Shadow Thieves – Die Zwillingsschwerter - Kevin Sands - E-Book

Shadow Thieves – Die Zwillingsschwerter E-Book

Kevin Sands

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Beschreibung

Die Shadow Thieves sind zurück! Callan und seinen Freunden ist es gelungen, den Schatz des Magiers zu stehlen. Doch das bringt sie in größte Gefahr, denn sein Freund Lachlan wird dabei schwer verwundet. Callan weiß, dass es eine Regel gibt, die man niemals missachten sollte: Leg dich nicht mit Magie an! Doch genau das muss er tun, um Lachlan zu retten. Das einzige Heilmittel sind die sagenumwobenen Drachenzähne, zwei Schwerter mit außergewöhnlichen Kräften. Und die sind leider alles andere als leicht zu finden. Die Suche nach ihnen führt Callan tief unter die Meeresoberfläche und an die Grenze seiner Welt …

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Kevin Sands

Shadow Thieves – Die Zwillingsschwerter

Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Ernst

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Kapitel 1

Lachlan lag im Sterben.

Wir konnten es hören: Wie jedes mühevolle, abgehackte und gequälte Einsaugen von Luft zum Schluss abbrach, und wie danach der Atem mit einem langsamen Keuchen wieder aus seinem Körper entwich. Wir hätten uns einreden können, dass es nur die Schmerzen waren, aber während wir ihn durch das Unterholz schleppten, waren da auf einmal Pausen, während derer er überhaupt nicht atmete. Wir wussten, was das bedeutete.

Es hätte uns eigentlich nicht überraschen sollen. Die Dame in Rot, ein Feuer-Elementarwesen, erschaffen aus lebendiger Flamme und durch Magie in die Gestalt einer Frau gebunden, hatte Lachlan ein brennendes Schwert in den Leib gerammt. Auch sein Rücken war verbrannt. Als wir das magische Elementarwesen töteten, war es in einem Flammensturm explodiert. Es grenzte an ein Wunder, dass Lachlan überhaupt noch lebte.

Aber nun entglitt er uns, und zwar rasend schnell. Was wir jetzt brauchten, war ein zweites Wunder.

Wir mussten etwas finden, womit wir ihn retten konnten.

Der alte Mann in meinem Kopf schaute zu. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er mit dem Rücken an einem Baumstamm lehnte und seine Pfeife stopfte, während ich vorbeitrottete. Wie stehen wohl die Chancen für ein solches Wunder?, fragte er.

Nicht gut. Du denkst, ich bin ein Narr, richtig?, sagte ich stumm.

Der alte Mann klang belustigt. Wenn du diese Frage stellen musst, dann weißt du die Antwort schon.

Ich seufzte. Denn er hatte recht.

Wie meistens. Dies war eine seiner Eigenschaften, die mich immer zur Weißglut getrieben hatten. Der alte Mann – er hatte mir nie seinen richtigen Namen genannt; für mich war er von Anfang an nur »der alte Mann« gewesen, und das schien ihm nichts auszumachen – hatte mich aufgezogen. Als ich sechs Jahre alt war, fischte er mich aus einem Straßengraben und brachte mir sein Handwerk bei: wie man Menschen manipuliert. Ich lernte, ihre Gedanken zu lesen, ihre Gefühle, ihre verborgenen Absichten – aus der Art, wie sie sich bewegten, aus dem, was sie sagten, oder aus dem, was sie verschwiegen. Der alte Mann hatte mich in eine jüngere Version von sich selbst verwandelt: einen Trickser, einen Gauner, eine Silberzunge – oder in einen Betrüger, einen Schwindler, einen dreckigen Lügner. Je nachdem, wen man fragte.

Jetzt war der alte Mann fort. Vor einem halben Jahr verschwand er, wir hatten einen Streit gehabt – offenbar einen zu viel, bei dem ich ihm erklärte, ich würde keine einfachen, anständigen Leute mehr ausnehmen.

Aber in meinem Kopf war der alte Mann immer noch da.

Und das ist gut für dich, Junge, sagte er und paffte an seiner Pfeife. Dann hast du wenigstens etwas Verstand in deinem Oberstübchen.

Ja, ja, schon gut, brummte ich. Der Versuch, Lachlan zu retten, mit diesen schweren Verletzungen, war wirklich vollkommen absurd.

Trotzdem. Trotzdem führte ich diese bunt zusammengewürfelte Bande von Dieben in den Wald, fort von dem rauchenden Vulkan Bolcanathair. Tief im Inneren des Bergs, in dem uralten Drachentempel, hatten wir Mr Solomon besiegt, einen mächtigen Bannweber, und auch sein Elementarwesen. Und jetzt folgte ich gebückt und mit schmerzendem Rücken einer schwach schimmernden Spur aus rotem Licht, die durch das Gras schnitt.

Die Spur war schwer zu erkennen. Unmöglich im Grunde genommen, wenn nicht das Artefakt gewesen wäre. Es saß in meiner linken Augenhöhle. Das Auge – das Drachenauge, wie die Weber es nannten – war in der Lage, sowohl Verzauberungen zu sehen, als auch die magische Energie, die sie antrieb: Leben.

Und genau das war die rot schimmernde Spur, der ich folgte: Lachlans Lebensenergie, die aus ihm heraussickerte. Sie führte uns irgendwohin, schien ein festes Ziel zu haben, obwohl keiner von uns wusste, was das war.

Für sich allein genommen wäre es kein Problem gewesen, die Spur zu sehen. Die Schwierigkeit lag darin, dass alles Lebendige – alle Pflanzen und Tiere – durch das Auge betrachtet in seiner eigenen, besonderen Farbe leuchtete. Das Gras schimmerte geisterhaft grün, und das Licht strahlte so hell, dass es die schwache rote Linie fast völlig überlagerte. Sie im Blick zu behalten, erforderte meine ganze Konzentration.

Als ob das nicht schwierig genug gewesen wäre, wurde mir auch noch schwindelig. In meinem Kopf drehte sich alles, weil ich die normale Welt und das magische Leuchten gleichzeitig sah. Je länger ich das Auge unbedeckt ließ, desto schlimmer wurde es. Immer öfter geriet ich ins Straucheln.

Ich hätte die Aufgabe des Spürhundes gerne jemand anderem überlassen, aber das Auge wollte mich nicht loslassen. Nachdem ich es dem Hohen Weber, Darragh VII., dem mächtigsten Zauberer der Welt, gestohlen hatte, setzte sich das Auge durch eine seltsame Magie, die ich nicht durchschauen konnte, in meiner Augenhöhle fest. Es erwies sich als empfindungsfähiges – aber ganz und gar nicht vertrauenswürdiges – Wesen, und es redete sogar mit mir in meinem Kopf.

Jedenfalls war das früher so gewesen. Mr Solomon hatte das Auge irgendwie zum Schweigen gebracht. Er war derjenige, der uns angeheuert hatte, das Ding zu stehlen. Ich hätte ihn gerne gefragt, welchen Zauber er angewendet hatte, aber er war tot.

Hinter mir hörte ich Meriels Stimme, leicht außer Atem. »Kannst du nicht ein bisschen schneller gehen, Cal?«

Ich konnte verstehen, dass sie erschöpft war. Meriel, Gareth und Foxtail trugen den bewusstlosen Lachlan abwechselnd, seit wir den Drachentempel hinter uns gelassen hatten. Meriel hatte ihn über ihre Schulter gelegt und rückte ihn ein bisschen zurecht. »Er ist schwerer, als er aussieht.«

»Das würde ich gerne«, sagte ich. »Wenn du dir stattdessen dein Auge ausreißen und das Drachenauge einsetzen willst, bitte schön. Ich habe nichts dagegen, mit dir zu tauschen.«

»Na ja, also so gesehen …«

Sie sagte es leichthin, aber in ihrer Stimme schwangen Frust, Angst und Wut mit. Frust, weil wir so langsam vorankamen. Angst um Lachlan. Und Wut – nicht auf mich, sondern auf sich selbst.

Wie ich schon sagte, der alte Mann hatte mir beigebracht, ins Innere der Menschen zu blicken, die verborgenen Botschaften zu entschlüsseln, die sie aussandten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Diese Fähigkeit erlaubte es mir, den wahren Grund für Meriels Wut zu begreifen. Mr Solomon hatte uns fünf engagiert, weil wir ein ausgewogenes Team waren. Foxtail war eine Katze, eine Fassadenkletterin, die überall ungesehen hinein- und hinausgelangte. Gareth, unser Bücherwurm, ein ausgesprochen kluger Kopf, konnte jede Information beschaffen und außerdem noch sehr geschickt mit Karten umgehen. Lachlan, ein Läufer, früheres Mitglied der Gilde der Brecher, kannte sich wie kein anderer in der Unterwelt von Carlow aus. Er wusste, wie man die Gerätschaften beschaffte, die man für einen Bruch brauchte.

Und Meriel war eine Akrobatin. Sie hatte uns nie erzählt, woher sie kam, und ich hatte es nicht erraten können. Sie besaß einen leichten Akzent, der mir unbekannt war – was mich verwunderte, weil mir der alte Mann jeden Akzent des gesamten Kaiserreichs beigebracht hatte. Aber wo immer sie auch herkam, abgesehen von einer überirdischen Grazie verfügte Meriel auch über eine unglaubliche Kunstfertigkeit im Umgang mit Wurfmessern, die sie in geheimen Taschen überall an ihrer Kleidung aufbewahrte. Sie war eindeutig zum Kämpfen ausgebildet worden.

Der Rest von uns nicht. Das traf besonders auf Lachlan zu, der gerade einmal zehn Jahre alt war, klein für sein Alter und gutmütiger als jeder andere Dieb, den ich je kennengelernt hatte. Wenn also jemand verletzt werden musste, war Meriel der Meinung, dass sie diese Person sein sollte.

Das war natürlich Unfug. Niemand kann alles Schlimme verhindern. Außerdem irrte sie sich. Es war nicht ihre Schuld.

Es war meine.

Ich hatte den Plan zum Diebstahl des Auges ausgeheckt. Es war meine Unüberlegtheit gewesen, die uns das Auge gekostet hatte – und mein eigenes, das mir die Dame in Rot auf Befehl von Mr Solomon herausgerissen hatte. Und es war wieder meine Idee gewesen, wie wir Mr Solomon das Auge wieder hatten abluchsen können und gleichzeitig die Spalte in der Erde versiegeln, mit deren Hilfe er die ursprüngliche Magie freisetzen wollte. Das hätte zur Folge gehabt, dass Ayreth, unsere Welt, zerbrochen wäre. Wenn also jemand hätte sterben sollen, dann war ich es.

Der alte Mann verdrehte die Augen. Ein Gewissen ist schon eine sehr lästige Angelegenheit, sagte er.

Woher weißt du das?, gab ich zurück. Du hattest doch nie eins.

Ohne bin ich besser dran. Aber mach nur weiter, bestrafe dich selbst, wenn du dich dann besser fühlst.

Wenn Lachlan geheilt ist, werde ich mich besser fühlen, sagte ich.

Du glaubst, dass am Ende dieser Spur seine Rettung wartet? Da ist jemand aber sehr optimistisch geworden.

Sein Argument war nicht von der Hand zu weisen. Ich ging diesen Weg nur deshalb, weil mich das Auge dieser Spur folgen ließ. Ich hatte es gebeten, Lachlan zu retten. Da hatte es mir die rot schimmernde Linie gezeigt, die von Lachlans Körper durch das Gras führte.

Davor hatte ich allerdings einen Handel mit dem Ding abgeschlossen. Das Auge hatte mir im Drachentempel das Leben gerettet, indem es mich mit dem nötigen Wissen versorgte, um den Spalt in der Welt zu verschließen. Als Gegenleistung musste ich versprechen, das Auge »holen zu kommen«, wie es sich ausdrückte.

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was das heißen sollte. Aber jetzt war mir, als ob ich tief in meinem Inneren etwas … spüren konnte. Den Hauch einer Regung, ein vages Drängen …

… vorwärts gehen vorwärts folgen folgen folgen …

… und ich wusste nur, dass diese Regung nicht von mir kam. Es war das Auge, das versuchte, durch den Zauber von Mr Solomon mit mir zu kommunizieren. Es wollte, dass ich weiterging.

Und genau das erfüllte mich mit Sorge. Ich wusste nicht, was ich von dem Auge halten sollte. Ich wusste nicht, wo es herkam, ich wusste nicht, wozu es diente, und ich wusste nicht, warum es mich zum Weitergehen drängte. Das Einzige, was ich begriff, war, dass sich dieses Artefakt keine einzige Sept um uns scherte. Wir dienten ihm nur als Werkzeuge, als Bauern in irgendeinem großen Spiel, die man benutzen konnte. Oder opfern. Deshalb war ich mir sicher, dass mir das, was das Auge wollte – was es auch sein mochte –, ganz und gar nicht gefallen würde.

Und all das barg auch die Gefahr, dass wir gar nichts finden würden, wenn wir das Ende dieser Spur erreichten. Falls wir überhaupt dorthin kamen. Allmählich fühlte sich mein Kopf wirklich völlig matschig an.

Siehst du?, sagte der alte Mann. Was habe ich dir gesagt?

Ich seufzte und ging weiter.

Ich hielt noch zehn Minuten durch. Dann wurde das Glühen des Waldbodens unter meinen Füßen immer heller.

Ich starrte nach unten. Es sah ganz so aus, als ob das Glühen näher kam …

WUMP

Und tatsächlich: Es war näher gekommen. Ich lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden.

»Mmlffgh«, machte ich.

Kleine Finger fummelten an meiner Stirn herum und schoben die Augenklappe nach unten. Als das Auge dahinter verborgen war, verschwand auch das Lebensglühen des Waldes, sodass ich nur noch die normale Welt wahrnehmen konnte. Seltsamerweise verblasste auch dieses Drängen, das ich gespürt hatte …

… folgen folgen folgen …

… und an seine Stelle trat ein Gefühl von Frust, nur für einen Augenblick lang. Dann verschwand dieses Gefühl, zusammen mit allem anderen.

Ich rollte mich auf die Seite und spuckte Erde aus. Das magische Leuchten war fort, aber mein Schwindelgefühl blieb. Der grüne Baldachin der Baumwipfel über mir drehte sich. Und bizarrerweise sah ich zwischen dem Laub mein eigenes Gesicht schweben. Es war merkwürdig verzerrt.

Ich blinzelte. In meinem Kopf herrschte ein derartiges Durcheinander, dass ich anfangs dachte, es wäre wieder ein magischer Trick des Auges. Dann erkannte ich die Wahrheit.

Es war Foxtail. Mein »Gesicht« war bloß mein Spiegelbild in der blank polierten Metallplatte vor dem Gesicht des Mädchens. Sie kniete neben mir und hatte sich über mich gebeugt. Ihr rotbrauner Pferdeschwanz fiel ihr über die Schulter nach vorn. Mit der Lampe in einer Hand wischte sie mir mit ihrem Rockzipfel in der anderen den Dreck von den Wangen.

Auf der Liste all der Merkwürdigkeiten, die mir in Carlow untergekommen waren, belegte Foxtails Maske den ersten Rang. Ihr gesamtes Gesicht war hinter dieser polierten Stahlplatte verborgen, die ringsum mit ihrem Kopf verschraubt war. Es gab keine Augenöffnungen, keinen Mund, gar nichts. Nur glattes Metall.

Ich hatte keine Vorstellung davon, welcher Zauber dahintersteckte oder wie sie damit leben konnte. Wir sahen sie nie essen. Wenn nicht das Heben und Senken ihres Brustkorbs gewesen wären, hätte ich geglaubt, dass sie überhaupt nicht atmete. Wie sie durch diese Maske Luft holen konnte, war ein Rätsel.

Sie konnte auch nicht sprechen, sondern verständigte sich stattdessen mit Gesten. Im Augenblick versuchte sie, mir etwas zu sagen, aber ich verstand sie nicht. Ihre Hände drehten sich im Kreis, genau wie alles andere.

Gareth beugte sich hinter ihr nach vorn. Er war groß und schlaksig und hielt einen langen, wellenförmigen Stock in der Hand: Mr Solomons silbernen Drachenstab. Es war das Einzige, was der Weber zurückgelassen hatte. Der Rest wurde von der ursprünglichen Magie pulverisiert, einschließlich des Webers selbst.

»Bleib einen M…Moment still liegen«, sagte Gareth. Er stotterte leicht, was schlimmer wurde, wenn er gestresst war. »D…du hast das Gleichgewicht verloren.«

»Echt? Das war es also?«, sagte ich. »Ich dachte, die Welt hätte mir ins Gesicht geboxt.«

Ich sah dem Funkeln in Meriels Augen an, dass ihr eine schlagfertige Bemerkung auf der Zunge lag. Aber sie hielt sich zurück. Sie macht sich große Sorgen um Lachlan, dachte ich, während sie ihn vorsichtig ins Gras legte und an ihrer Unterlippe kaute.

Ich wusste genau wie die anderen, dass die Zeit drängte. Aber ich konnte nicht einmal aufstehen. »Gebt mir nur ein paar Minuten.« Ich atmete tief durch und versuchte, den Schwefelgestank auszublenden, der von dem Vulkan hinter uns hergeweht kam. Dann schloss ich mein Auge, um das ständige Drehen auszublenden. Foxtail legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich habe noch nie so lange durch das Drachenauge geblickt«, sagte ich.

Aber es hatte bisher auch noch nie Anlass dafür bestanden. Wie weit musste ich dieser Spur noch folgen?

»Cal«, sagte Meriel.

»Das waren noch keine paar Minuten«, protestierte ich.

»Cal.«

»Echt jetzt? Lass mich doch bitte kurz ausruhen …«

»Cal.«

Jetzt erst sorgte der Ton ihrer Stimme dafür, dass ich die Augen aufschlug. Das Drehen der Welt war merklich langsamer geworden. »Was …?«

Meriel starrte in die Bäume hinauf. Mein Auge folgte ihrem Blick.

Und dann gefror mir das Blut in den Adern.

Kapitel 2

Im Laub glühten zwei rote Augen.

Etwas ist uns aus dem Drachentempel gefolgt, dachte ich voller Panik. Eine von Solomons Kreaturen, die uns den Rest geben will.

Als Foxtail die Lampe hob, sah ich das Wesen über uns deutlicher. Es hatte einen langen, schlanken Körper mit geflecktem Fell …

Ein Leopard.

Im Baum war ein Leopard.

Er stand auf einem Ast, schnickte mit dem Schwanz und beobachtete uns.

Er hat uns verfolgt, dachte ich. Wir waren ja nicht gerade leise, in unserer Sorge hatten wir auf so etwas gar nicht geachtet. Aber während mein Schwindelgefühl mehr und mehr nachließ, begriff ich, dass der Leopard vermutlich von etwas anderem als raschelndem Laub und knackenden Zweigen angezogen worden war.

Er war wegen Lachlan gekommen. Er roch das Blut und das verbrannte Fleisch.

Meriel stellte sich über den Körper des Jungen; die Wurfmesser hatte sie schon aus dem Ärmel geschüttelt. Langsam und vorsichtig stand ich auf, den Blick fest auf die große Katze geheftet. Als sie auf dem Ast einen Schritt nach vorn machte, erkannte ich das Spiel ihrer Muskeln unter dem Fell.

»Keiner rührt sich«, sagte ich. Als ob ich ein erfahrener Leopardenflüsterer wäre. Vielleicht sollten wir uns bewegen. Lärm machen, das Vieh verscheuchen. »Gareth? Was machen wir jetzt?«

Ich dachte mir, dass Gareth, der einzig Gebildete von uns, vielleicht Bescheid wüsste. Aber er war wie gelähmt vor Angst und Verwirrung.

»Das ist unmöglich«, flüsterte er. Er packte den Drachenstab so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. »Es g…gibt keine Leoparden in der Nähe von Carlow.«

»Sag ihm das mal«, stieß Meriel durch zusammengepresste Zähne hervor.

Ich wusste immer noch nicht, was wir tun sollten. Ich wandte mich zu Foxtail, aber das Mädchen stand bewegungslos da.

»Gib mir den Stab«, verlangte ich.

Ich musste Gareth die Finger aufbiegen, um an den Stab zu kommen. Das Ding verfügte über einen außergewöhnlichen Zauber. Mr Solomon hatte damit mächtige Luftstöße auf uns abgefeuert, nachdem er ihn benutzt hatte, um eine Spalte in der Welt zu öffnen. Aber ich wusste nicht, wie man diese Zauberkraft herauslockte. Und so hielt ich ihn auf Hüfthöhe, bereit zum Zuschlagen.

Der Leopard drehte den Kopf und starrte mich an.

Ich blieb stocksteif stehen, genau wie Foxtail. Was tat er denn? Er musste doch sehen, dass wir ihn entdeckt hatten und uns zum Kampf bereit machten. Zögerte er, weil er dachte, wir könnten ihm gefährlich werden?

Der alte Mann zog eine Augenbraue hoch. Wohl kaum.

Ich konnte nicht widersprechen. Meriel hatte zwar ihre Messer, aber wie tief würden die kurzen Klingen durch das Fell ins Fleisch des Leoparden dringen? Wenn sie vielleicht auf das Auge zielte …

Vorher sollten wir etwas anderes versuchen. »Sieh mal, ob du ihn verscheuchen kannst«, sagte ich zu Meriel.

Sie zielte flach und warf einen Dolch, der sich in den Ast bohrte, auf dem der Leopard kauerte, genau zwischen die Vorderpfoten.

Das Tier reagierte kaum – und seit wann konnten Leoparden verächtlich blicken? Es sah jedenfalls nicht so aus, als wollte er uns angreifen.

Aber was wollte er dann?

Auf jeden Fall hat er deine ganze Aufmerksamkeit, sagte der alte Mann.

Ich riss mein Auge auf.

»Gareth?«, sagte ich. »Jagen Leoparden in Rudeln?«

Die Frage überraschte ihn. »Sie … Ich meine … nein, es s…sind Einzelgänger.«

Wenn Gareth das sagte, glaubte ich es. Andererseits hatte er auch behauptet, dass es hier in der Gegend eigentlich keine Leoparden geben dürfte.

Aber nichts davon half mir, herauszufinden, was der Leopard im Sinn hatte. Wollte er uns eine Falle stellen?

Ich blickte mich um und versuchte, im Schein von Foxtails funzeliger Lampe etwas zu erkennen. Wenn ich nur mehr sehen könnte …

Das Auge, dachte ich plötzlich.

Natürlich. Es konnte Leben erkennen. Wenn mehr Leoparden in der Nähe waren, würden ihre Körper strahlen wie Leuchttürme. In der Hoffnung, das Schwindelgefühl würde nicht zurückkehren, schob ich die Augenklappe nach oben und betrachtete den Wald. Farben strömten in die Welt, ein weiches Grün durchdrang Stämme und Laub.

Ich erstarrte. Da war etwas, etwas Blutrotes …

Nein, dachte ich und kam mir blöd vor, als ich die Gestalt erkannte. Das ist bloß eine Eule. Die Eule war nicht das einzige Lebewesen in der Nähe. Ich sah Insekten wie violette Glühwürmchen glitzern, ein Eichhörnchen und ein paar Vögel. Aber keine Leoparden.

»Cal!«

Beim Klang von Meriels Stimme wirbelte ich herum und hob abwehrend den Drachenstab. Aber auf dem Ast über uns schimmerte es nur noch grün.

Der Leopard war verschwunden.

»Wo ist er hin?«, fragte ich.

»W…weggerannt«, sagte Gareth.

Ich betrachtete den Wald. Aber das Auge konnte nicht durch das Laub sehen. Aus irgendeinem Grund hatte der Leopard von seiner Jagd abgelassen, aber ich glaubte nicht, dass wir der Grund waren.

Er kann doch unmöglich vor uns Angst gehabt haben, dachte ich. Vielleicht macht er einen Bogen und greift uns überraschend von der anderen Seite aus an.

Wie auch immer, wir mussten weiter. Lachlans Lebensspur war hier im dichten Wald noch schwieriger zu erkennen. Ich konnte nicht nach Leoparden Ausschau halten und gleichzeitig dem Pfad folgen, den das Auge mir zeigte. Und die Unterbrechungen in Lachlans Atemzügen wurden immer länger. Innerhalb einer Stunde würde er tot sein. Egal, ob wir verfolgt wurden oder nicht, wir mussten uns beeilen.

Ich gab Gareth den Stab zurück. »Machen wir, dass wir weiterkommen.«

Ich war froh, als wir den Wald endlich hinter uns ließen; nicht nur, weil dieser Leopard sich nun nicht mehr an uns heranschleichen konnte. Die normale und die verzauberte Welt gleichzeitig zu betrachten, hatte bei mir wieder dieses Schwindelgefühl verursacht. Ich hielt das nicht mehr aus.

Auf dem offenen Land konnten wir auch den Bolcanathair wieder sehen. Eine dunkle Rauchwolke stieg von dem Vulkan auf und löschte das Licht der Zwillingsmonde Mithil und Cairdwyn aus. Geschmolzenes Gestein floss aus dem zerbrochenen Ring der Caldera. Die Lava leuchtete in der Nacht und das rauchige Rot warf ein unheimliches Licht auf die Wolke darüber. Ascheflocken segelten aus dem Himmel herab und bedeckten die Felder mit einer grauen Schicht.

Die Luft stank nach Schwefel, und wegen der Asche in der Luft mussten wir husten und spuckten kleine schwarze Stückchen aus, die sich immer wieder in unseren Mund stahlen. Trotzdem, ich war froh. Die leblose Asche erstickte das magisch leuchtende Grün des Grases und ich konnte Lachlans Spur ohne Probleme erkennen. Sie deutete in Richtung der Straße, die ein paar Hundert Fuß von der Baumlinie entfernt lag. Von dort aus machte sie eine scharfe Biegung in Richtung Carlow und folgte den Pflastersteinen der Straße des Kaisers. In einer Entfernung von zwei Meilen erhoben sich die brennenden Kohlenbecken oben auf der Stadtmauer; die Flammen zuckten vor dem nachtschwarzen Himmel.

Jetzt konnte ich das Auge bedecken und musste mich nur alle paar Minuten mit einem kurzen Blick vergewissern, dass wir immer noch der Spur folgten. Meriel stöhnte vor Erleichterung auf, als sie Lachlan an Foxtail weiterreichte. Obwohl Foxtail kleiner war als der Junge, verfügte sie über eine bemerkenswerte Kraft und trug ihn ohne Mühe.

Wir beschleunigten unsere Schritte und kamen an ein paar Bauernhöfen vorbei, wo das Vieh unruhig auf den Weiden brüllte. Die Bauern und ihre Familien, die versuchten, die ängstlichen Tiere zu beruhigen, starrten ihrerseits besorgt zum Bolcanathair hin und fragten sich, ob Rauch und Asche alles war, was sie zu erwarten hatten, oder ob ein noch schlimmerer Ausbruch bevorstand. Das einzig Gute war, dass die Lava nach Osten floss, zum Lake Galway. Carlow würde verschont bleiben. Zumindest vorerst.

Einer der Bauern sah uns auf der Straße und rief: »Ho!«

Ich winkte, sagte aber nichts. Wir hatten keine Zeit für ein Schwätzchen.

Er versuchte es noch einmal: »Ho! Ihr da, Kinder! Alles in Ordnung?«

Er hatte Lachlan gesehen, den sich Foxtail über die Schulter geworfen hatte. »Alles gut, Artha sei gesegnet!«, erwiderte ich. »Unser Bruder ist bloß müde; er ist eingeschlafen und wir bringen ihn nach Hause.«

Das war nicht meine beste Lüge, aber es gab eigentlich überhaupt keine glaubhafte Begründung, warum ein paar Kinder mitten in der Nacht vor einem Vulkanausbruch flohen und dabei einen bewusstlosen Jungen mitschleppten. Aber das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten, war ein besorgter Bürger, der uns helfen wollte und uns dabei nur aufhielt.

Der Bauer hatte einen Sohn in Lachlans Alter. Er sagte etwas zu seinem Vater, woraufhin der nickte und der Junge ins Haus lief. Als er wieder herauskam, rannte er uns nach. Seine Sohlen wirbelten Ascheklumpen auf.

Ich fluchte. »Bleibt nicht stehen«, sagte ich leise. »Ich sehe zu, dass ich ihn loswerde.«

Die anderen hasteten weiter die Straße entlang, Meriel und Gareth hinter Foxtail, um den Blick auf Lachlans Wunden zu verstellen. Ich wartete auf den Sohn des Bauern.

Er kam zu mir gerannt und hob etwas in die Höhe. »Das könnt ihr vielleicht gebrauchen«, sagte er.

Er hatte uns einen Weinschlauch gebracht. Überrascht entkorkte ich ihn. Es war Wasser drin und ich nahm einen Schluck. Das Wasser war nicht kalt, aber meine ausgetrocknete Kehle nahm es dankbar an. Ich hatte das Gefühl, aus einem klaren Bergbach zu trinken.

»Danke«, keuchte ich und schnappte nach Luft. »Ich habe etwas Geld.«

Der Junge machte angesichts meines Vorschlags ein schockiertes Gesicht. »Nicht doch!«, sagte er.

»Danke«, lächelte ich. »Wir sind dir sehr dankbar. Wie heißt du?«

»Donal.« Er erwiderte mein Lächeln.

»Ich bin Callan«, sagte ich. Ich hatte fast vergessen, wie sich Freundlichkeit anfühlte. »Danke, Donal.« Er schaute mich an und sagte: »Mögen die Geister euch segnen.« Dann drehte er sich um und lief davon und ich schaute ihm einen Moment lang nach.

Dann folgte ich den anderen.

Ich trank noch einen Schluck Wasser, ehe ich den Schlauch weiterreichte. Am liebsten hätte ich alles ausgetrunken, aber meine Freunde hatten es mehr verdient als ich. Sie trugen die ganze Last, und zwar buchstäblich.

So glücklich ich über das Wasser war, hatte mich die Begegnung mit Donals Familie doch nachdenklich gemacht. Lachlans Lebensspur wies nach Carlow. Es war eine Sache, ein sterbendes Kind relativ unbemerkt durch die Dunkelheit zu tragen. Aber in dem Moment, in dem wir durch das Stadttor traten, würde man sehen, wie übel er verletzt war.

Schlimmer noch, der Hohe Weber ließ bereits sämtliche Stockmänner – die Leute der Stadtwache – und das Pistolier-Regiment des Kaisers nach dem Dieb suchen, der ihm das Auge aus dem unterirdischen Labor entwendet hatte. Nach der Eruption des Bolcanathair war mit Sicherheit die ganze Stadt auf den Beinen und gaffte. Auf den Straßen würde es jede Menge Ärger geben.

Und so war ich wieder einmal erleichtert, als ich sah, dass die Lebensspur uns nicht nach Carlow hineinführte. Eine halbe Meile südlich von Donals Zuhause hob ich die Augenklappe ein Stück an und sah, dass der leuchtende Faden nach Osten abbog, in Richtung eines anderen Hofs.

Hier züchtete jemand Schweine; ich roch sie, bevor ich sie sah. Der stechende Gestank des Hofs schnitt durch den Geruch fauler Eier, der von den Gasen des Vulkans herrührte. Etwa vier Dutzend Sauen grunzten vor der Scheune in einem Verschlag mit aufgewühlter Erde. Durch das Auge sah ich, dass ihre Lebensenergie bräunlich rot leuchtete, als ob sie den Matsch unter ihren Hufen reflektierte.

Lachlans Lebensspur aus noch leuchtenderem Rot führte an dem Koben vorbei. Anfangs dachte ich, dass sie uns nur über das Grundstück wieder zurück in den dahinterliegenden Wald leiten wollte. Doch stattdessen endete der Schein an den Füßen eines Mannes, der auf einem Stuhl neben der offenen Scheunentür saß, direkt unter einer brennenden Fackel.

Das Auge brachte uns … zu einem Schweinebauern?

Kapitel 3

Ein Witz.

Das musste es sein. Ein grausamer, verdrehter Witz. Das Auge hatte schon früher mit mir gespielt. Grausamkeit passte zu seiner Art von Humor.

Aber das ergab keinen Sinn. Was immer das Auge von mir hielt, es brauchte mich. Es hatte sich einmal seinen Weg in meinen Geist gebahnt und meine intimsten Erinnerungen durchwühlt. Aber danach war es nicht mehr in der Lage gewesen, mich zu kontrollieren, und jetzt konnte es nicht einmal mehr sprechen. Wenn es mich so wütend machen würde, dass ich mich ihm widersetzte, würde es nie bekommen, was es wollte.

Mehr noch, sobald ich durch das Auge einen Blick auf den Schweinebauern warf, stieg ein neues Gefühl …

… da da geh dahin …

… empor, dieses Drängen, weiterzugehen. Genau hier wollte mich das Artefakt haben.

In meinen Gedanken zuckte der alte Mann mit den Schultern. Warum über etwas nachgrübeln, was du nicht erraten kannst? Das Auge hat dich aus einem bestimmten Grund hierhergeführt. Finde diesen Grund heraus. Es sei denn, du glaubst, dass Lachlan ruhig noch ein bisschen warten kann.

Die Atmung des Jungen hatte sich wieder verändert, jetzt war es ein hektisches Huh-huh-huh, gefolgt von einer langen Pause. Ihm blieben nur noch Minuten. Und wir hatten keine Wahl.

Ich schob die Augenklappe wieder an ihren Platz und sagte den anderen, was ich gesehen hatte. »Hier ist es.«

Foxtail reichte Lachlan an Meriel weiter, während ich die Lampe nahm. Denn obwohl an Foxtails Hut ein Schleier befestigt war, hinter dem sie ihre Maske verbarg, konnten wir schlecht erklären, warum sie ihn trug, während sie nachts durch die Gegend lief. Sie deutete auf die Felder hinter dem Gehöft und verschwand in der Dunkelheit. Vermutlich wollte sie die Umgebung erkunden, während wir versuchten, Lachlan das Leben zu retten.

Wir anderen gingen zur Scheune.

Der Bauer blickte uns entgegen. Er war schon älter, vielleicht fünfzig, mit einem faltigen Gesicht und einem breiten, muskulösen Körper. Zankende Schweine konnten ganz schön anstrengend sein; sie hatten ihn fit gehalten.

Er hatte etwas auf dem Schoß, aber in dem schwachen Licht der Fackel konnte ich nicht erkennen, was es war. Als wir von der Straße des Kaisers abbogen und sein Grundstück betraten, beugte er sich zu der offenen Scheunentür und setzte das, was er gehalten hatte, dahinter ab.

Die Schweine begrüßten uns freundlich und steckten grunzend ihre rosa Schnauzen durch die Spalten in dem Lattenzaun, als wir vorbeigingen. Lachlan würde sie lieben, dachte ich unwillkürlich.

Ich warf dem Bauern ein verzweifeltes Lächeln zu. Was immer das Auge von dem Mann erwartete, wir mussten es bekommen. »Mögen die Geister Sie segnen, guter Mann.«

Der Bauer nickte, gab aber keine Antwort.

»Ich heiße Callan«, sagte ich. »Wir sind Reisende aus Redfairne.«

Diesmal wartete ich auf eine Erwiderung. Stille vermittelt in den meisten Fällen ein unbehagliches Gefühl. Wenn man nichts sagt, dann fängt dein Gegenüber in der Regel an zu plappern.

Den Mann schien das nicht zu kümmern. Er saß da und fuhr mit dem Finger über eine Stahlkette um seinen Hals. Als er schließlich etwas sagte, klang es eher neugierig als herzlich.

»Bragan.«

Ich hatte keine Ahnung, ob das sein Vor- oder sein Nachname war. Besser kein Risiko eingehen. »Wir bitten um Verzeihung für die Störung, Mr Bragan, aber unser Freund ist verletzt.«

Bragan warf einen Blick auf Lachlan – beiläufig, zumindest anfangs. Aber als er die Wunde im Bauch des Jungen sah, runzelte er die Stirn und richtete sich etwas auf.

»Was ist mit ihm passiert?«

Ich wusste immer noch nicht, was wir hier wollten, weshalb ich dem Mann nicht die Wahrheit sagte. Stattdessen erklärte ich: »Wir kamen gerade am Bolcanathair vorbei, als er ausbrach. Lava stürzte aus dem Himmel und hat ihn verbrannt.«

Bragan betrachtete Lachlan noch einen Moment länger von seinem Stuhl aus. Dann stand er auf, trat näher und musterte den Jungen gründlich. Schließlich schaute er auf.

Ich war ein geübter Lügner, ausgebildet von dem allerbesten. Ich wusste meine Stimme zu kontrollieren, meinen Ausdruck, meine Körpersprache, damit nichts mich verraten würde. Dieser Mann war ein Schweinebauer. Er hätte mir glauben müssen.

Aber er tat es nicht. Ich las es in seinen Augen.

»Und was wollt ihr dann von mir?«, fragte er.

»Wir haben gehofft, Sie könnten ihn retten.«

»Der Junge braucht einen Physikus, keinen Landwirt.«

Lachlans Verletzungen waren viel zu ernst für einen einfachen Physikus. »Er ist tot, bevor wir Carlow erreichen«, sagte ich. »Ein Freund von uns hat mir gesagt, dass Sie uns helfen könnten.«

Bragan musterte mich interessiert. »Wer würde so etwas behaupten?«

An seinem Ton merkte ich, dass er keine Antwort erwartete. Und ich hätte auch gar keine geben können.

Bragan schaute wieder zu Lachlan. Während sein Blick auf dem Jungen ruhte, blickte ich an dem Mann vorbei zur Scheunentür, hinter die Bragan ja etwas abgesetzt hatte. Es war offensichtlich gewesen, dass er es uns nicht hatte sehen lassen wollen.

Aber da er gleichzeitig uns im Blick gehabt hatte, hatte er es nicht gänzlich versteckt. Ein Teil davon ragte hinter dem lackierten Holz hervor. Es war im Licht der Fackel nicht ganz genau zu erkennen, aber es sah aus wie ein Buch.

Was für ein Bauer saß in einer Nacht wie dieser in einem Ascheregen draußen vor seiner Scheune, nachdem ganz in der Nähe ein Vulkan ausgebrochen war, und las ein Buch?

Als ich Bragans Blick wieder einfing, deutete er ein Lächeln an. Er hatte bemerkt, dass ich etwas gesehen hatte. Es störte ihn offenbar nicht; er schien sich eher darüber zu amüsieren.

Dann betrachtete er meine Gefährten. Meriel schenkte er lediglich einen flüchtigen Blick. Aber als er Gareth ansah, der ein Stück hinter uns stand, stockte ihm der Atem.

»Wo habt ihr das her?«, fragte er und starrte auf den Drachenstab.

»Von meinem Vater«, log ich. »Ein Familienerbstück.«

Der Mann schob den Finger unter die Kette an seinem Hals und zog sie aus seinem Hemd hervor. An der Kette hing ein Anhänger, ein Onyx, pechschwarz mit einer orangenen Maserung.

Die Geste sollte beiläufig wirken. Aber ich wusste es besser.

»Wie heißt deine Familie?«, fragte Bragan.

Ich wich einen Schritt zurück. Das lief gar nicht gut. »Solomon.«

Ich tastete mich vor, nannte ihm Mr Solomons Namen, um festzustellen, ob er ihn kannte. Was aber offenbar nicht der Fall war.

Er streckte seine rechte Hand aus, während er mit der linken immer noch mit dem Onyxanhänger spielte. »Lass mal sehen.«

»Wenn wir damit einverstanden sind«, sagte ich, »werden Sie dann unseren Freund heilen?«

»Nein.«

»Dann kriegen Sie den Stab nicht.«

Er lächelte sarkastisch. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er, »wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte, ich bräuchte dafür deine Erlaubnis.«

Und dann entfesselte der Mann seine Macht.

Kapitel 4

Bragan umfasste den Anhänger an seiner Kette. Er flüsterte ein Wort, das ich nicht verstehen konnte. Ich hörte nur ein Brausen, als würde ich mitten in einem starken Wind stehen. Dann streckte er seine Hand nach Gareth aus.

Und der Wind wurde Wirklichkeit.

Er stürmte heran und peitschte Erde und Asche auf. Mit voller Wucht packte er Gareth von hinten und zerrte an dem Drachenstab in seiner Hand.

Gareth hielt den Stab so fest, dass es ihn von den Beinen riss. Er fiel hin und der Stab zog ihn durch den Dreck, bis er schließlich losließ, woraufhin der Stab durch die Luft flog und klatschend in Bragans offener Hand landete.

Meriel hatte schon ihre Messer gezückt und warf sie auf Bragans Brust. Sie sausten auf ihr Ziel zu, aber noch ehe sie trafen, lenkte ein Windstoß sie ab, sodass sie sich in die Scheunenwand bohrten.

Meriel versuchte es noch einmal und zog zwei weitere Messer aus den Falten ihres Kleides. Aber jetzt hatte Bragan den Stab. Er stieß mit dem hinteren Ende auf die Erde – genau wie Mr Solomon, dachte ich – und ein Zyklon blies uns entgegen. Meriels Messer segelten in die Nacht.

Der Sturm toste und packte uns. Die Scheunenwände bebten und klapperten und der Schweinekoben wackelte. Die Schweine quietschten vor Angst und wurden vom Wind umgerissen. Diejenigen, die aufrecht blieben, prallten bei dem Versuch zu fliehen gegeneinander.

Der Sturm trieb auch mich rückwärts, und ich musste heftig mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Gareth, der bereits am Boden lag, schlug die Arme über dem Kopf zusammen, als Asche und Staub ihn umpeitschten, und vergrub das Gesicht in der Erde. Meriel schlitterte nach hinten und versuchte, sich Halt zu geben, indem sie die Fersen in den Boden rammte; ihr Kleid wurde vom Wind platt gegen ihren Körper gepresst.

Irgendwie gelang es ihr, in dem Sturm auf den Beinen zu bleiben. Sie holte zwei weitere Messer aus ihrem Kleid – nur Shuna weiß, wo sie die versteckt hatte – und schleuderte sie auf Bragan.

Sie zeigten nicht mehr Wirkung als ihre Vorgänger. Drei Fuß vor der Brust des Mannes wurden die Klingen von einer wirbelnden Wand aus Wind abgefangen. Eins sauste in Richtung Schweinekoben, wo es vom Zaun abprallte. Das zweite machte kehrt und flog auf sie zu.

Mit weit aufgerissenen Augen sprang Meriel gerade noch rechtzeitig aus der Flugbahn, sodass der Dolch nur ihr Kleid zerriss, nicht ihr Fleisch. Grinsend stieß Bragan den Stab zweimal in ihre Richtung.

Die Luft kräuselte sich, als Windstöße auf Meriel zurasten. Dem ersten konnte sie ausweichen, aber der zweite erwischte sie an den Beinen. Mit einem überraschten und schmerzerfüllten Schrei wurde Meriel wie eine Lumpenpuppe in die Luft gerissen, wirbelte über die Straße des Kaisers hinweg und landete in dem Feld auf der anderen Seite. Die Druckwelle erwischte auch Lachlan, der bewusstlos ein paarmal um die eigene Achse rollte, ehe er in den Straßengraben rutschte.

Mir wurde das Herz schwer. Ich hatte keine Ahnung, ob Meriel noch am Leben war. Und Lachlan, der arme Lachlan – sein Körper konnte nicht noch mehr Misshandlungen aushalten. Aber für Kummer blieb keine Zeit, denn Bragan wandte sich nun grinsend mir zu.

Er holte mit dem Stab aus.

Die Schweine, wisperte der alte Mann …

… und schon sprang ich über den Zaun in den Verschlag und rannte zu den Tieren, die sich auf der anderen Seite aneinanderdrängten.

Es war ein Glücksspiel. Ich vertraute darauf, dass Bragan seinen Schweinen nichts tun würde. Nicht aus Menschlichkeit; es war unverkennbar, dass er den Schweinebauern nur vortäuschte. Aber da die Schweine seine Tarnung waren, dachte ich mir, dass er sie nicht aufs Spiel setzen wollte.

Ich behielt recht. Als ich zwischen die quiekenden Schweine tauchte, hielt Bragan mit seinem Angriff inne. Stattdessen wandte er sich wieder Gareth zu, der sich in der Hofeinfahrt zusammenkauerte.

Dann sah ich eine Gestalt über das Scheunendach fliegen. Sie sprang vom Rand ab und in einem hohen Bogen nach unten, wo Bragan stand.

Foxtail. Das Fackellicht spiegelte sich auf ihrer Maske und ihr Pferdeschwanz flatterte bei dem Sprung hinter ihr her. Bragan stand mit dem Rücken zu ihr und sah sie nicht kommen.

Aber das war auch nicht nötig. Drei Fuß über ihm wurde Foxtails Überraschungsangriff abrupt beendet. Sie prallte gegen diese wirbelnde Wand aus Wind und wurde genauso mühelos zur Seite katapultiert wie Meriels Dolche. Mit wedelnden Armen und Beinen segelte Foxtail rückwärts durch die Luft, schlug mit der Schulter schwer gegen die Ecke der Scheune und verschwand aus meinem Blickfeld.

Bragan bemerkte sie erst, kurz bevor sie verschwand. Er lachte und drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. Dann lachte er noch lauter, als er mich zwischen seinem Vieh im Schlamm liegen sah.

»Komm her, kleines Schweinchen«, sagte er.

In meinem Geist suchte ich nach Hilfe. Was soll ich tun?

Der alte Mann antwortete mir. Das Auge hat einen Handel mit dir abgeschlossen.

Na und?

Das bedeutet, dass es ihm vielleicht egal ist, was aus dir wird, sagte er, aber würde es dich hierherführen, um dich umzubringen?

Nein, dachte ich. Es braucht mich.

»Willst du nicht rauskommen, Schweinchen?«, höhnte Bragan. »Nein? Na, dann spiele ich stattdessen mit dem hier.«

Er streckte die Hand nach Gareth aus, der sich gerade auf allen vieren krabbelnd in Sicherheit bringen wollte. Gareth schrie erschrocken auf, als der Wind ihn vom Boden hochhob und ihn dann wieder mit voller Wucht nach unten schleuderte.

Staub wirbelte auf. Bragan hob wieder die Hand, und erneut flog Gareth in die Luft, höher diesmal, bis er von dem Wirbelwind erfasst wurde.

»Komm her, Schweinchen«, sagte Bragan. »Ich will dich schlachten.«

Das Auge braucht mich, dachte ich wieder. Aber wie soll mir das im Kampf gegen diesen Mann helfen?

Du kannst ihn nicht bekämpfen, sagte der alte Mann. Du besitzt nicht die Macht.

Was besaß ich dann? Gar nichts.

Von wegen, gab der alte Mann zurück.

Aber was …

Oh – natürlich. Er meinte das Auge. Aber wie sollte mir das …?

Gareth wirbelte durch die Luft, zu ängstlich, um auch nur zu schreien. Bragan pfiff eine fröhliche Melodie, die den Jungen im Takt in der Luft tanzen ließ.

Ich hatte keine Zeit mehr für weitere Fragen. Ich hob den Kopf über die Schweine hinweg und zog die Augenklappe hoch.

Der Blick durch das Auge raubte mir den Atem.

Bragan war umgeben von einer Kugel aus durchsichtigem, violettem Licht: die verzauberte Wand aus Luft, die ihn beschützte. Sein Körper dahinter glühte rot, mit einem Hauch Purpur. Genau wie bei Mr Solomon war auch seine Haut mit tätowierten Runen bedeckt. Weberrunen.

Aber … sie sahen anders aus. Diese Runen unterschieden sich von allen, die ich bisher gesehen hatte. Sie waren … einfacher. Weniger verschnörkelt, weniger kompliziert. Eigentlich nur gerade Linien und Kurven.

Und diese Runen waren auch nicht die Quelle seiner Magie: Der Drachenstab in seinen Händen leuchtete in einem tiefen, königlichen Purpur, beinahe so strahlend hell wie die Säule aus ursprünglicher Magie, die im Drachentempel aus der Erde geschossen war. Ein funkelnder Strom aus Purpur wand sich spiralförmig um Bragans Arm, hinunter zu seiner Brust und flog dann in hohem Bogen von seiner ausgestreckten Hand in Richtung Gareth. Das Leuchten umfasste meinen Freund und ein veilchenfarbener Wirbelwind hielt ihn in der Höhe.

Verwundert und schockiert bestaunte ich diese Magie. Ich konnte sie zwar jetzt sehen, aber ich wusste immer noch nicht, was ich dagegen tun sollte.

Dann rührte sich etwas in mir. Ein Gefühl. Nicht mein eigenes.

Und dieses Gefühl drang an die Oberfläche.

Ich fühlte plötzlich abgrundtiefe und bösartige Verachtung. Unbändigen Zorn. Weißglühende, mordlustige Rage.

Es war das Auge. Das Auge war … außer sich.

Warum?

Es hat dich hergebracht, sagte der alte Mann.

Ja, dachte ich. Es hatte mich hergebracht, weil es Hilfe brauchte. Stattdessen griff Bragan uns an. Und das entfachte die Wut des Auges.

Diese Wut war die einzige Waffe, die ich hatte.

Bragan hob Gareth höher. Der Wind riss an seinen Kleidern, drohte, den Jungen selbst zu zerreißen.

Ich stand auf.

»Du wagst es«, sagte ich.

Immer noch pfeifend, drehte Bragan sich um.

»Du WAGST ES!«, brüllte ich und fühlte jedes Quäntchen Zorn des Auges. »Du wagst es, dich MIR entgegenzustellen?«

Bragan zog den Drachenstab nach hinten, um mich damit ins Jenseits zu befördern.

Dann erstarb sein Pfeifen.

Fassungslos starrte er mich an.

Kapitel 5

Ich stürmte auf ihn zu. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich in einem Wimpernschlag umbringen können.

Stattdessen erlosch all seine Magie. Der purpurne Wirbelwind, der Gareth in der Höhe gehalten hatte, verschwand, und der Junge fiel in den Dreck. Die Kugel, die Bragan umgab, erzitterte, wurde dünner und löste sich dann auf, wobei violette Fähnchen davonkräuselten wie Rauch.

Er hielt immer noch den Drachenstab fest, der nichts von seinem Leuchten verloren hatte; er strahlte wie die Sonne im Blick meines magischen Auges. Aber er attackierte mich nicht damit. Mit offenem Mund ließ er den Stab sinken.

»Ihr …«, flüsterte er, »ihr seid es wirklich.«

Ich trat das Gatter des Schweinekobens auf. Bragan wich erschrocken zurück. Ich marschierte auf ihn zu.

Er konnte den Blick nicht abwenden. Angst überzog sein Gesicht, aber auch Staunen – und Freude.

Es war nur gut, dass er nicht wusste, was ich in diesem Moment empfand. Der Zorn hatte sich in mir aufgebläht. Dieser Wurm hatte mir die Hilfe verweigert, um die ich ihn gebeten hatte. Er hatte meinen Freunden wehgetan. Mehr noch – er hatte mir wehtun wollen. Er hatte mich ausgelacht. Mich Schwein genannt. Mal sehen, ob er immer noch lachte, wenn ich ihn am Hals packen und erwürgen würde. Oh, wie gerne würde ich das tun, seine Kehle zudrücken, seine Knochen zerbrechen, zusehen, wie das Lebenslicht aus seinen Augen weicht …

Oh-oh, sagte der alte Mann. Da ist aber jemand mies gelaunt.

Seine Stimme schnitt durch die Wut. Der glühende Zorn, der in mir brannte, brach auf und war plötzlich ganz weit entfernt. Verwirrt blieb ich stehen.

Den Mann erwürgen? Zusehen, wie das Lebenslicht entweicht …?

Was in Shunas Namen hatte ich mir dabei gedacht?

Und dann dämmerte es mir: Das waren nicht meine Gedanken. Nicht meine Gefühle.

Eilig zog ich die Augenklappe wieder über das Juwel. Und als die magische Vision von Bragans Leuchten verschwand, zogen sich auch der Zorn und die Verachtung zurück. Sie verschwanden nicht gleich, sondern verharrten, vage und in weiter Ferne, doch dann waren sie fort, gefolgt von einem kurzen Aufpeitschen aus Verärgerung aus meinem Inneren.

Ich atmete tief durch. Bragan wirkte noch immer unsicher, aber da das Auge wieder verhüllt war, gewann er seine Fassung zurück. Er verbeugte sich.

»Vergebt mir, Gesegneter«, sagte er. »Ich wusste nicht, wer Ihr seid.«

Das führte mich zu der Frage, für wen genau er mich hielt.

Für eine bedeutende Person, sagte der alte Mann. Also spiel deine Karten gut aus, Junge.

Ein Bluff in dieser Situation machte es erforderlich, dass ich Bragan gab, was er erwartete. Ich wusste aber nicht, was das war. Aber ich wusste, was er war: mächtig, grausam – und eingeschüchtert durch das Auge. Unterwürfig.

Also schob ich meine Instinkte beiseite. Ich hätte nichts lieber getan, als zu meinen Freunden zu laufen und mich zu vergewissern, dass es ihnen gut ging. Am meisten Sorgen machte ich mir um Lachlan. War er überhaupt noch am Leben?

Aber das passte nicht zu meiner Rolle. Bragan erwartete grausame Gleichgültigkeit. Also musste ich ihm genau das liefern.

Ich sagte nichts. Stattdessen funkelte ich ihn an wie ein Wolf ein aufmüpfiges Jungtier. Meriel tauchte aus dem Feld auf. Sie humpelte. Ihr Kleid war völlig zerknittert und ihr linkes Bein tat ihr offenbar weh. Aber bis auf ein paar Kratzer an den Händen schien sie unversehrt zu sein.

In ihren Augen stand Mordlust. Ich musste jeden Gedanken an Rache in ihr im Keim ersticken. Wenn Bragan wieder mit seiner Magie anfing, waren wir erledigt.

»Hol den Stab«, befahl ich ihr.

Sie wandte ihre Wut gegen mich. »Was hast du gerade …?«

Ich wirbelte zu ihr herum. »Hol. Den. Stab.«

Meine unvermittelte Feindseligkeit verwirrte sie – genauso, wie ich gehofft hatte. Denn die Verwirrung ließ sie innehalten, und als sich ihr aufwallendes Blut beruhigte, verstand sie. Ich spielte eine Rolle. Und sie musste mitspielen.

Sie riss Bragan den Drachenstab aus der Hand. Dann half sie Gareth auf die Füße. Er stand zitternd auf, aber auch er schien lediglich ein paar Schrammen davongetragen zu haben. Meriel schob ihm den Stab in die Hände und rannte dann zu Lachlan. Er lag noch immer im Straßengraben. Foxtail gesellte sich zu uns. Sie rieb sich die Schulter, mit der sie gegen die Scheune geprallt war. Ihr Kleid war zerrissen und an dem Riss klebte Blut.

Bragan schaute mich immer noch an. Ich hatte auf seine letzte Bemerkung nichts erwidert.

»Wer, dachtest du denn, dass ich bin?«, fuhr ich ihn jetzt an. »Meinst du, jeder Hinz und Kunz würde mit einem solchen Stab auf deinen Hof kommen?«

»Ich nahm an, ihr wärt Diebe«, sagte er. Womit er nicht unrecht hatte. »Die Augenklappe verbirgt Euer Geschenk gut.«

Geschenk. Das Auge hatte einmal das Gleiche gesagt: das ist mein Geschenk für dich. gefällt es dir?

Die Erinnerung ließ mich erschaudern. Trotzdem musste ich meine Rolle weiterspielen. »Es ist noch nicht an der Zeit«, erwiderte ich zornig, »der Welt die Wahrheit zu sagen.«

Wieder verbeugte sich Bragan, die Handflächen bittend nach oben haltend. »Natürlich nicht, Gesegneter. Verzeiht mir. Ich hatte nicht erwartet, dass der Abgesandte so jung sein würde.«

Der Abgesandte? Dafür hielt er mich also. Was immer das auch heißen mochte.

»Ich habe gewacht«, sagte er und nahm offenbar dabei an, dass ich wusste, was er damit meinte. »Noch einmal, verzeiht mir. Ich hätte die Zeichen erkennen müssen. Der Ausbruch in Garman. Jetzt das Aufbegehren von Bolcanathair, genau in der Nacht der Syzygie.«

Er sprach von der parallelen Ausrichtung der Sonne, unseres Planeten – Ayreth – und der Zwillingsmonde. Dieses Ereignis hatte die ursprüngliche Magie an die Oberfläche gelockt, nah genug, dass Mr Solomon sie anzapfen konnte.

»Und die Träume …«, fuhr Bragan fort. Sein Gesicht leuchtete wieder vor Freude auf.

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Eine Stimme in meinem Hinterkopf schärfte mir ein, dass seine Worte wichtig waren. Uns blieb jedoch keine Zeit für ausgedehnte Diskussionen. »Das reicht«, sagte ich. »Wir sind aus gutem Grund hier. Ihr müsst meinen Begleiter heilen.«

Beinahe hätte ich wieder »Freund« gesagt. Aber Bragan glaubte, ich sei der Abgesandte des Auges; und ich war mir ziemlich sicher, dass jedwede Diener dieses Artefakts keine Freunde hatten. Nur Werkzeuge.

»Gewiss doch«, sagte Bragan und wandte sich zu Meriel um, die mit Lachlan auf den Armen zu uns kam.

Doch ihr Kopf war gesenkt. Mein Herz wurde schwer; ich wusste, was das bedeutete.

»Es ist zu spät«, sagte sie, traurig, bitter und voller Zorn. »Lachlan ist tot.«

Kapitel 6

Verzweiflung.

Ich hatte versagt. Ich war für Lachlan verantwortlich. Ich war für sie alle verantwortlich. Es war mein Plan gewesen, die ganze Zeit.

Und ich hatte versagt.

Bragans Wirbelwind hatte fast die ganze Asche von seinem Grundstück weggeweht. Meriel legte Lachlan ins Gras. Sie kniete sich neben ihn, die Hände sanft auf seiner Brust. Gareths Gesicht war käsebleich und bekümmert. Foxtail hielt sich etwas abseits und starrte zu dem rauchenden Vulkan hin. Sie wollte den Leichnam nicht einmal ansehen.

Ich hätte gerne behauptet, dass Lachlan friedlich aussah, aber das stimmte nicht. Seine Kleidung war schmutzig und verkohlt, seine Augen blicklos, als hätte es das freundliche, gutherzige Kind nie gegeben.

Schuld nagte an meinen Eingeweiden. Schuld und Schmerz. Ich hatte schon viele Tote gesehen, aber noch nie jemanden, der mir etwas bedeutet hatte. Noch nie einen Freund.

Nach der unbändigen Wut, die ich empfunden hatte, als der Blick des Auges auf Bragan gefallen war, hatte ich Angst, die Augenklappe hochzuheben. Ich wollte dadurch nicht diese Gefühle wieder entfesseln. Aber ich musste. Ich musste es sehen.

Ich riskierte einen Blick auf Lachlan, und nur auf ihn. Mein Herz wurde bleischwer.

Sein Licht war fast erloschen. Das fröhliche Rot, das seinen Körper durchdrungen hatte, war verblasst, war so schwach geworden wie das Licht der Natur. Und selbst dieser letzte Rest seiner Seele verschwand allmählich.

»Das ist deine Schuld«, presste Meriel durch zusammengebissene Zähne hervor.

Ich dachte, sie würde mit mir reden. Aber ihr Mörderblick lag auf Bragan.

Was war das überhaupt für ein Mann? Kein Bauer, so viel war sicher. Aber auch kein Weber, jedenfalls nicht direkt. Kein Mitglied der Gilde. Etwas … anderes. Ich wusste fast nichts über die Weber und ihre Bannzauber, aber Bragans Magie war eindeutig anders als ihre. Sie war nicht so raffiniert. Sie war brutaler.

Bragan schaute unbeeindruckt drein. »Das Kind war noch am Leben, als Ihr es zu mir brachtet?«

»Ja«, sagte ich, und versuchte, meine Trauer zu verbergen.

»Dann ist immer noch Zeit.« Er ging zum Haus. »Bringt den Leichnam hinein.«

Meriel trug Lachlan ins Haus. Obwohl sie humpelte, wich sie Foxtail aus, die ihr helfen wollte. Sie ließ niemanden sonst an Lachlan heran.

Ich wagte kaum zu hoffen. Bragans Haus sah wirklich so aus wie das Heim eines Bauern: einfache, zweckmäßige Möbel, gewöhnliche und viel benutzte Werkzeuge. Nichts, was seine Tarnung hätte auffliegen lassen und darauf hingewiesen hätte, was der Mann wirklich war. Jedenfalls nichts Offensichtliches. Das einzig Auffällige war, dass Bragan keine Familie hatte und auch keine Knechte – sehr ungewöhnlich für einen Bauern.

Er blieb im Wohnzimmer vor einem breiten Eichentisch stehen, der zahlreiche Schrammen aufwies, und nahm den Kerzenhalter weg, der in der Mitte der Tischplatte stand. Dann bedeutete er Meriel, Lachlan auf den Tisch zu legen.

»Zieh ihm das Hemd aus«, wies Bragan sie an, bevor er die Treppe hinauf nach oben ging.

Von Lachlans Hemd war nicht mehr viel übrig. Die Explosion der roten Dame hatte die Rückseite weggebrannt und während des Kampfs war ein Ärmel bis zur Manschette aufgerissen. Trotzdem knöpfte Meriel das Hemd auf, zog es Lachlan aus und faltete es ordentlich zusammen, als ob sie es in einen Schrank legen wollte.

Als Bragan zurückkehrte, hatte auch er sich seines Hemds entledigt. Sein muskulöser Oberkörper wies eine lange, dicke Narbe auf, die von den oberen Rippen bis zum Sternum verlief – das Werk einer Klinge in einer lange zurückliegenden Vergangenheit. Er hatte eine Rolle aus Leinwand dabei, die er jetzt aufknüpfte.

Es war eine Werkzeugrolle, aber keine, die man üblicherweise bei einem Landwirt vorfand. Es gab eine Reihe von Messern, einen Kohlestift, Pinsel, ein paar Nadeln und eine Auswahl an kleinen Gläsern mit farbiger Tinte, die mit Wachs versiegelt waren.

Ich dachte, dass er seine Werkzeuge nehmen und sofort anfangen würde, was immer er auch vorhatte. Stattdessen stand er bloß da und starrte auf Lachlans Brust. Seine Lippen bewegten sich ganz leicht.

Eine der Fähigkeiten, die mir der alte Mann beigebracht hatte, war das Lippenlesen. Ich war noch nie besonders gut darin gewesen, aber für gewöhnlich gelang es mir, den Kern eines Gesprächs oder eines Monologs aufzuschnappen. Hier dagegen verstand ich kein einziges Wort. Bragan benutzte zweifellos eine fremde Sprache.

Auch seine Augen bewegten sich. Augen zu beobachten, war etwas, das ich ausgezeichnet beherrschte, denn wohin eine Person blickte, verriet einem in der Regel, was sie wollte, wohin sie ging oder was sie vorhatte. Bragans Augen wanderten über Lachlans Brust, und zwar in einem eindeutigen, aber undurchschaubaren Muster. Er visualisierte etwas.

Und dann, ohne Vorwarnung, zog er ein Messer mit einer dünnen, kurzen Klinge aus seiner Werkzeugrolle – und rammte es in Lachlans Brust.

Foxtail zuckte zusammen. Gareth war fassungslos. Meriel keuchte auf, streckte die Hand aus und packte Bragan am Arm. »Was tun Sie da?«, rief sie entsetzt.

Bragan schaute mit ausdrucksloser Miene zu mir hin. Er sagte nichts.

Innerlich war ich genauso entgeistert wie Meriel. Aber der alte Mann hatte mir beigebracht, eine Rolle bis zu Ende zu spielen, niemals den eingeschlagenen Pfad zu verlassen und immer die Kontrolle zu behalten – zumindest nach außen hin. Es bedurfte meiner ganzen Willenskraft.

»Meriel«, sagte ich.

»Ich lasse nicht zu, dass er Lachlans Leiche entweiht!«

»Wenn das hier funktioniert, wird es nicht mehr lange Lachlans Leiche sein. Es wird wieder Lachlan sein. Lass ihn seine Arbeit machen.«

Frustriert ließ Meriel Bragans Arm los.

Er hielt seinen Blick auf mich gerichtet. »Mir ist klar, dass sie in Euren Diensten steht«, sagte er ruhig, »aber wenn sie mich noch einmal anfasst, werde ich sie töten.«

Ihre Augen wurden schmal. »Sie werden was?«

Die Sache lief aus dem Ruder. »Foxtail«, setzte ich an, aber sie hatte schon reagiert. Sie packte Meriel am Arm und zog sie aus dem Zimmer.

Meriel protestierte. Ich spielte meine Rolle weiter und warf ihr einen finsteren Blick zu. Sie registrierte es und hielt den Mund, obwohl sie offensichtlich vor Zorn kochte.

Bragan sah ihnen nach – nun ja, hauptsächlich Foxtail, deren Schleier sich in dem Tumult vor dem Haus gelöst hatte. Sie hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, ihn wieder vorzulegen. Bragans Blick hing an der Maske. Er schien unentschlossen, was er von ihr halten sollte, was ich interessant fand. Zum zweiten Mal erlebte ich, wie ein Weber – oder was immer Bragan auch war – über Foxtails Maske rätselte. Und wieder fragte ich mich, was sie wohl verbarg.

Aber wir hatten im Moment Wichtigeres zu tun. Bragan wandte sich wieder dem Messer in Lachlans Brust zu und begann zu schneiden.

Beim Zusehen konnte einem schlecht werden. Gareth wurde kreidebleich, und ich musste an mich halten, um Bragan nicht zu befehlen, damit aufzuhören. Ich blieb stumm, und nicht nur, weil die Person, die ich vorgab zu sein, nicht zimperlich sein durfte. Während Bragan arbeitete, wurde mir klar, was er tat.

Er schnitt eine Rune in Lachlans Körper.

Ich hätte es eine Weberrune genannt, aber auch dieses Symbol sah anders aus als die Zeichen, die Mr Solomon benutzt hatte. Es ähnelte den verzauberten Tätowierungen auf Bragans Haut. Keine eleganten Schwünge und Wirbel, nur gerade Linien und Winkel. Wieder kam mir das Wort »brutal« in den Sinn. Dabei zusehen zu müssen, wie er Lachlan aufschnitt, war schon schlimm genug. Aber was er jetzt tat, ließ mich genauso erbleichen wie Gareth.

Bragan schnitt dasselbe Symbol in seinen eigenen Körper.

Er stieß das Messer in die eigene Brust. Dabei knirschte er mit den Zähnen und ignorierte das Blut, das an ihm herablief und in seinen Hosenbund sickerte. Gareth schlug die Hände vor das Gesicht und spähte nur hin und wieder zwischen den Fingern hindurch, wie gelähmt vor Schrecken.

Ich war abgrundtief erleichtert, als Bragan schließlich fertig war. Er atmete durch. »Ich bin bereit. Auf wen ist Eure Wahl gefallen?«

»Meine Wahl?«, wiederholte ich. »Wofür?«

»Ihr müsst Euch entscheiden«, sagte er, »wen Eurer Gefährten Ihr opfern wollt.«

Kapitel 7

Ganz langsam sagte ich: »Was meinst du damit – opfern?«

Bragan antwortete nicht gleich. »Wisst Ihr, wie Bannzauber funktionieren?«, fragte er dann. »Die Energie für einen Zauber …«

»Stammt von lebendigen Dingen«, beendete ich seinen Satz. »Ich weiß. Aber …«

»Auf die Natur der Lebensquelle kommt es an«, erklärte Bragan.

Das hatte ich vergessen. Mr Solomon hatte uns etwas Ähnliches gesagt. Die Natur des Bannzaubers bestimmt, welche Lebenskraft man benutzen muss.

Mein Entsetzen wuchs ins Unermessliche. »Willst du damit sagen, dass Lachlan nur ins Leben zurückkehren kann, wenn … einer von uns stirbt?«

Wieder zögerte er. »Ich bitte um Verzeihung, Gesegneter. Ich dachte, Ihr hättet das gewusst.«

Mir wurde übel. Ich schaute Gareth an, er schien am Boden zerstört. »Es muss einen anderen Weg geben«, sagte ich.

»Ein Stück die Straße entlang gibt es einen Hof«, sagte Bragan. »Dort lebt ein Junge, der geeignet wäre.«

»Donal?« Der Junge, der uns Wasser gab. »Ihr wollt, dass ich Donal töte?«

»Nein. Er muss lebendig sein, wenn die Bindung beginnt. Bringt ihn nur her. Ich erledige den Rest.«

Das war Wahnsinn. »Ich werde niemanden umbringen.«

Bragan runzelte die Stirn. Ich hatte offenbar etwas Falsches gesagt. Der Abgesandte des Auges sollte sich keinen Deut um das Leben irgendeines Kindes scheren, nicht mehr als Bragan selbst.

Schnell merzte ich meinen Fehler aus. »Mein Weg verlangt Diskretion«, sagte ich bestimmt. »Ich kann es mir nicht erlauben, dass man wegen ermordeter Kinder auf mich aufmerksam wird. Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

Das schien Bragan einzuleuchten. Trotzdem sagte er: »Ich wüsste keine.«

Gareth ergriff das Wort. »Gibt es nicht … Ich meine … Könnte man nicht E…Energie aus einer anderen Quelle beziehen?«

»Theoretisch ja«, sagte Bragan. »Aber die Energie müsste umgewandelt werden. Man bräuchte viel mehr Leben.«

»Wir sind von Leben umgeben«, sagte ich. »Die Bäume, das Gras. Bei Arthas Augen, die Schweine. Nehmt ein Schwein.«

Er sah mich an, als wäre ich ein Idiot. Nur meine Position als »Abgesandter« schien ihn davon abzuhalten, mir die Meinung zu sagen. »Ich kann kein Schwein benutzen. Ihre Energie ist nicht mit unserer zu vergleichen. Ich bräuchte ein Dutzend, um sie umwandeln zu können, vielleicht sogar mehr.«

»Dann nehmt alle.«

»Das geht nicht. Nicht gleichzeitig.«

Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln. »Wieso nicht? Ich kannte einmal einen Weber, der einen vergifteten Dolch mit der Macht von siebentausend Schlangen besaß.«

»Zweifellos«, sagte Bragan unwillig. »Aber dieser Zauber dauert Jahre. Jede Seele muss eine nach der anderen extrahiert werden, dann in einen Seelenstein gebunden, bis die Lebensenergie ausreichend ist. Erst dann kann sie übertragen werden.

»Bei Schweinen«, fuhr er fort, »wäre ich in der Lage, ein paar auf einmal zu erledigen. Dann würde ich Ruhe brauchen. Mehr noch, ich bräuchte einen Seelenstein, den ich nicht habe.«

»Wir werden einen stehlen.«

»Dafür bleibt keine Zeit. Ich kann das Kind nur so lange zurückbringen, wie seine Seele in seinem Körper verweilt. Das lässt mir ein paar Stunden – drei, vielleicht vier.«

Ich zweifelte seine Worte nicht an. Ich hatte durch das Auge gesehen, wie Lachlans Lebensenergie verblasste. »Gibt es nichts anderes, was funktionieren könnte?«, sagte ich verzweifelt.

»Man braucht eine einzelne …« Er hielt kurz inne. »Eine einzelne Energiequelle. Wie einen Seelenstein.«

Aha.

Er hatte gezögert. Er hatte etwas sagen wollen, sich dann besonnen und schließlich seine Worte anders gewählt. Das bedeutete, ihm war etwas eingefallen. Er wollte es uns bloß nicht sagen.

Warum nicht?

Es muss etwas sein, was ihm wichtig ist, sagte der alte Mann. Etwas, das er nicht aufgeben würde, du aber schon. Er will es nicht verlieren. Aber er kann dem Abgesandten des Auges auch nichts verweigern. Also versucht er, dir die Wahrheit zu verschweigen …