Sherlock Holmes, Band 2: Die Armee des Dr. Moreau - Guy Adams - E-Book

Sherlock Holmes, Band 2: Die Armee des Dr. Moreau E-Book

Guy Adams

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  • Herausgeber: Panini
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

UMZINGELT VON WILDEN BESTIEN. In den Strassen Londons werden übel zugerichtete Leichen gefunden. Die Wunden deuten auf wilde Kreaturen hin, die es normalerweise nicht in der Stadt gibt. Sherlock Holmes erhält daraufhin Besuch von seinem Bruder Mycroft, der glaubt, dass die Morde die Handschrift von Dr. Moreau tragen - einem Wissenschaftler, der einstmals für die britische Regierung arbeitete. Er trat in die Fußstapfen Charles Darwins, doch dann wurden die Experimente urplötzlich gestoppt. Mycroft vermutet, dass Dr. Moreau sein Werk wieder aufgenommen hat und beauftragt seinen Bruder damit, den abtrünnigen Wissenschaftler aufzuspüren, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten ...

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Seitenzahl: 298

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SHERLOCK HOLMES – DIE ROMANREIHE

Sherlock Holmes: Der Atem Gottes

Gedruckte Ausgabe: ISBN 978-3-8332-2872-8

E-Book: ISBN 978-3-8332-2886-5

Die Armee des Dr. Moreau

Von Guy Adams

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

In neuer Rechtschreibung.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Englische Originalausgabe: “SHERLOCK HOLMES: The Army of Dr. Moreau” by Guy Adams, published in the UK by Titan Books, a division of Titan Publishing Group Ltd., London, September 2011.

Copyright © 2011 by Guy Adams. All Rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages.

Übersetzung: Claudia Kern

Lektorat: Sabine Dreyer und Andreas Kasprzak für Grinning Cat Productions

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-8332-2887-2

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2873-5

1. Auflage, April 2014

www.paninicomics.de

Für James Goss, der es mit Sekt und Katzenhaaren hinunterspülen wird.

1. Teil

1. KAPITEL

Schriftsteller sind von Redakteuren umgeben. Wenn ich eines bei meiner Arbeit an diesen Geschichten gelernt habe, dann das.

Ich habe immer versucht, ein ehrlicher Chronist zu sein und mich an die Fakten zu halten, soweit dies mit dem Gesetz und der Moral vereinbar ist. Aber manches habe ich umgestellt und Ereignisse in dramaturgisch günstigerer Abfolge erzählt, Dialoge klarer gestaltet und das Auf- und Ablaufen zwischen Blumenbeeten und auf Kieswegen auf ein Minimum beschränkt. Schließlich sollen diese Berichte spannend sein, und mein Redakteur bei The Strand wird mir hoffentlich zeitnah mitteilen, wenn ich kurz davor bin, seine Leser zu Tode zu langweilen.

Redakteure, verstehen Sie? Die wollen immer das Schiff steuern, ganz gleich, wessen Hand am Ruder liegt.

Und Holmes? Nun, er hält sich mit seiner Meinung nicht zurück.

»Sie sind ein Genie, Watson«, hat er erst vor einigen Tagen verkündet. »Es ist wirklich erstaunlich, wie man alle interessanten Tatsachen aus einem so faszinierenden Fall wie dem der Hamilton-Kannibalen entfernen kann. Jede Ableitung, jede noch so kleine Analyse ist den Szenen zum Opfer gefallen, in denen Sie von Lady Clara schwärmen und mit Ihrem Dienstrevolver durch Kent jagen. Vielleicht sollte man diese Geschichten umbenennen? Vielleicht ist das lesende Publikum bereit für Die Geschichten des John Watson: Der Doktor des Verbrechens?«

Natürlich könnte ich behaupten, Holmes’ Kommen­taren gegenüber beinahe immun zu sein. Er gibt sie so oft und so genüsslich, dass ich sie nur noch am Rande als bittere Würze unserer Unterhaltungen beim Essen wahrnehme. Er findet Spaß daran, meine Geschichten zu verspotten, denn sie allein sind für das Bild verant­wortlich, das die Öffentlichkeit von ihm vor Augen hat. Wenn es nach ihm ginge, würde er dieses Bild bei der ersten Gelegenheit auslöschen. Es verleiht ihm eine Tugendhaftigkeit, der er überhaupt nicht gerecht werden will.

Und dann gibt es da noch Tausende von Redakteuren: die Leser. Nein, das muss ich einschränken, bevor ich jede Hand verprelle, die eine Ausgabe von The Strand erwirbt – gewisse Leser, die im Allgemeinen über zu viel Freizeit verfügen. Menschen, die sich über Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten beschweren. Leute, die behaupten, sie wüssten es besser.

Nach der Meinung dieser Menschen sollte ich meinen Füller an jemand anderen übergeben. Vielleicht an jemanden, der ein besseres Gedächtnis hat und sich merken kann, welche Verletzungen er sich in Afghanistan zugezogen hat (Bein und Schulter, danke Mr Haywood aus Leeds) oder wie sein Vorname lautet (meine Frau nannte mich oft James, Mrs Ashburton aus Colchester; ursprünglich um einen besonders vergesslichen Kunden nachzuahmen, doch dann, weil der Name einfach hängenblieb. Sie nannte mich auch Jock, Wattles und Nervensäge, doch ich kann Ihnen versichern, dass ich keinen Anlass habe, dies jetzt, da sie verstorben ist, zu wiederholen).

Ich muss zugeben, dass ich hart daran arbeite, diese Redakteure zu ignorieren. Ich werde die Beliebtheit meiner Werke immer zu schätzen wissen (jeder, der sagt, es sei ihm egal, ob die Menschen seine Arbeit als Schriftsteller mögen oder nicht, ist ein Lügner), doch wird es nie gelingen, immer alle Leser zufriedenzustellen. Jedes Mal, wenn ich es versuche, leidet das Geschriebene darunter.

Es wird auch immer diejenigen geben, die darauf beharren, dass bestimmte Geschichten Nachahmungen sind und schon von anderen Autoren geschrieben wurden, und es wird immer jene geben, die versuchen, das, was ich als meinen »Stil« bezeichne (an der Stelle würde Holmes mich auslachen), zu kopieren. Wieder andere werden sich beschweren, der Inhalt sei unglaubhaft. Diese Stimmen werden sicherlich besonders laut werden, wenn – oder vielleicht sollte ich falls sagen – unser letzter Fall in Druck gehen sollte.

Ich habe diese merkwürdige Affäre mit »Der Atem Gottes« betitelt. Eine bestimmte Gruppe Leser mag nichts weniger als das Unglaubliche, und jenes Abenteuer hat eine Menge davon zu bieten. Umgekehrt werden solche fantastischen Geschichten von vielen mehr geschätzt als von jenen, die fest in der Realität verwurzelt sind. Der Appetit der Öffentlichkeit auf das Bizarre darf nie unterschätzt werden.

Aus diesem Grund kann ich solchen Fällen auch nicht widerstehen, obwohl ich weiß, dass viele davon auf dem nicht unerheblichen Stapel landen werden, auf dem die von mir geschriebenen Sachen liegen, die zu meinen Lebzeiten nicht mehr gedruckt werden.

Die unmittelbar auf den Atem Gottes folgende Affäre, also die komplizierte Angelegenheit, der ich jetzt meine Aufmerksamkeit zuwende, wird wohl auch eher Staub als Leser anziehen. Sie wird außerdem jenen skeptischen Leserkreis aufs Äußerste strapazieren, der verlangt, dass sich alles an hinlänglich Bekanntes und leicht zu Glaubendes halten soll. Dies war von Anfang an abzusehen, da von Mycroft Holmes noch nie etwas Herkömmliches zu erwarten gewesen ist.

Mycroft Holmes taucht nur selten in meinen Niederschriften auf. Zweifellos können mir die Kritiker unter meinen Lesern genau sagen, wie oft. Das liegt nicht daran, dass er seinem jüngeren Bruder fremd ist, sondern dass er bisher überwiegend in geheime Fälle verwickelt war und es daher müßig wäre, diese überhaupt aufzuzeichnen. Man könnte solches auch von diesem Fall behaupten, doch ich bin bereit, für die Hoffnung, dass dieses Abenteuer eines Tages das Licht der Welt erblickt, ein paar Stunden zu riskieren. Auch wenn es bizarr, entsetzlich, politisch brisant und bestimmten Mitgliedern der geheiligten Regierungsbehörden peinlich sein mag, so wäre es doch eine Schande, wenn niemand die Wahrheit über die Armee des Dr. Moreau erfahren würde.

2. KAPITEL

»Nun«, verkündete Holmes, »entweder steht das Land am Rande einer Katastrophe oder Mayfair hat von Mrs Hudsons Risotto erfahren.« Er saß mit verschränkten Beinen vor dem Kamin und reckte den Kopf über den Rand seines tabakbefleckten Nests, das zeitweilig seinen Teppich verschandelte und aus Zeitungsstapeln und der Morgenpost erbaut war. Er zeigte zum Fenster. »Wenn ich mich nicht irre …«

»Und das tun Sie nie.«

Holmes lächelte. »… naht Mycroft.«

Es klingelte.

»Gleich werden Sie mir sagen, dass Sie seine Pomade schon über eine halbe Meile hinweg riechen konnten«, scherzte ich.

»Nein«, gab Holmes lächelnd zu, »wenigstens nicht bei geschlossenem Fenster. Doch ich erkenne den Klang seiner Schritte mit Leichtigkeit. Außerdem gibt es nur wenige Männer in London, bei denen die Droschke vor Erleichterung quietscht, wenn sie aussteigen.«

Ich hörte, wie die Haustüre sich öffnete und danach unsere Treppe ächzte.

»Ganz zu schweigen von der Qual unserer Dielen.«

Wir lachten, als die Tür aufflog und die beachtliche Masse von Mycroft Holmes im Türrahmen erschien.

»Nur arme Leute wohnen im Obergeschoss«, beschwerte er sich. »Sei doch so gut und trage deinem Kontostand Rechnung, indem du ein verdammtes Haus kaufst.«

»Dann würde dir deine halbjährliche Leibesübung entgehen.«

»Leibesübung? Ich bin über Leibesübungen hinaus. Nur Gehirnlose sind versessen auf Muskeln. Sie sind Mittel zum Zweck, mehr nicht.«

Diese Worte hatte ich schon von Holmes gehört, aber ich beschloss, diese Tatsache nicht zu erwähnen. »Ein Mittel, das dringend der Instandhaltung bedarf, Mycroft«, sagte ich. »Wann haben Sie sich das letzte Mal einer Untersuchung unterzogen? Sie atmen wie eine Bulldogge mit einer Schussverletzung.«

»Großer Gott!«, brüllte Mycroft und ließ sich in einen bedauernswerten Sessel fallen. »Seit wann muss ein Gentleman sich derartige Beleidigungen gefallen lassen?«

»Wenn es doch so viel zu beleidigen gibt«, antwortete Holmes und brach in Gelächter aus. Dabei warf er die Reste seiner Morgenpost in die Luft, wo sie herumflatterten.

»Oh nein«, sagte Mycroft und schaute mich an, »er schäumt ja geradezu über! Was ist los mit ihm?«

»Ich könnte mir vorstellen«, antwortete ich, »dass er wegen der Aussicht auf Arbeit, die Sie möglicherweise mitbringen, aufgeregt ist. Wir haben gerade einen besonders komplizierten und ungewöhnlichen Fall abgeschlossen, und der Gedanke, dass er sich sofort in einen neuen verbeißen kann …«

»Des einen Freud ist des anderen Leid«, sagte Mycroft und schaute seinen Bruder finster an. »Was dir Vergnügen bereitet, droht in diesem Bauch, der euch beide so fasziniert, ein Magengeschwür hervorzurufen.«

»Noch ein Magengeschwür?«, seufzte ich und holte meine Medizintasche. Wenn Mycroft schon nicht zu einem Arzt ging, würde ich ihm eine medizinische Meinung aufzwingen, solange er zu erschöpft war, um sich zu bewegen.

»Nun machen Sie nicht so viel Aufhebens!«, sagte er, als ich mich ihm näherte. Doch er hütete sich, mich ernsthaft abzuwehren, und so führte ich eine Grunduntersuchung durch. Holmes rief nach Kaffee von unten.

»Ihr Herz klingt wie der Faustkampf von Betrunkenen, und Ihr Blutdruck würde ausreichen, um den Nachtzug nach Glasgow anzutreiben. Sie müssen auf sich achten, sonst wird eines von beiden Sie früher oder später umbringen!«

»Das ist offensichtlich, Doktor«, antwortete er. »Zum Glück ist meine Arbeit äußerst entspannend.«

»Ich werde Ihnen eine medizinische Diät und einen Trainingsplan verschreiben.«

»Und ich werde Sie als Feind der Krone erschießen lassen.«

»Folgen Sie meinem Rat, denn andernfalls wird man Sie vorzeitig zu Grabe tragen – ganz, wie Sie es wünschen.«

»Kaffee«, verkündete Mrs Hudson und brachte mit missbilligendem Gesicht ein Tablett herein. Diese Miene war fester Bestandteil der Baker Street, genau wie der spitz zulaufende, persische Hausschuh, in dem Holmes seinen Tabak aufbewahrte, und der Schrumpfkopf, den er als Stopfen für einen Zunderbeutel verwendete. Die Ausstattung dieser Räume war dazu angetan, eine Dame zur Verzweiflung zu treiben.

Mycroft nahm einen Keks von der Untertasse, die Mrs Hudson bereitgestellt hatte, und warf ihn sich mit kindischer Theatralik in den Mund.

»Können wir uns jetzt mit wichtigeren Dingen als meinem Gewicht beschäftigen?«, fragte er, nachdem er heruntergeschluckt hatte. »So erfreulich Ihre Besorgnis auch sein mag, ich habe diesen anstrengenden Ausflug nicht unternommen, um wie eine alte Dame am Musikpavillon zu tratschen.«

»Wir kommen nie in den Genuss deiner Gesellschaft, wenn nicht das gesamte Reich in Gefahr ist«, stimmte Holmes zu. »Worum geht es diesmal? Hat das Finanzministerium den Schlüssel zur Schatzkammer verloren?« Er machte eine Kunstpause. »Schon wieder?«

Er befreite sich aus dem Gewirr der Morgenpost, stand auf und ging hinüber zum Kamin, um seine Pfeife neu zu stopfen. Holmes wusste sehr genau, dass ihm eine Zeit des Nachdenkens bevorstand, und nachdenken ohne Tabak war ihm unmöglich.

»Gentlemen«, sagte Mycroft irgendwie theatralisch, »was wissen Sie über die natürliche Auslese?«

»Überleben der Stärksten«, antwortete ich. »Der Glaube, dass eine Spezies sich an ihre Umwelt anpasst, Darwinismus.«

»Kurz und bündig, Doktor. Doch seit Darwins ersten Aufzeichnungen haben wir einen langen Weg hinter uns.«

»Und wen genau meinst du, wenn du ›wir‹ sagst?«, fragte Holmes.

Mycroft bewegte sich in seinem Sessel. Das Möbelstück hatte Glück, das zu überstehen. »Ich nehme an, du willst damit andeuten, dass es sich um eine Angelegenheit der Abteilung handelt.« Das Wort »Abteilung« betonte er überdeutlich.

»Natürlich, und sei es nur um zu sehen, wie du dich windest. Muss ich dir Watsons Diskretion erneut zusichern?«

»Ich hoffe doch nicht«, unterbrach ich. Schließlich sollte man nach allem, was ich gemeinsam mit meinem Freund im Namen und Interesse der Königin und des Landes getan hatte, annehmen dürfen, dass mein Ruf gefestigt war.

»Nein«, stimmte Mycroft zu, »ich denke, Sie wissen, wann Sie Ihre Abenteuer mit meinem Bruder besprechen können und wann Sie Ihr Notizbuch lieber im Schreibtisch verschließen.«

Darauf ging ich lieber nicht weiter ein.

»Dennoch«, fuhr er fort, »soll außer einer Handvoll Leute niemand wissen, dass es ›die Abteilung‹ gibt. Wie Sie wissen, habe ich oft im Dienst der Regierung gestanden und ihr meine möglicherweise vorhandenen Fähigkeiten zur Unterstützung des nationalen Interesses zur Verfügung gestellt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis meine Funktion erweitert wurde. Obwohl ich über ausreichend Erfahrung und Wissen verfüge, wird es immer die Notwendigkeit für noch spezifischere Dienste geben, und da kommt die Abteilung ins Spiel. Sie besitzt eine flexible Liste von Agenten, die – teils ohne deren Wissen – angeheuert wurden, um bestimmten Bedrohungen zu begegnen oder an Projekten zu forschen. Ich bin gewissermaßen der Leiter, der diejenigen auswählt, die dazu benötigt werden, und de die Aufsicht führt sowie das Zentrum des Netzwerks bildet.«

»Ein zentraler Punkt in der Regierung, an dem alles zusammenläuft«, sagte Holmes. »Was lassen die sich als Nächstes einfallen?«

»Ich kann nicht leugnen, dass das Fehlen von Querelen zwischen den Abteilungen und zweckdienliche Kompromisse erfrischend sind«, stimmte Mycroft zu. »Tatsächlich war das ein entscheidender Grund dafür, dass ich den Posten angenommen habe. Ich agiere außerhalb der sich ständig ändernden politischen und meinungsabhängigen Strömungen und tue, was ich für richtig halte. Ich verfolge die Angelegenheiten, die mir persönlich am wichtigsten erscheinen.«

»Und das schließt die Evolutionstheorie ein?«, fragte ich.

»Selbstverständlich. Wann immer wissenschaftliches Denken eine große Veränderung erfährt, ist es die Pflicht der Regierung, dem Aufmerksamkeit zu schenken. Sie können sicher sein, dass andere Regierungen dasselbe tun. Das Überleben der Stärksten, Dr. Watson – denken Sie nur über die Tragweite dieses Gedankens nach. Ist dies eine Naturgewalt, die man nutzen kann? Kontrollieren? Stellen Sie sich vor, man könnte sie hervorrufen, anstatt sie nur zu erdulden.«

»Der Vorteil erschließt sich mir nicht.«

»Wirklich nicht? Ich dachte, Ihnen als Soldat wäre es ein Leichtes. Denken Sie an all die Orte, an denen der Mensch sich im Nachteil befindet: die heißesten Wüsten, die tiefsten Meere … Stellen Sie sich vor, man könnte sich an diese Umwelt anpassen und sie sich zu eigen machen, anstatt von ihr bedroht zu werden. Es gäbe kein Land, in dem wir nicht kämpfen könnten, kein Schlachtfeld, auf dem wir nicht die Vorherrschaft hätten.«

Der Gedanke war für mich derart abstoßend, dass ich zugegebenermaßen eine Weile nicht antworten konnte. Kannte die Arroganz dieses Mannes keine Grenzen?

»Es steht uns nicht zu, Gott zu spielen, Mycroft«, sagte ich schließlich.

»Ah«, erwiderte er lächelnd. »Welch ein Vergnügen muss es doch sein, sich den Luxus von Moral leisten zu können. Es gibt Dinge, von denen ich mich schon vor langer Zeit verabschieden musste. In meiner Position, Doktor, muss man sich damit abfinden, dass nichts undenkbar ist. Es ist schön und gut, wenn ich aus Prinzip Einwände erhebe, aber was nützt es, wenn die Deutschen Truppen mobilisieren, die unseren gegenüber einen biologischen Vorteil haben? Wenn unsere Männer sterben, spenden meine Prinzipien auch keinen Trost.«

»Aber jemand muss doch sicherlich eine Grenze ziehen. Müssen wir uns unseren niedersten Gedanken hingeben und das schlimmste Verhalten erwägen, nur für den Fall, dass unser Nachbar dasselbe tut?«

»Willkommen in meiner Welt, Doktor.«

»Könnten wir uns darauf einigen, die pragmatische Natur deiner Arbeit zu akzeptieren, und uns den Fakten zuwenden?«, schlug Holmes vor. Er konnte es wie immer kaum erwarten, sich den Einzelheiten zu widmen.

»Natürlich«, stimmte Mycroft zu und war offensicht­lich froh, genau das zu tun. »Obwohl ich noch sagen möchte, dass der Doktor möglicherweise nicht so gekränkt wäre, würde es sich um medizinische Anwendungsbereiche handeln. Stellen Sie sich vor, ein Körper könnte sich so entwickeln, dass Krankheiten ihm nichts mehr anhaben könnten – das Prinzip ist das gleiche. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass dies der ursprüngliche Ansatz des Spezialisten war, den ich unter Vertrag genommen hatte, um diese Möglichkeiten auszuloten.«

Ich fing einen Blick meines Freundes auf, der mich anflehte, nicht weiter darauf einzugehen, lehnte mich in meinem Sessel zurück und ließ Mycroft sprechen.

»Ich muss Ihnen sicherlich nichts über Dr. Charles Moreau erzählen«, fuhr er fort.

Die Bilder, die durch die Erwähnung dieses Namens hervorgerufen wurden, hoben meine Stimmung nicht gerade. Charles Moreau war ein berühmter und außergewöhnlicher Physiologe; ein Mann, der in dem Ruf stand, frische und aufregende wissenschaftliche Gedanken zu hegen und bei der Äußerung dieser ein überaus hitziges Gemüt an den Tag zu legen. Er war plötzlich – und meiner Meinung nach vollkommen zu Recht – in Ungnade gefallen. Das Ganze war aber auch gleichzeitig ein abgekartetes Spiel gewesen.

Ein Journalist hatte sich mit falschen Referenzen eine Position als Laborassistent bei Moreau erschlichen. Dort arbeitete er mit dem Doktor zusammen und wurde Zeuge zahlloser Tierversuche, die man wohl kaum im Namen der Wissenschaft vorgenommen hatte. Das Pamphlet, das Moreau als Diskussionsgrundlage für seine Ergebnisse vorbereitet hatte und das von seinen Kollegen weltweit in der Luft zerrissen worden war, konnte diese Versuche jedenfalls nicht erklären. Der Journalist wusste, dass er sich dafür rechtfertigen musste, diese Grausamkeiten weiterhin geduldet zu haben, und er behauptete, er hätte nichts tun können, ohne sich selbst zu entlarven. Außerdem hätte er genug Beweise gegen Moreau zusammentragen wollen, um der öffentlichen Kritik gerecht zu werden oder sogar eine strafrechtliche Verfolgung gegen ihn einzuleiten. Ob dies der Wahrheit entsprach oder lediglich ein Versuch des jungen Mannes war, die Tatsache zu vertuschen, dass seine Gier nach einer guten Geschichte seine moralischen Grundsätze überwogen hatte, bleibt dahingestellt.

Am Morgen der geplanten Veröffentlichung von Moreau ließ der Assistent eines der Labortiere entwi­schen. Es handelte sich um einen kleinen Labrador, der Schnittwunden aufwies, teilweise gehäutet und mit Nadeln gespickt war. Das Gejaule des Hundes erregte erhebliche Aufmerksamkeit. Eine entsetzte Menge versammelte sich und versuchte, das Tier einzufangen und zu beruhigen. Dieses war aber in einem derart erbärmlichen Zustand, dass ein vorüberfahrender Kutscher keine andere Möglichkeit sah, als das Tier von seinem Leid zu erlösen. Dies nährte monatelange Verdächtigungen und Gerüchte bei den Bewohnern der Hauptstadt, bis schließlich eine Horde Menschen in Moreaus Wohnsitz in Greenwich einfiel. Die Gräueltaten, die an diesem Morgen zutage traten, hatten seinen Ruf ein für alle Mal zerstört.

Der publizierende Journalist und sein Herausgeber machten sich die Gefühlslage der Öffentlichkeit zunutze und sorgten für einen Sturm der Entrüstung gegen den Doktor. Alle Beteiligten hatten den Eindruck, dass dem Mann die Fähigkeiten, die er einst besessen hatte, abhandengekommen waren. London wurde zu klein für ihn. Er verließ die Stadt und machte sich zu neuen Ufern auf. Eine protestierende Meute verhöhnte ihn zum Abschied.

»Wollen Sie damit sagen, dass Moreau für Sie gearbeitet hat?«, fragte ich.

»Nicht von vornherein«, sagte Mycroft. »Aber der Journalist, der ihn bloßgestellt hat, schon.«

»Von vornherein?«, fragte Holmes.

Mycroft lächelte. »Wir müssen uns vor Augen halten, dass Moreau trotz all seiner ersichtlichen Fehler ein Genie war. Mögen seine Methoden auch verwerflich gewesen sein, so gab es doch keinen Zweifel, dass er etwas Faszinierendem auf der Spur war.«

»Soweit ich mich erinnere«, sagte ich, »waren seine veröffentlichten Theorien nichts weiter als unwissenschaftliches und dummes Zeug. Er hatte seine besten Tage hinter sich.«

»Mein lieber Doktor«, antwortete Mycroft, »Sie dürfen wirklich nicht alles glauben, was Sie lesen.«

3. KAPITEL

»Ich war an dem Abend anwesend«, fuhr Mycroft fort, »als Moreau das Land verließ. Ich hatte meinen Agenten gründlich über die von ihm durchgeführten Arbeiten befragt. Das meiste davon war, wie Sie schon sagten, so weit von anwendbarer Wissenschaft entfernt, dass es auf eine Persönlichkeitsstörung hinwies, doch einiges war recht interessant. Was er danach an einem kleinen Angestellten von mir durchführte, war sogar äußerst interessant.

Ich machte ihm ein einfaches Angebot. Seine Chancen, jemals wieder rechtmäßig zu praktizieren, waren vollkommen dahin. Wenn er wünschte, weiterhin der Wissenschaft zu folgen, hatte er keine andere Wahl als das von mir angebotene kleine Budget zu akzeptieren und mit seiner Forschung der Richtung zu folgen, die ich vorgab. Mir war sein Ungehorsam wohl bewusst, und sobald er außer Landes war, waren meiner Kontrolle über ihn Grenzen gesetzt. Dennoch stellte ich ihm einen Begleiter an die Seite, einen Aufpasser in Form eines Assistenten. Mit diesem Mann hatte ich schon einige Male vorher zusammengearbeitet und fand ihn vollkommen vertrauenswürdig. Vielleicht war er das auch, obwohl ich inzwischen weiß, dass er ein Trinker war. Und wie so viele, die an diesem Zustand leiden, ließ auch er sich viel zu einfach lenken, wenn man ihm ein warmes Bett und eine volle Flasche anbot.

Sie arbeiteten auf einer kleinen Insel im Südpazifik, weit weg von der Aufmerksamkeit der Zivilisation. Außer einer halbjährlichen Reise, um ihre Vorräte aufzufüllen, gab es nichts weiter. Sie waren vollkommen isoliert. Es gab nur die Arbeit, die ich ihnen bot, und das vage Versprechen, sich in der Zukunft zu rehabilitieren, falls die Arbeit Früchte trug.«

»Und worum handelte es sich bei dieser Arbeit?«, fragte Holmes.

»Moreau versuchte, den biologischen Auslöser für evolutionäre Veränderungen chemisch zu bestimmen – mit dem Ziel, ihn zu isolieren und zu reproduzieren. Wir hofften, dass er in der Lage wäre, eine Art Serum zu entwickeln, das unsere Widerstandsfähigkeit verbessert, unsere Immunität gegen Krankheiten erhöht, das uns unempfindlicher gegenüber Temperaturen macht oder uns in die Lage versetzt, längere Zeit ohne Nahrung und Wasser zu überleben. Es ging, offen gesagt, um die kleinen Verbesserungen, die einer Armee all die Vorteile verleihen, die sie für den Sieg braucht.«

»Also wirklich«, rief ich aus, »das ist unfassbar! Haben Sie wirklich geglaubt, dass so etwas möglich ist?«

»Mein lieber Watson«, antwortete Mycroft leicht gereizt, »ich halte angesichts der Leistungen, die Moreau bereits vollbracht hatte, derartige Dinge für absolut möglich. Ich halte jedoch nichts davon, das Geld Ihrer Majestät zu vergeuden. Leider sollte es nicht sein. Moreau hatte andere Pläne.

Eines Tages brachen die Nachrichten meines Agenten Montgomery einfach ab. Ich gebe zu, dass mein erster Instinkt mir sagte, sie könnten einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen sein, vielleicht durch einen Sturm. Oder durch einen Angriff der Eingeborenen. Wer weiß schon, welche Gefahren an so einem entlegenen Ort lauern? Es schien auf jeden Fall unwahrscheinlich, dass sie ohne meine finanzielle Unterstützung überleben konnten.«

»Du hattest doch sicherlich eine Möglichkeit, das zu überprüfen?«, fragte Holmes.

»Ich ließ eins unserer Schiffe eine beiläufige Unter­suchung vornehmen, als es an der Insel vorbeisegelte. Der Mannschaft konnte ich aber kaum den Grund für meine Nachforschungen nennen. Also sorgte ich dafür, dass ein Befehl vom Oberkommando der Marine erging, nach dem das Gebiet für militärische Zwecke beurteilt werden sollte. Dies schloss die Notwendigkeit ein, nach Zeichen möglicher Bewohner zu suchen. Wenn Moreau, Montgomery und seine eingeborenen Helfer noch lebten, würde diese Tatsache sich bestimmt irgendwie zeigen: Rauch von Feuer, Fischereiutensilien am Strand – irgendetwas würde der Mannschaft auffallen. Hätte man sie gefunden, wäre das für mich zwar kompromittierend gewesen, doch das war mir das Risiko wert. Gedanklich stand für mich an erster Stelle die Möglichkeit, dass Moreau seine Arbeit an eine andere Macht verkauft hatte.

Ich muss wohl nicht betonen, dass dies immer ein Risiko ist. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich mich nach besten Kräften damit auseinandergesetzt. Vielleicht hat es …«

»Hast du etwas von Moreau gehört?«, fragte Holmes.

»So einfach ist das nicht«, antwortete sein Bruder. »Diese Angelegenheit ist kompliziert. Lass mich der Reihe nach erzählen.

Insgesamt hörte man acht Jahre nichts von Moreau. Dann, vor zwölf Jahren, sank die Lady Vain im Südpazifik. Vielleicht erinnerst du dich noch?«

Ich erinnerte mich. Das Schiff war nur wenige Tage von Callao entfernt mit einem treibenden Wrack kollidiert und alle an Bord – mit Ausnahme der Insassen eines vollgestopften Rettungsboots, die von einem Marineschiff aufgenommen werden konnten – kamen ums Leben. Das wiederholte ich Mycroft gegenüber.

»Alle anderen – außer einem«, antwortete der. »Edward Prendick war ein reicher, junger Mann, der sich dem Studium der Naturkunde verschrieben hatte, so wie alle reichen Männer sich irgendeinem Studium verschreiben müssen, damit sie nicht den Verstand verlieren, bevor sie dreißig werden. Man fand ihn elf Monate nach dem Unglück der Lady Vain auf dem Meer treibend.«

»Er hat da draußen elf Monate lang überlebt?«

»Natürlich nicht, das wäre genau das Meisterstück der Ausdauer gewesen, für das ich Moreau bezahlte. Prendick behauptete, dass er die Zeit zwischen dem Untergang der Lady Vain und seiner späteren Rettung auf einer Insel mit dem in Ungnade gefallenen Moreau, dem betrunkenen Montgomery und einer Ansammlung monströser Kreaturen verbracht habe. Nachdem er sie beschrieben hatte, hielt man ihn für wahnsinnig, noch bevor er den Hafen erreichte.«

»Welche Art Kreaturen?«, fragte ich.

»Absurde Hybriden aus Mensch und Tier. Er behauptete, das seien die Ergebnisse von Moreaus Tierversuchen. Er bestand darauf, dass die Insel von ihnen bevölkert worden sei und dass es sich um eine ganze Kultur gebildeter Tiere handele, die aufrecht gingen wie Menschen. Diese Kreaturen hätten sich gegen ihren Erschaffer erhoben, und Prendick sei der einzige Überlebende.«

Ich lachte. »Und Holmes beschuldigt mich, dass meine Ideen an den Haaren herbeigezogen seien«, antwortete ich. »Selbst ich könnte mir so eine wüste Geschichte nicht ausdenken.«

Mycroft strafte meine Ungläubigkeit mit eisigem Schweigen. Schließlich sagte er: »An den Haaren herbeigezogen oder nicht, Prendick sagte die Wahrheit.«

Ich war nicht in der Lage, ernsthaft darauf zu reagieren. Sogar Holmes wirkte alarmiert und starrte seinen Bruder durch eine langsam ausgeatmete Rauchwolke an. Vielleicht wollte er wissen, wie ernst es diesem war. Ich selbst hatte keinerlei Zweifel daran. Mycroft war kein Mann der Lüge, obwohl er – bei näherer Betrachtung – als Mann des Geheimdienstes diese Kunst wohl perfektioniert haben musste. Solange er allerdings mit Holmes sprach, war er sich der Wichtigkeit präziser Fakten bewusst. Wenn er sagte, dass etwas Tatsache war, dann war es das auch.

Doch waren tierisch-menschliche Kreuzungen überhaupt im Entferntesten möglich? Ich kam nicht umhin zu denken, dass er sich irrte. Zweifellos hatte Moreau, ein Mann, der sowohl das Skalpell als auch wilde Gedankengänge liebte, eine Auswahl künstlicher Kreaturen erschaffen – ähnlich den Missgeburten in amerikanischen Wanderzirkussen. Was Prendick so tief beeindruckt hatte, waren nicht mehr als die absurden »Fischjungen« oder »Vogelfrauen« aus diesen Monstrositätenschauen. Zweifellos würden derartige Dinge der Musterung eines ungeübten Auges entgehen. Ich gab dies Mycroft zu bedenken, doch er schüttelte nur den Kopf.

»Ich verstehe Ihre Skepsis«, sagte er. »Sie sind ein Mann der Medizin, und ich wäre enttäuscht, wenn Sie anders reagieren würden. Dennoch kann ich die Wahrhaftigkeit von allem beweisen, aber es würde vielleicht Zeit sparen, wenn Sie bereit wären, meine Worte einfach für bare Münze zu nehmen!«

Damit war ich in die Schranken gewiesen.

»Offensichtlich war Moreau der Meinung, dass die Antwort auf mein wissenschaftliches Problem in der Fortführung seiner Tierversuche lag. Vielleicht dachte er, dass die Eigenschaften von Tieren nicht auf chemischer Ebene an Menschen weitergegeben werden können und mit Nadel und Faden eingepflanzt werden müssten. Entweder das oder er konnte die Finger einfach nicht vom Skalpell lassen. Ich glaube, das ist genauso wahrscheinlich.«

»Einige Menschen können eben nicht widerstehen, Blut zu vergießen«, stimmte ich zu. »In der Einmischung in die Natur liegt eine Macht, die einigen gestörten Individuen nicht verliehen werden sollte.«

»Wie immer auch die Wahrheit in dieser Angelegenheit aussieht, die Wissenschaft kann sich niemals zurückentwickeln. Sobald Wissen angeeignet wurde, kann es nur wachsen, aber nicht mehr in Unwissenheit versinken.«

»Aber wenn Moreau gestorben ist, dann ist doch sicher …?«

»Ich bin keinesfalls sicher, dass er gestorben ist. Prendicks Bericht darüber ist unmissverständlich. Er sagt, die Tiere hätten ihren Erschaffer in Stücke gerissen. Er und Montgomery hätten sich der Leiche selbst entledigt. Montgomery wurde später angegriffen und sein Körper – von dem angenommen wurde, er sei tot – wurde ins Meer geworfen.«

»Von dem angenommen wurde, er sei tot?«, fragte Holmes.

»Ich gebe es so genau wie möglich wieder. Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir nur das Wort eines Mannes für dieses ganze Geschehen haben.«

»Eines Mannes, der sich, wie ich annehme, einer peinlich genauen Befragung unterziehen musste«, kommentierte ich.

»Vielleicht nicht ganz so peinlich genau«, fügte Holmes hinzu.

Ich schaute ihn an, und er unterstrich seinen Einwurf mit einem kurzen Lächeln. »Er hat nicht mit mir gesprochen.«

»Das wird auch nicht mehr geschehen«, sagte Mycroft. »Edward Prendick ist tot. Wir dürfen nicht vergessen, dass all dies vor elf Jahren geschah. Die Stadt mit all ihrem geschäftigen Treiben war zu viel für seine Nerven, die durch die Erlebnisse sehr angegriffen waren. Deshalb begab er sich aufs Land. Er verschrieb sich der Chemie und dem Lesen und lebte als Einsiedler. Aus diesem Grund dauerte es auch einige Tage, bis man seinen Leichnam fand.« Mycroft trank den Rest seines Kaffees aus und stellte Tasse samt Untertasse auf die Sessellehne. »Die Beweise deuten darauf hin, dass er Selbstmord begangen hat. Das war jedenfalls die Feststellung des Gerichts.«

»Hast du Zweifel daran?«, fragte Holmes.

»Nur deshalb, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ein erfahrener Chemiker Selbstmord begeht, indem er Säure trinkt. Es gibt weniger schmerzhafte Wege, den Tod zu finden.«

»Es erscheint unnötig qualvoll«, stimmte ich zu. »Ein Narkosemittel wäre wahrscheinlicher. Waren die Überreste noch kenntlich genug für eine eindeutige Identifikation?«

»Er war natürlich nicht in bester Verfassung, aber die Polizei war sich bezüglich seiner Identität sicher. Der Leiter der Poststelle hat ihn erkannt. Dieser Mann schien ihn am besten zu kennen, da Prendick häufig Pakete mit wissenschaftlicher Ausrüstung abholen musste.«

»Also«, sagte Holmes, »wir haben drei Leute, die über das Wissen verfügen könnten, diese Tierversuche zu wiederholen. Alle sind, oberflächlich betrachtet, tot. Die Tatsache, dass du dich weigerst, dies zu akzeptieren, bedeutet, dass diese Experimente fortgesetzt werden, nicht wahr?«

»Ich habe da so meinen Verdacht«, stimmte sein Bruder zu. »Du hast zweifellos die Nachrichten über die Tode in Rotherhithe verfolgt?«

»Einige Leichen, die man im Fluss oder in der Nähe gefunden hat«, sagte Holmes. »Polizeiberichte sprechen davon, dass es sich um Opfer von Bandenkriminalität handelt.«

»Na ja, das müssen sie sagen, oder?«, antwortete Mycroft. »Nichts bezähmt die Neugier des Volkes besser als die Erwähnung von Bandenkriminalität.«

»Es hat Holmes jedenfalls gelangweilt«, gab ich zu. »Ich habe versucht, sein Interesse daran zu wecken, doch er wollte gar nicht zuhören.«

»Ich glaube, Sie haben es nie erwähnt«, sagte mein Freund.

Das ärgerte mich. Ich las Holmes ständig Nachrichten vor, um seine Neugier zu wecken.

»Ich habe Ihnen die halbe Zeitung vorgelesen!«, beharrte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich mich recht erinnere – und das tue ich meistens –, dann gab es nicht ein einziges Verbrechen, das ich hätte untersuchen können.«

Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen; ich zermarterte mir das Hirn, um auf die wichtigsten Empfehlungen jenes Tages zu kommen: »Es gab einige Einbrüche, das Attentat auf Charles DuFries, den Greyhound-Trainer Barry Forshaw, der mitten im Rennen verschwand, die Vergiftungen von Highgate, den Raub im 12.05-Uhr-Zug nach Leamington und die Entführung eines Pariser Kürschners«, sagte ich.

Er wischte das alles mit einer Handbewegung fort. »Bagatellen!«, rief er. »Vermisste Personen und Langfinger!«

Ich schaute Mycroft an. »Sie würden es nicht für möglich halten, wie schwierig es sein kann, jemanden, der sich so leicht über Langeweile beklagt, dazu zu bewegen, sich mit einem echten Fall zu befassen. An jenem Tag warf er die Zeitung ins Feuer und beschäftigte sich damit, seine Hundehaare-Sammlung zu katalogisieren.«

»Hundehaare?« Mycroft zog eine Augenbraue hoch.

»Wie sonst sollte man eine Rasse nur an ein paar Strähnen erkennen?«, antwortete Holmes.

Mycroft ließ diese Frage eine Weile in der Luft hängen, bevor er mit seiner Geschichte fortfuhr. »Können wir uns wieder Rotherhithe zuwenden? Die Leichen waren tatsächlich auf Tierangriffe zurückzuführen.«

»Ah«, antwortete ich. »Ich glaube, ich sehe, wo das hinführt.«

»In der Tat. Die Berichte der Pathologie machten deutlich, dass die Wunden nicht von einem Tier verursacht wurden, auf das man sich sicher festlegen konnte.«

»Wir lassen die logische Möglichkeit außer Acht«, sagte Holmes, »dass sie von mehreren Kreaturen getötet wurden. Wieso?«

»Weil man annehmen sollte, dass inzwischen Berichte über einen Hai vorlägen, wenn sich ein solcher wirklich in der Themse befände.«

»Eine der Kreaturen war ein Hai?«

»Der letzten Leiche wurde das linke Bein von einem Schwarzspitzenhai abgebissen. Dieser kommt hauptsächlich an der Küste Australiens vor.«

»Das ist absurd!«, rief ich.

»Faszinierend«, verkündete Holmes und wandte mir seinen Blick zu. »Vor einigen Wochen waren Sie nur zu gern bereit, an die Existenz von Dämonen und an die Wirksamkeit von Magie zu glauben. Jetzt, da man Ihnen Wissenschaft unterbreitet – wenn auch eine seltsame und bisher unbekannte Form –, erbleichen Sie. Das sagt einiges über Sie aus.«

»In der Angelegenheit des Atems Gottes habe ich nur beschlossen, die Beweiskraft meiner Sinne anzuerkennen«, konterte ich.

»Ein kapitaler Fehler«, antwortete Holmes. »Wenn die Sinne nicht geübt sind, kann man sie leicht betrügen.«

»Also glauben Sie all diesen Wahnsinn über die Monster, die auf den Straßen von Rotherhithe ihr Unwesen treiben sollen?«

»Weder glaube ich es, noch glaube ich es nicht.« Er nickte Mycroft zu. »Ich bin sicher, dass es meinem Bruder genauso geht. Ich würde niemals etwas glauben, bis ich nicht absolut sicher sein kann. Dennoch müssen wir hinnehmen, dass die äußersten Grenzen der wissenschaftlichen Möglichkeiten sich als möglich herausstellen könnten. Die Wissenschaft kann man als Flüssigkeit betrachten, Doktor. Wie Quecksilber, das auf einem Labortisch vergossen wurde, läuft sie in alle Richtungen davon. Oft liegt es nicht in unserer Macht, sie zu zügeln oder einzufangen.«

»Ich kenne die Natur der Wissenschaft, Holmes«, antwortete ich gereizt. »Ich habe schließlich einige Jahre damit verbracht, sie zu studieren.«

»In der Tat«, sagte Holmes mit einem beschwichtigenden Lächeln. »Und Sie verfügen über ein bemerkenswertes Talent auf Ihrem Gebiet.«

»Auf meinem Gebiet …« Ich lächelte und konnte nicht umhin, über seinen Einwurf nachzugrübeln.

»Ich ziehe keine endgültigen Schlüsse«, sagte Mycroft. »Ich stelle nur alles Wichtige vor und vertraue auf deine Fähigkeiten …«, er sah mich an, »… auf eure Fähigkeiten, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich möchte, dass ihr die Tode untersucht, andere Erklärungen ausschließt oder bestätigt und demgemäß handelt.«

»Demgemäß handeln?«, fragte Holmes.

»Wenn Dr. Moreau gesund und munter in der Hauptstadt arbeitet, möchte ich, dass er gefunden wird.«

Ich lachte. »Nach allem, was Sie gesagt haben, sollte man glauben, dass Sie eher Großwildjäger benötigen als Detektive.«

»Die habe ich auch«, antwortete Mycroft. »Diese Sache ist zu wichtig, um sie nur zwei Männern anzuvertrauen.«

Bei diesen Worten setzte Holmes einen verächtlichen Gesichtsausdruck auf und trat mit seiner Ferse gegen das Stuhlbein. Er war nicht der Mann, der Gefallen an der Idee fand, in einem Team zu arbeiten.

»Ich weiß, wie gerne du mit anderen zusammenarbeitest, Sherlock«, sagte Mycroft. »Doch du wirst einfach hinnehmen müssen, dass es sich hier um eine weitreichende Angelegenheit handelt und ich alle meine besten Leute darauf angesetzt habe.«

»Alle?«, Holmes schrie das Wort geradezu. »Wie viele sind alle?«

»Ihr müsst euch bei der Untersuchung nicht auf die Füße treten, doch außer einem Jagd- und Spurenexperten habe ich noch einen kleinen … nun, Wissenschaftsclub ins Leben gerufen. Ich habe die besten Gehirne des Landes damit betraut, sich der Angelegenheit anzunehmen und ihre Meinungen zu äußern. Wer weiß schon, ob wir biologische Hilfe benötigen oder medizinische oder einfach jemanden, der sich den wissenschaftlichen Aspekten dieses Falls aus einem anderen Blickwinkel nähert? Ihr werdet sie später am Abend kennenlernen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie auf euch warten sollen.«

»Im Clubhaus?«, fragte ich lächelnd.

Mycroft kicherte. »In der Tat. Am besten Ort, den man sich für so einen Club vorstellen kann. Sie residieren im Britischen Museum.«

4. KAPITEL

Selbstverständlich hatte ich das Britische Museum zuvor schon besucht. Einmal war ich sogar mit meiner geliebten Mary – Gott hab sie selig – an einem tristen Nachmittag dort gewesen, weil der Regen uns gezwungen hatte, dem See im Regent’s Park fernzubleiben. Ich sage »trist« nicht, weil ich die Sammlungen uninteressant finde, doch es gibt für alles eine Zeit und einen Ort. Etwas über ägyptische Ausgrabungen zu lesen, wird niemals ein Ersatz dafür sein, sich mit der Frau, die man liebt, im Wasser zu rekeln.

Holmes und ich stiegen fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit aus unserer Droschke und gingen die Great Russell Street entlang.