Shelterville - Julian Lott - E-Book

Shelterville E-Book

Julian Lott

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Beschreibung

"Shelterville" ist ein packender Science-Fiction-Roman in einer postapokalyptischen Zukunft. Die Geschichte folgt dem Protagonisten Andrews Durrant, der zusammen mit seinen engen Freunden Palara Trist und Laury Launders ein eingeschworenes Team bildet. Ihr Alltag besteht hauptsächlich aus den Herausforderungen des Schulalltags in Shelterville. Palara ist begabt und klug, und ihre vielversprechende Karriere in der Bunkerstadt steht kurz bevor. Laury ist technisch versiert und kann optimistisch in die Zukunft blicken. Andrews hingegen ist ein schlechter Schüler und träumt von einem Leben außerhalb des Bunkers. Sein Vater leitet die Fly Tech Expeditions, die für die Erkundung der Außenwelt mittels Drohnenflügen verantwortlich sind. Andrews' Mutter hat es jedoch nie in den Bunker geschafft und ist angeblich vor den Toren der Stadt ums Leben gekommen. Als sie auf die entführte Tessa Leech treffen, werden sie selbst in Gefangenschaft genommen. Sie entdecken, dass die Oberfläche der Erde nicht tödlich ist und dass eine kleine Gruppe Überlebender gegen Sheltervilles Drohnenflüge ankämpft. Andrews erfährt zudem, dass seine Mutter bei dieser Gruppe lebt und ihm einen rätselhaften Brief hinterlassen hat. Währenddessen sucht Andrews' Vater nach seinem vermissten Sohn und deckt dabei die Machenschaften der Präsidentin auf. Ein Kampf zwischen Shelterville und den Outlaws entbrennt um den letzten grünen Fleck auf der Erde. "Shelterville" ist eine fesselnde postapokalyptische Geschichte, die den Leser auf eine emotionale Reise mitnimmt. Durch die Augen von Andrews Durrant erleben wir die Hoffnung und den Überlebenswillen einer Einzelperson in einer hoffnungslosen Welt, während er nach einem Funken Licht sucht, der die Zukunft wieder erhellen könnte. Es ist eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Verrat und dem unermüdlichen Kampf um das Überleben in einer zerstörten Welt.

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Seitenzahl: 499

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Shelterville

Julian Lott

Impressum

Shelterville

Julian Lott

© 2023 Julian Lott

Alle Rechte vorbehalten.

KAPITEL 1

Das Ticken der Uhr in zeitgleichen Abständen sollte eigentlich etwas Beruhigendes an sich haben, dachte sich Andrews Durrant, der mit schläfrigem Gesichtsausdruck und genervt vom rhythmischen Klopfen auf der unbequemen Schulbank der School of History sass und wie gebannt dem Kreisen des grossen Zeigers folgte. Über ihm war das Knistern der warm-weissen Halogenlampen zu hören, die knapp über ihm von der Decke hingen und ihn vom Einschlafen abhielten.

Getrieben gingen die schwarzen Lackschuhe des Lehrers klackend von Wand zu Wand und seine laute Stimme berichtete ergriffen von alten Rittern und grossen Schlachten aus längst vergangener Zeit. Andrews hätte sich bestimmt dafür begeistern können, wäre er in den ersten Lektionen nicht immer so todmüde. Schläfrig hielt er sich die Hand vor den Mund, bevor ihm ein lautes Gähnen entfuhr. Seinen Blick liess er währenddessen durch die langweilig blassen Wände des grossräumigen Klassenzimmers wandern. An den Ecken hingen weisse Flaggen mit dem Emblem von Shelterville: einer blauen Sonne mit breiten Zacken als Sonnenstrahlen, die ein wenig vom Umfang abstanden. Dies war das Symbol von Shelterville, der letzten Zuflucht der Menschen.

Obwohl in einer Klasse um die hundert Schüler waren, schweifte Andrews Blick andauern zu dem leeren Stuhl von Tessa Leech, der Präsidententochter von Shelterville. Vor zwei Wochen war sie das letzte Mal zum Unterricht erschienen. Der Direktor der Schule – ein fettleibiger, glatzköpfiger Mann mit weissen Strähnen als Haare – hatte der Klasse höchstpersönlich erklärt, dass sie lediglich die Kampagne ihrer Mutter tatkräftig unterstütze und deshalb für die nächsten Wochen vom Unterricht dispensiert sei.

«Mister Durrant!», rief der Lehrer mit erboster Stimme und liess Andrews aufschrecken. Sein Geschichtslehrer, Mister Harry Knob, war ein Mann in seinen Dreissigern und somit jünger als die meisten Lehrer an dieser Schule. Und er sah auch deutlich besser aus; seine fast goldenen Haare hatte er sich nach hinten gekämmt und seine jadegrünen Augen funkelten Andrews angesäuert hinter dem runden Drahtgestell an.

Verdammt, ich habe nicht aufgepasst!

«Läuft in Ihrem fantasievollen Gehirn wohl etwas Wichtigeres ab als in meinem Unterricht?»

Die Blicke der restlichen Schüler, die nicht minder gelangweilt zu sein schienen und sich offensichtlich über die Abwechslung freuten, richteten sich auf Andrews.

«Ich dachte, das wäre klar.» Das heitere Gelächter seiner Mitschüler erfüllte das Klassenzimmer.

Mister Knobs Mundwinkel zuckten nervös. «Wie wäre es, wenn Sie die Klasse an Ihren Gedanken teilhaben lassen? Kommen Sie! Erzählen Sie der Klasse, was Ihnen Interessantes durch den Kopf schwirrt!» Er stemmte seine Hände in die Hüfte und erwartete wohl tatsächlich, dass Andrews über seine Tagträume berichtete. Der Blick der Klasse richtete sich wieder auf den müden Andrews, der sich verschlafen die Augen rieb. «Wollen Sie denn wirklich alles wissen, was dort drin abgeht? Es könnte Ihnen nicht gefallen.»

Andrews verschmitztes Lächeln liess Mister Knobs Kopf rot anschwellen und der Lehrer begann lauthals über die Pulte zu schreien: «Was denken Sie denn, wer Sie sind? Nur weil Ihr Vater der Leiter der Fly Tech Expeditions ist, heisst das noch lange nicht, dass Sie tun und lassen können, was Sie wollen!» Mister Knob trottete wütend zu seinem Lehrerpult hinüber, riss das Klassentelefon förmlich von seiner Basisstation heraus und hämmerte mit seinem Zeigefinger auf die Nummerntasten. «Sie werden das bereuen, Mister Durant. Ich werde ihren Vater –»

RIIIIIINNNNGGGG

Das Klingeln bebte plötzlich durch den Sektor und läutete die nächste Lektion ein. Die Schüler erhoben sich ungefragt von ihren Stühlen und packten ihre Schulbücher in ihre Taschen. Mister Knob warf Andrews noch einen wütenden Blick zu, bevor er das Telefon zurücklegte, und steif erklärte: «Die Geschichtsstunde ist zu Ende. Wir sehen uns morgen, Klasse.»

Andrews beschloss zu verschwinden, solange er noch konnte. Er stopfte seine Schulbücher in seine Tasche und spurtete aus dem Schulzimmer, bevor sein Lehrer ihn länger hätte im Zimmer behalten können. Als er vor seinem Schliessfach Halt machte, bemerkte er seinen Klassenkameraden und besten Freund Laury Launders. Er trug die schneeweisse Uniform von Shelterville mit dem blauen Logo auf der Brust. Seine frechen Augen funkelten aufgeregt.

«Du Schlitzohr», prustete er und boxte ihm lässig auf den linken Oberarm. Andrews fragte sich, wer heutzutage noch das Wort ,Schlitzohr’ benutzte, und rieb sich die Stelle, wo seine knochige Hand ihn getroffen hatte.

«Was ist?» Zappelig sprang Laury hin und her. Sein kleingewachsener Freund war asiatischer Abstammung und der Klassenbeste, was seine Noten anbelangte. Seine Eltern waren beide Koreaner. Ihre richtigen Namen hätte Andrews niemals aussprechen, geschweige denn schreiben können, aber sie hatten ihrem Sohn einen westlichen Namen gegeben und vor einigen Jahren ihren Nachnamen ändern lassen. Sie waren sehr respektvoll und herzlich zu Andrews, aber von ihrem Sohn verlangten sie, dass er die besten Noten in der Klasse schrieb. Und obwohl er im Unterricht mit allem und jedem im Radius von einem Meter sprach und nie aufpasste, schaffte er es irgendwie. Nicht wie Andrews, der in den ersten Stunden schlief, dann aufpasste, aber dennoch nur mittelmässige Noten holte.

Laurys rabenschwarze Haare waren wie Stacheln nach oben gegelt, sein schmales Gesicht trug ein freches Lächeln und die weit aufgerissenen Augen glänzten wie eine gefährliche Teergrube. «Du hast es ja Mister Knob ganz schön gegeben, was?»

Andrews zuckte mit seinen Schultern. «Ja, kann sein.» Er war nicht gerne ausfallend gegenüber seinen Lehrern und wollte sich nicht damit rühmen. «Wo ist eigentlich Tessa? Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen.»

«Warum? Damit du ihr wieder hinterher gucken kannst?», Andrews zuckte zusammen und stellte sicher, dass ihn niemand gehört hatte. «Sag das nicht so laut!» Er nahm ihn in den Schwitzkasten und versuchte ihn von dem vorbeiziehenden Strom von Schülern wegzubekommen, doch der kleine Teufel wehrte sich heftig dagegen und schlüpfte zwischen seinen Armen hindurch wie ein nasser Aal. «Gib es doch zu! Du stehst auf hübsche, schlanke Blondinen mit schönen Hintern.»

«Das stimmt nicht. Er macht gern Scherze», erklärte Andrews einer Gruppe Mädchen, die ihn beim Vorbeigehen vorwurfsvoll anschaute.

«Aber du sagst doch immer, je dümmer, umso besser.» Entsetzt blickte sich Andrews zu den Mädchen um und hoffte, dass sie das nicht gehört hatten, doch als er ihre wütenden Gesichter bemerkte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Als sie schliesslich ausser Sichtweite waren, begann Laury lauthals zu lachen und sich zu krümmen.

«Das ist nicht witzig», meckerte Andrews und war über die ständigen Albereien seines Freundes verärgert.

«Ach, komm schon. Das war doch witzig. Jetzt hast du umso grössere Chancen bei Tessa», widerlegte Laury besserwisserisch, als ob er schon tausende von Frauen verführt hätte.

Andrews hob eine Augenbraue. «Und wie das?»

«Na, die Mädchen werden darüber reden, wie wählerisch du doch bist, wenn es um Frauen geht, und dich anhimmeln. Solange du das Gesprächsthema bist, ist doch alles gut. Ich meine, du siehst nicht allzu scheisse aus; du bist gross und schlank. Und ich glaube mal gehört zu haben, dass haselnussfarbene Augen und braune Haare diesen Monat ziemlich angesagt sind.»

«Ich weiss nicht.» Andrews war Laurys Ratschlägen gegenüber immer skeptisch eingestellt. Ausserdem dachte er nicht, dass er aussergewöhnlich hübsch sei. Ein Mädchen, auf das er früher stand, hatte ihm mal gesagt, seine Augen würden stets einen müden Eindruck machen und dass seine Stupsnase und die schmalen Lippen auch nicht unbedingt ein Schönheitsideal waren.

«Du Weichei», warf Laury ihm lachend an den Kopf.

«Na warte, du Kleiner!» Andrews stürzte sich auf ihn und begann, ihn mit halbharten Schlägen einzudecken.

«Kinder, hört endlich auf!» Palara Trist stand griesgrämig neben ihnen und ihr Blick verhiess nichts Gutes. «Ihr seid zwar siebzehn, aber benehmt euch, als ob ihr nicht mal zehn wärt.»

Sie stemmte, wie Mister Knob, wütend die Hände in die Hüfte und zog ihre Brauen tief ins Gesicht. Sie sah heute bemerkenswert vornehm aus, wo sie sich doch so ungern schminkte und schön machte für die Schule. Ihr kurzes, braunes Haar lag glatt wie Seide auf ihren zierlichen Schultern und sie hatte sich einen dunkelroten Lippenstift auf die dünnen Lippen aufgetragen. Ihre hellblauen Augen funkelten neben der schmalen Nase und unter den geschwungenen Brauen.

«Du weisst, ich habe eine Klasse übersprungen», warf Laury empört ein. «Ich bin sechzehn!»

Andrews war es lieber, das Thema zu wechseln. «Ach, Pal, warum hast du dich denn so schick gemacht?», fragte er seine beste Freundin aus der Parallelklasse.

«So sehen Leute aus, die aus dem zweiten Sektor kommen und auf vornehm machen wollen», witzelte Laury.

«Ich würde meinen Mund nicht so weit aufreissen, wenn man einen Sektor weiter unten wohnt», stichelte Pal gegen ihn, wie sie es beim immerwährenden Kampf Welcher-Sektor-ist-besser stets taten, wobei Laury den dritten Sektor immer mutig zu verteidigen versuchte.

Pal wandte sich aufgeregt an Andrews, um seine vorherige Frage zu beantworten. «Weil ich in einer Stunde ein Bewerbungsgespräch bei der Fly Tech Expeditions als Drohnenpilotin habe. Wir sind im letzten Semester, wir müssen schliesslich in weniger als einem halben Jahr eine Arbeit finden und das, bevor wir unseren Abschluss haben.» Schon nur davon zu hören reichte, um zu spüren, wie sich sein Magen von innen her umstülpte.

Und weshalb genau bei der Fly Tech Expeditions?

Pal war klug genug, seinen Stimmungswechsel zu erkennen. «Ist was?», hakte sie neugierig nach.

«Ähm … nein … also, nein … doch… Du weisst noch, dass mein Vater dort arbeitet.»

«Ja, Chermyn Durrant, er ist der Erste Kommandant der Drohnen-Expeditionen», gab sie unbeeindruckt zurück und zuckte mit den Schultern. «Ich weiss nicht, was du hast. Er ist nett.»

«Das schon. Aber er ist ziemlich streng und als Drohnenpilot musst du echt was draufhaben. Ich denke nicht, dass mein Vater Rücksicht auf dich nehmen wird, nur weil du mit mir befreundet bist.»

«Denkst du etwa, ich würde es ohne deine Hilfe nicht schaffen?» Ihre blauen Augen funkelten ihn böse an, während sie sich ihm näherte. Sofort bereute er seine unbedachte Wortwahl und machte einige Schritte gegen sein Schliessfach zurück.

«Nein, so meinte ich das gar nicht Pal –»

«Meine Noten sprechen für mich», meinte sie, reckte stolz die Brust und warf den Kopf in den Nacken. Dabei lag Pal vermutlich gar nicht so daneben, denn sie war immerhin Leistungsträgerin in ihrer Klasse und hatte vermutlich sogar noch bessere Noten als Laury. Wenn jemand eine Chance hatte, von der Fly Tech Expeditions angenommen zu werden, dann Palara Trist.

«Ich werde meine Leistungen für mich sprechen lassen. Um das Tageslicht immerhin auf einem Display sehen zu können.»

«Hast Glück, dass ich Techniker werden möchte, genau wie mein Vater. Sonst hättest du dir die Stelle abschminken können», merkte Laury an und musste sich sogleich vor einem herangeschossenen Stift in Deckung bringen.

Von allen dreien hatte Andrews die mit Abstand schlechtesten Noten vorzuweisen und keine Ahnung, was er in seiner Zukunft machen sollte. Nachdenklich wanderte sein Blick zur weissen Decke über ihm. Wie Zugschienen zogen sich zwei lange Neonröhren an der Decke den Flur entlang und erhellten die sterilen Wände. Es war ein wenig trostlos, empfand Andrews. Nirgendwo war ein einziges Fenster zu sehen. Kein Sonnenlicht drang durch grosse, klare Scheiben und keine Lichtreflexe tanzten an den Wänden oder kitzelten auf der Haut. Andrews würde es mit Sicherheit nie sehen und nie spüren. Das bezweifelte er nicht – hier, tief imBerg.

KAPITEL 2

Elegant schmiegten sich die pechschwarzen Offiziershosen an die langen Storchenbeine seines Vaters. Seine ruhigen braunen Augen musterten seinen Sohn mit der Auflage eines strengen Offiziers, der kontinuierlich Befehle brüllte, und der unterschwelligen Milde eines alleinerziehenden Vaters. «Wie war es heute in der Schule?», fragte Chermyn Durrant seinen Sohn neugierig.

«Ganz in Ordnung», log Andrews und griff sich einen schrumpeligen Apfel. «Ist nicht immer so interessant, aber naja.»

Vater beäugte währenddessen sein Spiegelbild pedantisch und fuhr mit der Fusselrolle über seinen schwarzen Anzug, bis er sie zufrieden hinlegte und Haltung annahm. Mit seinen kurzen Haaren wirkte er sehr ,militärisch’.

«Nicht schlecht», sagte er und zwinkerte sich selbst zu.

«Kannst stolz sein auf deinen alten Herrn.»

Andrews vergrub währenddessen seine Zähne in den Apfel und genoss jeden Bissen der teuren Frucht. «Alt bist du ja noch lange nicht», widersprach er ihm. Dad war immerhin erst siebenunddreissig Jahre alt. «Weisst du eigentlich, wann ich dich wieder bei der Arbeit besuchen darf?»

«Puuh …» Sein Vater kratzte sich nachdenklich den geschorenen Kopf. «Sieht momentan nicht allzu rosig aus. Momentan ist viel los. Ach übrigens, ich komme heute dann ein wenig später nach Hause. Ich muss noch zu dieser Sitzung mit Präsidentin Leech und den anderen hohen Tieren. Sogar die Leiter aus Sektor sieben und acht sind dabei. Was das wohl wird», fragte er sich selbst zähneknirschend. «Ich finde, man sollte die unteren Sektoren sich selbst überlassen, jetzt da die Lebensmittel und der Strom langsam zur Neige gehen.

Aber vorerst werden wir uns wohl mit der Präsidentschaftswahl befassen müssen.»

Hier im ersten Sektor, dem wohlhabendsten von Shelterville, bekam man von den Problemen der Sektoren sechs bis acht nicht viel mit. Nur Familien mit hohen Einkommen konnten es sich leisten, im ersten Sektor zu wohnen. Sektor acht diente Shelterville als Recyclingort und war eine halbe Kloake. Sie werteten alte Gegenstände von den höheren Sektoren wieder auf, behielten einen kleinen Teil und gaben die guten Stücke wieder zurück. Die Sektoren sechs und sieben waren reine Fabriksektoren und wurden von allen ‚Die Arbeitersektoren‘ genannt, da man dort alles herstellte, was man zum Leben benötigte.

Palara Trist und Laury Launders, die in den Sektoren zwei und drei wohnten, gehörten dabei der guten Mittelklasse an. In ihren Sektoren arbeitete man grösstenteils in Krankenhäusern, Kindergärten oder man reparierte in Lagerhäusern wichtige Apparaturen. Diejenigen, die es sich leisten konnten, gingen in die School of History, um später eine gute Anstellung finden zu können. Die meisten der Schüler kamen aus den Sektoren eins oder zwei. Laury war die Ausnahme, da seine Eltern viel geschuftet hatten, um ihren Sohn in die angesehene School of History bringen zu können.

Die Jugendlichen aus seinem Sektor hatten ihre eigene kleine Schule, aber es war schwer, mit einem Abschluss von dort eine gute Arbeit zu finden. Unter Sektor vier fand man keine Schulen mehr und Kinder mussten schon im frühen Alter eine Arbeit finden. Andrews und seine Freunde wusste von den Umständen der unteren Sektoren, aber solange man es nicht mit eigenen Augen sehen musste, ging es für sie in Ordnung.

Lawrence Leech war schon nun seit zwei Jahren durchgehend Präsidentin von Shelterville. So lange hatte noch keiner durchgehalten und als erste Frau im Präsidentenamt war es eine noch grössere Ehre und Verantwortung, diese Stadt zu leiten. Denn die Shelterville war der einzige bekannte und bewohnte Schutzbunker, den es noch auf dieser Welt gab. Mit Platz für zweihunderttausend Einwohnern war er der grösste Bunker, der jemals gebaut worden war. Der gewaltige Schutzbunker, der unter einem Inselberg lag, hatte geräumige Anlagen, besass ein Krankenhaus, eine Schule, gewaltige Lebensmittellager und eine Wasserversorgungsanlage (im Grunde alles, was man zum Leben brauchte) und erstreckte sich wie ein Ameisennest unter dem Massiv auf der Oberfläche. All diesen Sachen galt es die Instandhaltung zu sichern, da sie für die Bewohner von Shelterville überlebenswichtig waren. Andrews dachte wieder über Pals Worte nach.

«Wusstest du, dass Pal sich bei der Fly Tech Expeditions beworben hat?»

«Palara Trist, meinst du? Die Tochter von Astrid und Paco?»

«Ja.» Sein Vater hatte sich noch nie gut Namen merken können.

«Beim gemeinsamen Essen letztens: Sie war doch die kleine Süsse mit den braunen Haaren, stimmt’s?»

«Naja», verlegen wich er dem Blick seines Vaters, «ja, das war sie.»

Ihre Familien hatten eine gute Beziehung zueinander und er hatte schon länger das Gefühl, dass ihre Eltern ihn und Pal verkuppeln wollten – vor allem die deutschstämmige Astrid mit ihren freundlichen Augen und ihrem witzigen Akzent. Ihr Ehemann hiess Paco Trist, war Hauptleiter der Systemtechnik und Vater wollte am liebsten jeden Abend mit dem heissblütigen Spanier in einem Schankraum ein Glas Bier trinken. Andrews wusste, dass Vater gerne jeden Tag dorthin gehen würde, aber er fühlte sich anscheinend schlecht, wenn er seinen Sohn allein zuhause liess.

«Sie hat Schneid, die Kleine. Sie könnte es tatsächlich schaffen, wenn dich meine ehrliche Meinung interessiert.» Er verschwand aus dem Wohnzimmer mit dem alten Fernseher in die Küche mit den Glashängeschränken und der Marmorplatte und schenkte sich einen Schluck Riesling in ein brillierendes Kristallglas ein.

«Möchtest du auch einen Schluck? Du bist ja alt genug.»

«Nein, lieber nicht», antwortete Andrews mit angeekeltem Blick. Weisswein hatte ihm nie geschmeckt. Er hatte einen metallischen und mineralischen Beigeschmack und liess Andrews Kopf unmittelbar nach dem ersten Schluck strudeln.

«In Ordnung.» Der Vater leerte das Glas in einem grossen Schluck und stellte es klirrend auf die Marmorplatte. «So, ich muss jetzt schon gehen. Während ich weg bin: Melde dich nicht an meinem Computer an! Ich habe dort wichtige Dokumente offen. Und ich weiss, dass du das Passwort kennst», mahnte er Andrews, während er sich einen grauen Karomantel überstreifte. Obwohl es Klimaanlagen gab, gehörte ein schöner Mantel einfach zum guten Ton.

«Du benutzt aber auch überall dasselbe Passwort. Wie geht das noch mal? Genau … XxTheDurrantsxX.»

«Das ist keine Ausrede, um an meinen Computer zu gehen. Ach ja, und ich hab dir etwas zum Essen dagelassen.» Der Vater verabschiedete sich mit einem eiligen Schmatzer auf die Stirn seines Sohnes und verschwand durch die Drehflügeltür nach draussen. Andrews Blick blieb, wie so oft, am gemeinsamen Familienbild haften. Er als kleines rosiges Baby, sein eleganter Vater in Militäruniform mit kurz geschorenen Haaren und sein Arm um den Hals seiner ansehnlichen Mutter. Ihre roten Haare wallten sich glänzend auf ihren schmalen Schultern und schlangen sich um den zierlichen Hals. Die braunen Rehkitzaugen blickten Andrews lächelnd entgegen.

Mom hätte ihm jetzt sicher helfen können. Die Arbeitssuche belastete Andrews gewaltig und Dad war ziemlich schlecht darin, ihm hilfreiche Tipps zu geben. Seine Mutter war extrem klug gewesen. Zu Lebzeiten hatte sie als Wissenschaftlerin gearbeitet und das All untersucht. Dad sagte, sie sei in den letzten ruhigen Tagen vor dem Krieg ziemlich beschäftigt gewesen und hatte immer bis tief in die Nacht gearbeitet. Früher hatte Vater ihm viel von ihr erzählt, aber mittlerweile war er diesbezüglich schweigsamer geworden.

Andrews stöhnte leise auf und ging zur Küche. Er schöpfte sich etwas vom Essen auf den Teller, doch die Bohnen und Klumpen aus Fleischerzeugnissen sahen nicht sehr appetitlich aus, daher beliess er es bei dem kleinen Haufen, der sich schleichend auf dem Teller ausbreitete. Auf der Couch holte er sein Lieblingsbuch hervor. Es war ein Buch über den Kosmos, über Sternbilder, das Universum und alles, was mit dem All zu tun hatte. Der Autor war ein Wissenschaftler, wie seine Mutter, und schrieb auf so spannende Weise über die Weiten des Alls, dass es Andrews immer wieder aufs Neue fesselte. Er war ein anderer Mensch, wenn er dieses Buch las. Er wurde wieder zu einem kleinen, aufgeregten Jungen, während er die Worte in sich hineinsaugte. Die Filmsammlung seines Vaters war nicht einmal halb so spannend.

Prrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!

Erschrocken blickte Andrews von seiner Lektüre auf und fragte sich, ob sein Vater wieder einmal etwas vergessen hatte. Hastig sprang er von der Couch, ging zur Tür und drückte seine Augenhöhle gegen den eisigen Rahmen des Türspions. Er sah zwei Schlitze als Augen und ein breites Grinsen, das ihm entgegenschaute. Dahinter, ruhig und besonnen, Palara mit verschränkten Armen und ernsthaft wie immer. Also öffnete Andrews die Tür.

«Schau mal, wen ich aufgegabelt habe», begrüsste ihn Laury und trat herein. «Pal ist gerade mit ihrem Vorstellungsgespräch fertig geworden, da treffe ich sie auf dem Heimweg vor der Kantine. Was für ein Zufall. Eine edle Dame aus dem zweiten Sektor.»

Grimmig kam nun auch Pal vom weissen Korridor über die Türschwelle geschritten und wirkte etwas zerzaust.

«Wie war’s?», fragte Andrews und er konnte erkennen, wie sich ihr Blick leicht erhellte.

«Danke, dass du fragst.» Pal stiess Laury leicht ihren Ellenbogen in die Flanke. «Nicht wie dieser Trottel hier! Aber es war komisch. Keine Ahnung, ob ich einen guten Eindruck hinterlassen habe. Diese Fragen waren nicht ohne. Ich hatte gedacht, dein Vater wäre vielleicht dort, um ein wenig mit mir zu schwatzen und mir viel Glück zu wünschen.»

«Nein, er ist gerade eben zu einer Sitzung gegangen.»

«Eine Sitzung?», fragte Pal und hob eine Braue.

Laury schien gerade einen Gedankenblitz gehabt zu haben und schaute sie mit runtergeklappter Kinnlade an. «Vielleicht geht es um Tessa?», warf er scharf in die Runde. «Vielleicht ist eine Verschwörung am Start und sie möchte ihre Mutter als Präsidentin absetzen.»

«Red keinen Unsinn!», wies Pal ihn bissig zurecht. «Es wird wohl etwas wegen der kommenden Wahl sein.»

«Ja, das muss wohl so sein», stimmte Andrews ihr gedankenverloren zu.

Pal marschierte schnurstracks in die Küche, holte sich ein sauberes Glas und schenkte sich reichlich von dem Weisswein ein, sodass er fast über den gläsernen Rand schwappte. Auf die fragenden Blicke von den beiden antwortete sie: «Entschuldigung, aber im zweiten Sektor haben wir gerade keinen Wein und ich brauche dringend einen Schluck.» Sie betonte dabei das Wort ,dringend’ und nahm mehr als einen grossen Schluck. «Der ist gut», bekundete sie nickend, als sie das Glas abstellte und sich die Lippen leckte.

«Die Drohne müsste bald starten.» Laurys Blick haftete an der Uhr im Wohnzimmer. «Das ist immer so aufregend. Gehen wir zur Rampe?» Man konnte ihm ansehen, dass er, wenn es sein müsste, auch ohne sie gehen würde.

«Bitte nicht, ich hasse diesen ganzen Lärm und dieses blendende Licht beim Start, das einen fast blind macht. Und die vielen Leute – vor allem diese vielen Leute!» Pal streckte die Zunge raus, als wenn sie sich erbrechen müsste.

«Komm, beklag dich nicht immer, Pal», wendete Andrews ein. Sie hatte immer einen Grund, um nicht irgendwo hingehen zu müssen, wo es viele Leute gab. «Du musst mal was erleben.»

«Wenn es bei ‚etwas erleben‘ darum geht, mein Trommelfell zu zerstören, dann kann ich gerne darauf verzichten.»

Andrews nickte Laury zu und sogleich hatte sein Freund verstanden. Die beiden verhakten ihre Arme in Pals und schleppten sie, klagend und jammernd, nach draussen in Richtung Drohnenabschussrampe.

KAPITEL 3

Die heulenden Sirenen kündigten den Bewohnern von Shelterville den kommenden Start der Drohne an. Die Gänge, in denen die Menschen zuvor noch in ihre Büros und Arbeitsplätze gehuscht waren, waren plötzlich einsam leer.

«Verflucht, ich will das nicht verpassen», knurrte Laury ungeduldig, während die drei Freunde in Richtung Abschussrampe in Sektor drei flitzten. «Wenn das Tor erst zu ist, werden wir nicht mehr reinkommen.»

«Würde mich wirklich nicht stören, jetzt noch umzukehren», bekundete Pal schwer keuchend vom Rennen.

Ihre Schritte wurden schneller und die weissen Gänge schienen sich zu strecken und zu biegen, sodass sie endlos wirkten, als sie schnaufend zur Rampe rannten. In den schwarzen Griffen der Leitungshalter zogen sich über ihren Köpfen schwarze Kabel zur Rampe. Andrews war schon öfters hier gewesen, doch heute schien der Weg länger zu sein als sonst. Langsam flaute das Lärmen der Sirenen ab. Sie bogen rechts an der Poststelle ab und ranntenweiter.

«Nicht mehr weit», erklärte Andrews ihnen knapp. Die Sirenen waren mittlerweile verstummt. Sie bogen noch einmal nach links ab und er sah, dass das Tor zur Rampe noch nicht heruntergefahren war. Mit letzter Kraft zogen sie sich über die Türschwelle, ehe sie sich wenig später hinter ihnen schloss.

«Geschafft!», prustete Laury und verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln. «Unglaublich!»

Pal hockte sich auf den eiskalten Boden hin. «Das tue ich mir nie wieder für euch Jungs an.»

«Komm, das wird sich lohnen», Laury schien urplötzlich wieder voller Energie zu sein und aufgeregt sprang er hoch und versuchte sie an den Händen hochzuziehen. «Steht auf!»

Erschöpft und zerbrechlich wie ein Greis, richtete sich Pal wieder auf. «Ich hoffe es wird so großartig, wie du vorhin gesagt hast, Laury.»

Vor ihnen und hinter der Absperrung befand sich eine dichte Menschenmasse, die heiter auf das kommende Ereignis wartete. Menschen aus den oberen Sektoren standen hier versammelt und freuten sich auf das regelmässige Ereignis. In dieser trostlosen Zeit war selbst etwas Stumpfsinniges wie ein Drohnenstart ein sehenswertes Schauspiel, das sich nur wenige entgehen lassen wollten.

«Suchen wir uns einen Weg näher ran.» Laury versuchte, sie durch die Masse hindurchzuführen, zwängte sich zwischen grossen Torsi hindurch und duckte sich unter klatschenden Händen hinweg, um sie näher ans Gitter bringen zu können. Es dauerte eine Weile, da entdeckte er eine Lücke zwischen einem beleibten Herrn mit dicken Oberarmen und einem blonden Mann und drückte sich querdurch. Pal und Andrews folgten ihm auf der Pelle und drückten sich dazwischen. Plötzlich krachte Andrews Kopf gegen das kalte Gitter und er musste feststellen, dass sie vorne angekommen waren.

«Na, was hab ich gesagt?», prahlte Laury breit grinsend.

«Okay, du hast es drauf», gab Pal gequält zu. «Aber mal schauen, ob sich das Ganze auch lohnt.»

«Miss Trist!», hörte Andrews eine Stimme unweit von ihnen tief beben. «Ach, du meine Güte. Kaum zu glauben, dass ich Sie hier einmal treffe.»

«Mister Polytheus!», japste Pal erfreut auf und im nächsten Moment lag sie strahlend lachend in den Armen eines fettleibigen Mannes mit freundlichem Gesicht, dickem Hals, schlohweissem Haar und Brauen über den dicken Schlauchbootlippen. Die kullerrunden Augen blickten fröhlich auf Pal herab und seine massigen Arme umschlossen ihre zierliche Gestalt. Sein aufgeknöpfter weisser Kittel gab einen grossen Wams frei und er roch stark nach Desinfektionsmittel. Der Geruch ätzte in Andrews Nase und erinnerte ihn an die Schulgänge im östlichen Trakt, wo es immer danach roch.

Andrews kannte den üppigen Polytheus vom Sehen her. Er war Lehrer an der School of History und unterrichtete Astrologie im östlichen Wissenschaftsabteil. Zum Glück war es nur ein Wahlfach, denn Andrews und Laury hatten keine Lust, etwas über Sternbilder zu lernen und durch ein Rohr in den Himmel zu schauen, obwohl man hunderte Meter unter der Erde feststeckte.

Pal hingegen war ganz ausser sich gewesen, als man ihnen die Blätter mit dem neuen Schulplan verteilt und sie den Namen J. Polytheus und das Fach Astrologie im Stundenplan entdeckt hatte. Verdutzt wechselten Laury und Andrews Blicke.

«Du», flüsterte Laury ihm ins Ohr, «wer ist denn das?»

«Das ist Mister Polytheus, der Astrologielehrer.»

«Sagt mir nichts», entgegnete Laury achselzuckend und begrüsste Mister Polytheus, der gackelnd auf sie zukam und stramm ihre Hände schüttelte.

«Freut mich, freut mich. Sie haben aber junge, adrette Männer als Freunde, meine Liebe. Mein Name ist Jarvis Polytheus. Ihr könnt mich gerne nur Mister Polytheus nennen.» Seine roten Wangen bebten vom Gelächter, bis er sich schliesslich zusammennahm, den Stoff seines Kittels mit seinen dicken Fingern glattstrich und auf Andrews zeigte. «Ich kenne Sie. Sie sind der Sohn von Chermyn Durrant. Höchst erfreut. Wie lautet denn Ihr Name, wenn ich fragen darf?»

«Andrews», antwortete er kurz und knapp.

«Und mein Name ist Laury Launders», sagte Laury hastig, da Polytheus nicht den Eindruck vermittelte, ihn auch fragen zu wollen.

«Schön Sie alle kennenzulernen», erklärte der Lehrer und breitete seine Arme aus. Er zeigte mit seinem Finger auf Laury. «Sie sollten unbedingt die School of History besuchen, wenn Sie alt genug sind. Nicht diese – entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise – stümperhaften Schulen in Sektor drei oder vier. Es kostet zwar ein wenig mehr, doch ich bin sicher, wenn Ihre Eltern tief in die Börse greifen, werden sie die Mittel finden. Die Anlage ist top modern, die Lehrkräfte die qualifiziertesten der Welt, wenn man denn das so sagen kann, und sogar Astrologie bekommen Sie dort unterrichtet.»

«Ich weiss», erklärte Laury unsicher. «Ich gehe selbst dort zur Schule.»

«Ach!» Polytheus schüttelte ungläubig seinen übergrossen Kopf. «In diesem Fall besuchen sie meinen Kurs?»

Ehe Laury etwas Dummes sagen konnte, sprang Pal dazwischen. «Nein, er hat schon so viele Wahlfächer, dass er keine freie Zeit dafür hat.»

«Vielleicht nächstes Jahr, mein Lieber.» Er tätschelte Laury sanft an der Schulter und gab ihm einen untröstlichen Blick. «Aber wissen Sie, Miss Trist ist die beste Schülerin, die ich je hatte. Und das ist nicht nur so dahergeschwatzt. Sie weiss langsam mehr als ich. Ausserd…»

Eine Ansage schnitt ihm das Wort ab. Der Start sollte demnächst beginnen. Andrews hatte das zwar schon einige Male gesehen, dennoch liess ihn dieser Anlass nicht unberührt und er spürte ein leichtes Kribbeln in der Bauchgegend.

«Ohje, wie aufregend», hörte er Mister Polytheus sagen.

«Da kommt sie auch schon.»

Aus einer Bodenklappe erschien eine DE-372, die neuste Drohne des Staates. Wie ein gewaltiger, ausgestopfter Kondor mit gefächerten Flügeln ruhte sie auf der Rampe und blickte in die finstere Stolle vor ihr. Der sieben Meter lange Rumpf und die Flügel waren aus schwarz lackiertem Metall mit faustgrossen Nieten, die jeden halben Meter herausragten. Der spitz zulaufende Kopf war wie der Helm von Rittern, von denen Mister Knob immer so viel erzählte. Das Visier aus zusammengeschweissten Platten ruhte vor dem rotenAuge der Drohne, das unter dem dunklen Gehäuse nervös hin und her zuckte. Die Flügel waren je doppelt so lang wie Andrews selbst und die Tragflächen leicht abgewinkelt. Darunter hingen zwei grosse Stahlwerkturbinen.

«Das ist der Vogel Gottes», erklärte Mister Polytheus ehrfurchtsvoll und küsste seinen Daumen, als Dank für den Schöpfer. Andrews konnte viele Zuschauer ausmachen, die es ihm gleichtaten. Laurys Hände umfassten nervös die festen Gitterstäbe der Absperrung.

«Es geht gleich los!» Andrews musste Laury an die Schulter fassen, damit er vor Aufregung nicht vor der Drohne abhob.

Das rabenschwarze Teil lag surrend und mit technischer Leblosigkeit auf den langen Schienen, die in eine schwarze Stolle stiegen und mit der Dunkelheit verschmolzen. Die Leute hier hatten diesen Ablauf vermutlich schon Dutzende Male gesehen, doch da eine neue Drohne im Einsatz war, herrschte eine elektrisierende Anspannung. Die Menschenmenge verharrte wie versteinert hinter der Absperrung. Die Durchsagestimme ging erneut durch die Halle: «Abschuss wird vorbereitet, die DE-372 startet um 14.00 Uhr – in einer Minute», sagte die Stimme. Andrews konnte fühlen, wie alle gespannt den Atem anhielten – selbst Pal.

«Die DE-Modelle sind so schöne Vögel», hörte er Laury verträumt sagen. «Schau dir sein rotes Auge an. Das erste Auge, das die Welt oben seit langem gesehen hat. Die ersten Flügel, die seit dem Aussterben der Vögel wieder in die Lüfte hoben, ohne abzustürzen.»

«Ich werde definitiv Drohnenpilotin», verkündete Pal und hielt eifernd dem roten Blick der Maschine entgegen. «Ganz bestimmt.»

Die kalte Stimme schallte abermals über die Menschenmenge: «Start der Drohne erfolgt in Kürze … Start in zwanzig Sekunden … Start in zehn Sekunden … Start in drei, zwei, eins …

Ein lauter Knall donnerte in der Halle, ein greller Lichtblitz leuchtete auf und ein Wind, der Andrews beinahe von den Füssen schmiss, fegte durch den Raum und wirbelte dunklen Rauch an die Decke.

Während seine Augen betäubt blinzelten und Muster über seine Augen wanderten, sah er für einen Sekunde den schlanken Körper der Drohne, wie sie über den Boden raste. Da erblickte er etwas, das er zuvor noch nie gesehen hatte. In dem Wirbel aus finsterem Rauch bemerkte er unter den nachtschwarzen Flügeln einen Einschnitt, der sich ab der Mitte fast bis zur ganzen Spannweite des Flügels zog, und unter Funken der Schienen und Stichflammen aus den Turbinen jagte die Expeditionsdrohne in die dunkle Stolle, bis schliesslich nur noch ein dumpfes Zischen zu hören war, das sich im tosenden Applaus verlor. Leute hüpften auf und ab, klatschten, knieten nieder oder beteten für einen sicheren Flug.

«Verdammt, war das hell», hörte er Laury fluchen. «Ich hab völlig vergessen, dass diese neuen Drohnen beim Start noch mehr blenden als die alten.»

«Ich hab auch beinahe nichts gesehen», sagte Pal und rieb sich die tränenden Augen.

Andrews liess die Rille unter dem Flügel keine Ruhe. «Laury, hast du die Klappe unten gesehen? Ein Schlitz war unter dem Flügel. Das hab ich noch nie gesehen.»

«Nein, ich kenn die Drohnen in- und auswendig und die DE-372 kann bei den Flügeln nichts ausfahren. Dazu ist das Fahrwerk schliesslich bei der Hinterachse.»

«Da hat er Recht», mischte sich Mister Polytheus ein.

«Dieser Flieger wurde gemacht, um zu erkunden, mein Junge, für nichts anderes.»

Menschen setzten sich langsam von der Menge ab, verschwanden in den Gängen von Shelterville und gingen ihren Arbeiten in den abgekühlten Büros nach, während Pal mit Mister Polytheus über seinen Unterricht sprach und Andrews in Gedanken versunken vor der Absperrung stand und sich fragte, was er dort gesehen hatte.

KAPITEL 4

Das Pfeifen der Schienen, während die Kabinen nach oben und unten schossen, surrte in Andrews Ohren, obwohl sich dicke Betonwände zwischen ihm und den Transportröhren befanden. Das kalte Gitter der Treppenstufen ächzte unter ihrem Abstieg und die wenigen Lampen, die hier an den Wänden der Wendeltreppe brannten, enthielten den Absteigern die verwegene Höhe vor. Viel besser als sehen zu können, wie tief er fallen würde, dachte sich Andrews.

Die lange Wendeltreppe war eines der Geheimnisse der drei Freunde. Zwar wusste der Staat von den verborgenen Gängen und Treppen, doch in ihren Augen hatten sie wohl keinen Nutzen mehr, da auch die Bewohner nur die Transportröhren nutzten, um sich innerhalb des Bunkers fortzubewegen. Diese Treppe war einer der Wege, wofür man den Datenchip, welcher jedem Neugeborenen zwischen Daumen und Zeigefinger implantiert wurde, nicht benötigte. Andrews konnte nicht sagen warum, doch ihm war schon immer die Vorstellung missfallen, dass er dabei eine digitale Spur hinterliess, der theoretisch jeder begabte Systemtechniker folgen könnte. Denselben Gedanken hatten wohl seine Freunde, denn als Pal einen versteckten Eingang zu dem Gangsystem gefunden hatte, kam keiner von ihnen auf die Idee ihn ihrem Vater, dem Hauptleiter der Systemtechniker, zu zeigen.

Die Eingänge waren stets halb verborgene Türen und über das Gangsystem konnte man fast jeden Ort erreichen, obwohl es natürlich weniger bequem war als in den Transportröhren und man mehr Zeit benötigte. Mit einem alten Schlüssel, den Pal bei einer Sammelstelle im Sektor zwei gefunden hatte, konnte sie viele dieser Türen öffnen. Sie trug ihn schon seit langem an einer Kette um ihren Hals.

«Ich kann nicht mehr», stöhnte Laury und stützte sich theatralisch mit einer Hand an der Hüfte ab, während er sich nach vorne neigte und mit der anderen ans Geländer griff. «Ich will zurück zu meinem Sektor!»

«Benimm dich nicht so!», schimpfte Pal. «Und ausserdem ist der zweite Sektor eh besser, da kannst du nichts dran ändern.»

Laury stöhnte noch einmal laut auf und verzog das Gesicht so, als ob er gerade einen Marathon gerannt wäre.

«Aber ich kann nicht mehr!»

«Soll ich dich tragen?», bot Andrews scherzend an.

«Dann würde ich eher Pal auswählen. Sie würde es als einzige hinkriegen.» Andrews warf ihm einen drohenden Blick zu, ehe er sich wieder umdrehte und weiter darauf konzentrierte, keine der Stufen zu verfehlen und ins Nichts zu stürzen.

Andrews musste wieder über Tessa Leech und ihre merkwürdige Abwesenheit nachdenken. Sie war ziemlich beliebt an der ganzen Schule und alle Typen wollten etwas von ihr, denn sie war beispiellos hübsch. Doch als Tochter der Präsidentin war es nicht leicht, Freunde zu finden, die nicht von der Macht ihrer Mutter eingeschüchtert waren. Die Präsidentin strebte eine harte Politik an, mit der nicht jedermann zufrieden war. Und vor einiger Zeit hatte sie die Rationen für die Sektoren sechs bis acht gekürzt, was einige Unruhen mit sich gebracht hatte und auch nicht alle aus den oberen Sektoren erfreute. So ist das wohl als Politiker. Du kannst nie alle zufriedenstellen, dachte er. Ihm fiel auf, dass er beobachtet wurde, und als er ruckartig nach rechts blickte, gaffte ihn Laury mit gekräuselten Lippen an.

«In Gedanken versunken was?», flüsterte er leise, damit Pal keinen Wind von ihrem Gespräch bekam.

«Nein, bin ich nicht.» Andrews räusperte sich. «Ich habe nur die Betonwände beobachtet, weisst du. Sind sehr … schön. Ist dir das schon mal aufgefallen? Sehr stabil.» Er tätschelte die kalte Wand mit der flachen Hand und wich Laurys breitem Grinsen aus.

«Du hast wieder an Tessa gedacht, stimmts?»

Pal drehte sich mit gerunzelter Stirn um. Ihre hellblauen Augen stachen durch Andrews wie ein scharfes Messer.

«Was habe ich hier über Tessa gehört?», fragte sie empört.

«Nichts. Also eigentlich doch. Ich habe Laury gefragt, wo Tessa Leech steckt. Sie ist ja schliesslich in meiner und Laurys Klasse und schon seit letzter Woche nicht mehr anwesend.»

«Weiss ich nicht. Und um ehrlich zu sein, interessiert es mich auch nicht.» Pal wandte sich um und Andrews konnte auch im Dunkeln deutlich erkennen, wie sie ihr Gesicht verzog. «Ich finde sie arrogant und oberflächlich.»

Überrascht schwieg Andrews, als er keine Worte fand, die er hätte sagen können. Auf einer Plattform angekommen bog Pal nach rechts ab und hielt vor einer massiv wirkenden Stahltür. Dann warf sie ihr seidiges Haar zurück, streifte sich die Kette über den Kopf und steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch. Mit einem Knarzen und einem Knacken entriegelte sich die schwere Tür. Pal stemmte ihre Schultern dagegen und drückte sie mühsam auf. «Diese verfluchten Türen, sie gehen einfach nicht mehr richtig auf!»

Als er und Laury ihr über die Schwelle folgten, wartete lastende Dunkelheit auf die drei. Keine Lampe leuchtete hier und die Luft war dicker und heisser als sonst. Pal wühlte in den engen Taschen ihrer Uniform und zog eine kleine Taschenlampe hervor, mit der sie den Gang vor ihnen beleuchtete.

«Wo sind wir hier?», wollte Laury wissen, während er in seine Hand hustete.

«In einem Raum in der Nähe des Heizungsraumes», erklärte Pal. Sie wusste viel über Shelterville und noch mehr über die versteckten Gänge. «Es gibt zu viele Räume, die nicht genutzt werden. Der Bunker war ja für zweihunderttausend Menschen gebaut worden.»

«Ja, stimmt.» Das war eines der wenigen Dinge, an das sich Andrews von Mister Knobs Unterricht noch erinnern konnte. Obwohl Shelterville für zweihunderttausend Menschen gebaut worden war, lebte lediglich die Hälfte in dem unterirdischen Bunker. Ursache dafür war die Tragödie am Nordwesttor vor siebzehn Jahren. Das Tor hatte einen technischen Defekt und die Menschen, die geschwächt von der langen Reise waren und nicht mehr weiterkonnten, starben allesamt vor den schützenden Toren Sheltervilles. Diejenigen, die noch Kraft besassen, hatten versucht, das Südtor zu erreichen, aber dennoch sind hunderttausende von Menschen vor dem Nordwesttor ums Leben gekommen.

Am Tag des Knalls hatte nicht nur Andrews einen geliebten Menschen verloren – auch Laury hatte jemand Wichtiges verloren. Obwohl er und seine Eltern schon innerhalb des Bunkers waren, war es seinem Bruder – einem Soldaten der alten Armee – nicht möglich gewesen in den Schutzbunker hineinzukommen. Er hatte damals mit seinem Konvoi vor dem gewaltigen Stahltor des Nordwesteingangs festgesteckt. Als die Bomben fielen, fiel auch er.

Unweigerlich musste auch Andrews über seinen Weg nach Shelterville nachdenken. Er war noch ein Baby gewesen und seine Familie sehr wohlhabend. Da sein Vater ein ranghoher Offizier war, war er einer der ersten gewesen, die in Shelterville einrücken mussten. Nur hatte es seine Mutter nicht mehr rechtzeitig in den Bunker geschafft …

Ihm entfuhr ein leises Stöhnen, das von den kalten Wänden der Gänge aufgefangen wurde und ein verhaltenes Echo zurücksandte. Shelterville – es glich mehr einem Gefängnis als einem Rückzugsort der letzten Menschen auf der Erde. Man wurde nach seiner sozialen Klasse in Sektoren gesteckt und musste sein restliches Leben darin verbringen ohne die Möglichkeit aufzusteigen. Andrews wollte raus. Er wollte nicht mehr in diesem Gefängnis sein. Er wollte die Welt erkunden und neu besiedeln. Auch falls die Sonne ihn verbrennen würde, er musste sie einmal in seinem Leben an seiner Haut spüren.

KAPITEL 5

Von der Decke tropfte das Wasser in unablässigem Abstand in die Lache, die sich am Boden gebildet hatte und sich mit jeder Sekunde vergrösserte. Der Gang war feucht und kalt. Sie waren weitergegangen in Richtung des verlassenen Heizungsraums, das abseits der Sektoren lag.

«Du, Andrews», begann Pal und war so bleich wie ein Geist, «glaubst du ich habe eine Chance, bei der Fly Tech angenommen zu werden?»

«Möchtest du das wirklich so dringend?» Andrews fragte sich, was daran so aufregend war, in einen Bildschirm zu gaffen und eine Drohne über die verbrannten Hügel zu steuern, während man nach wichtigen Maschinenteilen oderkleinemTechnik-Schnickschnacksuchte.HattePal nicht auch das Bedürfnis die echte Welt zu sehen, auch wenn sie nur noch Sand und Staub war? Egal wie albern es sich es auch anhörte, das war es, was Andrews wollte.

«Das wäre nichts für mich. Ich will raus in die richtige Welt.»

Pal warf ihm den Blick zu, den sie immer hatte, wenn Andrews über die Aussenwelt sprach. «Andrews, duweisst, dass die Welt draussen unbewohnbar ist. Der Atomkrieg hat sie zerstört. Und ausserdem kannst du dort draussen nur im Strahlenanzug überleben und dann auch nicht für lange. Viele sind schon oben aufgrund der Hitze und der Strahlung zusammengebrochen und gestorben. Darum hat die Präsidentin schliesslich alle Expeditionen an Land verboten. Deshalb sind diese Drohnen ja auch so wichtig für uns.»

«Es wird irgendwie gehen.» Andrews würde sich nie von seinem Traum abbringen lassen. Wenn es so weit wäre, würde er einen Weg finden.

Über ihnen war das Getriebe der Ventilatoren in den Schächten zu hören, während sie ihr Weg immer weiter fort vom Heizungsraum führte. Doch dann durchbrach ein anderes Geräusch das monotone Surren der rotierenden Laufräder und des heulenden Windes, das durch die verwundenen Lüftungskanäle pfiff: eine weibliche Stimme. Leise und gedämpft, aber nicht weit entfernt. Andrews blickte sich erschrocken zu seinen Freunden um. Auch Pal war zusammengefahren und hatte instinktiv ihre Taschenlampe ausgeschaltet.

«Weiss noch jemand anderes von diesem Schacht?», wollte Andrews flüsternd von ihr wissen. Es war nicht verboten hier zu sein, aber keiner ausser ihnen sollte von den Eingängen zu diesen verlassenen Gängen wissen.

«Nein, mein Vater ist der Einzige, ausser uns dreien. Er hat mir gesagt, die Shelterguards würden diese Gänge nicht mehr nutzen.»

Die Frauenstimme verflocht sich mit einer lauten, tiefen Stimme, doch die Worte waren nicht zu verstehen. Je weiter sie den dunklen, nasse Gang entlanggingen, desto deutlicher wurden die Worte.

«Dein Gewissen wird dich plagen …» Andrews konnte einige Wortfetzen entnehme, aber sie machten für ihn keinen Sinn. «Nicht einmal die Hälfte des Volkes steht hinter dir.»

Die Stimme war nun sehr nah. Sie musste gleich um die nächste Ecke sein.

«Wer ist es?», fragte Laury hinter ihm. Andrews konnte die Anspannung seiner Freunde deutlich spüren. «Geh näher ran!»

Andrews nickte und trat mit leisen Sohlen an die Kante der Wand. Das Adrenalin pumpte durch seine Adern und Gedankenfetzen schossen ihm durch den Kopf. Das geht uns eigentlich nichts an! Dreh um! Lauf!

Dann nach langem Abwarten neigte er seinen Kopf zur Seite, sodass er einen Blick erhaschen konnte, wer dort stand. Sein Augen schweiften durch den weiten Gang, aus dem die Geräusche kamen. In der Mitte des Ganges konnte er ein kleines quadratisches Metalltor ausfindig machen, das etwa anderthalb Meter über dem Boden lag. Und davor …

… davor stand Tessa Leech in der Uniform von Shelterville. Der weisse Stoff war dreckig vom Staub und Andrews Herz setzte einen Schlag aus, als er die Blutflecken darauf sah. Tessa stand komplett verängstigt in der Dunkelheit und hatte ihren Kopf gesenkt. Ihre sonst so gewellten Haare waren zerzaust, die sonst so makellosen blauen Augen hatten dunkle Ringe und der sonst so straffe Körper wirkte ganz abgemagert und schlaff, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen. Und dort, neben Tessa, machte Andrews einen grossen Mann mit glatt rasiertem Kopf aus, der die schwarzen Rüstungsteile der Shelterguards über seiner weissen Uniform trug. Er hatte breite Oberarme, starke Schultern und bronzefarbene Haut. Seine Hakennase lag oberhalb seiner rosigen Lippen und neben seinem Ohr hielt er ein schwarzes Funkgerät, dem er gespannt lauschte. Er kam Andrews seltsam bekannt vor, aber er konnte nicht sagen, woher. Pal schien den Schock in Andrews Blick bemerkt zu haben und tippte ihm von hinten auf die Schulter.

«Was ist los?»

«Es ist Tessa Leech mit irgendeinem Typen. Ich glaube er bedroht sie», flüsterte Andrews ihr zu.

Fassungslos blickte sie ihn an. «Was? Wir sollten die Shelterguards rufen», und ehe Andrews ein Gegenangebot machen konnte, fügte sie hinzu. «Und komm ja auf keine dummen Gedanken. Ich möchte nicht wegen Tessa in Probleme verwickelt werden, die mich nichts angehen. Wir sollten von hier weg.»

Der Mann am Telefon sprach und Andrews lauschte wieder seiner Stimme. «Mir ist es egal, was sie sagen, Präsidentin Leech. Wenn Sie dem Deal nicht sofort zustimmen, dann werde ich Ihre Kleine gleich jetzt nach draussen schicken. Wie fänden Sie das?» Er grunzte und spuckte zu Boden. Dann schien die Präsidentin zu Wort zu kommen und der Mann wartete mürrisch auf ihre Antwort. Sie schien ihm nicht zu gefallen, denn plötzlich packte er Tessa am Arm und zerrte sie grob an den Hörer.

«Verabschieden Sie sich von ihrer Tochter, Präsidentin.»

Mittlerweile tränenüberströmt, schluchzte das Mädchen aus seiner Klasse etwas Undeutliches in das Funkgerät, ehe der Mann es ihr wieder entriss. Seine massive Hand griff ihr Handgelenk und zerrte sie derart plötzlich hinter sich her, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Dann drückte er einen blauen Knopf, der einige Meter vom Metalltor entfernt war, und die schwere Metalltür teilte sich scheppernd. Da wusste Andrews, was Tessas Geiselnehmer vorhatte. Tausend Gedanken schossen durch seinen Schädel. Was würde sein Vater tun? Würde er einfach tatenlos zusehen? Sein Blick wanderte erneut hinüber zu Tessa und wie eingeschüchtert sie neben diesem Hünen stand und Todesangst ausstrahlte.

«Was hast du vor?», Pal griff besorgt seine Hand.

«Tut mir leid, Leute», flüsterte er seinen Freunden zu, ehe er sich von Pals Hand losriss und um die Ecke sprang, wie es sein Vater vermutlich tun würde. Andrews stürmte mit schnellen Schritten auf ihn los. Seine Beine hatten ihm nicht mehr gehorcht und er war einfach losgestürmt, ohne seine Gedanken gesammelt zu haben. Der Mann hatte Andrews noch nicht bemerkt. Aber er würde Tessa retten, ein Held in der Schule werden und die Präsidentin würde ihn mit Medaillen überschütten. Er ballte seine Hand zur Faust. Tessa bemerkte Andrews und ihre Augen weiteten sich vor Verblüffung und dann, als auch der Mann sich umdrehte, musterten seine Augen ihn feindselig.

«Lass sie in Ruhe!», schrie Andrews mit geborstener Stimme und holte zum Schlag aus – doch seine Faust erreichte sein Ziel nicht. Er spürte etwas Hartes auf seinen Kopf einschlagen, dann wurde alles schwarz und er sackte zusammen. Hart landete Andrews auf dem Boden und verstand zunächst nicht, was geschehen war. Er sah Sterne, alles schwankte und sein Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Er versuchte seine Augen offenzuhalten und konnte erkennen, wie Laury und Pal von einigen Männern zu ihm hinübergezerrt wurden.

«Nein», keuchte Andrews und versuchte sich aufzustützen. Flüssiges Metall auf seiner Zunge, während er die gedämpften Schreie seiner Freunde hörte. Blut lief über seine Lippen. Dann drehte sich das Bild vor seinen Augen in einen schwarzen See in der Nacht und er fiel in das Land der Träume.

Andrews träumte von einem Land, durch deren Blätterdach am Tag die Sonnenstrahlen fielen und abends die Sterne tanzten. Die Bäume waren stark und gesund und säumten einen Pfad, der tief in den Wald führte. Schmetterlinge mit flammenden Mustern und Bienen mit schweren Pollentaschen schwirrten über eine saftige Wiese.Andrews ging den schmalen Pfad entlang und erreichte eine grüne Lichtung inmitten des friedlichen Waldes. In der Mitte der Lichtung stand ein majestätischer Goldregenstrauch, seine Blüten brannten in der Sonne und der süsse Duft strich ihm unter die Nase. Unter diesem Baum sass eine Frau mit rotem Haar und liebreizendem Gesicht. Sie trug ein langes, blaues Kleid und hielt in den Händen etwas so Kleines in Laken gehüllt, dass Andrews zuerst nicht erkennen konnte, was es war. Als er dann an die fremden Frau herantrat, konnte er zwischen den weissen Tüchern das rosige Gesicht eines Babys erkennen. In den kleinen Händen hielt es einen Teddybären mit glänzend blauem Fell und einer roten Stupsnase. Das Baby umklammerte ihn fest, während es ruhig schliefund ab und an rupfte es im Schlaf die kleine Nase. Die Mutter, mit wundersam feurigen Haaren und dunklen Rehkitzaugen, beobachtete ihren Sohn gutmütig und flüsterte ihm mit einer Stimme, die nach weicher Wolle und Wärme klang, ins Ohr: «Dieser Ort ist so schön. Ich hoffe, wir kehren eines Tages an diesen grünen Fleck zurück – mit deinem Vater. Ich und dein Vater haben lange über deinen Namen nachgedacht und sind zu einem Entschluss gekommen. Wir nennen dich …»

Andrews!

Andrews!

«Wach auf, Andrews!» Langsam verschwand die grüne Lichtung vor seinen Augen und graue Betonwände zeichneten sich vor seinen Augen ab. Silhouetten, die sich über ihn gebeugt hatten, kamen zum Vorschein.

«Was?» Er war noch immer ganz benebeltvom Schlag gegen seinen Kopf und konnte die Gesichter über ihm noch nicht ganz erkennen.

Die Stelle, an der er getroffen worden war, pulsierte und sein Kopf schien explodieren zu wollen. Mit seinen Fingern tastete er die Wunde ab und musste leise aufstöhnen. Blut glänzte feucht zwischen seinen Fingern.

«Was ist passiert?», fragte er die dunklen Silhouetten über ihm. Ächzend schleppte er sich zur blechernen Metallwand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die Erinnerungen an das, was geschehen war, waren nur trübe. Er war sich so sicher gewesen, dass er dem Mann ins Gesicht schlagen würde, aber plötzlich hatte er den Halt verloren und war gestürzt.

Andrews befand sich in einer engen Kabine, die ungefähr eine Breite von zwei Metern hatte und stockdunkel war. Aber er wusste genau, wo er sich befand: Der Mann hatte das Metalltor geöffnet und sie dort hineingepfercht.

Langsam konnte er Pal und Laury erkennen, die über ihm standen und ihn besorgt anblickten. An der Ecke des Aufzugs lag Tessa – bewusstlos.

«Es ist Harril Winnick.» Pals Stimme hallte im engen Aufzug.

«Winnick? Hab ich noch nie gehört.»

«Der Unteroffizier der Shelterguards, der jedes Jahr in die Schule kommt und mit den Klassen die fünfzehn Verhaltensregeln von Shelterville durchgeht. Aber ich denke, dass Winnick gerade dabei ist, die zweite Regel zu brechen.» Pals Augen waren von Tränen gefüllt, als sie ihn traurig anblickte.

«Die Regel Nummer zwei lautet: Verrate niemals Shelterville oder ihre Oberhäupter. Ihre Sicherheit und das Überleben des Bunkers ist die zweite Richtlinie, die es zu schützen gibt», zitierte Andrews und war selbst überrascht, dass er die Worte noch kannte.

«Genau», bestätigte sie und blickte betrübt zu Boden. Plötzlich öffnete sich neben Andrews die Tür und es kam der grosse Mann zum Vorschein, der Tessa entführt hatte. Das Funkgerät hatte er in einem Holster an der Brust und in seiner Hand hielt er eine Pistole. Es war tatsächlich der Unteroffizier, der jährlich die Schule besuchte, aber nun machte er einen gefährlicheren Eindruck. Sein eiserner Blick wanderte durch die kleine Kabine.

«Ihr hättet euch einfach da raushalten sollen, Kinder.»

«Was wollen Sie von der Präsidentin?», schrie Pal ihn unverblümt an. «Und wie können Sie es wagen, die Präsidentin zu erpressen? Sie sorgt sich um unser aller Wohl. Wie kann man ihr nur so etwas antun wollen?»

«Nicht um unser aller Wohl», widersprach ihr Harril und schüttelte seinen glattrasierten Kopf. «Nur um das der Reichen und Schönen. Um die Armen sorgt sie sich keinesfalls. Aber weshalb erzähle ich das, den Söhnen und Töchtern von Reichen? Der Brut des Reichtums.»

«Die Garde wird uns retten, bevor du überhaupt weisst, was dir und deinen Leuten geschieht!» Diesmal nahm Laury das Wort an sich. «Du wirst schon sehen, du Verräter.»

Da trat ein anderer Mann mit Tarnhosen, einem karierten Schal um seinen Hals und einer breitkrempigen Militärmütze auf dem Kopf an Harril heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Seine Lippen kräuselten sich und er begann nervös, seinen Kopf zu kratzen.

«Verdammt, Kids. Tut mir echt leid. Tut mich sogar echt, echt leid. Aber die Präsidentin hat meine neue Forderung ebenfalls abgelehnt. Sie schert sich nicht um euch.»

Pal hakte nach: «Was meinen Sie? Was tut Ihnen leid?»

«Das, was jetzt gleich mit euch geschehen wird. Drück den Knopf!» Er hielt inne, als würde er noch etwas sagen wollen, aber dann schlossen sich die Türen mit einem lauten Pfeifen. Die Lichtkegel einer blauen Lampe schossen durch den Raum, während die Sirenen immer lauter wurden und in Andrews Ohren zu schmerzen begannen. Dann rüttelte der Boden, die Wände begannen zu zittern, und Andrews rutschte mit dem Rücken die Wand entlang und überschlug sich beinahe. Er spürte die kalten Metallplatten unter sich, als er sich mit den Händen vom Boden abstützte. Was war los? Die Kabine bewegte sich unter ihnen und Andrews konnte hören, wie sich hinter den dicken Wänden rostige Scheiben zu drehen begannen.

Seinen Freunden war die Angst in ihren Gesichtern geschrieben, als sich der Raum schwankend und knarzend nach oben bewegte. Ein lautes Knirschen übertönte beinahe die schrillen Sirenen, während der Raum unsicher und zögerlich nach oben gezogen wurde. Die kalte Luft wurde zunehmend wärmer, beinahe schon stickig. Die Schweissperlen hatten sich schon bald auf Andrews Stirn gebildet und liefen ihm den Hals hinunter. Die Sirene war verstummt und auch die Lichter waren ausgegangen. Ausser dem Rasseln der Ketten, die den Aufzug hochzogen, war nichts mehr zu vernehmen. Die Zeit war träge, wie der Aufzug selbst und Andrews verlor schnell das Zeitgefühl. Seine Freunde hatten entsetzt in eine Ecke gehockt und schwiegen nun in völliger Finsternis. Die Stille machte Andrews taub. Er sass stumm da und dachte nach. Was hatte Winnick gemeint, als er über die Präsidentin sprach?

Das leise Wimmern von Pal war zu vernehmen. Sie sass nicht weit von ihm, aber er schämte sich zu sehr, um sie trösten zu können. Er war an allem schuld, gestand er sich. Hätte er die Wachen gerufen anstatt wie ein Held nach vorne zu preschen und wie ein Amateur hinterrücks niedergeschlagen zu werden, wären sie jetzt vermutlich nicht in dieser blöden Lage.

Andrews schloss seine Arme um die Knie und legte seinen Kopf auf den Unterarm. Es war alles seine Schuld. Egal was geschehen würde, er wäre dafür verantwortlich.

Da wurde es still. Der Aufzug hatte Halt gemacht und aufgehört zu schwanken. Pals Schluchzen hielt inne, als sie nun wie ein schreckhaftes Tier aufhorchte. Er konnte fühlen, wie angespannt seine Freunde waren. Andrews biss sich auf die Zähne.

Atemzüge wurden zu Minuten, während sie in diesem schwülen Aufzug festsassen, und Minuten wurden zu einer Ewigkeit. Seine Schläfe krampfte und in seiner Brust pochte es wie verrückt. Schlagartig wurde es hell und Andrews war gezwungen, wegzuschauen. Einige Meter über ihnen war eine Luke geöffnet worden und erhellte die Kabine. Obwohl er nichts sah, konnte er die Lichtstrahlen fühlen, die auf seine rechte Hand fielen und seine Haut wärmten. Es war ein kitzliges Gefühl und etwas, das er noch nie empfunden hatte. Doch dann begann es auf seiner Haut zu kratzen, plötzlich brannte es wie verrückt und schnell zog er seine Hand in den Schatten zurück. Laury und Pal riefen panisch seinen Namen, als Andrews mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Rücken fiel und eine Hand in die Luft streckte. Der Schmerz war unerträglich und trieb ihm Hitze in den Schädel. Es fühlte sich an, als würde seine Hand in Flammen stehen. Andrews drehte sich auf den Rücken, schlug auf den Blechboden und wünschte, der Schmerz würde verschwinden. Als Andrews da auf dem Boden lag und sich gequält auf den Rücken drehte, blickte er hoch und sah den azurblauen Himmel.

Nicht auf dem Bildschirm eines Computers, sondern gleich über ihm.

KAPITEL 6

Als er klein war hatte er jeden Tag davon geträumt, die Sonnenstrahlen zu fühlen, den blauen Himmel über ihm sehen zu können und davon, an der Oberfläche zu leben. Doch nie hatte er sich in seinen schlimmsten Träumen vorstellen können, dass man im Sonnenlicht nicht gehen konnte, ohne sich seine Haut zu verbrennen. Sein Traum war in der Realität ein Alptraum.

Wie Nudeln, die am Boden eines leeren, abgekochten Topfes klebten, lagen sie in den schattigen Winkeln des Aufzugs und achteten darauf, dass die Sonnenstrahlen sie nicht berührten. Kaum hatte sich die Decke über ihnen entzweit, wurde eine automatische Leiter surrend von oben herabgelassen. Doch solange die Sonnenstrahlen ihre Haut verbrannten, konnten sie diese nicht nutzen. Und ausserdem war Tessa Leech immer noch bewusstlos, was eine Flucht aus dem Aufzug erschweren würde.

Pal sass mit geschwollenen Augen in der Ecke und starrte zerschlagen an die graue Wand vor ihr. Alle Energie schien aus ihren Gliedern gewichen zu sein. Laury hingegen kaute nervös an seinen Fingernägeln und prüfte alle zehn Sekunden den Himmel über ihm.

«Wir sollten nachher gehen», versuchte Andrews seine Freunde zum wiederholten Male zu überzeugen.

«Und wo willst du hin? Wir können nicht mehr rein.» Laury senkte eine Hand vor seinen Mund, um besser sprechen zu können. «Und übrigens, die Luft ist tödlich für uns und die Sonne verbrennt uns.»

«Ich denke nicht, dass die Luft giftig ist. Ansonsten wären wir alle schon tot. Ich denke, die Sonne ist unser Feind.» Andrews betrachtete seine rechte Hand. Dort, wo die Sonne ihn geküsst hatte, verlief ein tiefroter Strich. An seinem Handrücken war die Haut verbrannt und an seinen Fingern hatten sich kleine Eiterbeulen gebildet. Taktlos zerrten die Schmerzen an seinen Nerven und liessen seine Hand wie einen laufenden Motor vibrieren. Er ballte sie zur Faust. «Wir müssen weg. Es wird niemand kommen.»

«Und woher willst du das wissen?», hakte Laury nach.

Andrews schüttelte frustriert seinen Kopf. «Niemand weiss von diesem Aufzug. Wie sollen sie uns finden, wenn niemand die versteckten Gänge mehr nutzt?» Wie konnten seine Freunde nur so stur sein? Sie liessen sich von ihrer Angst blenden. «Bevor die Shelterguards überhaupt auf die Idee kommen, dass sie in den versteckten Gängen suchen sollten, sind wir schon verhungert oder verbrannt.»

Plötzlich war es wieder ruhig, jeder dachte darüber nach, was zu tun war.

«Wir haben keine Ahnung, was draussen ist.» Pal schaute nachdenklich zum Himmel. «Was, wenn uns die Welt nicht mehr haben möchte?»

Sie sah zu Andrews hinüber mit einem Blick, der sagte: Bitte sag nicht, dass es so ist.

Andrews nickte trocken. Ernüchtert wischte sich Pal die Tränen mit ihrem weissen Ärmel weg. «Und was ist dein Plan?», fragte sie.

«Wenn ich herausfinde, wo wir sind, kann ich uns vielleicht zu einem verlassenen Bunker führen. Ich habe schon oft meinem Vater beim Drohnenfliegen beobachtet und weiss auch ungefähr, wo sich einer befindet. Wenn es gut geht, können wir uns dort ausruhen und vielleicht finden wir ja ein wenig Verpflegung oder ein Funkgerät. Aber wir sollten es in der Nacht versuchen, was es aber auch ein wenig schwerer macht.»

«Gut, ich vertraue dir.» Laury legte euphorisch seine Hand in die schattige Mitte. Andrews tat es ihm gleich und warf Pal einen fragenden Blick zu. Sie kämpfte mit sich, schüttelte ihren Kopf, biss ihre Zähne zusammen, bis sie schliesslich auch ihre Hand in die Mitte legte. «Ich vertraue euch.»

Die Sonne sank langsam, die Wärme schwand, und allmählich trat Kälte an ihre Stelle. Die Lichtstrahlen verblassten wie Dampfschwaden im Wind, und Dunkelheit brach herein. Seine Freunde waren eingeschlafen, doch Andrews wollte nicht, dass sie ungeschützt schliefen, und so blieb er wach und schaute, dass nichts geschah. Als die Kälte hereinbrach, bildeten sich Rauchfähnchen unter seiner Nase. Zuerst hatte er sich höllisch erschrocken, denn er hatte das nie zuvor gesehen, doch dann begriff er, dass es wegen der Kälte war und nun beobachtete er sie, wie sie hochstiegen und sich knapp über ihm auflösten.

Es war ungewöhnlich ruhig hier. In Shelterville waren die Transportröhren stets zu hören, egal wo man war. Bald mussten sie los, aber Andrews wollte seine Freunde noch ein wenig ausruhen lassen, bevor sie losgingen. Er dachte wieder über die Worte von Harril nach: Sie kümmert sich nur um die Reichen und die Schönen.

Während die Nacht immer schwärzer wurde, musste Andrews an seinen Lehrer denken. Mister Knob hatte einmal etwas über die Technologie der Alten Welt erzählt. Natürlich war er mit dem Kopf nicht ganz dabei gewesen, doch irgendwie konnte er sich gut daran erinnern. Mister Knob hatte gesagt, dass als die Technologie am höchsten stand, sich die Menschen so wenig bewegen mussten, dass sie alle fett und unbeweglich geworden waren. Haushalte, die den Abwasch selbständig machten, Küchengeräte, die selbst kochen konnten, und Staubsauger, die sich eigenständig bewegten. All dies hatte man und dennoch hatte man es geschafft, sich selbst zu zerstören. Mit diesen alten Erinnerungen nickte Andrews ein in die sanften Wiegen des Schlafes.

Andrews erhob sich und stand mit tauben Gliedern unter dem Firmament. Die Sterne über ihm funkelten, als würde jemand den Himmel schleifen, und der Mond hing am Nachthimmel wie ein edler Silberteller. Fasziniert betrachtete er den Sternenhimmel und verlor sich beinahe in der Schönheit der Aussenwelt.