Sex and the Dorf - Julia Kaufhold - E-Book
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Sex and the Dorf E-Book

Julia Kaufhold

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Beschreibung

„Sex mit dir ist langweilig“, sagt Simon. Nach acht Jahren. Und geht. Da hält Caro es einfach nicht mehr aus in Hamburg. Weil sie schon immer raus aufs Land wollte, heuert sie kurzerhand bei einer Dorfzeitung an – wo sich ihre Bullerbü-Fantasien schnell an der güllegeschwängerten Luft zersetzen. Außerdem kennt sie kein Schwein. Das ändert sich, als sie Saranya, Karrierefrau in Stilettos, und Landei Nelly trifft. Sie alle sind über 30 und Single: eine Dorf-Rarität. Kein Wunder also, dass es nicht nur bei Gesprächen über Männer, Sex und Liebe bleibt – um Caros Selbstbewusstsein wiederzubeleben, braucht es Taten! Als dann auch noch ein gewisser Herr Groß auf den Plan tritt und die Freundinnen um ihr Dorf kämpfen müssen, haben sie eine ebenso pikante wie brillante Idee ...

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Seitenzahl: 451

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Buch

»Sex mit dir ist langweilig«, sagt Simon. Und geht. Da hält Caro es einfach nicht mehr aus in Hamburg. Weil sie schon immer aufs Land wollte, heuert sie kurzerhand bei einer Dorfzeitung an – wo sich ihre Bullerbü-Fantasien schnell an der güllegeschwängerten Luft zersetzen. Außerdem kennt sie kein Schwein. Das ändert sich, als sie Saranya, Karrierefrau in Stilettos, und Landei Nelly trifft. Sie alle sind über 30 und Single: eine Dorf-Rarität. Kein Wunder, dass es nicht nur bei Gesprächen über Männer, Sex und Liebe bleibt – um Caros Selbstbewusstsein wiederzubeleben, braucht es Taten! Als dann auch noch ein gewisser Herr Groß auf den Plan tritt und die Freundinnen um ihr Dorf kämpfen müssen, haben sie eine ebenso pikante wie brillante Idee …

Weitere Informationen zur Autorin und zu ihren Romanen

finden Sie am Ende des Buches.

Julia Kaufhold

Sexand the Dorf

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. 1. Auflage

Taschenbuchausgabe Juli 2015

Copyright © 2015 by Julia Kaufhold

Copyright © 2015 by Wilhelm Goldmann Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Getty Images/Phil Ashley; FinePic®, München

LT · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-12441-0V002

www.goldmann-verlag.de

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Für S. und F.

≈ 1 ≈

Das wird es sein. Mein neues Leben. Vermutlich beginnt es genau in diesem Moment.

Ich drücke mir den Ärmel meiner Lederjacke vor die Nase. Dass mein neues Leben nach Gülle riechen würde, hat mir keiner gesagt. Und auch nicht, dass der Startschuss gerade dann fällt, wenn mein Kopf im Fenster eines klapprigen Kleinbusses auf und ab federt. Unter meinem Kinn ein großes geschwungenes »Schau hair!«, Werbung für Haar-Moni, den Friseursalon einer gewissen Monika. In großen Lettern steht da einmal quer über der Außenseite des Busses: »Senioren-Kranzhaarschnitt 11 Euro.«

Wenn ich darüber nachdenke, hätte ich den Duft von heißer Schokolade für den Anfang ziemlich passend gefunden, und eigentlich wäre ein Flugzeug ganz schön gewesen, als Symbol. Irgendetwas, das mich möglichst schnell von meinem alten Leben trennt – von dem, was davon übrig geblieben ist. Am besten wäre es, wenn ein ganzer Ozean zwischen meinen zwei Leben läge. Oder der Ärmelkanal, da könnte ich mich zur Not am Rücken eines Kanalschwimmers festklammern und wieder zurückziehen lassen. Wenn das mit dem neuen Leben doch nicht klappt.

Es wird gehen.

Es muss gehen! Einen Plan B gibt es nämlich nicht.

Ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe, draußen ist alles grau, so grau und diesig, dass Felder und Himmel eine einzige kahle Fläche bilden. Hier und da ein Baum, ein Mast und immer wieder Stromleitungen. Leere Wäscheleinen am Horizont.

Eigentlich müsste ich sogar sagen: Einen Plan C gibt es nicht. Denn das, was ich hier tue, ist bereits die B-Variante dessen, was ich mit meinem Leben vorhatte. Mein ursprünglicher Plan existiert nicht mehr, er wurde vor genau zehn Wochen, zwei Tagen und etwas über dreizehn Stunden durch einen einzigen Satz gekillt: Sex mit dir ist langweilig.

Die Landschaft zieht an mir vorbei wie ein breiter, borstiger Pinselstrich, mittendrin ein rotes Blinken, ich drehe mich um. Auch wenn ich mir vorgenommen habe, ab heute nicht mehr zurückzuschauen. Das Leuchtreklameblinken kommt von einem Wohnwagen, der am Rand eines Feldwegs parkt. An seinem Rückfenster klebt ein Herz, durchbohrt von einem Pfeil: »Open.« Allzeit bereit und ganz bestimmt nicht langweilig. Ich schlucke. Und kann nicht wegsehen, bis das Herz kleiner wird und ich es irgendwann nicht mehr erkennen kann.

Der A-Plan, an den ich lange Zeit geglaubt habe, ging so: Simon und ich sind noch ein paar Jahre zu zweit und in Hamburg glücklich, dann heiraten wir, kriegen Kinder, ziehen raus aus der Stadt und leben zusammen, bis ans Ende unserer Tage. Ich dachte, das wäre so einfach.

Jetzt ziehe ich allein raus. Und viel weiter weg, als meine Vorstellung jemals gereicht hat.

Der Bus rumpelt weiter über die holprige Fahrbahn, das Gummi des Scheibenwischers quietscht auf dem Glas. Knut schaltet ihn ab und wischt mit einem Lappen über die beschlagene Windschutzscheibe. Knut Groß ist pensionierter Landwirt und ehrenamtlicher Fahrer des Bürgerbusses. Er hat mich an der winzigen Bahnstation, drei Dörfer vor Büttelsbüttel, eingesammelt. Nur mich, sonst keinen.

»Einfach Knut«, hat er gesagt und gelächelt, als ich mit Sack und Pack und der aktuellen Landlust-Ausgabe aus dem Zug stieg und nicht so recht wusste, nach wem ich Ausschau halten sollte. Mit Knut werde ich jetzt wohl häufiger zu tun haben, denn er ist auch mein neuer Vermieter.

»Willkommen in Büttelsbüttel« steht auf dem dreckig weißen Banner, das die Fahrbahn überspannt.

»Willkommen in Büttelsbüttel«, sagt auch Knut, tritt auf die Bremse und lenkt den Bus in eine schmale Straße. Dabei nimmt seine Stimme einen so dynamischen Tonfall an, dass ich unwillkürlich an meinen Vater denken muss. Der hatte in den letzten Wochen einen neuen, unnatürlichen sprachlichen Schwung entwickelt, vor allem wenn er sein Lieblingsmantra »Neuanfang« aus dem Hut zauberte und mir wie ein Geschenk hinhielt. Als müsste ich sogleich freudestrahlend zugreifen, in die Hände spucken und mit was auch immer unverzüglich loslegen.

Die großen knorrigen Bäume links und rechts neigen sich zur Straßenmitte, ihre Kronen treffen sich im Himmel. An einem prangt ein beuliges Blechschild, auf dem »Schiefe Bäume!« steht und ein LKW abgebildet ist, der einen Baumstamm rammt.

Knut folgt meinem Blick. »Is’ mal passiert, 87.«

Er kurbelt das Fenster ein Stück herunter, frische Luft strömt ins Wageninnere. Sehr frische Luft. Sommerregen und geschnittenes Gras oder einfach nur sehr saftiges, ungemähtes Gras. Und noch mehr Gülle, die alles übertüncht, so wie die Ausdünstungen von Pissoirs, wenn man in schrammeligen Clubs das Herrenklo benutzt, um sich nicht in die Schlange vor der Damentoilette einreihen zu müssen.

Ich ziehe den Zettel mit der Projektskizze aus der Tasche und falte ihn auf. Sofort will etwas in mir loswinseln: Ich will nach Hause, unter die Bettdecke, mich nicht mehr bewegen, bis alles wieder richtig ist. Ich beiße die Zähne zusammen, bis meine Kiefermuskeln anfangen zu schmerzen. Nein, heute wird nicht gewinselt.

Oben auf dem Blatt steht: »Mein neues Leben ohne Simon.« Doppelt unterstrichen. Als ich den Projektplan vorgestern erstellt habe, habe ich mich kurz gefragt, ob es nicht vielleicht hilfreich wäre, sich für ein Projektmanagement-Seminar anzumelden. Den Gedanken habe ich gleich wieder verworfen. Nicht nur weil die Zeit bis zum Projektstart, also bis heute, zu knapp gewesen wäre, sondern weil mir beim Sichten der Seminarangebote schnell klar geworden ist, dass da auch nur mit Wasser gekocht wird. Am Ende hätte ich vielleicht ein schickes, womöglich farbiges Hierarchie-Diagramm gehabt, so ein Ding mit Kästchen, die sich zu immer mehr Kästchen verzweigen, mit Teilaufgaben und Arbeitspaketen, vielleicht hätte ich sogar an einem Rollenspiel mit differenzierter Videoanalyse teilgenommen – und was wäre dadurch gewonnen?

Schließlich habe ich mir in Eigenregie einen neuen Kugelschreiber gekauft, meinen ersten Nicht-Plastik-Kugelschreiber, weil ich dachte, dass es passender sei, einen zu benutzen, den Simon ganz sicher noch nicht in der Hand gehabt hat, und einfach drauflosgeschrieben.

Projektziel: Glücklich sein. Das ist doch das Ziel eines jeden Projekts, oder?

Wann ist das Projektziel erreicht: Wenn mich der Gedanke an Simon nicht mehr traurig macht. Wenn ich mich umsehe und denke: Ja, das ist mein Leben, und es ist schön, so wie es ist.

Mit gefühlten zehn Kilometern pro Stunde passieren wir ein Plakat der Freiwilligen Feuerwehr: »Cool genug für einen heißen Job?« Können wir nicht schneller fahren?

Wie erreiche ich das Projektziel:

Sicherer Job.

Da kann ich gleich das erste Häkchen setzen, schließlich habe ich einen Job. Meine erste Festanstellung. Als Redakteurin beim, äh, Büttelsbüttler Boten. Eine Dreiviertelstelle. Da bleibt mir genügend Zeit für all die anderen Projektschritte.

Leute kennenlernen.

Der Bus tuckert an einer Rollatorparade vorbei, bestehend aus vier grau gelockten und zwei fliederfarben frisierten Damen. Ich lockere mein Bein, als ich merke, dass ich meinen Fuß in die Gummimatte vor mir gestemmt habe, als wäre da ein Gaspedal. Die Straßen sind doch frei.

Na, ich bin ja mal gespannt auf die jüngeren Leute. Oder sollte ich sagen: auf die Leute mittleren Alters? Irgendwo hab ich gelesen, dass man ab fünfunddreißig offiziell zur Gruppe der Menschen mittleren Lebensalters gehört. Und dass jede Gruppe ihre eigenen Entwicklungsaufgaben bewältigen muss. Bei den jungen Erwachsenen, also bei denen zwischen achtzehn und vierunddreißig, sind das: heiraten, Kinder kriegen, im Berufsleben ankommen und einen eigenen Lebensstil finden.

Und wie alt bist du jetzt, Carolin Punke? Sechsunddreißig? Tja, damit hast du die Zielvorgaben leider nicht erreicht. Übrigens, wusstest du, dass manche Forscher den Schnitt zwischen frühem und mittlerem Erwachsenenalter sogar schon bei dreißig Jahren ansetzen? Für diese Einteilung spricht einiges, beispielsweise …

Aufhören! Sofort!

Rechts ein Feld mit Strohballen, die in Folie eingeschweißt sind, so sieht es zumindest aus, links eine Kuhwiese. Da, wer sagt’s denn! Da ist ja schon ein jüngeres Exemplar. Mitten auf der Weide steht eine Frau. Anfang dreißig, würde ich sagen. Knut unterhält sich aus dem Fahrerfenster mit den Rollatorladys, während ich meine potenzielle neue Freundin aus der Ferne in Ruhe mustern kann. Also, da wäre erst mal ihr knielanges Sommerkleid, weiß mit rosaroten und lilafarbenen Blüten, das ziemlich, nun ja, bäuerlich aussieht. Vermutlich ist sie ja auch Bäuerin. Sie hält die Weide in Schuss und treibt die Kühe durch die Gegend und … Was tut sie denn jetzt? Die Frau hat die Arme ausgebreitet, ihre Handflächen zeigen in Richtung Himmel. So verharrt sie, als würde sie darauf warten, dass es regnet oder dass Blütenblätter aus den Wolken fallen oder Sterntalersterne. Nee, das ist keine Bäuerin, das ist eine nacktfüßige Esobraut, die im Übrigen nicht einmal ein Bäuerinnenkopftuch trägt.

Tragen Bäuerinnen überhaupt noch Kopftücher? Oh Mann, ich hab ja so was von keine Ahnung von Landwirtschaft und Landleben. Da muss ich mich ganz fix und möglichst unauffällig einarbeiten. Schließlich soll ich ja in Kürze für die Bewohner dieses Dorfes schreiben, da kann ich mich ja nicht gleich zu Beginn als komplett unwissend outen. Eigentlich absurd, man schreibt ja auch nicht über Finanzwirtschaft, wenn man nicht weiß, was ein … also, wie die ganzen Sachen da eben so heißen.

Ein Wunder, dass die mich beim Büttelsbüttler Boten überhaupt genommen haben. Um ehrlich zu sein, hat meinen neuen Chef am meisten interessiert, wann ich anfangen kann. Als ich sagte: »Sofort«, rief Geert-Helge Hahn durchs Telefon: »Fantastisch, dann sehen wir uns in drei Tagen!« Mein Herz klopfte wie verrückt, plötzlich ging alles so schnell, nachdem die Zeit wochenlang stillgestanden hatte. Oft hatte ich nicht einmal gewusst, ob die Sonne gerade auf- oder unterging, bis ich endlich begriff, dass es nichts änderte, wenn ich im Bett lag und wartete. Und auch, dass es mir nicht guttat, meinen kalten Fuß immer wieder auf Simons leere Betthälfte zu schieben.

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und rutsche tiefer in den Sitz.

Vorab persönlich kennenlernen wollte mich Geert-Helge Hahn nicht. Und wissen wollte er auch nichts. Nicht einmal, ob ich weiß, was ein Mähdrescher ist. Oder ein Miststreuer. Dabei hatte ich mir vor dem Gespräch extra noch den WAS-IST-WAS-Band Bauernhof kommen lassen. Wirklich, ich finde, WAS-IST-WAS-Bücher sind als journalistische Quellen absolut unterschätzt. Einmal musste ich fürs Hamburger Abendblatt den Sprecher eines Stromkonzerns zum Thema erneuerbare Energien interviewen. Dank WASISTWASEnergie überhaupt kein Problem.

Oh Gott, was macht die Frau auf der Weide denn jetzt? Ich drücke mich im Sitz hoch. Sie hüpft. Ihr Kleid flattert, sie springt zwischen den Kühen umher, die unbeeindruckt weitergrasen. Ist das normal?

Natürlich habe ich mich über Büttelsbüttel informiert und gelesen, dass das Dorf nur dreihundertsiebzig Einwohner hat. In ihrer Winzigkeit ist mir die Zahl allerdings immer irgendwie abstrakt vorgekommen, jetzt plötzlich füllt sie sich mit Leben. Mit sehr seltsamem Leben.

Ich atme tief durch. Was soll’s? Ich habe einen Job, da wird es Kollegen geben, und da mein neues Ich ausgesprochen offen ist für Freundschaften am Arbeitsplatz, werde ich mir meine Mittagspausen und Abende gut einteilen müssen. Nicht dass ich in Stress gerate. Beim Büttelsbüttler Medium Nummer eins sitze ich außerdem direkt an der Quelle aller Informationen und werde immer als Erste wissen, wo was los ist. Ich werde Vereinen beitreten, kulturelle Veranstaltungen besuchen, ein Interesse für Landwirtschaft entwickeln und auf diese Weise unzählige, na ja, maximal dreihundertsiebzig neue Leute kennenlernen. Mehr als genug.

Spaß haben.

Mit meinen dreihundertsiebzig neuen Freunden werde ich ausgehen, in überhitzten Zelten süßen Sekt trinken, zum DJ rennen, weil der Songs spielt, die ich kenne, und schreien: »Den kenn ich!«, und: »Hast du auch Like a Prayer oder Eternal Flame?«, und ein anerkennendes DJ-Nicken ernten. Ich werde mich fühlen wie sechzehn!

Und wenn ich darauf keine Lust habe, werde ich mich stattdessen auf illustren Gartenfesten tummeln. Alter Baumbestand, eine lange Tafel inmitten einer wild blühenden Wiese, Pferde, die schnaubend ihre Köpfe über den Zaun strecken, selbst geernteter Feldsalat und riesige Kürbisse, Einmachgläser mit zartrosa Schleifen umwickelt, umfunktioniert zu kleinen Vasen, Ranunkeln, bunte Lampions in den Bäumen.

Und: Ich will Trecker fahren! Mein heimlicher Wunsch, seit ich das erste Mal Wir Kinder aus Bullerbü vorgelesen bekommen habe, also seit über dreißig Jahren. Lenken muss ich das Ding zwar nicht, aber ich würde gerne einmal oben mitfahren und das Schaukeln unterm Hintern spüren.

Neue Dinge lernen.

Ich habe vor, mir ein neues Hobby zuzulegen. Ein typisches Landlebenhobby. Bin noch etwas unentschieden: Soll ich lieber Ziegenkäse herstellen, Wildkräuter sammeln und trocknen oder Patchworkdecken nähen? Da hat man plötzlich ganz andere Möglichkeiten als in der Großstadt! Ich könnte einen DaWanda-Shop aufmachen und ein wildes Do-it-yourself-Potpourri anbieten. Außerdem werde ich mir die Highlights meines neuen Wohnorts ausgiebig zu Gemüte führen. Habe gelesen, dass es in Büttelsbüttel ein tolles Museum geben soll. Endlich habe ich Zeit für solche Dinge.

Mir selbst etwas Gutes tun.

Ab jetzt werde ich jeden Morgen vor der Arbeit durch die Natur joggen. In Hamburg ging das ja nicht, ich meine, ich kann meinen Körper ja nicht mit Autoabgasen vergiften, wenn ich mir eigentlich etwas Gutes tun will. Den allzu sezierenden Blick in den Spiegel habe ich in den letzten Wochen vermieden, aber ich ahne, dass ich nicht mehr ganz so knackig bin wie noch vor acht Jahren, als ich Simon kennengelernt habe. Ich weiß es zwar nicht mehr genau, aber doch, ich meine mich zu erinnern, dass ich damals ziemlich knackig ausgesehen habe. Wie dem auch sei, jetzt bin ich wieder auf dem Markt, da lohnt es sich zu investieren.

Quatsch, ich jogge für mich, nicht für den Markt. Natürlich.

Überhaupt werde ich mich viel an der frischen … Vorher muss ich unbedingt herausfinden, wann hier gedüngt wird. Das wird ja immer schlimmer mit dem Gestank! Vielleicht gibt es sogar eine Art Düngeplan, wie einen Gezeitenkalender, den ich mir aufs Handy ziehen kann, mit Alarmfunktion samt Entwarnung: Die Luft ist rein – Spazierengehen möglich.

Und gesund kochen werde ich. Am Herd hat sich bislang Simon ausgetobt, während ich am Küchentisch saß, ein Glas Rotwein vor mir, und hier und da Schnippelarbeiten erledigen durfte. Oft bin ich allerdings nicht einmal dazu gekommen, weil Simon mir das Schneidebrettchen unterm Messer weggezogen hat. Entweder sollten es Karottenstifte statt -scheiben sein – was zu bewerkstelligen mir schlichtweg unmöglich ist, zumal gleich große Stifte –, oder die Zwiebelstücke hätten filigraner sein müssen, wozu mir einfach die Geduld fehlt. Ab jetzt gibt es bei mir geviertelte Zwiebeln mit dicken Karottenscheiben, dazu saisonale, regionale Leckereien aus Biozutaten, alte Gemüsesorten mit neuem Twist – über den ich noch nachdenken werde –, Stampf statt Püree.

Simons Sachen entsorgen.

Weiter zum nächsten Punkt.

Neuer Mann/Sex.

Diesen letzten Arbeitsschritt habe ich nur der Vollständigkeit halber aufgenommen. Ich mag nicht einmal daran denken, einen anderen Mann als Simon zu küssen.

Und ich kann auch nicht daran denken, dass alles ganz anders kommen könnte. Sicher, das könnte es, aber heute ist nicht die Zeit für Gegenentwürfe. Heute steht alles auf Anfang. Always look on the bright side … Ich grabe meine Fingernägel in die Landlust.

»Also«, sagt Knut, und ich muss kurz zwinkern, »da wär’n wir. Hier bin ich geboren, und hier werde ich sterben.« Er geht auf die Bremse, der Bus holpert noch langsamer, im Schritttempo, weiter. »Wir haben diese eine gepflasterte Straße, ansonsten Feldwege.« Mit großer Geste zeigt er nach rechts, ich folge seiner Handbewegung – ins Nichts. »Der hier führt zur Gaststube, dem Schützenhof, und zur Mehrzweckhalle. In der Hauptstraße gibt’s weiter vorn einen Kaufmann, den Kil, einen Schlachter, Karl Dempewolf junior – der Senior hat vergangenes Jahr ins Gras gebissen –, die Kirche und den Friedhof. Wenn man die Straße bis zum Ende fährt, steht man vor unserem Museum. Dahinter ist der Schwimmteich. Das war’s. Reicht ja auch.« Er hupt, ein Mann auf einem Elektrofahrrad winkt zurück.

Ich winke vorsichtshalber auch mal. Der Fahrer gibt Gas.

Dreihundertsiebzig minus einem Elektrofahrradmann, einer hopsenden Hortensie und sechs Rollatorfrauen macht immer noch dreihundertzweiundsechzig potenzielle Freunde.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr, eine Hand, direkt vor meinem Gesicht. Ich zucke zurück. Mein Oberkörper klappt auf die Sitzbank. Verdammt, was war das? Vorsichtig luge ich unter meinem Arm hervor. Tatsache, da ist eine Hand, zwei sogar. Gut, sie sind draußen, hinter der Scheibe. Aber im ersten Moment hat es so ausgesehen, als hätte ich gleich eine Faust im Gesicht. Langsam richte ich mich wieder auf.

An den Händen hängt ein schmächtiger Mann. Er läuft neben dem Bus her. Um genau zu sein: Er hoppelt. Okay, vielleicht habe ich mit dem In-Deckung-Gehen etwas übertrieben. Der Mann kreuzt die Arme über dem Kopf wie ein Fluglotse, allerdings sind seine Bewegungen deutlich abgehackter. Die Flusen seines Ponys fallen ihm in die Augen, er trägt ein weißes T-Shirt mit aufgedrucktem … Ist das ein Foto vom Papst? Und er hat sich einen Stoffbeutel um den Hals gehängt, der ungestüm hin und her pendelt.

Dreihunderteinundsechzig.

»Offen und vorurteilsfrei«, bahnt sich da ein weiteres Mantra meines Vaters den Weg in mein Bewusstsein.

Schon gut, dreihundertzweiundsechzig. Aber jetzt muss ich für einen Moment die Augen schließen.

≈ 2 ≈

Und schon sind sie wieder da, die Erinnerungen.

Sekundenlang stand ich mit der Proseccoflasche in der Wohnzimmertür und sah auf Simon hinunter, der auf dem Sofa eingefroren zu sein schien. Eigentlich hatte ich geglaubt, er würde aufspringen, mich umarmen, vielleicht sogar herumwirbeln, wenn ich ihm von meinem Auftrag für die Brigitte erzählte. Es ging um eine Serie zum Thema »Wie wollen wir leben?«. Fünf Ausgaben lang sollte ich auf jeweils vier Seiten darüber sinnieren, welche Vor- und Nachteile die Großfamilie in nächster Nähe hat, ob es fürs eigene Seelenheil besser ist, zu mieten oder zu kaufen, oder ob man als Single glücklicher ist als in einer Beziehung (was für eine Frage!).

Ein Auftrag dieser Größenordnung hieß, dass ich endlich meinen Anteil an unseren Fixkosten aufstocken könnte. Bislang hatte Simon von seinem Dermatologengehalt den Großteil bestritten. Hey, wer hätte gedacht, dass die Brigitte mal meine Emanzipation vorantreiben würde?

»Simon? Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Ich ging zu ihm hinüber und drückte ihm ein Sektglas in die Hand, schließlich gab es etwas zu feiern.

Zusammengesunken und mit einem Ausdruck, den ich nicht von ihm kannte, starrte er auf den Boden. Das Glas in seiner Hand schien er gar nicht zu bemerken.

»Alles in Ordnung?«

Die Flasche war kalt an meinem Bein, und als ich ihn so ansah, wusste ich plötzlich, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Mein Herz pochte, ein schnelles kleines Klopfen, als hätte es sich zusammengezogen und wäre ein Stück heruntergerutscht, wie um sich zu verstecken. Simons Blick war leer, er zitterte. Ein winziges gleichmäßiges Zucken, als würde er lautlos weinen.

»Simon?« Ich trat näher an ihn heran.

Er schluchzte.

»Was ist los?« Ich fasste ihn an der Schulter.

Simon stellte das Glas ab, dann beugte er sich nach links und griff nach der Taschentuchpackung auf dem Beistelltisch. Ich verfolgte jede seiner Bewegungen. Wie er ein Tuch aus der Verpackung zog, es langsam auseinanderfaltete und sich in seiner diskreten Art leise die Nase putzte.

Immer wenn ich seitdem die Augen schließe, sehe ich genau das, und manchmal habe ich den absurden Gedanken, dass, wenn keine Taschentücher da gewesen wären und Simons Augen einfach weitergetränt hätten, dass dann alles anders gekommen wäre. Dass wir dann immer noch Simon und Caro, Caro und Simon wären.

Er stopfte das Taschentuch in seine Hosentasche, sein Blick war jetzt klarer. »Ich weine hier, als wäre ich das Opfer. Das ist geschmacklos.«

Ich konnte nichts sagen. Er griff nach meiner Hand, ließ sie aber gleich wieder los, noch bevor sich seine Finger richtig um meine geschlossen hatten.

»Ich weiß, dass ich dir jetzt unheimlich wehtue.« Er stand auf und nahm meine flaschennasse Hand nun doch in seine. Aber es war ganz anders als sonst, wenn er meinen Handballen sanft mit dem Daumen streichelte. Was er immer tat, wenn sich unsere Hände fanden, im Kino oder wenn wir am Elbstrand spazieren gingen. »Ich kann das nicht mehr.«

Was?, wollte ich rufen, aber es kam kein Ton heraus.

»Ich fühle mich überhaupt nicht mehr … lebendig.«

Meine Hand lag in seiner wie ein kalter, toter Fisch.

»Ich will so nicht weiterleben. Ich brauche mehr.«

»Was?«, rief ich nun doch.

»Sex.« Er sah an mir vorbei. »Ja, es klingt absurd. Aber ich hätte gerne mehr Sex. Anderen. Vor allem anderen. Ich finde … Es ist … langweilig.«

Ich starrte ihn an. Es war, als ob ein Wust an Informationen auf mich einprasselte, für die es in meinem Hirn keine Zuständigkeit gab. »Aber es ist doch alles wie immer!«

»Ja, es ist wie immer.« Seine Stimme war leise.

Meine wurde schriller. »Heißt das, es war schon immer langweilig mit mir?« Dieses Gespräch kam mir völlig irrwitzig vor.

»Natürlich nicht. Aber jetzt, jetzt reicht es mir nicht mehr.«

Ich entzog ihm meine Hand und trat zurück, die Fäuste an meinen Seiten geballt. »Aber was denn genau? Was ist langweilig? Was reicht dir nicht?«, schrie ich.

Er seufzte. »Wollen wir diesen Weg wirklich einschlagen?«

»Du hast den Weg doch vorgegeben!« Ich machte ein paar Schritte von ihm weg. »Und jetzt soll ich mir den Rest selbst zusammenreimen?«

Er setzte sich wieder. »Ich will dir nicht noch mehr wehtun.« Bevor ich etwas darauf erwidern konnte, redete er weiter: »Okay. Gut. Ich sag’s jetzt so, wie es ist.« Er räusperte sich. »Mir ist es wichtig, dass man einfach mal leidenschaftlich übereinander herfällt, statt sich im Vorfeld darüber auszutauschen, dass man gleich Sex hat. Ich würde gerne häufiger überrascht werden. Mit Dessous und auch mit neuen Stellungen. Und nicht nur im Bett. Ja, ich glaube, alles in allem hätte ich gerne eine aktivere Frau. Und eine lautere. Da darf es ruhig auch mal ein bisschen Dirty Talk geben. Mir ist das alles zu … zu weichgespült, zu sauber, zu unspontan. Einfach zu langweilig.« Er atmete aus.

Für einen Moment war ich sehr ruhig. Sah ihn mir an, wie er dasaß, den Blick gesenkt. Seine Worte hallten in mir nach. Eine lautere Frau, dachte ich. Nicht: Ich hätte gerne, dass du lauter bist.

Das Sektglas entglitt mir. Ich weiß nicht mehr, ob es zersprang. »Du machst Schluss.«

Simon stand auf, kam zu mir herüber und wollte mich umarmen. Mein Körper versteifte sich.

»Machst du Schluss?« Ich zitterte.

Wieder berührten seine Hände meine Arme, legten sich um meinen Hals.

Ich zitterte. Das war nicht Simon. Das war, als stünde ein Fremder vor mir, der etwas sagte, das nichts mit mir zu tun hatte. Mit uns. Ich hob den Kopf und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, versuchte, etwas zu finden, das mir zeigte, dass ich alles falsch verstanden hatte. Aber da war nichts.

»Du machst Schluss wegen Sex?«

Ich spürte sein Nicken an meinem Scheitel.

»Aber«, ich machte mich los, »aber warum hast du denn nie was gesagt? Ich hätte doch …«

»Ach Caro.« Seine Stimme war ruhig. »Das wäre doch alles nur aufgesetzt gewesen. Außerdem, ich hab’s doch oft versucht. Zum Beispiel damals in Dänemark, am Strand.«

»Da waren es keine vierzehn Grad! Und außerdem waren da ständig Leute!«

»Oder als ich dich angerufen habe, aus dem Hotel in Zürich. Da hab ich gedacht, wir könnten, du weißt schon, vielleicht mal Telefonsex haben. Da hast du nur gelacht.«

»Aber das war doch auch lustig! Wie du mit verstellter Stimme gefragt hast: ›Was hast du gerade an?‹ Und ich saß da in meiner ollen Jogginghose.«

Er schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Ich hatte halt nicht das Gefühl, dass du an alldem großes Interesse hast.«

»Doch, hab ich!«, rief ich und hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Aber ich musste den Alarm übertönen, der in mir und um mich herum schrillte, der mich nicht mehr klar denken ließ. »Und jetzt weiß ich ja, dass dir das auch wichtig ist. Jetzt kann ja alles anders werden!«

Simon schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät.«

»Aber wieso denn?«, schrie ich.

Und als Simon nichts sagte, fing ich an, ihn zu rütteln, aber er bewegte sich überhaupt nicht.

»Der Punkt ist überschritten, Caro. Ich habe den Punkt überschritten.«

»Was soll denn das heißen? Dass du das alles so lange mit dir rumgetragen hast, bis ich nicht mehr vorkomme in deinen Überlegungen?« Ich wurde noch ein bisschen lauter. »Das ist doch unfair!«

Er schwieg.

Ich schrie, ich weiß nicht mehr, was, und konnte ihn überhaupt nicht erreichen, wie er so aufrecht und fest vor mir stand.

Irgendwann, als ich keine Worte mehr fand, sagte er: »Es tut mir leid.« Er machte eine Bewegung, als wären seine Beine eingeschlafen gewesen, und ging ins Schlafzimmer hinüber. Ich folgte ihm.

Er schob die Schranktür auf und legte seine blaue Reisetasche aufs Bett.

»Was tust du da?«

»Ich schlafe erst mal bei Micha.«

»Nein!« Ich klammerte mich an seinen Oberkörper. Tränen schossen aus mir heraus, als wäre etwas in mir aufgeplatzt, das sich in der letzten Stunde mit immer mehr Flüssigkeit gefüllt hatte.

Simons T-Shirt rutschte ein Stück nach oben, ich presste meine Wange an das Stück nackte Haut. Er zog mich zu sich hoch und nahm mich in den Arm.

Nichts wäre mir lieber gewesen, als mich tief in seiner Umarmung zu vergraben und seinen warmen Körper für immer an meinem Gesicht zu spüren. Doch zugleich wusste ich, dass er mich nur meinetwegen in den Arm nahm, weil er mich trösten wollte und ich ihm leidtat.

Ich machte mich ruckartig frei, doch schon eine Sekunde später griffen meine Hände wieder nach ihm. »Bitte«, flüsterte ich, »bleib bei mir.«

Ich merkte, wie sich Simons Körper versteifte. »Caro«, sagte er, sonst nichts.

»Bitte«, wimmerte ich und rutschte an seinen Beinen hinunter auf den Boden. »Warum?«

Simon hockte sich vor mir hin und strich mir die nassen Locken aus dem Gesicht.

Laut schluchzte ich auf. »Was hab …?« Ich konnte nicht weitersprechen und vergrub meinen Kopf in seinem Schoß. Unbeholfen strich er mir über die Haare. »In Wirklichkeit ist das Fell«, hatte er immer gesagt und dabei so zärtlich geklungen. Ich konnte kaum mehr denken. »Was?«, schluchzte ich wieder. »Was hab ich denn falsch gemacht?«

Auch jetzt, mit der Stirn an der kühlen Scheibe des Busfensters, fühlt es sich noch immer genauso an. Als hätte ich an einem Punkt unserer Beziehung irgendetwas grundlegend anders machen müssen, damit Simons Liebe nicht einfach verschwand. Sobald ich die Augen schließe, knallen die Bilder in meinem Kopf wie Tennisbälle hin und her. Mein Gesicht abends im Bett unter der Quarkmaske, mein ausgeleierter Lieblings-BH, mein verhaltenes Stöhnen, oder wie ich gesagt habe: »Komm, im Bett ist’s doch bequemer«, meine Müdigkeit, wenn Simon spätabends aus der Klinik kam. Oder als ich die teuren T-Bone-Steaks zu zähen Schuhsohlen verbraten habe und Simon sich vor seinen Kollegen dafür geschämt hat. Ich kann nicht aufhören, all die Momente unserer Beziehung zu rekapitulieren auf der Suche nach dem einen Augenblick, an dem ich in eine andere Richtung hätte abbiegen müssen.

»Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, Caro.«

»Doch, ich …«

Simon nahm meinen Kopf zwischen seine Hände. Eine ganze Weile hockte er so vor mir, seine Stirn gegen meine gedrückt, sein Atem blies warm gegen mein Kinn. Irgendwann lockerte er den Griff und ging auf Abstand.

Und auch jetzt, über zehn Wochen später, kann ich noch spüren, wie sich in diesem Moment alles veränderte. Sein Kopf entfernte sich von meinem, und die Simon-Caro-Kapsel, von der ich dachte, dass sie unzerstörbar sei, zersprang. Um mich herum nur kalte Luft und eine Entschlossenheit, die mir augenblicklich noch mehr Angst machte.

»Sie heißt Alexa.« Simons Blick war fest, aber er schien meilenweit von mir entfernt.

Und dann wusste ich nicht mehr, wo ich noch hingucken sollte.

Seine Knie knackten, als er aufstand. »Ich bin der Arsch.«

≈ 3 ≈

Wenn ich in den darauf folgenden Wochen morgens den Tag herannahen spürte und automatisch meinen Arm ausstreckte, wie ich es immer getan hatte, um ihn unter Simons Decke zu schieben, dann wollte ich nie wieder aufwachen. Wenn ich wieder und wieder ins Nichts griff und meine Hand sich mit einem Schlag eiskalt anfühlte, dann füllten sich meine Augen mit Tränen, noch bevor ich sie das erste Mal geöffnet hatte. Oft blieb ich stundenlang in dieser Welt zwischen Schlafen und Wachen und versuchte mit aller Macht, wieder wegzudriften. Kraftlos stemmte ich mich gegen den Tag, der von der anderen Seite an mir zog. Dabei wusste ich nicht einmal, was schlimmer war: Der Tag, der die Wirklichkeit in ein grelles Scheinwerferlicht zerrte, die Schwärze der Nacht und ihre Träume, in denen ich immer allein zurückblieb, oder das Wanken des Bodens dazwischen.

Wie erstarrt lag ich auf der Matratze. Simon ist nicht mehr da.

Immer nur das.

Nachts schreckte ich hoch. Jede Zelle meines Körpers schmerzte, mein Atem ging flach. Wie konnte das alles sein?

Manchmal wählte ich in der Dunkelheit seine Nummer. Beim ersten Mal hatte ich geschwiegen, als er abnahm. Ich wollte nur seine Stimme hören: »Komm schon, Caro, sag was.« Ich konnte nichts sagen, nur weinen. Ich wusste nicht, wo er war in diesen Momenten.

Etwas in mir hatte Trost erwartet, Simons Stimme nach dem ersten oder zweiten Klingeln. Ich spürte, dass er dachte, mir das schuldig zu sein. Ranzugehen. Für mich da zu sein. Ich wollte, dass meine Trauer auch seine Trauer war. Aber er war so freundlich und bemüht, ich konnte ihn nicht erreichen.

Nach solchen Anrufen hockte ich stundenlang in einer Ecke unseres Schlafzimmers und drückte mein Gesicht zwischen die Knie. Simon sollte kommen und etwas tun, damit es weniger wehtat.

Wenn er dann kam, wie früher, nach der Arbeit, klingelte er, statt seinen Schlüssel zu benutzen. Und meistens nahm er etwas mit. Klamotten, seine Hausschuhe, die Schachteln mit den Profimessern, den Grill, Bücher, den dreibeinigen Beistelltisch von seiner Oma. Unsere Wohnung wurde immer kahler. Alles fühlte sich fremd an.

Einmal packte er seinen Plattenspieler ein und die Nick-Drake-Platte. Pink Moon. Nur die eine.

»Wofür brauchst du die denn jetzt?«, blaffte ich ihn an. Und noch bevor er antworten konnte, boxte ich auf ihn ein. Tränen schossen mir in die Augen, ich sah nur noch Schlieren, aber meine Fäuste trommelten weiter auf Simons Brust.

Er hielt meine Handgelenke fest. Irgendwann gab ich nach und sank zu Boden. Mit dem Unterarm wischte ich mir über die Augen, meine Stimme war leise, als ich zu ihm hochsah: »Liebst du sie? Mehr, als du mich geliebt hast?« Ich wollte das nicht fragen, aber es kam immer mehr aus meinem Mund. »Was genau ist denn besser mit ihr? Was ist schöner?« Irgendwann schrie ich wieder: »Wie sieht sie aus? Sag schon, nimmst du sie von hinten?«

In meinem Kopf nahm diese Alexa immer mehr Raum ein. Sie war blond, sie war brünett, sie trug Spitzenunterwäsche, schwarze, weiße, rote, und hohe Hacken, weil sie sich damit am wohlsten fühlte. Nicht weil Simon sie darum bitten musste, wie er mich darum gebeten hatte. Ich stellte mir vor, wie sie sich in Umkleidekabinen an die Wand drücken ließ, wie Simon ihr mit der Hand den Mund zuhielt, wie sein Schwanz härter war, als er es bei mir jemals hatte sein können, wie sie es beide kaum mehr aushielten, wo sie gingen und standen, lange Fingernägel, die sich in seine Haut gruben, rote Striemen wie Trophäen. Abends vor dem Einschlafen ein letztes Aufbäumen statt eines Kusses über die Matratzenritze hinweg und zweier Nachttischlampen, die nacheinander gelöscht wurden.

Simon hatte recht. Sex mit mir war langweilig. Ich war langweilig.

Irgendwann riss ich die Fenster auf. Erst das im Schlafzimmer, dann alle anderen. Jeder Winkel der Wohnung war voll mit Alexa. Sie hatte sich ausgedehnt wie Giftgas, während ich immer kleiner wurde und mich kaum mehr von der grauen Bettdecke unterschied. Ich streckte meinen Kopf ins Freie und atmete gegen das Ersticken an. Lange blieb ich so stehen. Mit geschlossenen Augen, denn es war viel zu hell.

Als ich irgendwann meinen Kopf zurückzog, wurde es sofort wieder eng in meiner Brust. Als hätte der Durchzug niemals eine Chance. Ich musste raus.

An einem sonnigen Freitagmorgen im Juni setzte ich meine Sonnenbrille auf und trat hinaus auf die Straße.

Sofort taumelte ich zurück. Licht, Stimmen, Menschengruppen, klingelnde Radfahrer, der Geruch von frischen Fertigteigbrötchen, altem Frittierfett und Autoabgasen. Ich versuchte, Luft zu holen, machte einen Schritt nach vorn und kam mir augenblicklich vor wie auf der Londoner Oxford Street, für die ich schon immer zu langsam gewesen war. Prompt verhedderte ich mich zwischen zwei Kinderwagen, die übers Pflaster preschten, erntete genervte Blicke, scherte wieder aus und drückte mich in einen Hauseingang. Durchatmen.

Menschen drängelten an mir vorbei durch die Tür, ich drehte mich um und sah durchs Glas in das sparsam beleuchtete Innere einer Kneipe, erkannte den Tresen, die dunkelroten Wände, die Ecke mit dem niedrigen Holztisch. Ich schwankte und stolperte zurück. Dahinten hatte Simon mich aus seinen hellbraunen Augen angesehen und gesagt: »Ich glaube, ich muss dich jetzt küssen.« Wir hatten es für ein gutes Omen gehalten, als wir die Wohnung so nah am Ort unseres ersten Kusses gefunden hatten. Ich lachte auf. Ohne noch einmal zurückzuschauen, drängte ich mich in eine Lücke und versuchte erneut, Schritt zu halten.

Als links von mir das französische Café auftauchte, wo Simon und ich sonntags oft gefrühstückt hatten, warme Brioche dick mit Butter bestrichen, schaute ich nach rechts. Als der kleine Laden in mein Blickfeld geriet, wo mir Simon die Ledertasche mit dem Rautenmuster gekauft hatte, presste ich die Lippen zusammen und sah geradeaus. Der Blumenladen mit den schönsten Pfingstrosen, unsere Tapasbar, unser Gemüseladen – mir wurde übel. Trank er den Tempranillo jetzt mit Alexa? Kaufte er jetzt Berge von Petersilie und Koriander, um sie mit seinem selbst gemachten Pesto zu beeindrucken? Ich suchte Halt an einer Litfaßsäule und zog meine Hand sofort zurück, als ich das Kinoplakat darunter sah. Bei unserem letzten gemeinsamen Film, einer Pressevorführung, zu der ich eine Kritik schreiben musste, saß Wim Wenders eine Reihe vor uns und bohrte in der Nase. Wir lachten und stießen mit unserem Bier an, das Simon wie immer ungefragt von der Bar im Foyer mitgebracht hatte. Zusammen mit einer großen Tüte salzigem Popcorn und einem Magnum Infinity.

Als ich die Wohnungstür aufstieß, hechelte und schwitzte ich, als wäre ich die Elbe runter- bis nach Blankenese und wieder zurückgejoggt. Ich hielt mein Gesicht unter den Wasserhahn, und als ich das Wasser nach einer Weile abstellte, rauschte die Stille in meinen Ohren.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht hatte ich gehofft, dass da Stimmen wären, amerikanische Stimmen von einer der Serien, die Simon immer guckte. Dass Simon die Pausentaste seines Notebooks drücken und mir einen Kuss geben würde. »Noch acht Minuten, dann ist die Folge zu Ende. Dann bin ich ganz für dich da.«

Aber er war nicht da, und Luft bekam ich hier auch keine. Das Gift saß noch immer in jeder Fuge. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich wusste nur, schlagartig, dass das hier nicht mehr mein Zuhause war. Nicht die Wohnung und nicht der Kiez, wo mich alles an Simon erinnerte, wo ich ständig Gefahr lief, ihm und Alexa dabei zuzusehen, wie sie an unserer Eisdiele und unserem Bäcker anstanden, unseren Zebrastreifen überquerten, unseren Bankautomaten oder Briefkasten benutzten. Aber wo sollte ich denn hin?

Silke hatte Zwillinge, die sie noch stillte. Die hatte genug zu tun. Bei Katharina hatte ich mich schon seit Monaten nicht mehr gemeldet. Und Anne lebte mit ihrem Mann in Australien. Als mein Kopf gerade wieder unter der Bettdecke verschwinden wollte, hielt ich inne. Nein! Ich würde mir nicht mehr länger dabei zusehen, wie ich immer weniger wurde. Stattdessen sprang ich auf, lief ziellos von einem Zimmer ins nächste, bis ich mich schließlich an den Küchentisch setzte und meinen Laptop bis zum Anschlag aufklappte. Punkt eins: Ich brauchte einen Job. Punkt zwei: eine neue Wohnung in einem anderen Viertel.

Klar, ich war bislang als Freie ganz gut zurechtgekommen, aber jetzt, wo die Rückendeckung durch Simon wegfiel, das Auffangnetz, wenn die Aufträge auf sich warten ließen, hatte ich Angst, ungesichert auf dem Boden aufzuschlagen. Manche mochten mit dieser Angst leben können – ich nicht. Ich brauchte Sicherheit. Wenigstens eine. Zumal ich die Brigitte jetzt auch abschreiben konnte. Irgendwann in den letzten Wochen war da eine verärgerte Stimme auf meiner Mailbox gewesen, die mir mitteilte, dass man den Auftrag inzwischen anderweitig vergeben hätte. Ich hatte die Nachricht gelöscht und gedacht: Wie wollen wir leben? – Dafür gab es in der Tat bessere Ansprechpartner als mich.

Ich machte mir einen Kaffee, trank ein paar Schlucke und klickte mich durch die Stellenbörsen für Journalisten. »Online-Redakteur (m/w) für Start-up in Berlin gesucht.« Online: bitte nicht. Da musste immer alles so schnell gehen. Außerdem konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, in einer anderen Großstadt als Hamburg zu wohnen. München, Frankfurt, Köln – damit fiel einiges weg. »Der Saarländische Rundfunk stellt zum nächstmöglichen Termin eine/-n Journalistin/ Journalisten ein.« Radio/TV: kann ich nicht. Und südlich der Elbe wollte ich eigentlich auch nicht leben. »POS in Hamburg sucht einen hoch motivierten Junior Consultant für die Business Unit Corporate Communications.« Ich scrollte weiter. »Redakteurin/Redakteur Nordsee-Bote, Lokalredaktion Büttelsbüttel.« Nichts, was für mich in Frage kam. Und in Hamburg wurden nur Leitungsposten, Volontariate und PR-Jobs vergeben oder Stellen in Ressorts, in denen ich mich nicht auskannte. Kulturthemen konnte ich ganz abschreiben. Kurz lugte ich über den Rand meines Bildschirms in Richtung Schlafzimmer, dann griff ich zum Hörer.

»Lorenz Fink, Hamburger Abendblatt.«

»Hallo, Herr Fink, Carolin Punke hier.«

»Ah, Frau Punke! Sie schickt der Himmel! Sind Sie einsatzbereit? Samstagabend? Sie haben die Wahl: Premiere im Thalia oder Lesung im Bunker?«

Ich stand auf. »Eigentlich rufe ich aus einem anderen Grund an.«

»Ah ja?«

»Ja, ich bin dabei, mich beruflich zu verändern. Und zwar suche ich eine Festanstellung. Da wäre das Abendblatt natürlich meine erste Wahl. Und deshalb dachte ich, na ja, ich dachte, ich frage mal bei Ihnen direkt nach, ob es eine offene Stelle gibt.« Lautlos atmete ich aus.

»Leider nein. Die streichen uns hier alles zusammen, was nicht niet- und nagelfest ist. Wenn ich was hätte, wären Sie meine erste Wahl. Das sage ich Ihnen auf den Kopf zu.«

In den nächsten drei Minuten merkte ich deutlich, dass ich schon lange keine Konversation mehr betrieben hatte. Und als ich auflegte, war aller Tatendrang aus mir herausgeströmt wie Luft aus einem aufgeschlitzten Fahrradreifen.

Mechanisch setzte ich Wasser auf, öffnete eine Packung Spaghetti, schüttete Dosentomaten in eine Pfanne, spülte meine Kaffeetasse und räumte Sachen von links nach rechts. Bloß nicht stillstehen. Mit meinem Nudelteller setzte ich mich wieder vor den Laptop und ging noch einmal alle Anzeigen durch. Da war wirklich nichts.

Ich schob mir die letzte Gabel in den Mund und griff bereits an den Bildschirm, um ihn runterzuklappen, als mein Blick an einer Anzeige hängenblieb, an der ich bestimmt schon drei Mal vorbeigescrollt hatte. »Redakteurin/Redakteur Nordsee-Bote.« Ich klickte darauf.

Nordsee-Bote

Wir suchen für die Lokalredaktion Büttelsbüttel eine/-n Redakteurin/Redakteur in Teilzeit (30 Stunden/Woche)

ab sofort.

Aufgabengebiet:

Sie recherchieren, schreiben Nachrichten, Berichte und Reportagen und fotografieren.Sie bringen sich in die tägliche Produktion mit Ideen, Themenvorschlägen und Organisationstalent ein.Sie verantworten das Layout in Eigenregie.

Anforderungsprofil:

Sie haben eine journalistische Ausbildung absolviert und können Berufserfahrung als Redakteurin/Redakteur oder freie/-r Mitarbeiterin/Mitarbeiter bei einer Tageszeitung vorweisen.Leidenschaft für lokale Berichterstattung und kommunikatives Arbeiten setzen wir voraus.

Wir bieten:

Journalismus mit Anspruch an einem der schönsten Orte Dithmarschens, ein tolles Team, leistungsgerechte Bezahlung und Sozialleistungen.

Sind Sie interessiert? Geert-Helge Hahn freut sich auf Ihren Anruf: 04899-321.

Anruf? Ungewöhnliche Reihenfolge. Ich scannte den Text erneut. Der Job klang machbar. Nicht exakt das, was ich im Sinn gehabt hatte, aber auch nicht völlig an meinen Vorstellungen vorbei. »Sozialleistungen«, »ab sofort« und auch das »tolle Team« klebten sich wie Pflaster auf meine Seele. Wenn ich irgendwo neu anfing, würde ich nette Menschen brauchen können, die mich ein wenig unter ihre Fittiche nahmen.

Dithmarschen lag nordwestlich von hier, Büttelsbüttel, wenn ich das richtig sah, ganz im Norden der Region, hundertdreißig Kilometer von Hamburg entfernt, dafür war die Nordsee direkt um die Ecke. Ich legte meine Stirn in die Handflächen, schloss die Augen und lauschte meinem Atem. In Ordnung, dachte ich, einen Versuch war es wert.

Geert-Helge Hahns Stimme polterte, dann wieder hickste sie wie bei einem Jungen im Stimmbruch. Zum Glück hatte er sich als Chefredakteur vorgestellt, sonst hätte ich ihn womöglich für einen Schülerpraktikanten gehalten und geduzt.

»Wir sind der Markt der Zukunft«, sagte er. »Einbrechende Leserzahlen, rückläufiges Anzeigengeschäft gibt’s nur in der Stadt. Wir dagegen wachsen und wachsen.«

»Das ist … erstaunlich. Toll.«

Als er meinen Lebenslauf vor sich auf dem Bildschirm hatte, rutschte ich auf meinem Stuhl nach vorn.

»Können Sie Zeitungslayout?«

»Mit dem entsprechenden Programm schon, ja.«

»Wunderbar! Die vom Verlag wollen das nämlich umstellen. Bislang musste ich denen alles nur zuschicken, Texte und Bilder, das haben die dann eingesetzt. Und plötzlich sollen wir das selbst machen. Nee, also wirklich, darum kann ich mich nicht auch noch kümmern.« Plötzlich lachte er dröhnend. »Frau Punke! Wissen Sie, was? Wir haben nur auf Sie gewartet!«

»Wie jetzt?«

»Wenn Sie wollen, können Sie am Montag hier anfangen.«

Montag? In drei Tagen? Das ging doch nicht. Außerdem, wie sollte ich denn bis dahin …

»Brauchen Sie eine Wohnung?«

Gegenfrage, dachte ich: Hätten Sie auch ein Zuhause für mich?

»Du willst WAS machen?«

Ich konnte hören, dass Simon eine Tür zuzog. Klack. Ein wohlplatzierter Schlag in die Magengrube. Meine Kiefermuskeln spannten sich. Ich hasste es, dass er Rücksicht nahm, auf sie. Und auch dass er mir das Gefühl gab, mich rechtfertigen zu müssen. Noch immer.

»Hör mal, Caro, du machst dich unglücklich.«

»Hör mal, Simon, wenn überhaupt, bist du es, der mich unglücklich gemacht hat.«

Er ging darüber hinweg. »Du bist hier geboren, du hast doch immer hier gelebt. Und wo soll das überhaupt sein, Büttelsbüttel? Da gibt’s bestimmt noch nicht mal ein Kino!«

Kino. Das Wort war wie ein Lasso, das er mir um den Hals warf.

»Und denk doch nur mal daran, wie gerne du in Cafés sitzt und dir am liebsten ein Loch in die Zeitung schneiden würdest, um unauffällig Leute zu beobachten.«

»Ja, aber …« Ich zog am Ausschnitt meines Shirts. »Ich kann hier nicht mehr bleiben.«

»Du bist eine Großstadtpflanze, Caro. Woanders gehst du ein.«

»Ach ja?«, rief ich. »Wär ich auch eingegangen, wenn wir irgendwann zusammen rausgezogen wären? Wie wir es vorhatten?«

Wir schwiegen beide. Ich hörte, wie Simon im Raum auf und ab lief.

»Wenn es um die Miete geht«, sagte er dann. »Ich zahl meinen Teil natürlich erst mal weiter.«

»Warum solltest du das tun?«

»Nur weil wir nicht mehr zusammen sind, bist du mir doch nicht egal. Ich möchte, dass es dir gut geht. Das ist ja wohl das Mindeste. Außerdem sind wir doch Freun…«

»Simon«, unterbrach ich ihn laut und hielt das Telefon weit von meinem Ohr weg, »ich lege jetzt auf.«

In der Nacht von Freitag auf Samstag schlief ich noch weniger als in den Nächten davor. Immer wieder musste ich darüber nachdenken, was Simon gesagt hatte. Dass ich eingehen würde wie eine Schnittblume. Mit einer heftigen Bewegung schlug ich die Decke zurück. Was wusste er schon von mir?

In der Ferne rauschte die Autobahn, ich lauschte dem leisen Krachen der Container, das vom Hafen herübergetragen wurde. Simon hatte erlebt, wie ich die Stille bei unserer Schneeschuhwanderung in den Dolomiten kaum hatte aushalten können. Er hatte mit mir darüber diskutiert, ob einem die Abwesenheit von Lärm zu viel sein kann. Er meinte: nein. Ich: ja. Und er hatte gesehen, wie ich damals nach unserer Rückkehr fast ausgeflippt wäre vor Erleichterung, als die U-Bahn mit einem lauten Tosen neben uns einfuhr. Ich zog mir die Decke wieder über den Kopf.

Ja, ich lebte gern in Hamburg. Ich mochte das Gefühl, am Puls der Zeit zu sein, umgeben von zahllosen Geschäften, Bars, Clubs, Theatern, Galerien – ob ich sie nutzte oder nicht. Aber es gab noch etwas anderes in mir, das schon lange, vielleicht schon immer an meinem Herzen zog. Leicht und leise spannte es sich gegen den Lärm.

Ich wollte Erde zwischen meinen Fingern spüren, wenn ich mich bückte, nicht Kaugummis auf Asphalt. Wollte sehen, wo das Essen herkam, und das nicht nur einmal im Jahr beim Tomatenfest unseres Biokistenbauernhofs. Ich wollte langsamer leben, langsamer laufen, langsamer denken. Vielleicht tat mir das gut. Vielleicht kam ich so mehr zu mir. Vielleicht war das aber auch alles nur Geschwafel. Esoterikmist, wie Simon es nennen würde. Die typische Sehnsucht stressgeplagter Großstädter.

Es kam mir vor, als hielte ich Zwiesprache wie Mick Jones in dem alten Clash-Song: If I go there will be trouble. And if I stay it will be double. So come on and let me know …

Irgendwann in dieser Nacht musste ich einsehen, dass keiner da war, der mich wissen lassen wollte, ob ich bleiben oder gehen sollte. Es tat weh zu spüren, dass es da draußen keine Freundinnen gab, die ich um Rat fragen konnte. Ich hatte mich so sehr an Simon gekettet und alles und jeden vernachlässigt, bis Freundinnen zu Bekannten wurden, mit einem Leben, von dem ich viel zu wenig wusste, mit Männern und Kindern, die ich kaum kannte. Ich musste schlucken. Was hielt mich noch in Hamburg?

Ich brauchte einen Job, den es hier nicht gab, und ich musste schleunigst raus aus unserer Wohnung, aus unserem Viertel, wenn ich nicht tatenlos zusehen wollte, wie mich das Gift weiter zersetzte. Während ich mich hin und her wälzte, dachte ich an das Telefonat mit Geert-Helge Hahn und an das leise hoffnungsvolle Gefühl danach. Und ich bekam eine Ahnung davon, was mein Vater mit seinem Neuanfangsmantra meinte.

Ich schlug die Decke um. Die kühle Außenseite schmiegte sich an meinen Körper, meine Beine durchlief ein Kribbeln. Einen Moment später vibrierte mein ganzer Körper. Ich sprang auf und knipste das Licht an, und da wusste ich es.

Ich werde es tun! Ich werde nach Büttelsbüttel gehen! Ha! Das hätte er nicht von mir gedacht! Dass ich so einfach Nägel mit Köpfen machen würde. Dass ich etwas tat, von dem er mir abriet. Seine Caro, die er so gut kannte. Ich lachte laut auf. Dann legte ich mich wieder hin und schlief kurz darauf ein.

≈ 4 ≈

Da sind wir.« Knut lenkt den Bus auf den Bürgersteig und stellt den Motor ab.

Stille.

Links, wo gerade noch die Kuhweide gewesen ist, verdeckt jetzt ein breites Garagentor meine Sicht. Grüner, abblätternder Lack über rostigem Metall. Rechts Einfamilienhäuser, Gardinen auf halber Fensterhöhe, Hängegeranien. Ich beuge mich vor und versuche, einen Blick auf einen der Gärten zu erhaschen. Die mit den langen Tafeln, den weißen Korbstühlen und schmiedeeisernen Bogen, an denen Rosen ranken. Die verstecken sich bestimmt hinter den Häusern.

In einem der Vorgärten steht eine bunte Holzwindmühle, die in etwa so groß ist wie ich, vor einem anderen Haus liegen Hühner wie tot auf der Seite, Füße und Flügel abgespreizt. Und am Himmel leuchten Dunkelblau und Schwarzblau und Fitzelchen von Weiß, als würde die Sonne das Blau von unten anstrahlen.

Knut öffnet die Fahrertür und steigt aus. Ich klammere mich an meiner Tasche fest.

Okay, Carolin Punke, ganz ruhig, das ist keine Mondlandung. Du bist nicht die Erste, die ihren Fuß auf den Acker setzt.

Ja, aber … Neil Armstrong musste auf dem Mond auch nicht leben!

Neben mir scheppert es, ich zucke zusammen. Das muss ich mir unbedingt abgewöhnen, so schreckhaft zu sein. Am besten ist, ich nehme es als Punkt in mein »Neues Leben«-Projekt auf. Die unerschrockene Caro Punke. Doch, ich muss sagen, das klingt ziemlich gut.

Das grüne Garagentor neben mir bewegt sich krachend, als würde jemand von innen daran ruckeln. Kurz darauf wird eine unscheinbare Wellblechtür im Tor aufgestoßen, und eine große blonde Frau stürzt heraus. In ihren Nasenlöchern stecken … Tampons? Ich kneife die Augen zusammen. Kaum betritt die Frau den Gehweg, wird ihr Gang sehr aufrecht, so als würde ein unsichtbarer Faden ihren gesamten Körper am Kopf nach oben ziehen. Sie trägt einen schwarzen Blazer, ausgesprochen eng ist der, darunter maximal einen BH, zu einer figurbetonten weißen Hose aus dünnem Stoff, unter der sie unmöglich eine Unterhose anhaben kann, denn die würde durchschimmern. Es sei denn …

Omas Zelt, hat Simon meinen hautfarbenen Taillenslip genannt, den ich daraufhin schnell habe verschwinden lassen. Hm, jetzt, wo kein Mann mehr meine Unterwäsche sieht, könnte ich doch eigentlich auch mal wieder das weiße Kleid tragen.

Was für eine Tussi ist das eigentlich? Also, nicht Tussi im Sinne von pinkfarbenem Lippenstift, Minirock und Haar-Moni-Dauerwelle. Die Frau sieht eher so aus, als wäre sie dem Hamburger Jungfernstieg oder der Düsseldorfer Königsallee entsprungen. Als hätte sie noch vor wenigen Minuten bei Prada am Champagnerglas genippt oder käme gerade von ihrer vierteljährlichen Botoxsitzung, oder, ach, ich weiß, sie hat sich die Nase richten lassen. Deshalb die Tamponaden. Nur was, bitte, macht so eine Frau hier, in Büttelsbüttel?

Mein Blick fällt wieder auf das Garagentor. Heikes Klönschnack steht da auf einem mintfarbenen Plastikschild, das an die Wellblechtür montiert ist, Agentur für Kontaktpflege. Das Logo zeigt zwei Strichhunde im Word-ClipArt-Design, die sich die Tatzen schütteln. ClipArt! Das benutzen in Hamburg höchstens noch über Siebzigjährige, um die gereimten Verse zur goldenen Hochzeit ihres Schwippschwagers mit sektglashaltenden Strichmännchen zu garnieren. Nee, die Frau gerade war keine ClipArt-Heike. Und eine Heike trägt bestimmt auch keine Jimmy-Choo-Pumps für sechshundertzwanzig Euro.

Nicht dass ich mich sonderlich für Schuhe interessieren würde. Im Gegenteil, Simon hat immer gesagt: »Caro ist die einzige Frau auf dieser Welt, die keinen Schuhtick hat.« Simon wiederum ist der einzige Mann, den ich kenne, der einen Schuhtick hat. Einen ganz schlimmen sogar. Eigentlich passt das gar nicht zu ihm. Er trägt immer dieselben zwei Paar Jeans, eine blaue und eine schwarze, dazu T-Shirts oder einfarbige Longsleeves, nur selten ein Hemd. Aber Schuhe, das sind für ihn Kunstwerke. Vor allem Schuhe für Frauen.

Für jedes Paar Luxuspumps, das Simon mir geschenkt hat, musste ich ein Paar meiner abgelatschten Sneakers in den Müll werfen. Das war der Deal. Anfangs dachte ich noch: Aber ich bin doch die alte Jeans-und-Turnschuh-Caro. Schon immer gewesen! Mit der Zeit fand ich allerdings ein gewisses Gefallen an meiner neuen, staksenden Rolle, auch wenn ich mir nie sicher gewesen war, ob sie auch zu mir passte. Wenn’s ihn glücklich macht, dachte ich dann und hörte auf, die Dinge zu hinterfragen.

Und trotzdem, irgendwie habe ich nie seinen Blick bei unserem allerersten Date vergessen, der für eine Millisekunde an meinen Füßen mit den dunkelblauen Tigers hängenblieb. Den Enttäuschungsfunken, der sofort wieder aus seinen Augen verschwand, als er mir ins Gesicht sah. Wer weiß, vielleicht war das bereits der Augenblick, in dem ich mit meinen Turnschuhen in die falsche Richtung gejoggt bin. Vielleicht war unsere Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Ich schüttle den Kopf, als ließen sich meine Gedanken dadurch wie bunte Glasplättchen in einem Kaleidoskop neu zusammensetzen. Als ich stoppe, ist alles wie immer. Die traurige Bilanz bleibt: zwölf Paar High Heels, null Sneakers und null Simon.

Zum letzten Geburtstag hat er mir Jimmy-Choo-Nietenpumps geschenkt, exakt das Modell, das die Frau trägt, die nun schon zum zweiten Mal an dem kleinen Bus vorbeistöckelt.

»Um sich solche Schuhe leisten zu können«, hat Simon gesagt, »muss Frau Matouschek zweiundsechzig Stunden putzen.« Frau Matouschek war unsere Putzfrau, und ich wusste, dass Simon ihr zehn Euro die Stunde zahlte. Schwarz. Irgendwie war mir das im Gedächtnis geblieben, weil auch das nicht so recht zu Simon passen wollte, dass er mir den Preis für ein Geschenk so offensichtlich unter die Nase rieb.

Als Knut sich räuspert, zucke ich zusammen. Schon wieder.

»Mien Deern«, sagt er, streckt seinen Kopf durchs Fahrerfenster und sieht mich aufmerksam an, »jetzt aber mal raus hier.« Er streicht sich die weißen Haare aus der Stirn, dann läuft er einmal um den Bus herum und schiebt meine Tür mit Schwung auf.

Noch mehr frische Luft und sehr viel Licht strömen in den Wagen. Geblendet verharre ich im hellen Rechteck der Tür. Der Boden unter mir dampft, Gras und Kuh fluten meine Nasenlöcher. Ein Astronaut, kurz bevor er seinen Fuß auf Neuland setzt.

»Guck, wir stehen genau über einer Pfütze. Mit den Tretern …« Knut deutet auf meine Schuhe. Dann bückt er sich und kramt ein paar matschfarbene Gummistiefel unterm Sitz hervor. »Zieh die an. Sind von meiner Frau. Kannst du behalten.« Er reicht mir die Stiefel.

»Wieso, ich meine, braucht sie die nicht mehr?«

»Krebs.« Er sieht an mir vorbei.

»Oh nein, das kann ich nicht, das …« Unschlüssig halte ich die Schuhe in der Hand. Das Gummi ist matt und rundherum zerschrammt. Unter der Sohle klebt noch trockene Erde.

»Vor drei Jahren.«