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In einer amerikanischen Kleinstadt geht der Tod um: Kinder und Frauen fallen einem Wahnsinnigen zum Opfer, die Leichen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Polizei schaut hilflos zu, und die Berichterstattung der Medien scheint als einzigen Zweck zu verfolgen, das lähmende Entsetzen in Routine zu verwandeln.
Für den Studenten Jonathan Parker gibt es keinen Grund, sich um diesen Aufruhr Gedanken zu machen. Schließlich ist der Sonnyboy die größte Sportskanone im ganzen College: jung, stark, unverletzlich – und bis über beide Ohren verliebt. Aber ein Alptraum verändert sein Leben: Der wahnsinnige Killer, so träumt Jonathan eines Nachts, hat seine Stiefeltern brutal abgeschlachtet.
Und schon am Morgen danach ist der Alptraum blutige Realität geworden...
Shocker von Randall Boyll ist der Roman zu Wes Cravens (Scream, Nightmare on Elm Street) gleichnamigem Horror-Klassiker aus dem Jahr 1989. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe des Romans in seiner Reihe APEX HORROR.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
RANDALL BOYLL
Shocker
Roman
Apex Horror, Band 44
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SHOCKER
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
In einer amerikanischen Kleinstadt geht der Tod um: Kinder und Frauen fallen einem Wahnsinnigen zum Opfer, die Leichen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Polizei schaut hilflos zu, und die Berichterstattung der Medien scheint als einzigen Zweck zu verfolgen, das lähmende Entsetzen in Routine zu verwandeln.
Für den Studenten Jonathan Parker gibt es keinen Grund, sich um diesen Aufruhr Gedanken zu machen. Schließlich ist der Sonnyboy die größte Sportskanone im ganzen College: jung, stark, unverletzlich – und bis über beide Ohren verliebt. Aber ein Alptraum verändert sein Leben: Der wahnsinnige Killer, so träumt Jonathan eines Nachts, hat seine Stiefeltern brutal abgeschlachtet.
Und schon am Morgen danach ist der Alptraum blutige Realität geworden...
Shocker von Randall Boyll ist der Roman zu Wes Cravens (Scream, Nightmare on Elm Street) gleichnamigem Horror-Klassiker aus dem Jahr 1989. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe des Romans in seiner Reihe APEX HORROR.
Es war das neunte Mal während seiner Karriere als Fernsehreporter, dass Walker Stevens - gutaussehender Sprecher und Lokalreporter der Nachrichten auf Kanal 8, berühmt als Schürzenjäger und berüchtigt als Träger schlechtsitzender Toupets - sich in dem spärlichen Schutz einer Hecke übergab.
In dieser nasskalten, windigen Nacht in Maryville, Ohio, hatte der Killer wieder zugeschlagen - und zwar betont nachdrücklich.
Eine neugierige Frau hatte bemerkt, dass ihr ständig missgelaunter Nachbar Todd Jenkins das Licht auf seiner Veranda angelassen hatte. Das war um Mitternacht, wie sie Walker Stevens erzählte, nachdem er sich übergeben hatte und sich daran machte, Leute zu interviewen, und sie wusste einfach, dass da etwas nicht in Ordnung war. Sie gab zu, dass sie Geräusche aus Mr. Jenkins Haus gehört hatte, die wie Schreie klangen, aber es war spät und windig, und so hätte es genauso gut der Wind sein können, der um die Häuserecken pfiff und in den Sielen vor dem Haus heulte. Außerdem, so erklärte sie dem wagemutigen Reporter mit dem schwachen Magen, brauche es sie ja überhaupt nicht zu interessieren, was da drüben vor sich gehe.
Aber schließlich war sie doch noch in ihrem flatternden Nachthemd und mit zerzausten Haaren zum Haus ihrer Nachbarn hinübergestampft. Vielleicht waren die Jenkins einfach ins Bett gegangen, ohne zu bemerken, dass ihre minderjährige Tochter nicht wie befohlen um elf nach Hause gekommen war. Sie sei ja nicht eine von denen, die schlecht über ihre Nachbarn redet, aber schließlich wusste doch jeder in der Gegend hier, dass die kleine Jenkins eine Schlampe war.
Wie sich herausstellte, wäre es für die Tochter besser gewesen, wenn sie etwas später nach Hause gekommen wäre.
Walker Stevens richtete sich auf. In seinen Mundwinkeln hingen noch die letzten Tropfen des Erbrochenen, in seinem Magen rumorte es, und in seinem Mund lag schon wieder der pelzige Vorgeschmack der nächsten Übelkeitswelle. Sein Kameramann hatte gnädiger weise darauf verzichtet, die neunte Runde von Stevens aussichtslosem Kampf mit dem Magen auf Band festzuhalten; er war viel zu sehr damit beschäftigt, das Chaos zu filmen, das auf dem Grundstück der Familie Jenkins ausgebrochen war, nachdem die neugierige Nachbarin vollkommen hysterisch bei der Polizei angerufen hatte, um zu melden, dass alle Bewohner des Hauses abgeschlachtet worden waren.
Abgeschlachtet?, überlegte Walker Stevens, während er sich wieder für seinen publikumswirksamen Augenzeugenbericht vor der Kamera sammelte, der in den Morgennachrichten gesendet werden würde. Sein Toupet hing schief auf der glänzenden Kuppel seines Kopfes, und er rückte es hastig wieder zurecht. Ja, dachte er bei sich, abgeschlachtet beschreibt ziemlich gut, was man in dem Haus gefunden hatte. Oder niedergemetzelt. Geopfert? Was für ein Mann musste das sein, der Frauen und Kindern im Dunkel der Nacht solche... Dinge... antun konnte? Und warum, in Gottes Namen, tat er so etwas? Neunmal in neun Monaten. Der Leiche-des-Monats-Club! Schicken Sie einfach einen Penny ein, und Sie bekommen zwölf Schallplatten gratis, sorgsam einzeln in Schubern verpackt, jede mit dem Todesgeschrei der Abgeschlachteten...
Walker hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, um diese Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Mit einem schuldbewussten Blick sah er sich um, wie er es immer zu tun pflegte, nachdem er sich auf diese Weise seines Abendessens entledigt hatte, während ungefähr ein Dutzend Cops und etliche Sanitäter mit grimmigen Gesichtern um ihn herummarschierten. Sie mussten sich nicht übergeben. Warum er dann?
Er wischte sich mit der Hand über das Kinn und versuchte blinzelnd, in dem rotblauen Stroboskoplicht der Polizeiwagen etwas zu erkennen. In all der Aufregung und dem ständigen Hin und Her wurde ihm fast schwindelig. Der Kanal-8-Transporter war als zweites Fahrzeug am Ort des Geschehens eingetroffen, sogar noch vor den meisten Cops, denn Kanal 8 hatte im Zuge der sich häufenden Mordfälle einen Radioempfänger mit Polizeifrequenz erstanden. Walker war schon halb auf dem Weg nach Hause gewesen, als der Nachrichtenchef in sein Büro hineinstürmte und fast schon hysterisch den Satz herausbrüllte, der in der letzten Zeit etwas zu häufig in Maryville zu hören war: »Er hat wieder zugeschlagen«.
Irgendwie makaber, irgendwie ein Klischee, aber leider so wahr.
»Also los«, sagte Walker jetzt zu seinem Kameramann, der gerade mit einem Kameraschwenk das Haus abfilmte, während die letzte Leiche, eingewickelt in blutige Tücher, auf einer stählernen Bahre herausgerollt wurde, um sich zum Rest ihrer Familie zu gesellen. »Ich will hier so schnell wie möglich wieder verschwinden. Ich muss einfach weg. Hey, Dave, hörst du mir überhaupt zu?«
»Nur noch diese Einstellung«, murmelte Dave.
»Himmel, das sind mittlerweile doch immer dieselben Bilder. Wie oft willst du denn noch die Leiche filmen?«
»So ungefähr dreißigmal, würde ich sagen, wenn man diese vier mitzählt. Welchen Hintergrund brauchst du?«
»Einfach das Haus. Keine Leichen, bitte. Um Himmels willen, keine Leichen mehr.«
»Kein Problem. Fertig?«
»Glaub' schon.« Walker richtete noch einmal den Knoten an seiner Krawatte und sah dabei zum Himmel hinauf. Vertraute Sternbilder, so fern und sicher, sicher vor diesen Gräueltaten und diesem Horror. Walker war der dritte gewesen, der das Haus nach der Tat betreten hatte. Das Licht war angeschaltet gewesen. Die Überreste der eingeschlagenen Vordertür schwangen in den Angeln hin und her. Eine Frau im Nachthemd stand neben der Veranda, und selbst unter einer dicken Schicht aus Nachtcreme sah sie noch ziemlich grün im Gesicht aus. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, war Walker die Stufen hinaufgestiegen, während Dave die Kamera bereit machte. Für einen Augenblick hatte er sich in der verrückten Hoffnung gewogen, dass es sich um eine andere, neue Art von Mord handeln würde, vielleicht einen simplen Erschossenen oder eine einfache Messerstecherei. Alles, solange es nur die Monotonie dieser Hack- und Schlitzorgien durchbrechen würde, mit denen sie nun schon seit Monaten konfrontiert wurden. Einen Augenblick lang hatte er diese irre Hoffnung immerhin aufrechterhalten können.
Am härtesten hatte ihn der Anblick des jungen Mädchens auf der Couch getroffen. Sie saß in einer recht natürlichen Haltung da - ein junges Mädchen, das für ihr High-School-Foto posiert, den Kopf leicht zurückgelegt und an die Oberkante des Sofas gelehnt. Aber es gab da eine kleine Unstimmigkeit: Ihr Mund stand offen; sie sah aus, als hätte die Kamera sie mitten in einem Wort überrascht, vielleicht sogar bei einem Gähnen. Ihre Augen waren ebenfalls geöffnet. Das war ja nichts Schlimmes. Aber es gab noch eine andere Unstimmigkeit, eine sehr beunruhigende sogar. Sie war oben ohne. Ihre Brustwarzen waren abgeschnitten worden. Ihr Bauch schien merkwürdig flach, beinahe ausgehöhlt. Ein vertikaler Schnitt führte von ihrem Bauchnabel zur Brust hinauf.
Ihre Gedärme waren herausgerissen und am anderen Ende der Couch abgelegt worden. Irgendein graues Ding baumelte von diesem matschigen Haufen herunter, eine dicke, ekelerregende Darmschlinge.
Walker hörte, wie sich die beiden Cops in der Küche zu schaffen machten - zweifellos fanden sie gerade weitere grässliche Trophäen, die der unbekannte Schützer zurückgelassen hatte. Er hatte schon jetzt genug, ihm war schlecht, und er hasste den Geruch frischen Blutes, der das Haus wie fauliges Sumpfgas erfüllte. Er wandte sich ab und wollte gerade gehen, als etwas aus dem Mund des Mädchens fiel und auf einer breiten, erstaunlich roten Blutspur an ihrer Brust herunterschlidderte.
Es war eine ihrer Brustwarzen.
Das gab Walker endgültig den Rest. Er stürmte die Stufen hinunter und prallte in die Hecken. Mit erschreckender Deutlichkeit erinnerte er sich an sein Abendessen: Schweinekoteletts, Kartoffelpüree, Erbsen, ein Stück Käsekuchen. Ohne sich lange mit Förmlichkeiten aufzuhalten, kamen sie alle wieder hervor - jetzt nur noch eine einzige säuerlich schmeckende Pampe - und ergossen sich über die Büsche.
»Ich hab' dich klar im Bild«, sagte Dave.
Walker zuckte zusammen. Er hatte für eine volle Minute an seiner Krawatte herumgespielt, hatte noch einmal den Anblick des Mädchens durchlebt, den warmen Geruch des Blutes, die Art, wie das ganze Haus Tod und Verwüstung herauszuschreien schien. Wie muss es wohl darin zugegangen sein?
Wie lange hatte der Schützer gebraucht, um sein schreckliches Werk zu vollenden?
Dave reichte ihm das Mikrofon. Er schluckte, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. Der Scheinwerfer hinter Daves Kamera war viel zu grell; Walker fand es peinlich, mit verkniffenen Augen in die Kamera zu blinzeln, aber er hatte zu lange in die dunklen Büsche gestarrt, und seine Augen mussten sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen.
»Kamera läuft«, sagte Dave, und ein leises Summen bestätigte seine Angabe. »Die können das später noch zurechtschneiden. Weißt du schon, was du sagen willst?«
Walker zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste er, was er sagen wollte. Er wollte sagen, dass das, was er in dem Haus gesehen hatte, so grauenhaft war, dass er mit seiner letzten Mahlzeit - und sicher noch einigen vorherigen - eine Hecke begossen hatte. Er wollte sagen, dass er etwas gesehen hatte, das niemand jemals sehen dürfte; dass er Dinge gerochen hatte, die niemand jemals riechen sollte. Aber er war ein professioneller Nachrichtenreporter - und das jetzt schon vierzehn Jahre lang -, und er würde die Arbeit nicht hinschmeißen, indem er durchdrehte, während er gerade die heißeste Meldung des Tages aufzeichnete.
»Also los«, sagte er. »Ich werde es schon irgendwie hinkriegen.«
»Hey, Walker?« Dave hatte seine Augen vom Sucher seiner tragbaren Kamera abgewandt.
»Ja? Was ist jetzt schon wieder?«
»Du hast dir auf den Schlips gekotzt.«
Er schnitt eine Grimasse in die Kamera und nahm die Krawatte ab. Was machte es schon, wenn er in dieser Nacht mal etwas legerer vor der Kamera auftrat? Morgen früh werde ich vielleicht sowieso schon vollständig durchgedreht sein, dachte Walker.
»Kamera läuft noch«, sagte Dave. »Erster Versuch.«
Walker nickte und machte sich daran, wieder einmal sein Bestes zu geben, zumindest, soweit die Umstände es ihm erlaubten. Nur mit großer Mühe gelang es ihm, seinem Gesicht einen ruhigen und gesetzten Ausdruck zu verleihen. Sobald diese Sache überstanden war, das schwor er sich, würde er nach Hause fahren und sich heillos besaufen.
»Es sollte ein schöner Samstagmorgen für unsere friedliche Stadt werden, doch stattdessen erwacht ganz Maryville heute, um erneut einem Bild des Grauens gegenüberzutreten. Der Augenzeugenbericht auf Kanal 8 ist für Sie an Ort und Stelle, um über das neueste Kapitel einer schrecklichen Mordserie zu berichten. Meine Damen und Herren, der Schützer hat wieder zugeschlagen...«
»...in den frühen Morgenstunden hat der Killer ein weiteres Mal zugeschlagen. Wieder tötete er eine ganze Familie. Wieder konnte er ungesehen entkommen. Resignation und Schrecken sinken immer tiefer in das Herz dieser Stadt...«
»Himmel, kannst du diesen Scheiß nicht mal abstellen? Ich hasse schlechte Nachrichten. Und diesen Kerl mit dem Toupet kann ich schon gar nicht ertragen. Wie heißt der Typ überhaupt?«
Der Junge hinter dem Tresen zuckte mit den Schultern. »Yul Brunner mit Haaren, was weiß ich. Und was darf's sein?«
»'ne Cola, aber mit viel Eis. Ich schwitze wie ein Schwein.«
»Cola kommt sofort.« Der Junge verschwand hinter dem Tresen, um einen Becher herauszuholen.
Jonathan Parker stützte sich schwer auf den wackeligen Sperrholztresen des Imbissstands und versuchte mit den Fingern an die Knöpfe des Minifernsehers zu kommen, der in der Ecke verschanzt stand und solch schlechte Meldungen verbreitete. Sein Blick blieb einen Augenblick am Bildschirm hängen, und er bemerkte, dass der Reporter aussah, als ob er zu nahe am Einschlagsort einer Granate gestanden hätte. Sein Haar war vollkommen zerzaust. Mit verkniffenen Augen blinzelte er in die Kamera. Er hatte sogar seine Krawatte verloren. Jonathan zuckte mit den Schultern. Schreckensmeldungen zu verbreiten war wohl kein sonderlich einträgliches Geschäft. Vielleicht sollte sich der Bursche lieber eine andere Beschäftigung suchen.
Während der Junge den Becher füllte, schaltete Jonathan von einem Programm zum anderen, bis er auf Kanal 11 endlich die Übertragung eines Footballspiels fand. Die Seahawks gegen die Browns. Nicht schlecht.
Der Junge schob den rot-weißen Cola-Becher über den Tresen, und Jonathan leerte ihn in drei großen Zügen bis zur Hälfte. Hinter ihm hüpften unter einer strahlenden Sonne drei Dutzend Spieler auf dem Sportplatz, die eine Hälfte in roten Trikots, die andere in blauen. Einige Arschkriecher versuchten mit übertriebenen Sprüngen und schnellen Fußwechseln bei ihrem Trainer Eindruck zu schinden. Jonathan schnaubte verächtlich und zerknackte einen Eiswürfel zwischen den Zähnen. Nette Jungs, aber nur als Reservisten zu gebrauchen. Ein paar Hopser in der Pause machten noch lange keinen guten Footballspieler.
Er selbst hatte sich noch nie ein Spiel von der Bank aus ansehen müssen und wollte damit auch gar nicht erst anfangen. Zwanzig Jahre alt, ein Junior an der State University, der respektable Noten mit nach Hause brachte, der beste Flügelmann, den das College in den letzten sechs Jahren hervorgebracht hatte, von vielen als toller Hecht bewundert, von anderen beneidet, weil er nun einmal von Natur aus gut aussah - wenn man ihn drängte, musste Jonathan Parker selbst zugeben, dass ihm die Welt zu Füßen lag.
Das würde sich bald genug ändern.
Er trank seine Cola aus und griff mit einer kraftvollen Bewegung nach seinem Helm, der auf dem Boden lag. Sein Blick schweifte über das kleine Grüppchen von Fans und Schaulustigen, die sich auf den Rängen versammelt hatten, um sich von der Sonne bräunen zu lassen und gleichzeitig kostenlos einen sportlichen Wettkampf zu verfolgen. Einige der Gesichter kannte er, andere nicht. Jonathan wusste allerdings sehr genau, dass ihn alle kannten, ein Umstand, den er mit einer Mischung aus Stolz und Verwunderung hinnahm. Warum mochten sie ihn alle so sehr? Warum überschütteten sie ihn mit Lob und Beifall? Er versuchte doch nur, sein Bestes zu geben.
»Noch was zu trinken, bevor sie dich da draußen in Stücke reißen?«, fragte der Junge hinter dem Tresen und grinste.
»Ich erklär's dir mal, Junge«, erwiderte Jonathan und grinste zurück. »Du hast deinen Spaß, wenn du dir die Morde im Fernsehen anguckst, ich habe meinen, wenn elf Kerle versuchen, mich zu zermalmen.«
Der Junge trat einen Schritt zurück und schaltete auf einen anderen Sender um. »Mittlerweile sind's schon dreißig Leichen«, sagte er, und sein Grinsen erstarb. »Es scheint so, als ob sie alle zehn Minuten denselben Bericht zeigen. Dank dieses Verrückten habe ich den ganzen letzten Monat kaum eine Nacht ruhig schlafen können.«
Jonathan zwängte seinen Kopf in den Helm. Von den Rängen her ertönte halbherziges Klatschen. Er bedankte sich mit einer Verbeugung im japanischen Stil. Irgendjemand pfiff. Der Coach brüllte Befehle.
»Ich geh' wohl besser mal wieder rüber«, sagte Jonathan. »Hier ist noch ein bescheidenes Trinkgeld für die vorzügliche Bedienung. Übrigens, wenn dir die Nachrichten nicht gefallen, schau sie dir nicht an. Ganz einfach, oder?«
»Geradezu umwerfend. Ich hoffe nur, dass du auf dem Footballfeld anders bist als im täglichen Leben.«
Jonathan blinzelte ihm zu, nicht ganz sicher, was der Junge damit gemeint haben könnte, aber eigentlich war ihm das auch gleichgültig. Mittlerweile hatten sich die Teams an der Abschlaglinie versammelt. Er musste unwillkürlich wieder grinsen. Ein paar Fans in dem winzigen Häufchen der Zuschauer begrüßten seine Rückkehr auf das Feld mit aufgeregten Zurufen. Irgendein Clown stieß einen Buhruf aus, aber er wurde schnell von den Mädchen übertönt und zum Schweigen gebracht. Als Jonathan sich der Vierzig-Yards-Linie näherte, an der die Spieler Aufstellung nahmen, fiel ihm ein besonders hübsches Mädchen auf, das still und ganz für sich allein in der vierten Reihe saß. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor; er nahm sich vor, sie nach dem Training anzusprechen. Aber bis fünf Uhr kam es erst einmal nur auf zwei Dinge an: das Leder zu packen und Freunde niederzuwalzen.
Er lachte leise in sich hinein. Es war ein wunderbarer Tag, die Luft war klar und frisch, der Himmel unendlich blau, und er hatte seinen Spaß. Niemand konnte ihm einen Tag wie diesen verderben; solche Tage gab es viel zu selten in Ohio, wo die Luftfeuchtigkeit normalerweise achtzig Prozent beträgt, so dass man ins Schwitzen gerät, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen. Er breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen, drehte sich einmal um die eigene Achse, doch dann kam er sich plötzlich ziemlich albern vor und beschloss, sich lieber auf die Aufgabe zu konzentrieren, die vor ihm lag. Seine Gymnastikübungen konnte er später immer noch machen, falls er mit heiler Haut davonkommen sollte.
Cooper, der Coach, schien der gleichen Ansicht zu sein. Er stieß einen wütenden Pfiff mit seiner Trillerpfeife aus, zeigte auf Jonathan und bedeutete ihm gestenreich, dass er sich gefälligst beeilen solle. Jonathan bequemte sich zu einem leichten Trab. Auf dem Weg zu seinem Team versuchte er sich seelisch auf die nun kommenden Zusammenstöße und Rangeleien vorzubereiten und sich an die Spielzüge zu erinnern, die der Coach ihnen den ganzen Tag über eingehämmert hatte. Jonathan erreichte die anderen Spieler gerade in dem Augenblick, als sie einen Kreis bildeten und letzte Absprachen trafen.
»Keine Änderungen nach der Pause, soweit ich feststellen kann«, rief der Abwehrspieler. »Alles klar? Dann macht sie nieder!«
Ein Schrei der Zustimmung, wie aus einer Kehle. Nur Jonathan blieb still. Wie, zum Teufel, war das Spiel vor der Pause abgelaufen? Welche Spielvariante hatten sie versucht? Blau 21? Oder Grün 9? Wie auch immer. Er hatte es früher geschafft, Durchblick vorzutäuschen, und er würde es auch heute wieder schaffen. Er nahm seine Position ein.
Der Abwehrspieler, der Quarterback, machte das übliche Hin und Her, der Ball wurde gepackt, und Jonathan marschierte an dem Linebacker der gegnerischen Mannschaft vorbei, bevor dieser noch eine Chance hatte, sich mit den Händen vom Boden hochzustoßen. Er hörte ein befriedigendes Uff, als der Linebacker mit dem Gesicht zuerst auf dem Gras aufschlug, und dann lief er auch schon, lief voran, glitt durch die zweite Verteidigungslinie wie ein Messer durch weiche Butter, mit jenen ebenso gewandten wie dampfwalzenartigen Ausweichmanövern, für die er berühmt war. An der Zwanzig-Yards-Linie drehte er sich um und sah, wie der Football auf ihn zu gesaust kam und mit ihm Bruno Parmridge, der es offensichtlich auf seine Knie abgesehen hatte. Jonathan tänzelte zur Seite, um diese nervtötende Deckung abzuschütteln, und dann klatschte der Ball in seine Hände, und er war auf dem Weg in die Endzone, grinsend, den Siegesschrei schon auf den Lippen. Er schaute kurz zur Tribüne hinüber, wo er sofort das hübsche Mädchen entdeckte. Er warf ihr ein breites Lächeln zu und lief vorsichtshalber etwas langsamer, damit sie es auch sicher sehen konnte, felsenfest davon überzeugt, dass sie ein Fan von ihm, dem Wunderknaben, war und nach diesem Touchdown, der sechs Punkte bringen würde, ein Autogramm von ihm verlangen würde.
Gerade an diesem Punkt seiner Betrachtungen angekommen, rammte ihn von hinten ein Kerl wie eine Planierraupe, riss ihm die Füße unter dem Körper weg und ließ ihn in einem der atemberaubendsten Doppelsaltos durch die Luft segeln, die die Welt je gesehen hatte. Jonathan landete hart auf dem Rücken, und der Ball glitt aus seinen Fingern, als wäre er eingeölt worden. Er sah, wie sich die Spieler grunzend und knurrend übereinanderwarfen, um den Ball wieder in ihren Besitz zu bringen. Dann flog der Ball in hohem Bogen durch die Luft und wurde von jemandem aufgefangen. Jonathan konnte nicht erkennen, welchem Team der Fänger angehörte, denn er lag auf dem Rücken und fragte sich, ob sein Rückgrat zersplittert oder einfach nur an mehreren Stellen gebrochen war.
Ein Gesicht drängte sich in Jonathans Blickfeld, warf einen Schatten auf ihn und verdeckte die Sonne. Er sah blinzelnd zu Sam Rhino Wyndham auf und fragte sich, woher nur all diese glitzernden Punkte vor seinen Augen kommen mochten. Eine Hand griff nach seinem Arm und zog ihn hoch.
»Schau du nur weiter den Mädchen hinterher, Romeo«, sagte Rhino und lachte. »Verdammt noch mal, da gebe ja selbst ich eine bessere Figur auf dem Spielfeld ab.«
Jonathan riss sich los und rückte seine Schulterpolster wieder zurecht. »Man muss halt Glück haben, das ist alles.«
Die Sterne vor seinen Augen verschwanden langsam, und die Welt sah wieder einigermaßen normal aus. In dieser Welt gab es auch Cooper, den Coach, der sich mit schnellen Schritten näherte, so dass die Trillerpfeife auf seiner Brust tanzte. In seinen Augen lag Mordlust. Sein Mund öffnete und schloss sich, und er stieß alle Flüche und alle Schimpfworte aus, die die Menschen je erfunden haben. Jonathan zuckte unwillkürlich zurück.
»Wo, zum Teufel, ist deine Konzentration geblieben, Parker?«
Der Coach hatte sich vor ihm aufgebaut. Im Vergleich zu diesem Mann wirkte selbst Rhino klein und zart. Cooper war ein Ex-Linebacker, der es seinem Alter nie erlaubt hatte, das Regiment über den Körper zu übernehmen; allenfalls hatten ihn die vielen Jahre nur noch härter und gemeiner gemacht. »Bist du doch noch im Training, oder schleichst du dich nachts raus?«, bellte er.
Jonathan schenkte ihm sein schönstes falsches Lächeln. »Ich bin immer im Training, Coach. Ehrenwort.«
Cooper musterte ihn eingehend. Rhino nutzte die Gelegenheit, um in der Menge unterzutauchen. Jonathan lächelte mit großer Ausdauer; sein Mund schien nur aus Zähnen zu bestehen. Der Coach streckte seine Hand nach ihm aus, und Jonathan zuckte instinktiv zurück; doch anstelle des erwarteten Angriffs auf Leib und Leben spürte er nur, wie sich ein starker Arm um seine Schultern legte.
»Weißt du was?«, fragte der Coach mit süßlicher Stimme.
Jonathan zuckte mit den Schultern. »Kommt ganz darauf an, was!«
»Dein Name könnte in die Annalen des Sports eingehen, Jonathan. Du könntest einer der ganz Großen sein, ein Star. Du bist durch eine harte Schule gegangen, und du hast ein großes Talent, und du hast den Mumm zu kämpfen. Aber weißt du was?«
Jonathan legte den Kopf zur Seite, zum Zeichen, dass er zuhörte. Der Arm des Trainers um seine Schultern fühlte sich von Sekunde zu Sekunde erdrückender an. »Was?«
»Ich weiß nicht, ob du das Zeug zu wirklicher Größe in dir hast. Wie ich gehört habe, weißt du nicht, wer deine Mutter und dein Vater waren; du bist adoptiert worden.«
»Ich bin bei Pflegeeltern aufgewachsen«, sagte Jonathan. Die Wendung, die dieses Gespräch nun nahm, gefiel ihm überhaupt nicht.
»Pflegeeltern, Adoptiveltern oder in einem Weidenkörbchen vor irgendeiner Tür ausgesetzt - das läuft doch alles auf das gleiche hinaus. Der Punkt ist, wir haben einfach noch nicht das Wissen und die Technik, um in einen Menschen hineinzusehen und festzustellen, ob in seinen Erbanlagen dieses gewisse Etwas lauert, was man Größe nennt. Du musst der Welt beweisen, dass du das Zeug dazu hast.« Er nahm seinen Arm von Jonathans Schultern und trat einen Schritt zurück. »Wenn du dich nicht darauf konzentrierst, wenn unter deinem Helm kein klarer Kopf steckt, sondern der eines liebeskranken Katers, der nur den Mädchen imponieren will, dann wirst du niemals wirklich groß werden. Ein Moment der Unachtsamkeit, und schon nutzt jemand die Chance, um dir gehörig den Hintern aufzureißen.«
Jonathan nickte, immer noch ganz verstört, dass der Coach seine Lebensgeschichte kannte. Es stimmte, dass man ihn vor dreizehn Jahren als einen einsam herumirrenden Jungen aufgegriffen hatte. Es stimmte, dass die Behörden ihn in eine Pflegefamilie gesteckt hatten. Aber es stimmte auch, dass dies alles nur ihn etwas anging, und niemanden sonst auf der Welt.
Das Gesicht des Trainers entspannte sich. »Schau mal, Jonathan, ich will ja nur sagen, dass du dich aus der Menge herausarbeiten, über ihr stehen musst.« Er zeigte auf die Studenten, die auf den Rängen hockten. »Wie das Mädchen da drüben, das keinen Rock anhat, das arme Ding.«
Jonathan riss seinen Kopf herum und folgte dem Finger mit seinen Augen. Den Bruchteil einer Sekunde später spürte er einen donnernden Schlag gegen seinen Helm, der krachend zu Boden polterte.
Der Coach bedachte ihn mit einem bösartigen, süßlichen Lächeln. »Genau, was ich gesagt habe. Und zieh, um Himmels willen, den Kinnriemen fest. Wofür hast du ihn denn?«
Er stapfte davon. »Wird nicht wieder vorkommen, Coach«, rief Jonathan hinter ihm her, obwohl er wusste, wie sinnlos das war. Der Trainer hielt nur einfach den Daumen in die Höhe, als Zeichen, dass Jonathan gefälligst wieder Aufstellung nehmen sollte. Jonathan nahm seinen Helm vom Boden auf und trottete zurück zur Aufstellungslinie. Er wusste, dass er heute Abend sicher nicht mehr die Welt umarmen wollte; all die schönen Gefühle, die er noch einen Augenblick zuvor empfunden hatte, lösten sich in Windeseile in nichts auf.
»Gleiche Spielaufstellung«, rief der Quarterback. »Parker, zieh rechts vorbei wie beim letzten Mal, aber vermassel es nicht wieder. Pass diesmal ein bisschen besser auf.«
Phantastisch, dachte Jonathan sarkastisch, während er seinen Helm aufsetzte und den Riemen festzog. Warum erzählst du es nicht gleich der ganzen Welt? Er stellte sich in Positur und warf Rhino einen einschüchternden Blick zu. »Verrat bloß nichts«, murmelte Jonathan. »Sag kein Wort.«
»Kein Wort«, antwortete Rhino augenblicklich und sah zur vierten Reihe der Tribüne hinauf, dann wieder zu Jonathan. »Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht herumgebumst.«
Jonathan schnaubte. »Ich kann in letzter Zeit einfach nur nicht richtig schlafen.«
»Vielleicht solltest du mal versuchen, allein zu schlafen?«
»Ach, du kannst mich mal.«
»Du kriegst doch mehr Hintern zu sehen als eine Klobrille, Jon. Versuch ja nicht, deinem alten Kumpel Rhino etwas vorzumachen.«
Jonathan beugte den Kopf nach unten und sah auf Rhinos Füße. »Halt den Mund, und schnür dir lieber die Schuhe zu, bevor sie dich da draußen umbringen.«
»He?« Rhino sah auf seine Füße hinab. In diesem Augenblick riss der Quarterback den Ball an sich, lief einige Schritte rückwärts und wartete auf eine Öffnung. Die Linienspieler prallten aufeinander, versuchten mit aller Kraft den Gegner wegzuschieben, stemmten wütend die Füße in den Grasboden, um besseren Halt zu haben. Jona- than machte einen Bocksprung über Rhino hinweg und sprintete zur Zwanzig-Yards-Linie, schon in Erwartung des Passes. Dieser kam in einem wunderschönen Bogen auf ihn zu gesegelt und klatschte ihm direkt in die Hände. Jonathan stürmte auf die Torlinie zu. Das Blut raste heiß und pochend durch seine Adern, und unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. An der Zehn- Yards-Linie drehte er sich um und schrie Rhino zu:
»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg, mein Freund!«
Er wandte sich wieder nach vorn und legte lachend noch einen Zahn zu, wieder ganz der Herrscher über seine Welt.
Aus den Augenwinkeln heraus sah er das Mädchen. Sie war aufgestanden. Sie trug hautenge Jeans und ein graues Sweatshirt, dessen Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgeschoben hatte. Die Sonne ließ ihr kastanienbraunes Haar leuchten, beinahe funkeln. Sie sah ihn an, und ihr Gesicht war ein einziges strahlendes Lächeln.
Er wandte ihr den Kopf zu und lächelte zurück. Gott, was für ein hübsches Mädchen!
Er schaute wieder aufs Feld, gerade noch rechtzeitig, um den blitzenden galvanisierten Stahlpfosten des Tores zu sehen, der kaum einen Zentimeter vor seinem Gesicht aufgetaucht war. Mit einer Geschwindigkeit von ungefähr fünfundzwanzig Meilen pro Stunde stieß er mit ihm zusammen. Ein kurzer Kampf Mann gegen Pfosten - der Pfosten behielt die Oberhand. Jonathan prallte zurück. Er sah Sterne, Kometen, die Milchstraße der Verlierer. Dann plumpste er wie ein nasser Zementsack zu Boden.
Rhino kam zu seiner Rettung herangestürmt, während Jonathan über die Wunder des Universums nachsann. Rhino packte ihn unter den Achseln und zog ihn hoch. »He Mann, bist du okay?«
»Hab' mich nie besser gefühlt«, murmelte Jonathan, nicht ganz sicher, ob das Ding vor seinen Augen der Halley'sche Komet oder Han Solos Millennium Falcon war. Alles war schwarz und weiß und - rot. Ja, mit einem rötlichen Schimmer überzogen.
»Großartig«, sagte Rhino und zog seine Hände wieder zurück. Jonathan stand schwankend da, ein junger Mann so um die Zwanzig, der entweder zu viel Bier genossen hatte oder der von einem Bus überrollt worden war.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Oh, ja.« Das Rot vor seinen Augen gewann an Leuchtkraft. Es schien sein Blickfeld mit scharlachfarbenen Linien zu überziehen, wie Farbe, die über einen Fernsehbildschirm anläuft. Er konnte es sogar riechen, und es war kein guter Geruch.
»Wie du meinst.« Rhino trabte davon. Im gleichen Augenblick kam der Coach herangestürmt. Er war völlig aus dem Häuschen.
»He! He! Das war doch schon viel besser, Parker! Das war Konzentration! Da hast du gezeigt, dass du den Willen zur Größe hast! Und du hast auch deinen Kopf gebraucht! Toll!« Er starrte ihn eine Weile verächtlich an. Währenddessen versuchte Jonathan herauszufinden, was oben und was unten war.
»Parker? Jon?«
Ein gurgelndes Geräusch war Jonathans einzige Antwort.
»Verschwinde vom Feld, Jon! Nimm dir den Rest des Tages frei. Okay?«
Klar, das war okay. Der Befehl, sechzig Runden zu laufen, wäre genauso okay gewesen. Der Befehl, sich vor ein Erschießungskommando zu stellen, ebenfalls. Alles war rot und okay.
Er stolperte vom Spielfeld. Coopers Assistent kam mit einer Trainingsjacke auf ihn zugelaufen. Er wollte sie Jonathan um die Schultern legen, aber der schüttelte sie ab. Der Trainer war ein kleiner, aber zäher Mann. Sein richtiger Name war Roy Stuart, aber alle nannten ihn nur Pac-Man. Den Grund dafür wusste wohl nur der große Erfinder aller Spitznamen. Coopers Assistent war drauf und dran, Jonathan mächtig auf die Nerven zu gehen.
»Du kannst dir eine Gehirnerschütterung geholt haben, Mann«, kreischte Pac-Man. »Einen Gehirnschaden! Schädigung der okzipitalen Schädellappen! Ich habe dieses Semester Anatomie belegt. Es könnte ein Blutgerinnsel in der Medulla Oblongata geben! Eine Entzündung des cerebralen Cortex! Ich stehe sogar auf Zwei. Zumindest jetzt noch. Ein Trauma im Frontalschädellappen! Hypertonie! Polem...«
»Halt's Maul«, grunzte Jonathan.
»Mir sind wohl die Pferde ein bisschen durchgegangen.«
Jonathan schlich davon. Als er die Seitenlinie erreicht hatte, hoppelte sein Ersatzmann auf das Spielfeld. Er hinterließ eine Lücke auf dem einen Ende der Bank, direkt neben einem kleinen Kartentisch, auf dem sich Limonadendosen und Pappbecher türmten. Jonathan hob benommen den Kopf und sah, wie das hübsche Mädchen die Tribüne herunterstieg und lächelnd auf ihn zukam. Er erwiderte ihr Lächeln mit einem verzogenen Grinsen, während sich die Welt unter seinen Füßen gnadenlos auf und ab bewegte.
Als sie das untere Ende der Tribüne erreicht hatte, sagte sie etwas. Jonathan, der die Bank erreicht hatte, lehnte sich vor, um ihre Worte zu verstehen. Plötzlich drehte sich die Welt vor seinen Augen, und das Kartentischchen knallte gegen seinen Gesichtsschutz. Dann war er auf einmal vollkommen nass und roch Orangen, während das Tischchen in zwei Teile zerbrochen zu Boden fiel. Er hörte das Blubbern von Flüssigkeiten, die sich um ihn herum ergossen. Und Jonathan begab sich auf eine lange, dunkle Reise.
Von überall her zerrten plötzlich Hände an ihm. Er schlug wild um sich. Irgendjemand drehte ihn auf den Rücken, so dass er in die blendende Spätnachmittagssonne starren musste. Jonathan benutzte einige sehr einfallsreiche Wortschöpfungen, um die Helfer zu vertreiben. Nach einer Weile beugte sich wieder jemand über ihn und verdeckte sein Blickfeld; ein Gesicht, das von kastanienbraunen Locken eingerahmt wurde.
»Wirst du es überleben?«, fragte sie stirnrunzelnd.
Jonathan versuchte, den Kopf zu heben. Es war den Aufwand nicht wert. »Muss ich dich kennen?«
»Ich bin Alison.« Sie starrte ihn an. »Alison Clement. Erinnerst du dich jetzt?«
Er ließ seine Augen zufallen. Sie griff über seinen Gesichtsschutz hinweg und öffnete seine Augen mit zwei sehr zarten und wohlriechenden Fingern. »Ich sitze in Chemie neben dir, Jon. Okay?«
»Was ist?«
»Wir gehen seit einem Jahr hin und wieder miteinander aus. Ich dachte, du hättest mich erkannt, als du mir zugelächelt hast?«
Jonathan seufzte. Er war immer noch viel zu sehr damit beschäftigt, die ewigen Geheimnisse des Universums zu lösen. »Wie war dein Name noch mal?«
»Alison. Du hast mir einmal gesagt, dass ich die Mutter deiner Kinder werden sollte. Erinnerst du dich jetzt?«
Jonathan stützte sich auf den Ellenbogen auf. »Bist du es?«
»Bin ich was?«
»Die Mutter meiner Kinder? Vielleicht solltest du sie lieber herholen. Ich möchte noch einmal unsere Familie sehen, bevor ich diese Welt verlasse...«
Sie kicherte. »Wir haben noch keine Kinder bekommen.« Sie beugte sich näher heran und flüsterte: »Wir haben noch nicht einmal miteinander geschlafen.«
Das verwirrte ihn. »Warum nicht?«
»Weil ich dich nicht rangelassen habe.«
»Gut. Ich möchte erst als Mensch respektiert werden.«
Sie lächelte ihn an. Sie sah sehr mütterlich aus. »Ich bring' dich nach Hause.«
»Hört sich gut an.«
»Nimm meine Hände.«
Sie streckte sie aus. Jonathan musste nicht erst lange gebeten werden. Ihre Hände waren zart und warm. Viel zarter als der Torpfosten, und viel schöner anzusehen.
Er entschied, dass diese Alison sehr sympathisch war. Vielleicht würden sie eines Tages wirklich heiraten, und sie würden Kinder miteinander haben und auf ewig zusammenbleiben. Über diese Dinge nachzudenken war zumindest wesentlich angenehmer, als den Torpfosten zu küssen.
Die Sonne ging schon langsam unter, als Alison und Jonathan endlich die Grant Street erreichten, in der Jonathans winziges Apartment lag. Der Himmel über den Häuserreihen hatte eine tiefe rote Färbung, die zum Horizont hin immer dunkler, fast purpur wurde; die Dachantennen schienen sich wie dürre, knochige schwarze Finger nach dieser Farbenpracht auszustrecken.
Fußgänger huschten vorbei, unterwegs zu irgendwelchen unbekannten Treffpunkten, als hätten sie Angst vor Geistern, die überall auf sie lauern konnten. Sie wollten zu Hause und in Sicherheit sein, bevor es Nacht wurde und eine andere Familie ihr blutiges Ende fand. Die Tatsache, dass der Killer bis jetzt nur einmal pro Monat seine grausigen Abschlachtungen zelebriert hatte, war nur ein schwacher Trost für diejenigen, die dem Schrecken am hilflosesten gegenüberstanden: die Alten; die alleinlebende Mutter mit einem Haufen kleiner Kinder; der junge Vater, der nie eine Waffe gekauft hatte, um nicht zugeben zu müssen, dass er allein seine Familie nicht schützen konnte. Doch abgesehen von dem Tappen der Schritte auf den Gehwegen, hatte die Stille Maryville eingehüllt wie ein schwarzes Leichentuch.
Unterwegs hatten sie haltgemacht, um eine Pizza zu essen. In Jonathans Augen funkelten Sterne, die nichts mit seinem Zusammenstoß mit dem Torpfosten zu tun hatten. Alison war ernst und liebevoll, aber leider auch ein Fan von Anchovis. Igittigitt, hatte Jonathan gedacht, aber er hatte die versalzene Delikatesse hinuntergewürgt - ohne zu murren, ohne auch nur mit dem Zucken eines Mundwinkels anzudeuten, dass er für Sardellen den gleichen Ekel empfand, den die meisten Menschen für Schlangen reserviert haben. Die Stunden vergingen, die übriggebliebenen Pizzastücke wurden kalt, und der Mozzarellakäse nahm das grauenhafte Aussehen von etwas Verwesendem an. Das Eis in ihren Cola-Gläsern wurde langsam zu warmem Wasser. Im entscheidenden Augenblick stellte Jonathan fest, dass er kein Geld bei sich hatte. Seine Brieftasche war noch im Umkleideraum der Schule.
Alison bezahlte die Rechnung mit Anstand und Würde, auch wenn sie dafür noch die letzten Münzen aus ihrem Portemonnaie zusammenkratzen musste. Während er mit schuldbewusster Miene hinter ihr an der Kasse stand, nahm er wohl zum hundertsten Mal den Glanz ihres Haars, den zarten Duft eines Parfüms oder Shampoos in sich auf. Es war schon ein Wunder, wie ihre Kurven genau an den richtigen Stellen saßen: schlanke Hüften, atemberaubende Beine, die Hügel unter ihrem Sweatshirt ein wahres Nirwana, und ein Gesicht, das den hartgesottensten Seemann um den Verstand gebracht hätte. Erstaunlich.