exils wie die pure Grenzenlosigkeit. Schlaflos hatte sie aus dem Fenster gestarrt, bis aus der finsteren Nacht ein sternenfunkelndes Königsblau, dann ein Grau und schließlich ein sonnendurchflutetes Himmelblau geworden war.

Und nun war es endlich so weit. Heute war sie endlich ihrem Vater, dem Grafen Lennard, vorgeführt worden. Dieser saß an dem kleinen Frühstückstischchen seines Empfangszimmers und rührte langsam in einer Tasse Tee, darauf bedacht, nur ja kein Tröpfchen des herrlichen Gebräus zu vergeuden. Ihr Vater trank normalerweise nie Tee, außer es galt, seine Macht zu demonstrieren. Denn in den Tee kam Zucker. Diesen wiederum konnte sich nur der Adel im Übermaß leisten. Wann immer es von Nöten war, demonstrierte der Graf seinen Rang auf die Weise des Teetrinkens, sei es beim Empfang von Gästen oder wenn er seine Tochter maßregelte. Serafina stand mit gesenktem Blick vor ihm. Ihre Hände waren züchtig gefaltet und scheinbar voller Demut wartete sie auf das Wort ihres Vaters. Doch was nach außen als tugendhafte Ergebenheit ausgelegt werden konnte, war eher ein trotziges Beobachten. Serafina hatte im Laufe des Lebens oft vor ihrem Vater scheinbar reumütig antreten müssen, so dass sie die Kunst unter den gesenkten Augenlidern hervorzulugen, rasch erlernt hatte. Kerzengerade saß ihr Vater auf seinem Stuhl, die Beine gekreuzt, wie es nur dem Adel vorbehalten war, und rührte den Zucker sorgsam in den Tee ein. Obwohl dieser längst aufgelöst sein musste, hörte er nicht zu rühren auf. Serafina unterdrückte den Drang, laut aufzuseufzen und das Wort an ihren Vater zu richten. Seine Miene war ausdruckslos, seine Lippen zu einer harten Linie zusammengepresst, während seine braunen Augen, wie die eines Träumers, leicht geschlossen waren.

Serafinas Mutter stand am Fenster und blickte auf den Garten hinaus. Gräfin Hilda war eine ungewöhnlich kleine und zierliche Frau und sie tat nichts, was ihrem Gatten missfallen könnte. Und aus irgendeinem Grund schien es so, als würde den Grafen alles an seiner Gattin abstoßen. Ihre Gesten, ihr Ansinnen, ihr demütiges Auftreten – ja sogar ihr Aussehen und insbesondere ihr Haar. Denn er bestand auf einen blickdichten Haarschleier, welcher die Haare seiner Gattin vollkommen einhüllte. Sommer wie Winter, trug die Herrin des Hauses diese Kopfbedeckung und absolut niemand, weder Dienerschaft noch Familie, hatten jemals die Haare der Gräfin zu Gesicht bekommen.

Serafina hasste diesen Schleier. Damit glich ihre Mutter eher einer Nonne, denn einer Gräfin. Serafina hielt es nicht mehr aus. „Oh, Vater, bitte ...“

„Sie schweigt!“ Er klopfte das zierliche Silberlöffelchen behutsam an der zerbrechlichen Porzellantasse ab, ehe er vorsichtig einen Schluck von dem heißen Gebräu trank. Nach einer halben Ewigkeit erhob er sich und ging zu seiner Gemahlin. Diese drehte sich zu ihm, um ihren angestammten Platz neben ihrem Mann einzunehmen, während dieser sein Anliegen verkündete. Der Graf wechselte in das weniger scharfe du, so dass Serafina wohlweißlich ihren Blick gesenkt hielt. „Sophie, sowie der Sohn des Fürsten haben von den Vorkommnissen berichtet. Auch hat er mir zugetragen, dass du in Lebensgefahr warst. Als Immanuel zu deiner Errettung geeilt war, hast du ihn dafür abgewiesen, schlimmer noch, du hast zugelassen, dass er von einem Zigeuner angegriffen wurde.“

Serafina holte überrascht Luft. „Aber ...“

„Der Küchenjunge erzählte, dass du unsittlich mit diesem Pack umgegangen bist.“

„Vater ...“

„Sophie hat sich darüber so sehr entsetzt, dass sie ihre Besinnung verloren und von deinem Verlobten an deiner statt nach Hause gebracht werden musste.“

„Aber so ist das doch gar nicht gewesen!“ Serafina ballte teils fassungslos, teils wütend ihre Hände.

„Willst du damit andeuten, dass Sophie nicht ohnmächtig wurde?“

„Nein, natürlich nicht. Ich ...“

„Willst du damit andeuten, dass Immanuel von dem Zigeuner nicht in den Dreck geschleudert wurde?“

„Nein, Vater, bitte ...“

„Ist es wahr, dass du einem Zigeunerjungen, das Leben gerettet hast?“

„So hören Sie mir doch endlich zu!“ Serafina stampfte mit dem Fuß auf und wurde lauter, als es ihr erlaubt war. Sofort schoss die Augenbraue ihres Vaters tadelnd nach oben, selbst der Blick ihrer Mutter hob sich mahnend. Die Tochter des Grafen hatte jede Mühe sich zu mäßigen. „Vater, bitte. Lassen Sie mich erklären, damit Sie auch meine Geschichte kennen.“

„Ich muss nichts weiter wissen, Serafina. Letztendlich spielt das alles keine Rolle.“ Serafina rang um Fassung. Sie begriff nicht, wie ihr Vater derart falsch informiert sein konnte. Noch weniger verstand sie, warum er ihr nicht zuhören wollte. „Dein Verlobter hat die Verlobung gelöst.“

„Was!“ Verblüfft starrte Serafina erst ihren Vater, dann ihre Mutter an. Diese nickte bestätigend. „Aber er kann die Verlobung doch nicht einfach lösen. Er braucht dazu den Segen seines Vaters, dem Fürsten. Es war der ausdrückliche Wunsch des Fürsten, dass wir heiraten.“ Serafina schüttelte ungläubig ihren Kopf. Wie konnte es sein? Ihre Stimme sackte herunter. „Ich dachte, Immanuel würde mich lieben.“ Hilflos sah sie zu ihrer Mutter, doch diese schien erstarrt.

Der Graf schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Kind, wann begreifst du, dass Hochzeiten Bündnisse sind, die aus politischem Interesse geschlossen werden. Deine Narretei hast du den nutzlosen Büchern zu verdanken. Wann lernst du endlich, dass die Geschichten nur den Verstand vernebeln und die Vernunft zerstören.“ Graf Lennard tat echauffiert. Er schien Stärkeres zu brauchen als lediglich Tee, denn er bediente sich aus der Weinkaraffe. „Jahrelang habe ich geschuftet, damit der Fürst auf unser Haus aufmerksam wird und mich als Verbündeten schätzen lernen würde. Jahre habe ich damit zugebracht, ihm als treuer und unentbehrlicher Ratgeber zur Seite zu stehen. Jahrelang habe ich mir das Recht erarbeitet, im Adel verpflichtend aufzusteigen und du zerstörst alles an einem einzigen Nachmittag.“

„Vater!“

„Nenn mich nicht so!“

Serafina hätte am liebsten zu weinen angefangen. Ihr Vater ging auf Distanz. „Jawohl, Hochgeboren.“

„Hoheit! Hochfürstliche Durchlaucht! Fürstliche Gnaden! Das wären die Titel, welche mir nach der Hochzeit zugestanden wären. Doch Sie, mit Ihren dummen, verantwortungslosen Handlungen treibt noch die gesamte Familie in den Ruin!“

Die Tochter des Grafen kämpfte mit den Tränen. Sie hatte die Finger in ihre Röcke gekrallt, um Fassung zu bewahren. Einzig die gräfliche Mutter bemerkte den Zustand ihres Kindes, daher wagte sie es sich einzumischen. „Der Arzt sagte, dass Sie sich nicht aufregen dürfen. Kommt! Ich helfe Ihnen.“ Die Gräfin eilte zu ihrem Mann und geleitete ihn zu einem Stuhl, welcher an einem wundervoll drapierten, sonnigen Platz inmitten des Zimmers stand.

Der Graf, welcher einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein schien, stützte sich schwer auf seine zierliche Frau. Als er schließlich schwerfällig platzgenommen hatte, wedelte er sich mit einem Taschentuch Luft zu. Seine Gemahlin schenkte ihm Wein nach. „Ich bringe Ihnen die Medizin.“

Wie Serafina diese künstliche Schauspielerei hasste. So verlogen und falsch. Und das Schlimme war, dass ihre jüngere Schwester so langsam ihren Gefallen an diesen Allüren fand. Sophie ließ keine Gelegenheit aus, um sich in dieser Kunst zu üben, nur um zu sehen, was sie damit alles erreichen konnte. Mit tiefem Groll beobachtete Serafina, wie ihre Mutter ein kleines Fläschchen mit Opium aus der Schublade des schwarzen Ebenholzschreibtisches holte und ein paar Tropfen in den Wein des Grafen gab, um es schließlich ihrem Gemahl zu reichen. Theatralisch trank dieser davon.

„Ihr Glück, dass Immanuel nicht nachtragend ist und einen kühlen Kopf bewahrt hat.“

„Was meinst du damit?“ Die Augen der Adelstochter verengten sich leicht. Misstrauisch begutachtete sie ihren Vater und vergaß darüber hinaus die förmliche Anrede. „Wieso sollte er unversöhnlich sein?“

Der Graf läutete das feine Glöckchen und es dauerte nicht lange und eine Dienerin betrat das Zimmer. „Führe meine jüngste Tochter und seine Durchlaucht Immanuel zu mir.“

Serafina wurde es abwechselnd heiß und kalt. „Mutter! Was ist hier los?“

Die Gräfin trat erst einen Schritt hinter ihren Gatten, so dass sie vor einem zufälligen Blick seinerseits geschützt war, ehe sie leicht den Kopf schüttelte und ermahnend einen Finger an ihre Lippen legte. Serafina beschlich ein seltsames Gefühl. Kälte kroch in ihr hoch und breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Um nicht zu zittern, spannte sie sämtliche Muskeln an. Es dauerte nicht lange und die Tür öffnete sich für die aufgeregt hereinstürmende Sophie. Diese eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihren Vater zu und sank vor ihm auf die Knie. Ihre Hände legten sich in die seinen und mit großen, strahlend grünen Augen sah sie zu ihm auf.

„Oh, Vater, ich bin ja so glücklich. Noch nie war ich je so glücklich wie an diesem Tage.“

„Seine Erlaucht!“

Anhand der süß freundlichen Stimme drehte Serafina sich verblüfft zu Immanuel um. Von seiner hässlichen Fratze am Fluss war nichts mehr zu sehen. Er wirkte galant und charmant wie immer und kam strahlend näher. Beinahe wäre sie dem Impuls verfallen, die Visage vom Fluss ihrer Einbildung zuzuschreiben. Ihr Vater erhob sich und ging dem Fürstensohn entgegen. Beide reichten sich erfreut die Hände. Die Begrüßung fiel derart warm aus, dass sie nur falsch sein konnte. Die Welt nicht mehr verstehend, blickte Serafina zu ihrer Mutter. Diese ermahnte sie mit strengem Blick Haltung zu bewahren. Und die hatte sie dringend nötig.

„Oh, teure Schwester, heute ist der glücklichste Tag meines Lebens. Ich werde mich vermählen.“ Sophie stürmte heran und packte Serafina an den Händen. In ihrem Übermut drehte sie sich im Kreis, so dass ihre Schwester gezwungen war es ihr gleich zu tun. Verwirrt betrachtete Serafina das strahlende Gesicht Sophies. „Du wirst heiraten? Aber ...?“

„Der Sohn des Fürsten hat heute Morgen um meine Hand angehalten.“

Serafina blinzelte. Ihr Atem setzte aus. Immanuel? Der Immanuel? Abrupt blieb sie stehen, so dass auch ihre Schwester es ihr gleichtat. „Aber ...“

„Ist das nicht wunderbar. Er sagte, dass er dich nicht heiraten könne, weil er sein Herz an mich verloren hatte, als wir uns das erste Mal begegnet waren. Er hatte als gehorsamer Sohn seines Vaters der auferlegten Pflicht nachkommen wollen, doch er kann sein Herz nicht weiter vor der Wahrheit verschließen. Er hat mir versichert, dass du ihm seinen Segen gegeben hast, weil du nichts für ihn empfinden würdest. Oh, Serafina, meine Teuerste, ich bin ja so glücklich. Ist das nicht romantisch?“

Serafina entzog ihrer Schwester die Hände. Immer noch um Luft ringend starrte sie auf die freudestrahlende Braut, welche nun in die Arme ihres Verlobten sank. Glückselig lag Sophie an dessen Brust und strahlte dabei ihren Vater an. Dieser schlug seinem künftigen Schwiegersohn anerkennend auf die Schulter, ehe er liebevoll über das goldene Haar seiner jüngsten Tochter strich.

Bewahre Haltung! Serafina wankte. Die anfängliche Kälte wandelte sich in Eiseskälte. Ihr Magen hob und senkte sich, während ihr Atem flacher wurde. Kontenance! Wie oft hatte ihre Mutter Selbstbeherrschung gepredigt und wie oft hatte sie ihre gestrenge Mutter dafür im Stillen verflucht. Doch nun bewahrte diese eingetrichterte Lektion sie vor einem großen Fehler. Sie spürte, wie ihre Miene ausdruckslos wurde. Langsamen Schrittes ging sie zum nächsten Stuhl und ließ sich kerzengerade darauf nieder. Noch vor drei Wochen hatte Immanuel ihr seine unendliche Liebe gestanden und heute? In ihrer Benommenheit hätte sie beinahe die euphorischen Worte ihres Vaters überhört. Hatte er gerade etwas von einer zweiten Hochzeit gefaselt?

„Wer heiratet denn noch?“ Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein leiser sarkastischer Unterton in ihre Stimme einschlich.

„Eine Doppelhochzeit! Ist das zu glauben?“ Sophie klatschte aufgeregt. „Stell dir vor: die vielen Menschen, die Feierlichkeiten, die zahllosen Geschenke und Glückwünsche ...“

Nun mischte sich Mutter ein. Sie nahm Serafinas Hände auf und strich ihr sanft über die Wange, ganz so als würde sie ihre Tochter dazu auffordern, jetzt alle Kraft zusammen zu nehmen. „Auch du wirst heiraten, mein Kind!“

Serafina blinzelte. Es dauerte eine Weile, bis sie den Sinn dieser Worte begriff. „Ich werde was?“ Die älteste Adelstochter sprang so heftig auf, dass der Stuhl nach hinten umkippte und krachend auf dem edlen Parkettboden aufschlug. Eben noch hatte sie geglaubt, einen Mann zu heiraten der sie liebte, nur um zu erfahren, dass dieser sein Eheversprechen gelöst hatte, um dieses unverzüglich seiner angedachten Schwägerin zu schenken. Wie konnte ihr Vater nur so grausam sein und sie – ohne Zeit zu verlieren – einem anderen Mann versprechen? Ein scharfer Stich zuckte durch ihre Brust. Wer sollte das überhaupt sein?

Das Krachen des polternden Stuhles sorgte dafür, dass sich der Graf wieder an seine älteste Tochter erinnerte. Seine Augen richteten sich glühend auf sie. Er erkannte ihr Dilemma und ein bissiges Lächeln schlich sich auf seine Züge. „Glaubt Sie wirklich, ich würde Ihr Verhalten weiter dulden, zumal wir der Gesellschaft glaubhaft machen müssen, warum Sophie an Ihrer statt seine Durchlaut Immanuel heiraten wird? Im Übrigen ist es an der Zeit, dass sich ein anderer Mann um Sie kümmert, jemand, der die Geduld und Kraft besitzt, eine Furie zu zähmen.“

Mit offenem Mund starrte Serafina ihren Vater an. War das Wirklichkeit oder nur ein böser Traum? Flehend wirbelte sie zu ihrer Mutter herum und nahm deren Hände auf. „Mutter, bitte. So tun Sie doch etwas. Ich kann nicht einfach einen anderen Mann heiraten! Das kann nicht Ihr Ernst sein?“

Ein sanftes Lächeln umspielte die Lippen der Gräfin, während ihr Blick hastig zu ihrem Gatten glitt, ehe sie ihrer Tochter erneut liebevoll über die Wangen strich. „Mein liebes Kind, vertraue mir. Ich habe deinen künftigen Ehemann ausgesucht. Dein Vater war mit der Wahl einverstanden.“ Serafina entriss ihr ihre Hände. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Es ist Conte Vittorio aus dem Hause Braida.“

„Conte was?“

Ihr Vater machte sich nicht die Mühe an sie heranzutreten, während er ihr den Auserwählten bekannt gab. „Er ist ein Graf aus einer langen Reihe Adliger. Sie sollte Ihrer Mutter auf Knien danken, dass ich Sie nicht dem nächstbesten Landmann versprochen habe, so dass Ihr die Erniedrigung einer Vermählung unter Ihrem Stand erspart bleibt. Von dieser Sorte würde es Genügende geben, die sich mit einer verschmähten Braut zufriedengeben würden.“

Die Gräfin bekam die Hände ihrer ältesten Tochter zu fassen und tätschelte diese. Sie waren eiskalt, während ihre Stimme warm klang, ganz so, als wolle sie ihr Kind aufwärmen. „Er heißt Vittorio und stammt aus dem Königreich Italien. Er hat der Hochzeit zugestimmt und ist auf dem Weg hierher. Sobald er eingetroffen ist, wird er förmlich um deine Hand anhalten.“

Die Gräfin hätte noch so sanft sprechen, noch so beruhigend die Hand ihrer Tochter streicheln können, es hätte nichts mehr an Serafinas Fluchtgedanken geändert. Königreich Italien. Ein wildfremdes Land, eine nicht vertraute Sprache, ein unbekannter Mann.