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Walter van Rossum

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Beschreibung

Daß der Mensch ein Produkt der »Umstände« ist und dennoch verantwortliche Entscheidungen zu treffen hat, daß er die Geschichte, die ihn prägt, mit oder ohne Willen selbst hervorbringt – dieser unaufhebbare Widerspruch wurde von keinem anderen europäischen Intellektuellen mit solcher Intensität durchlebt, erlitten und reflektiert wie von Jean-Paul Sartre. 1939, als Sartre aus einer eher behaglichen Existenz gerissen und in den Krieg geschickt wurde, stellte sich ihm dieses Problem mit voller Schärfe, und es veranlaßte ihn in den folgenden Jahren zu einer besessenen, weitverzweigten Aktivität: Umfangreiche Tagebücher entstanden, Romane, Theaterstücke, Essays, das philosophische Hauptwerk ›Das Sein und das Nichts‹, die großen Monographien über Baudelaire, Mallarmé, Genet; daneben betrieb er die ideologische Auseinandersetzung mit den Kommunisten, die Gründung einer Zeitschrift und einer Partei; schließlich, 1953, zog er autobiographische Bilanz: ›Die Wörter‹. Mit Einfühlungskraft und analytischer Genauigkeit zeichnet Walter van Rossum nach, wie Sartre in wenig mehr als einem Jahrzehnt sämtliche Möglichkeiten einer intellektuellen Praxis auffächert und durchspielt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 381

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Walter van Rossum

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Jean-Paul Sartre, 1939–1953

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Inhalt

Meinen Eltern [...]Hinweise zur Zitierweise [...]EinleitungI.Kapitel »Man muß aus Lehm sein, und ich bin aus Wind«1. »Noch nie in meinem Leben habe ich so viel geschrieben« Jean-Paul Sartre und der ›seltsame Krieg‹2. Die Briefe3. Zeit der Reife – Zeit der Reife4. Die Tagebücher5. »Philosophie und Leben sind eins«II. Kapitel Sartre vor Sartre. Ein RückblickIII. Kapitel »Ich bin gefesselt an den Wunsch zu schreiben« Schreibkonzepte, Sprachtheorien1. Die frühen Literaturkritiken und die Tagebücher2. Die neuen biographischen Umstände: Krieg, Gefangenschaft, Résistance3. Die Gottsucherbande: Bataille, Blanchot, Ponge, Parain4. BaudelaireIV. Kapitel »Für eine Moral und Kunst des Endlichen« Die existentialistische Offensive 1944–1949V.Kapitel Die unmögliche »Schriftstellermoral« und ihre FolgenIch möchte unbedingt einigen [...]

Meinen Eltern

und

Für Ulla – oder verschreibe ich mich schon wieder?

Hinweise zur Zitierweise

 

Die meisten Texte Sartres sind auf französisch im Verlag Gallimard, Paris, erschienen; fast alle deutschen Übersetzungen Sartres im Rowohlt Verlag, Reinbek. Nur bei den sehr seltenen Abweichungen gebe ich den Verlagsort an.

Ich zitiere nach den deutschen Übersetzungen, soweit vorhanden. Wo ich trotz vorliegendem deutschen Text selbst übersetze, gebe ich dies an. Gibt es keine Übersetzung, übersetze ich selbst (ohne dies anzumerken) und gebe die betreffende Stelle im Original an.

In die Zitate eingefügte Ergänzungen in eckigen [ ] Klammern stammen von mir.

Bei den Quellenangaben setze ich in den Fällen, wo ich es für geboten halte, das Jahr der Erstveröffentlichung (und/oder der Niederschrift, falls es relevante Abweichungen gibt) in eckige [ ] Klammern.

Einleitung

»Cours, camarade, le vieux monde est derrière toi«

Jean-Paul Sartre starb am 15. April 1980. Seine Beerdigung nimmt sich heute wie die letzte große und spektakuläre Manifestation der Generation aus, die er als ihr Sprecher und Inbild verkörperte. Seitdem hat man nicht aufgehört, diesen Tod zu besiegeln, die Grabplatten festzubetonieren. Es wäre vielleicht erhellend, einmal im Detail zu zeigen, wie die nachsartresche Intellektuellengeneration ihren vermeintlich radikalen Bruch mit der Tradition an oder besser: gegen Sartre symbolisch exemplifiziert. Hier nur ein Beispiel, das verdient, genauer untersucht zu werden. Schließlich stammt es aus dem Munde eines der prominentesten Vertreter der neuen Intelligentsia: Jacques Derrida. In einem Interview mit dem Nouvel Observateur fragt er 1983: »Was für eine Gesellschaft muß die unsrige sein, damit ein Mann [Sartre], der auf seine Art derartig viele theoretische und literarische Ereignisse seiner Zeit – kurz gesagt, die Psychoanalyse, den Marxismus, den Strukturalismus, Joyce, Artaud, Bataille, Blanchot – entweder abgelehnt oder mißverstanden hat, der über Heidegger und manchmal auch über Husserl den unglaublichsten Unsinn wiederholt oder verbreitet hat, derart die kulturelle Szene dominieren und sogar zu einer Berühmtheit werden kann?«[1]

Derrida erledigt in ein und demselben Atemzug nicht nur Sartre, sondern auch noch die französische Gesellschaft, die dieses bedauerliche Phänomen hervorgebracht und gefeiert haben soll. So bringt er die Exklusivität und die Radikalität der neuen Denker zum Ausdruck, und noch wichtiger: er läßt uns ihre Gefährlichkeit spüren. Schließlich hat dieser beamete Professor Subversivität auf seine philosophischen Fahnen geschrieben. In einem Punkt allerdings hat Derrida recht: »Man müßte der Frage« – die er eben gestellt hat – »einige Dutzend Bücher widmen.« (ibid.) Nun finden sich in Derridas Werk allerdings kaum ein paar Dutzend Zeilen, die sich mit Sartre auseinandersetzen. Es ist auch nicht bekannt, daß er seitdem seine Behauptungen mit etwas handfesteren Argumenten präzisiert hätte. Wenn wir einmal Beiträge aus dem großen Kreis der folgsamen und gelehrigen Schülerschaft außer acht lassen, dann bietet jene Interviewäußerung immerhin eine der ausführlichsten Stellungnahmen eines führenden französischen Poststrukturalisten zu Sartre. Und außerdem wird Derrida, der sonst nur noch »von den Rändern der Sprache« linguistische Signale tropfen läßt, hier einmal genau: es fallen Namen, und es rollt ein Kopf: Sartres.

Derrida nennt »kurz gesagt« eine Reihe von Begriffen und Namen, die Sartre »entweder abgelehnt oder mißverstanden« haben soll. Es verwundert ein wenig die Technik, ein Werk durch seinen Bezug zu untereinander reichlich unterschiedlichen anderen Theorien und Namen zu charakterisieren, zu denen es überdies in Schieflage stehen soll. Man könnte ja zunächst fragen: warum gerade diese Namen? Und dann: was mag es bedeuten, wenn Sartre allen diesen Instanzen gegenüber durch Ablehnung und Mißverständnis gefrevelt hat? Was sagt es etwa über Heidegger – bekanntlich Derridas bevorzugte philosophische Referenz –, daß er zum Beispiel die Psychoanalyse, den Marxismus oder den Strukturalismus nicht nur abgelehnt, sondern noch nicht einmal einer Auseinandersetzung für wert erachtet hat? Ob Heidegger die Schriftsteller Joyce, Artaud, Bataille oder Blanchot überhaupt kannte, wissen wir nicht. Fest steht hingegen, daß er sich nie zu diesen Autoren geäußert hat. Sollte Heidegger also ganz wie Sartre an seiner Zeit vorbeigegangen sein? Übrigens hatten oder haben Joyce, Artaud, Bataille und Blanchot zu Strukturalismus, Marxismus oder Psychoanalyse ein – bestenfalls – eigensinniges Verhältnis. Kurz, man kann das Glasperlenspiel mit den Namen und Schulen ad nauseam fortführen – bei Lichte besehen läßt der Aufbau des Arguments überhaupt keine Schlüsse zu, außer vielleicht über seinen Urheber.

Freilich, die Unschärfe hat Methode. Sie wird noch disperser durch die Kriterien »abgelehnt oder mißverstanden«. »Abgelehnt« scheint deutlich, andererseits: was heißt es schon, eine Reihe von Theorien und Autoren abzulehnen? Gewöhnlich pflegt das von einem eigenen Kopf zu zeugen. »Mißverstanden« verweist hingegen auf ein allzu weites Feld. Ohne den geringsten argumentativen Beleg ist dieser Vorwurf seiner Natur nach nicht nachprüfbar und wohl deshalb auch hier erhoben worden. Wollte Derrida damit vielleicht implizieren, daß erüber das angemessene Verstehen verfügt? Das wäre trivial, auch ungereimt, denn schließlich besteht ja eine der Grundintentionen seines Denkens im »Nachweis« unserer Unfähigkeit zur Wahrheit, ja nur zur Richtigkeit, auch wenn wir nie verstehen werden, wie er uns diese Wahrheit über die Wahrheit mitteilen konnte. Aber lohnt es sich überhaupt, einer Interviewäußerung – auch wenn sie an exponierter Stelle von einem Exponenten der neuen Intelligenz vorgebracht wird – eine solche Bedeutung beizumessen? Ich glaube, daß dieser antisartresche Affekt nicht nur einiges darüber aussagt, wo Sartre heute – wenigstens in Frankreich – steht, sondern an Sartre gerade das Moment kritisch betont, das uns besonders interessiert. Dazu muß man Derridas Kritik einmal überprüfen.

Die Psychoanalyse? Sartres frühe und später immer weiter differenzierte Kritik an bestimmten psychoanalytischen Modellen bezog sich auf den Naturalismus, der in diesen Modellen bis heute vorherrscht. Aus anderen, dann aber doch wieder ähnlichen Gründen verband ihn auch mit der seit den 60er Jahren in Frankreich vorherrschenden Theorie und Schule Jacques Lacans[2] so gut wie nichts. Wie Manfred Frank gezeigt hat, kann man einige Passagen aus Der Idiot der Familie als (implizite) Kritik an Lacanschen Konzepten lesen.[3]1969 veröffentlichte Sartre in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes den transkribierten Tonbandmitschnitt eines ›Psychoanalytischen Dialogs‹, der gegen den Willen des Analytikers aufgenommen worden war. In seinem begleitenden Kommentar – ›L’homme au magnétophone‹ (Der Mensch auf Band)[4] – legte Sartre die Gründe für die Veröffentlichung dar und erläuterte noch einmal, warum er gewisse Praktiken und gewisse Theorien gewisser Psychoanalytiker kritisierte. Soweit Sartres Ablehnung der Psychoanalyse. Hingegen hatte er bereits 1943 in seinem ersten philosophischen Hauptwerk L’Etre et le Néant (Das Sein und das Nichts) seine Vorstellungen von einer »existentiellen Psychoanalyse«[5] dargelegt, die er in der Folge an den Beispielen Charles Baudelaire (1944), Jean Genet (1952), Stéphane Mallarmé[6] und Gustave Flaubert (1971–72) auf vielen tausend Seiten konkretisierte und vertiefte. In dem umfangreichen Filmdrehbuch über Freud[7], das er ursprünglich für John Houston verfaßt hatte, wandte Sartre in gewissem Sinne seine psychoanalytischen Vorstellungen auf die Person Sigmund Freuds an. Von Ablehnung »der« Psychoanalyse also keine Spur. Im Gegenteil: das Projekt einer psychoanalytischen Theorie hat ihn bis in seine letzten Werke hinein intensivst beschäftigt.

Merkwürdige Reihung: der Psychoanalyse folgt eine bestimmte Theorie der Geschichte, der Marxismus, dieser wiederum folgt eine gegenstandsindifferente Methode: der Strukturalismus. Die Frage, ob Sartre den Marxismus entweder abgelehnt oder mißverstanden habe, ist so gar nicht zu beantworten, denn sein Verhältnis zum Marxismus hat sich laufend verändert. Vor dem Krieg hatte er weder theoretisches noch praktisches Interesse am Marxismus: Er unterstützte die Volksfront – mit Gefühlen. Er wählte noch nicht einmal. Eine verbindlichere politische Einstellung forderte ihm erst der Krieg ab. 1941 gründete er zusammen mit Freunden die Résistance-Gruppe Socialisme et liberté – Sozialismus und Freiheit. Der Name weist bereits in eine Richtung, die Sartres Einwände gegen die materialistische Theorie andeutet. Er formulierte seine Kritik öffentlich erstmals 1946 in seinem Essay ›Materialismus und Revolution‹. Politisch hielt er bis etwa 1950 (Ausbruch des Koreakrieges) an einer Position zwischen den Blöcken des anhebenden Kalten Krieges fest. Deshalb lehnten ihn die Marxisten ebenso ab wie die bürgerlichen Intellektuellen. Im Laufe der 50er Jahre näherte er sich der Kommunistischen Partei an. Dabei definierte er genau die praktischen und theoretischen Grundlagen seiner Zusammenarbeit. Da der Marxismus in Frankreich lange Zeit nur als Hausphilosophie der KP in Erscheinung trat[8], versuchte Sartre, ihn aus der Vormundschaft ideologischer und taktischer Interessen zu lösen und als ein unabhängiges Denken zu behandeln. 1960 nannte er in der Kritik der dialektischen Vernunft zwar den Marxismus »die unüberschreitbare Philosophie unserer Zeit«[9], aber mit diesem zweiten philosophischen Hauptwerk legte er eine Theorie vor, die die historische Dialektik erst mit den eigenen Prinzipien in Einklang bringen sollte. Natürlich wurde sie von den Parteimarxisten ebenso heftig abgelehnt, wie sie dem bürgerlichen Publikum Sartres kommunistischen Sündenfall belegte (gewiß auch im Zusammenhang mit seinem politischen Engagement – zu jener Zeit besonders im Algerienkrieg). Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die ČSSR und im Gefolge der 68er Revolten kündigte er endgültig eine von Anfang an brüchige und zunehmend sich verschlechternde Zusammenarbeit mit der PCF auf. 1973 bezeichnete er sich in einem Interview noch als »Marxianer«[10]. 1977 sagte er: »Ich bin kein Marxist mehr. Seit zwei oder drei Jahren.«[11]1871 hatte bereits Marx ausgerufen: »Moi, je ne suis pas marxiste!« 1983 kommt glücklicherweise Jacques Derrida daher und gibt dem Marxismus seine verlorene Einheit zurück, macht ihn zu einer stabilen Bezugsgröße. Das mag ihm leichtfallen, schließlich hat er sich mit dieser Geschichtstheorie noch nie auseinandergesetzt.[12]

Auch Sartres Verhältnis zum Strukturalismus wird man nur schwerlich in den Termini von »abgelehnt oder mißverstanden« klären können. Mit dem linguistisch oder literaturkritisch angewandten Strukturalismus hat er sich nie näher beschäftigt. Allerdings hat er in den 50er Jahren verschiedentlich und ausdrücklich auf die Bedeutung der Schriften von Claude Lévi-Strauss hingewiesen, der übrigens in Les Temps Modernes mehrere Texte veröffentlichte. In der Kritik der dialektischen Vernunft setzte Sartre sich ganz am Rande mit dem Strukturbegriff von Lévi-Strauss auseinander, den er als Beschreibung von Ordnungszuständen des Praktisch-Inerten begrüßt. Aber – so Sartres Einschränkung –: »Jede menschliche Schöpfung hat ihre passiven Bereiche: das bedeutet nicht, daß sie völlig determiniert ist.«[13] Lévi-Strauss hat anscheinend die gesamte Argumentation der Kritik der dialektischen Vernunft als eine gegen den Strukturalismus gerichtete Theorie aufgefaßt und Sartre deshalb in verschiedenen Texten[14] scharf angegriffen. Lévi-Strauss hat insofern recht, als die Kritik der dialektischen Vernunft implizit durchaus eine klare Kritik am Strukturalismus enthielt. Aber den Strukturalismus ereilten die in diesem Buch gegen ihn formulierten Zweifel gleichsam als Querschläger der Kritik an einer anderen naturalistischen Theorie: dem Marxismus. Sartre hat sich in verschiedenen Interviews gelegentlich noch kritisch zum Strukturparadigma geäußert.[15] Aber er hat nie auf Lévi-Strauss’ zum Teil heftige Polemik geantwortet, denn »Lévi-Strauss weiß nicht, was das ist, dialektisches Denken, […] und er kann es auch gar nicht wissen«[16]. Diesen Befund, soweit er Sartre betrifft, bestätigte kürzlich Alfred Schmidt in seiner Untersuchung der hartnäckigen Angriffe von Lévi-Strauss an Sartres Adresse: »Man wird nicht umhinkönnen, festzustellen, daß die im Wilden Denken gegen Sartre vorgetragenen Argumente ein Zerrbild seiner Philosophie entwerfen.«[17] Wir wollen hier darauf verzichten zu klären, wer nun wen mißverstanden hat. Bemerkenswert ist indes, daß Derrida selbst sowohl den anthropologischen Strukturalismus eines Lévi-Strauss wie auch die strukturalistische Literaturkritik vehement kritisiert hat. Gerade mit diesen Texten[18] hat er die Überschreitung des Strukturalismus in Richtung auf den Poststrukturalismus entscheidend vorbereitet.

Kommen wir nunmehr zur Betrachtung von Sartres verfehlten Beziehungen zur literarischen Avantgarde seiner Zeit. James Joyce: Mir sind keine systematischen Überlegungen Sartres zu dem irischen Schriftsteller bekannt. Er erwähnt ihn gelegentlich, zum Beispiel zweimal in Was ist Literatur? (S. 111 u. 176): von Ablehnung keine Spur – im Gegenteil begrüßt Sartre hier gewisse Joycesche Techniken.

»Sartre gehört zu denen, die am besten die Absichten des Autors von Das Theater und sein Doppel verstanden haben«, schreibt Jean Verdreil[19] in seiner Untersuchung über Sartres Verhältnis zu Brecht und Artaud, die sich im wesentlichen auf Sartres Vortrag ›Mythos und Realität des Theaters‹[20] aus dem Jahre 1966 bezieht. Meines Wissens handelt es sich dabei um die einzige Auseinandersetzung Sartres mit der Theaterkonzeption Artauds. Sartre entwickelt darin seine eigene Auffassung vom Theater in Abgrenzung von Brecht und Artaud. Indes: »Wenn Sartre sich Brecht und Artaud nähert, dann nicht als Theoretiker des Theaters, sondern weil er in ihnen Menschen geahnt und wiedererkannt hat, die dieselbe Suche wie er betreiben und die sich über den Schauspieler, die Kontingenz und die Unaufrichtigkeit befragten.«[21] Entweder verfügt Derrida über noch unveröffentlichte Quellen für seine Behauptung, oder aber er bezeugt einen geradezu gefährlich flachen Sinn für literarische Auseinandersetzung.

Das Verhältnis von Sartre und Georges Bataille hat kürzlich Traugott König untersucht, und zwar gerade im Hinblick auf den postmodernen Versuch, die beiden gegeneinander auszuspielen. Seine detaillierte Untersuchung zeigt die erstaunlich vielen Berührungspunkte, die es zwischen den beiden gegeben hat – trotz der pointierten Kritik, die Sartre 1943 in seinem Artikel über Bataille[22] geäußert hat. Diese nicht einmal sonderlich versteckte Konvergenz führt schließlich König zu der Frage, »ob sich die Paradigma- und Referenzsysteme des Existentialismus und des Strukturalismus zueinander nicht eher komplementär verhalten als einander widersprechend und ausschließend und ob die Attacken gegen das Sartresche Denken sich nicht eher gegen einen Popanz als gegen Sartre selbst richten«[23].

Bleibt Maurice Blanchot. Liest man Sartres Aufsatz ›Aminadab oder Das Phantastische als Sprache‹ aus dem Jahre 1943, der sich mit den beiden ersten Romanen Blanchots – Thomas l’obscur (1941) und Aminadab (1942) – beschäftigt, wird man nicht umhin können, in ihnen das Zeugnis einer sensiblen und aufmerksamen, wenngleich kritischen Auseinandersetzung mit Blanchot zu sehen. Sartre, der Blanchot einen »begabten Schriftsteller« nennt, vergleicht ihn sogar mit Kafka. Unabhängig von der differenzierten Kritik an Blanchot kann man bemerken, daß Sartres Text die erste ausführliche Würdigung dieses bis dahin weitgehend unbekannten Autors bedeutete, die überdies die Rehabilitation des politisch und journalistisch kollaborationsverdächtigen Blanchot wenigstens vorbereitete. Übrigens räumt Derrida selbst ein, daß er dank Sartre »Bataille, Blanchot und Ponge entdeckt« habe. Ja sogar: »Die Dinge haben sich geändert, als ich dank ihm [Sartre], aber vor allem gegen ihn Husserl, Heidegger, Blanchot gelesen habe.« (loc. cit.)

Blanchot wurde nach dem Krieg auch für einige Zeit Mitarbeiter der Temps Modernes. Ansonsten bezieht und stützt sich Sartre andernorts öfters auf die Essays Blanchots. Man findet wenig, was die angebliche Ablehnung Blanchots in Sartres Werk belegen könnte. Und wahrscheinlich würde auch Derrida staunen, läse er die alles in allem hochlobende und ausführliche Rezension der Romantrilogie Sartres aus der Feder von Maurice Blanchot.[24]

Derrida bringt in seinem Verdikt noch die Namen der beiden deutschen Philosophen Husserl und Heidegger unter. Man kann es sich hier recht einfach machen: Welche Bedeutung Husserl und Heidegger auch immer für Sartre gehabt haben mögen, über Husserl und Heidegger hat er gewiß nie »den unglaublichsten Unsinn wiederholt und verbreitet«, ganz einfach, weil Sartre sich nie über Husserl und Heidegger geäußert hat. Wie man weiß, hat Sartre sich früh mit dem Werk Edmund Husserls beschäftigt; davon zeugen besonders seine Schriften vor dem Krieg. Später haben dann einige Texte Heideggers die Ausarbeitung von Das Sein und das Nichts inspiriert. »Heidegger ist aus der Phänomenologie nicht hervor-, sondern durch sie hindurch gegangen.«[25] Diese treffende Formel Hans Blumenbergs kann man ohne Abstriche auf Sartres Verhältnis zu Heidegger und Husserl übertragen. Sartre ist nie als Schüler oder Erbe dieser Philosophen aufgetreten. Wie auch Heidegger jede Nähe zu Sartre energisch zurückwies. Und da Sartre keinerlei akademische Ambitionen hatte, sprach er über die philosophische Tradition fast niemals anders als nach den Erfordernissen seines eigenen Denkens.

In welche Richtung auch immer man Derridas Extempore untersuchen mag, es erweist sich in jedem Falle als eine Mischung aus skandalösen Behauptungen und peinlichem Ressentiment. Die ganze Anlage des Urteils läßt sich leicht als Pseudoargumentation durchschauen, und da, wo die Möglichkeiten der Überprüfbarkeit nicht restlos verschüttet wurden, ergeben nähere Erkundigungen eine geradezu groteske Ahnungslosigkeit. Oder ist am Ende nicht nur das Urteil, sondern auch die Ahnungslosigkeit gefälscht? Jedenfalls gibt es schon zu denken, daß Derrida im Nouvel Observateur – immerhin dem meistgelesenen Nachrichten- und Meinungsmagazin der linksliberalen französischen Intelligentsia – beachtliche Bildungslücken zu Protokoll gibt und damit wenigstens ein Stück seiner akademisch-universitären Reputation aufs Spiel setzt. Ich fürchte, in diesem Wagnis liegt sein Einsatz. 1983 erkundet Derrida: Wie tot ist Sartre? Er verbreitet einen Haufen Halb- und Unwahrheiten über ihn, verpackt in eine Argumentation, die jeder philosophischen Beschreibung spottet – aber: kein Protest rührt sich, nirgends erhebt sich eine auch nur dünne Gegenstimme, jeder doch leicht zu bewerkstelligende Versuch einer Richtigstellung unterbleibt. Nein, 1983 ist Jean-Paul Sartre so tot, daß man der französischen Öffentlichkeit jeden, aber auch jeden Schwachsinn über ihn verkaufen kann. Ja, »was für eine Gesellschaft! … kurz gesagt«.

Schön, Sartre ist anscheinend völlig erledigt. Nur, warum will Derrida das so genau wissen? Ich denke, er überprüft das Ausmaß der poststrukturalistischen Herrschaft. Die Antwort – das beschämte Schweigen – muß ihn fast erschrecken: welche Konformität zwischen der Gesellschaft und ihm!

Aber warum gerade Sartre? Tatsächlich hat Derrida den einzig richtigen Prüfstein gewählt. Keiner hat die französische Postmoderne länger hinausschieben und hinhalten können als gerade Sartre. Noch als halb erblindeter Greis scheint er einen Ton vorgegeben zu haben, den man – geheime Magie der Aura – nicht gänzlich preisgeben konnte. Und tatsächlich haben die Vertreter der Postmoderne ja jede systematische Auseinandersetzung zu seinen Lebzeiten sorgfältig vermieden. Dieses geradezu mit Händen greifbare Ressentiment gegen Sartre beruht gewiß nicht, wie wir gerade am Beispiel zeigen konnten, auf genau vermessenen Differenzen, von Werk zu Werk sozusagen. Es kann auch nicht daran liegen, daß alle Sartreschen Positionen im schieren und rohen Gegensatz zum Poststrukturalismus stünden. So hat Douglas Collins erst kürzlich am Beispiel des Genet-Buches einmal gezeigt, inwieweit Sartre schon 1952 Themen und Vorstellungen der sogenannten ästhetischen Avantgarde von heute vorweggenommen hat.[26] Dem ließe sich noch manch anderes Detail hinzufügen. Freilich, würde man die Konvergenzen noch so sehr zuspitzen, zuletzt bliebe immer noch ein klaffender Abgrund, dessen Tiefe die fundamentale Differenz des Sartreschen Unternehmens zum Projekt der Postmoderne ermessen läßt.

Im folgenden geht es um diese – übrigens ziemlich genau vermeßbare – Differenz. Es hätte keinen Sinn, Sartres Position vorab auf einen harten konzeptuellen Kern zu bringen. Wahrscheinlich gibt es diesen Kern auch gar nicht, und Sartres Denken eignet sich viel besser für eine Erzählung, auf die er ja selbst oft genug ›ausgewichen‹ ist, als für ein theoretisches Traktat. Aber die Begründung dafür fällt zusammen mit dem, was wir zu ›erzählen‹ haben werden.

Sartres Frage, seine immer wieder und bis zum Schluß gestellte Frage lautet: Wie kann ich mich in der Geschichte hervorbringen? Die Frage ist zugegebenermaßen nicht ganz neu. Aber wir werden sehen, daß die mit Kant und besonders Hegel definierte Problematik der Moderne, nämlich der Ausgang von einem auf sich gestellten Subjekt, von Sartre radikalisiert und in einer Weise behandelt wird, die – soweit ich sehe – einzigartig ist.

Sartre stellt vor die Frage und ihre möglichen Antworten die Fragemöglichkeit selbst. Nicht nur, daß jemand (sich) diese Frage stellen muß, Sartre interpretiert die Fragemöglichkeit auch als Schicksal des Fragenden: Er kann sich aus der grundlegenden Struktur des Fragenkönnens nicht entlassen, und bei keiner Antwort kann er sich beruhigen. Es kann keine absoluten, konzeptuell oder praktisch universalisierbaren Antworten geben. Es gibt nur individuell absolute Antworten: die immer auch ein Stück weit ›wahnsinnige‹ Hervorbringung unseres Lebens. Und wenn wir uns hier auf Sartres Spuren begeben, dann auch, um die kostbare und zuletzt schöne Geste seiner Suche nachzuzeichnen. Es fasziniert nicht allein seine theoretische Vergewisserungsarbeit, sondern auch der (lebens)praktische Prozeß seines Gedankenganges.

Seine Phänomenologie der geschichtlichen und existentiellen Offenheit bringt Sartre in eine konsequent durchgehaltene Frontstellung zur philosophischen und wissenschaftlichen Tradition der Neuzeit. Indem diese Tradition (und ihre künftigen Erben) auf Antworten lauern, in denen das Fragenkönnen überwunden wird, in denen die Sünde der Kontingenz hinweggenommen werden soll, bringen sie den Fragenden um seine Offenheit, die Sartre im Gegensatz zu dieser Tradition als – wenngleich immer problematische – Chance begreift.

René Descartes hat das neuzeitliche Denken zwar gewiß nicht erfunden, aber er hat die radikalste und luzideste Definition des neuzeitlichen Willens zum Wissen aufgestellt. Diese bis an die Schwelle unserer Gegenwart gültige säkulare Metaphysik des Wissens besagt, daß das Sollen, die Offenheit, die der Mensch ist, auf ein erkennbares Sein zurückgeführt werden kann, soll und muß. In der Abhandlung von der Methode (1637) zeigt er auch gleich, was der Mensch ohne Rückhalt im Sein wäre: ein Zweifelnder und bald Verzweifelnder. Anschaulich schildert er, wie ihn 1619 das plötzliche und bald beherrschende Auftauchen der Frage nach sicherer und gewisser Erkenntnis übermannt habe, wie er gegen ihre Kontingenz, gegen ihre vorläufige Unbeantwortbarkeit ein Mäuerchen lebenspraktischer Notwendigkeit hochzieht, kurz, wie er sich in der Frage einrichtet und sich mit ihrer Offenheit arrangiert.[27] Spätestens aber in den Prinzipien der Philosophie (1644) erfahren wir, daß diese Offenheit nur als ein vorläufiges Stadium anzusehen sei, einem beschwerlichen Weg gleich, den man bei Ankunft am besten vergißt. So heißt es etwa im ›Schreiben an Picot‹: »Die gesamte Philosophie ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzeln die Metaphysik, dessen Stamm die Physik, und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen, nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik. Unter Ethik verstehe ich dabei die höchste und vollkommenste Sittenlehre, die, indem sie die gesamte Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt, die letzte und höchste Stufe der Weisheit bildet.

So wie man nun weder von den Wurzeln noch vom Stamm der Bäume die Früchte pflückt, sondern nur von ihren Zweigen, so hängt auch der hauptsächliche Nutzen der Philosophie von denjenigen ihrer Teile ab, die man erst zu allerletzt lernen kann.«[28]

Mit anderen Worten: wenn wir gelernt haben, wie man das Sein liest, und wenn wir es schließlich gelesen haben, dann müssen wir uns nur noch als seinen Fall betrachten, dann brauchen wir nicht mehr den vergifteten Apfel des Fragens zu essen. Dann können wir endlich das Sollen, unser Zuviel, unser leeres Hinausstehen auf ein Sein zurückführen. Damit hat Descartes seiner – modernen – Nachwelt ein wahrhaft unerschütterliches Modell mit auf den Weg gegeben. Sein englischer Geistesverwandter Thomas Hobbes spricht fast gleichzeitig, wenn auch aus anderen Gründen, von der »Maschine Mensch«. Und bis heute folgen die Naturwissenschaften diesem überlieferten Schema, falls sie sich außerhalb der bloßen Herstellung von Technik überhaupt noch zu einem Erkenntnisinteresse bekennen. Und die sogenannten Humanwissenschaften haben dieses Modell, gerade weil sie sich ausdrücklich als Wissenschaften verstanden, später unbesehen übernommen.

Sartres Kritik am anthropologischen Szientismus, der sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer anthropofugal verdeutlicht, zielt genau auf dieses methodische Vergessen des Ereignisses ›Frage‹, d.h. einer Kontingenz, die es mit sich selbst zu tun bekommt. Descartes – gewiß nicht ohne (christliche) Vorbilder‹[29] – entwarf das neuzeitliche Grundmuster dieses Vergessens. Zumindest hat man ihn mit gutem Recht zum Vater dieser Tradition gewählt. Eine Erleuchtung hat in ihm stattgefunden. Gott sei Dank wußte er, daß er nur als Platzhalter erwählt war. Einen Moment lang als Einzelner privilegiert, aber auch gequält, erstattet er umgehend dem Allgemeinen seine Schulden.

Man wird sagen, ich übertreibe. Nein, ich raffe nur. Ich zitiere Claude Lévi-Strauss als prominenten Zeugen. Er bringt das gegenwärtige, wenn auch nicht ganz neue Theorieparadigma der Humanwissenschaften auf den ›metaphysischen‹ Punkt: er sieht seine eigene strukturale Anthropologie nur als Wegbereiter für Größeres – nämlich: »die Kultur in die Natur und schließlich das Leben in die Gesamtheit seiner physikochemischen Bedingungen zu reintegrieren«[30].

Aber wir müssen Lévi-Strauss auch dankbar sein: Er zieht der humanwissenschaftlichen Praxis den bigotten Schleier vom Gesicht: »Die Wissenschaften vom Menschen lösen den Menschen als separate Realität unweigerlich auf.«[31] Und jetzt gilt es, Ernst zu machen mit dem großen reduktionistischen Projekt, aufzuräumen also mit jenem »unerträglich verwöhten Kind, das allzu lange die philosophische Szene beherrscht und jede ernsthafte Arbeit dadurch verhindert hat, daß es eine ausschließliche Aufmerksamkeit beanspruchte«[32]. Man wüßte natürlich gerne, wo eigentlich diese überdimensionierte und, wie allerorten zu lesen ist, aufgeblasene Subjektphilosophie zu finden ist? Wo treibt sie eigentlich ihr rastloses Unwesen? Und von welchem Subjekt ist da die Rede? Ich sehe in den letzten einhundertfünfzig Jahren Philosophiegeschichte vor allem ein nicht enden wollendes Beerdigen jeder Philosophie des Individuums.[33]

Ja, und was ist denn aus der so »ernsthaften Arbeit« der Reduktionisten geworden, für die man zweifelsohne sehr viel mehr Zeugen und Täter anführen könnte? Hat man je einen wahrhaft ›reduzierten‹ Menschen gesehen? Haben wir von diesem harten Denken je die geringste Aufklärung über uns, über die läppischste unserer Taten erhalten? Ich sehe nur Leichen im Keller, an deren bleichen Zehen vollgeschriebene Blätter mit grotesken Diagnosen hängen. Nein, man braucht sich nicht zu sorgen – das ›harte‹ Denken ist so weit als möglich von den eigenen Ansprüchen entfernt: eine umzäunte Spielwiese, wo der Biologe den Psychologen, der Soziologe den Physiker und jener den Ästheten ›rekonstruiert‹. Wunderliche Kauze, indes – ihre Geste bleibt nicht ohne Wirkung. Aber wenn Lévi-Strauss und die Seinen schon nicht auf ein hartes Ergebnis des harten Denkens verweisen können, woher nehmen sie denn eigentlich das Zutrauen zu ihrem reduktionistischen Abenteuer? Kann man uns wenigstens eiserne Gründe für das eisige Programm nennen? Für Lévi-Strauss kann sein Programm ja wohl nur den physikochemischen Impulsen entspringen, auf die es zielt: die moderne Selbsterkenntnis – keiner fragt.

Aber der Antihumanismus beschränkt sich nicht allein auf die Humanwissenschaften, die französische Literatur hat dieses Leitmotiv bestens vorbereitet. Spätestens seit J.A. Rimbauds »Ich ist ein anderer« durchzieht eine Poetik des Schweigens als roter Faden die literarische Avantgarde Frankreichs. Mallarmé arbeitet intensiv am Tod des Autors, der Surrealismus situiert die »wahre Existenz« jenseits der konkreten Kommunikationen. Von Lautréamont über Jarry, Bataille, Ponge, Blanchot bis zu Marguerite Duras, vom nouveau roman bis zur Gruppe Oulipo wird diese Grundvorstellung variiert: Der Mensch wird von der Sprache gesprochen und die Welt von ihr ver-zeichnet. Ob das Unsagbare eine neue Heimat werden kann oder ob es sich in den Negationen und der Abkehr vom Gerede erschöpft, bleibt dabei zumeist unentschieden. Wir brauchen diese Frage hier auch nicht zu diskutieren. Entscheidend ist: die Literatur hat auf ihre Weise längst auch den Verdacht gegen den Menschen und die Sprache formuliert. Bis heute definiert das Bekenntnis zu diesem Verdacht die literarische Avantgarde Frankreichs. Und hier finden sich auch die Motive von Sartres kritischer Literaturbetrachtung und das Kardinalproblem seiner Schriftstellerbiographien.

Jacques Derrida hätte nur die natur- und humanwissenschaftliche und die implizit negative literarische Anthropologie zu nennen brauchen, um das ganze Spektrum von Sartres Kritik – weit über die von ihm genannten Namen hinaus – zu umfassen; denn darin liegt das geheime Band aller Theorien und Namen, die Derrida aufzählt: Sartres Einwände gegen einen bestimmten Marxismus, gegen eine bestimmte Psychoanalyse und gegen den Strukturalismus als Theorien der Verdinglichung von Mensch und Sprache zielen auf den jeweiligen impliziten oder expliziten Reduktionismus dieser Theorien. Und für die Autoren, die Derrida anführt, gilt – wenigstens soweit Sartre sich mit ihnen überhaupt auseinandergesetzt hat – dasselbe, gewiß für Blanchot und Bataille. Nirgends spielt das konkrete Individuum eine nennenswerte Rolle. Es bleibt – trotz seines kurzen zitternden Auftauchens – Moment einer dinglichen Struktur, ökonomischer Gesetze, anthropologischer Konstanten oder mechanischer psychischer Abläufe. Es ertrinkt in den Gründen, die es nicht begründet hat: biologische, historische, soziale, linguistische usw. Die neuzeitlichen Humanwissenschaften haben ihren Verzicht auf Transzendenz durch Transzendentalien kompensiert, die seitdem zu theoretischen Schleuderpreisen auf den Markt geworfen werden.

Aber warum wirft Derrida sich zu unserem großen Erstaunen zum Beschützer einer ganzen Reihe von Theorien auf, die er selbst vehement kritisiert hat? Wenn er sie gegen Sartres Miß- und Unverständnis zu schützen vorgibt, dann weil der Kern der Sartreschen Kritik ihm bedrohlicher erscheint als das, was er selbst an Marxismus, Psychoanalyse und Strukturalismus ablehnt. Kurz, wenn er die genannten Theorien gegen Sartre verteidigt, dann weil er insgeheim an der – oben grob skizzierten – Metaphysik des Wissens, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, festhält. Nur so kann man verstehen, daß er Sartres Kritik an »der Psychoanalyse, dem Marxismus, dem Strukturalismus« wie eine Kritik an sich selbst und den Seinen versteht. Und er hat recht.

Derrida und die Poststrukturalisten haben die Probleme und Aporien des szientistischen Reduktionismus erkannt; sie haben ihn deshalb ermordet, um wenigstens seine verheißungsvolle Geste zu erhalten.[34]Und die lange und ruhmreiche Tradition des theoretischen Antihumanismus hat so noch einmal eine kleine Zukunft bekommen.

Die hoffnungslos überfüllten Gefängnisse der Anthropologie haben die Poststrukturalisten auf den Plan gerufen. Lange genug hatte man das Individuum auf den allgemeinen Menschen reduziert, und lange genug konkurrierten die verschiedenen Diziplinen um das begründende Sein des Menschen. Wir haben hier nicht zu untersuchen, warum diese traditionsreiche Metaphysik des Wissens mit einem Male so brüchig geworden ist, daß die Poststrukturalisten – ihrerseits gewiß nicht ohne Vorlagen – die Bühne im Handstreich erobern konnten. Dies ist seit Ende der 60er Jahre in Frankreich wie anderswo in den hochindustrialisierten Ländern der Fall. Das in hohem Maße paradoxe Antidenken der Postmoderne praktiziert eine schlichte Umkehrung der humanwissenschaftlichen Theorien: Das Individuum – wie wir vorläufig jene in Sartres Augen nicht verdinglichbare und irreduzible Instanz nennen wollen – wird nicht mehr einfach auf substanzielle oder verdinglichte Gründe zurückgeführt, sondern entführt in eine rauschende Grundlosigkeit. Nicht mehr um eine dingliche Mitte bildet sich das illusionäre Fleisch des Menschen, sondern der Einzelne ist von Anfang an von den Stürmen der Kontingenz verwirbelt. Er mag sich an seine substanzielle Erscheinung klammern, aber sie ist nur Echo seines Aufschreis und unwirkliche Spiegelung seiner Verwirbelung. Damit geht das postmoderne Denken nur einen – allerdings das »Theoriedesign« erheblich verändernden – Schritt über die religiöse und säkularisierte Metaphysik hinaus: Es beraubt ihn einer bis dahin vorstellbaren, wenn auch steinernen Mitte; die Konstitutionsmaschinen der Welt und des Bewußtseins entgehen der Reflexion und damit aller Beherrschbarkeit. Es überbietet damit noch den alten universalistischen Erklärungsanspruch, wenn auch mit negativen Vorzeichen versehen. Wo einst ein unverbrüchliches ›Ist‹ herrschte, regiert jetzt ein ›Nicht‹, das noch seine eigenen Gründe zersetzt. Im Verzicht, nein, in der Totsagung des Individuums hält es an der totalitären Linie aller Metaphysik fest. In diesem Sinne bedeutet auch die Konfrontation Sartres mit der Postmoderne keinen Sprung in der Zeit, keine Verwechselung des Späteren mit dem Früheren: denn die Postmoderne ist ja nur eine launische und gefällige Fortsetzung einer, nämlich der vorherrschenden, modernen Antwort auf das Problem des Individuums. Derrida hat diese Kontinuität unfreiwillig zwar, aber gewiß zutreffend neuerlich ausgedrückt.[35]

Der Psychoanalytiker Jacques Lacan sieht das Subjekt als von der Sprache durchgestrichene (und deshalb $ geschriebene) Instanz. Für den politisch ambitionierten Philosophen Jean-François Lyotard sind »Ich« und »Wir« von Diskursarten gesetzte Größen: »Die Diskursarten sind Strategien. Von niemandem.«[36] Der Sozialhistoriker Michel Foucault hält das Konzept »Mensch« für den Lapsus einer zufällig angeflogenen Formation des Wissens, die, so wie sie einst als unvordenklich entstandenes Arrangement einer Ordnung, als im Sturm der Zeiten verdickte und dann zum Distributionsherd des Denkens geronnene Fügung aufgetaucht ist, auch bald in der Nacht neuer Fügungen wieder verschwinden wird. Für Foucault eröffnet sich in der Hoffnung auf das Verschwinden des Menschen eine verheißungsvolle Morgenröte. Dafür gibt es bereits einige Anzeichen. Lösung kommt in Sicht: Auflösung.[37]

Jacques Derrida bietet eine sprach- und bewußtseinsphilosophische Variante des psychoanalytischen Poststrukturalismus: Die kontingente Materialität der Sprache schiebt sich zwischen jedes »authentische« Selbst- und Weltbewußtsein. Im logozentrischen und phonozentrischen Sprechen verbirgt die Sprache uns bloß, daß sie uns eigentlich spricht.[38]

Es scheint unnötig, die stark variierenden und konkurrierenden Argumentationen hier im einzelnen darzustellen. In einem Punkt stimmen alle neostrukturalistischen Argumentationen überein: Es geht ihnen um eine negativ-metaphysische Überbietung des klassischen metaphysischen und humanistischen Denkens. Bisher hat das Individuum versucht, durch die Rekonstruktion übergeordneter Ordnungen sich in das Haus des Seins einzuschleichen, um das höhere Allgemeine zu werden, um sich zu vergessen. Vergeblich, wie wir wissen. Der Poststrukturalismus sucht jetzt die Erlösung des Individuums durch seine ursprüngliche Auflösung zu betreiben. Von Anfang an ist es von kontingenter Allgemeinheit überschwemmt und hat nicht die geringste Chance, sie zu objektivieren, da es bereits bis ins Mark von ihr gesprochen und bestimmt ist. Was die Postmodernen zu bloßen Variateuren der Moderne macht, ist nicht ihre Kritik an der Substanzialität oder Wesenhaftigkeit des Subjekts – Sartre sprach schon 1943 (in Das Sein und das Nichts) vom Menschen als »einer nutzlosen Leidenschaft«, als einer »gemeinen Marmelade« –, sondern vielmehr die Aufwertung dieser Kritik zur Lösung, zum neuen A-logos. Wie sollte man aber das hingezeugte Plankton kontingenter Formationen sein, sein können? Es ist wohl etwas komplizierter: wir können nicht einmal beliebig sein, wir können uns sowenig vergessen wie begründen. Bei Sartre dimensioniert die Kritik an der humanistischen Metaphysik und ihren gefälligen Tröstungen allenfalls das Problem, und wir versuchen nachzuzeichnen, was er mit diesem Problem macht.

Wir wollen im folgenden zeigen, wie Sartre gegen die Hypotheken der Tradition und gegen das diese Tradition spektakulär verlängernde Denken der Gegenwart Konzepte sucht, die dem konkreten Individuum in einer konkreten Welt und seinen konkreten Problemen angemessener sind. Das reicht zunächst hin, um seine Aktualität zu begründen. Aber man würde Sartres Verständnis vom Individuum[39] kaum gerecht werden, würde man die Geschichte der Entwicklung jenes Konzepts in Sartres Werk gleichsam in ›logischen‹ Etappen portionieren. Es gehört zu diesem Konzept, daß das Individuum immer in konkreten Umständen auftaucht und sich innerhalb dieser Umstände zu erfassen sucht. Die Theorie des Individuums bildet da keine Ausnahme. Eine solche (hier: ausschnitthafte) Werkbiographie soll zweierlei Ausblicke bieten: Erstens scheint uns Sartres Frage nach dem Individuum einen Leitfaden durch sein Werk darzustellen, eine Art Zentrum, das die verwirrende Vielfalt seiner verschiedenen schriftstellerischen und politischen Aktivitäten organisiert und lenkt. Zweitens scheint uns Sartres Lebenslauf eine faszinierende ›Illustration‹ seiner eigenen These zu sein, daß nämlich das Individuum dasjenige Wesen ist, das seine Bedingungen immer überschreitet – in Richtung auf seine Einzelheit.

Anhand der 1983 postum veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit der drôle de guerre1939/40[40] kann man heute jenen Prozeß ziemlich genau nachvollziehen, in dessen Verlauf Sartre Ende 1939 diejenigen Fragen zu stellen lernt, die zur Grundlage seines weiteren Lebens und Werkes werden und die ihn in Kollision mit dem skizzierten herrschenden Denken geraten lassen. Der Krieg, die konkrete Gewalt der Geschichte, die er zu seiner Geschichte, zu seiner Gewalt zu machen sucht, bieten den Anlaß zu einem außergewöhnlich intensiven Prozeß der Selbstverständigung. Er findet in der schwebend-transitorischen Situation der drôle de guerre ein treffliches Korrelat. Sartre stellt hier zum ersten Male (und ohne jeden akademischen Vorwand) die Frage nach seinem konkreten Gewicht in der Geschichte. Von dieser Ausgangsproblematik bleiben alle literarischen und philosophischen, alle seine theoretischen und praktischen Aktivitäten bis hinter das letzte Komma und bis an sein Lebensende 1980 bestimmt – auch da, wo eine gewisse Theorieentwicklung den persönlichen Ausgangspunkt unkenntlicher macht.

Natürlich bestimmt Sartre sich 1939 weder mit einem Male als Individuum oder Theoretiker des Individuums, noch löscht er dadurch seine frühere Existenz. Aber uns interessiert allein, was er in einer konkreten Situation aus dem mitgebrachten Gepäck seines Lebens, den psychischen ›Prägungen‹, den sozialen Bedingungen, den intellektuellen Einflüssen macht, in welche Richtung er sie führt, das heißt: über sie hinausgeht. Wir werden versuchen, jenen Anfang zu beschreiben und sodann die theoretischen, literarischen und ›praktischen‹ Folgen bis zum Anfang der 50er Jahre verfolgen, das heißt, bis zur Veröffentlichung von Saint Genet, Komödiant und Märtyrer1952, bis zur ersten Beschäftigung mit der autobiographischen Prosa Die Wörter1953/54 und bis zur Annäherung an die Kommunistische Partei Frankreichs, wovon zunächst seine Mitarbeit an dem Dossier-Buch Wider das Unrecht. Die Affäre Henri Martin und dann später seine Artikelserie ›Die Kommunisten und der Frieden‹ (1952–1954) zeugen. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Sartre den Radius um die Mitte seiner Fragen ausgemessen, durchschritten – durchschrieben, wenn man so will. In diesem Kreis hält er sich fortan auf. Die Texte und Aktivitäten nach 1953 lassen sich – zumindest bis 1968 – ohne weiteres als Konsequenzen und Konkretionen jenes aufregenden Prozesses von 1939 bis 1952 auffassen. Sartres Versuche, nach 1968 »das Feld des Möglichen« noch einmal neu abzustecken, habe ich in einer anderen Arbeit grob skizziert.[41]

I.Kapitel »Man muß aus Lehm sein, und ich bin aus Wind«

1. »Noch nie in meinem Leben habe ich so viel geschrieben« Jean-Paul Sartre und der ›seltsame Krieg‹

Am 31. August 1939 beruhigt Sartre seine Freundin Louise Védrine: »Hab Vertrauen. Hitler kann unmöglich einen Krieg anzetteln bei der Einstellung der deutschen Bevölkerung. Das ist Bluff. Man geht vielleicht bis zur allgemeinen Mobilmachung, aber jetzt ist der richtige Moment, Dich an den Satz zu erinnern – der zu seiner Zeit übrigens unglücklich war: Mobilisierung heißt nicht Krieg.«[42] Zwei Tage später findet er sich im Zug nach Nancy wieder, unterwegs zu seiner Einheit, inmitten vollkommen unbekannter Kameraden, die das gleiche Schicksal mit ihm teilen: mobilisiert. Und am 3. September erklärt Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Am 31. August an Louise: »Das ist keineswegs ein neues Leben, das für uns drei [Simone de Beauvoir, Louise und Sartre] beginnt, sondern zwei Monate Ärger. Du wirst sehen, wir werden dieses Jahr in Paris unser Leben haben, und wir werden Ski fahren gehen in das schöne Chalet am Mont d’Arbois.« (S. 283) Am 4. September an Simone de Beauvoir: »Tatsache ist aber, daß ich mich, seit ich weg bin, allem versperre, was mein früheres Leben ausmachte – ach, selbst dem Schreiben –, außer Ihnen.« (S. 291) So wird er es noch viele Male wiederholen, aber der Schreck vor dem nackten Riß weicht zunehmend der Zuversicht: »Hören Sie, ich bin ein bißchen losgelöst von meinem ganzen vergangenen Leben, ich ziehe jetzt auch in Betracht, daß der Krieg lange sein kann (was nicht heißen soll, daß es so sein wird) und daß ich eine veränderte Welt vorfinden werde, vielleicht mit anderen Werten und anderen Leuten […]. Ich verschließe mich also jeden Tag ein bißchen mehr, leider sogar vor meinen armen kleinen Büchern. Diejenigen, die ich geschrieben habe, habe ich vergessen, und die anderen will ich immer noch mit der selben Hartnäckigkeit schreiben – in diesem Punkt bin ich beruhigt, das ist meine Natur –, aber wer weiß, wann sie veröffentlicht werden.« (An S. de Beauvoir. Briefe I, S. 342, 2. Oktober 39)

Sehr viel später wird er diesen Riß in seiner Existenz auf eine präzise Formel bringen: »Feststeht, daß ich mir ab 1939 nicht mehr gehörte.«[43] Und in einem anderen Interview, das ebenfalls Mitte der 70er Jahre entstanden ist, bestätigt er: »Der Krieg hat mein Leben regelrecht in zwei Teile geteilt. Er brach aus, als ich vierunddreißig Jahre alt war, und endete, als ich vierzig war – das war für mich die Zeit des Übergangs von der Jugend zur Reife. Zugleich zeigte mir der Krieg gewisse Aspekte meiner selbst und der Welt. […] Dort bin ich also, wenn Sie so wollen, vom Individualismus und vom reinen Individuum der Vorkriegszeit zum Sozialen, zum Sozialismus gelangt. Das war der eigentliche Wendepunkt in meinem Leben: vor dem Krieg, nach dem Krieg.«[44] Die Briefe und die Tagebücher Sartres aus dieser Zeit, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden, übersetzen diese Erinnerung in konkrete Erfahrung und geben ihr ihren prozessualen Reichtum zurück. Sartre neigte später dazu, den plötzlichen Einbruch der Geschichte und der undurchdringlichen Kollektivität des Sozialen für jene Wende in seinem Leben verantwortlich zu machen. Aber niemand – und wer hätte das besser beschrieben als gerade Sartre – wird von einer Erfahrung ergriffen, an die Wand geschleudert und sodann als Gewandelter in den Fluß des Lebens zurückgeworfen. Schließlich läßt Sartre zu, daß die Geschichte über ihn hereinbricht. Es hat soundso viele andere gegeben, für die ganze Angelegenheit tatsächlich nur eine Art verfluchter Belästigung war, ein Abenteuer oder eine Demütigung. Gerade diesen Prozeß des Zulassens dokumentieren die Tagebücher, und darüber reflektiert ihr Autor in ihnen: Wo hört die kalte und stupide Allgemeinheit der Geschichte auf? Wo fängt meine Geschichte an?

In dem postum veröffentlichten Romanfragment ›Mathieus Tagebuch‹ benutzt Sartre einen merkwürdigen Ausdruck, um seine Situation zu kennzeichnen: »Ich weiß, um ein Tagebuch führen zu können, darf man nichts tun, also nichts zu sagen haben; und ich bin in die Jahre gekommen, ohne je von mir zu schreiben. Aber dieser Fall ist ein bißchen anders: wir tun zwar nichts, aber wir sind die passiven Subjekte einer Metamorphose.«[45] Die passiven Subjekte einer Metamorphose, das heißt die Hingabe an ein offenes Feld unklarer und unbekannter Bedeutungen. Aber wenn Sartre sich dem Strudel seines von außen ergriffenen Lebens, seinem unüberschaubaren Sinn öffnet, dann hat er, ohne es ausdrücklich zu wissen, eine beunruhigende Zukunft gesucht. Nur so können wir verstehen, wieso er in relativer Gelassenheit innerhalb weniger Tage vom Skifahren in der alten Welt auf die gefährliche Schiffahrt in einer neuen Welt umschalten kann. »Mir scheint, ich bin auf dem Weg, wie die Biographen um die Seite 150 ihres Buches sagen, ›mich zu finden‹. Ich möchte damit nur sagen, daß ich nicht mehr unter Berücksichtigung gewisser Vorschriften denke (die Linke, Husserl) usw., sondern mit totaler Freiheit und Ungebundenheit, aus Neugier und reiner Uneigennützigkeit, indem ich von vorneherein bereit bin, mich als Faschist wiederzufinden, wenn das am Ende von richtigen Überlegungen steht (aber haben Sie keine Angst, ich glaube nicht, daß damit zu rechnen ist).« (An S. de Beauvoir. Briefe II, S. 22, 6. Jan. 40)

Der Krieg reißt Sartre aus einer kurzen, aber brillanten Karriere. Der Vierunddreißigjährige, der sein Brot als Gymnasiallehrer verdient, hat bereits ein beachtetes und vielfältiges Werk vorgelegt. Es dürfte schwerfallen, es einfach hinter sich zu lassen. Der Roman Der Ekel (La Nausée, 1938) machte seinen Namen mit einem Schlag bekannt. Die Erzählungen des Bandes Die Wand (Le Mur, 1939), die zum Teil vorher in der seinerzeit bedeutendsten literarischen Zeitschrift Frankreichs, in der Nouvelle Revue Française, zu lesen waren, vertieften beim literarischen Publikum den Eindruck, es hier mit einem der kommenden Schriftsteller zu tun zu haben. Auch als Philosoph hatte Sartre schon seine Gesellenstücke abgeliefert. Sein Aufsatz ›Die Transzendenz des Ego‹ (›La Transcendance de l’Ego‹) wurde in den von Jean Wahl herausgegebenen Recherches philosophiques (No. 6, 1936/37) gedruckt. 1936 erschien das Buch Die Imagination (L’Imagination), dessen zweiter und umfangreicherer Teil 1940 unter dem Titel Das Imaginäre (L’Imaginaire) folgt. Noch im Dezember 1939 erschien die ›Skizze einer Theorie der Emotionen‹ (Esquisse d’une théorie des émotions) als eigenständige Buchpublikation. In mehreren literaturkritischen Aufsätzen, die zumeist in der Nouvelle Revue Française erschienen, postulierte und analysierte Sartre den Zusammenhang von Literatur und Philosophie. In Auseinandersetzung etwa mit der neuesten amerikanischen Literatur, besonders: Faulkner, Dos Passos, Nabokow, untersuchte er die impliziten Beziehungen von Romantechnik und Metaphysik. In seiner aufsehenerregenden und scharfen Kritik an François Mauriac (1939), dem er die Haltung des allwissenden Erzählers vorwarf, formulierte Sartre seine eigenen Forderungen an den Roman.

Übrigens wird sich Sartre nie von diesen Texten lossagen; auch wenn sie ihm im Moment der drôle de guerre manchmal wie eine Last vorkommen mögen, die ihn an seine Vergangenheit fesselt. Im fahlen und schattenlosen Licht einer umbrechenden Geschichte verlieren sie in seinen Augen vorübergehend ihre Konturen. Ihnen fehlt, die konkrete Geschichte bewältigen zu können.

Die konkrete Geschichte? »Ich habe es [in den Krieg ziehen zu müssen] nicht gewählt, aber ich mußte in irgendeiner Weise reagieren. Jeder hat gewählt – von dem Moment an, in dem er den Fuß in den Zug gesetzt hat –, wie er diesen Krieg erleben würde.«[46] Sartre nutzt den auferlegten Bruch zu einem scharfen, schönen Schnitt. Der Krieg, der ihn überrascht, erlaubt ihm, das träge Arrangement, das er – und mit ihm die französische Gesellschaft – lebt, zu kündigen. Nicht verwunderlich deshalb die Einsicht, »daß es sich im Krieg viel leichter anständig und authentisch leben läßt als im Frieden«. (Tagebücher S. 287, 16. Febr. 40.) Die alten, ungeliebten Kommoditäten der Skepsis liegen hinter ihm, aber die neue Entschlossenheit stößt bald auf Watte. Der Krieg dümpelt in Wartehaltung vor sich hin. Erst am 14. Mai werden deutsche Truppen die französische Grenze überschreiten. Mehr als acht Monate lang schweigen die Waffen. Übrig bleibt die Gespanntheit: Jeden Moment kann es losgehen. Aber nichts geschieht. Der Sog der Tat verrauscht schon fast im gleichen Moment, da die Tat sich zum ersten Male im Leben dieses Schriftstellers schier unabweisbar aufdrängt. Umgeben vom Aufschub jener Katastrophe, die die Welt in Brand setzt, fragt sich Sartre nach der menschlichen Aktivität. »Nie in meinem Leben habe ich soviel geschrieben«, teilt er am 20. September S. de Beauvoir mit. (Briefe I, S. 320) Und tatsächlich bindet ihn die Krise noch stärker an das einzige Handwerk, das er beherrscht und liebt: »Ich bin an meinen Wunsch zu schreiben gefesselt«, notiert er in sein Tagebuch (22. Nov. 39, S. 46).

Sartre schreibt den ganzen Tag – acht, zehn, zwölf oder mehr Stunden. Wenn er nicht schreibt, liest er, und dann und wann muß er auch noch seinen soldatischen Pflichten nachkommen, das heißt, er läßt bei gutem Wetter rote Ballons in den Himmel steigen, verfolgt sie mit gewissen Instrumenten und zieht dann aus diesen Beobachtungen meteorologische Schlüsse. Das ist alles. Aber dieses rhythmisierte Einerlei bestimmt sein Leben, sein Lebensgefühl: eine Kruste. Die Kriegsmaschine hat ihn von außen ergriffen, ihn an seinen Platz gesetzt, und da vollführt er jetzt dieses langsame, aber auch bedrohte Kreisen, das die drôle de guerre insgesamt kennzeichnet: »Und tatsächlich, dieses Warten, das nicht einmal ein Warten auf etwas ist, da viele meinen, daß die Deutschen nicht angreifen werden, hat seine Wirkung nicht verfehlt: die Etappe interessiert sich nicht für uns, wir selbst denken kaum mit offensiven Absichten an die Deutschen.« (Tagebücher S. 325, 20. Febr. 40) Die Gegenwart des Wartens ist von einer uneinsehbaren Zukunft geprägt. Wie immer sie ausfällt, jedenfalls wird sie angeordnet sein: Entweder ertönt eines Tages eine Stimme, die sagt: Geht nach Hause, packt eure Sachen. Es war alles nur ein Mißverständnis. Oder aber sie wird sich in Blitz und Donner hüllen, und dann müssen die Wartenden losrennen, siegen oder untergehen. Vielleicht beides.

Vom 2. September 1939 bis in den Juni 1940