Sich wandeln und sich neu entdecken - Verena Kast - E-Book

Sich wandeln und sich neu entdecken E-Book

Verena Kast

0,0

Beschreibung

Leben heißt wachsen und sich entwickeln. Gerade in Krisen oder in Lebensübergängen wird uns das oft schmerzhaft bewusst. Doch diese Zeiten können Chancen sein und eröffnen ungeahnte Möglichkeiten der Entwicklung und inneren Reifung. Verena Kast zeigt auf, wie wir uns in Zeiten des Umbruchs wandeln und immer wieder neu entdecken können. Mit einem neuen Vorwort von Verena Kast.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 247

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verena Kast

Sich wandeln und sich neu entdecken

Neuausgabe

Titel der Originalausgabe: Sich wandeln und sich neu entdecken

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1995

ISBN 978-3-451-04477-9

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Bridge/Mauritius Images

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-81173-9

ISBN (Print) 978-3-451-60028-9

Inhalt

Vorwort

1. Teil Wie Wandlung möglich werden kann

Ein schöpferischer Prozess, der Wandlung bewirkt – vom Umgang mit Symbolen

Wie sich in Symbolen Lebensprobleme verdichten – und sie gelöst werden können

Sich auf den Weg begeben – Wandlung im therapeutischen Prozess

Aus der Einsamkeit wieder zur Beziehung finden

2. Teil Wenn Frauen sich verändern

Bewegungen ins Selbstbild bringen – neue Fantasien entwickeln

Wechseljahre – Wandeljahre

3. Teil Durchbruch zu neuen Tugenden

Sich selber annehmen – individueller Tugendwandel

Feindbilder überwinden – neue Beziehungen finden

Frauenfreundschaft – Erleben neuer Beziehungswerte

Anmerkungen

Quellenverzeichnis

Vorwort

Leben ist Veränderung, ist Wandlung. Menschen verändern sich, von der Empfängnis bis zum Tod verändern wir Menschen uns. Keine Frage, unser Körper verändert sich, unsere Seele, unsere Beziehungen, aber auch die Welt um uns: die Moden, die Politik, die Sorgen, alles verändert sich, wandelt sich im Laufe eines Lebens. Und dennoch bleiben wir auch dieselben – ein Geheimnis eigentlich. Sehen wir ein Bild von uns als Baby, dann sagen wir: »Das bin ich!« – und nicht etwa »Das war ich!«. Wir sind alles, das wir schon einmal gewesen sind – wir wandeln uns aber auch und entdecken immer neue Seiten an uns. Jedes Alter hat eine Herausforderung, in jedem Alter gewinnen wir etwas, lassen aber auch etwas los. Und unser Leben verstehen wir als eine zusammenhängende Geschichte, die wir erzählen können, wenn wir es wollen.

Manchmal ist es schwer für Menschen, sich zu verändern. Irgendwie sind Veränderungen anstrengend – aber auch beglückend, wenn man sich ihnen nicht verweigert. Wir Menschen stehen von Anfang des Lebens an in Beziehungen, könnten ohne Beziehungen nicht überleben. Denken wir etwa an uns Menschen als Babys und die dazugehörigen Beziehungspersonen, die uns als Babys das Überleben sichern, die uns aber auch das Grundgefühl geben, ein hinreichend guter Mensch in einer hinreichend guten Welt zu sein. Und so, wie das Baby angeblickt wird, werden wir auch ein Leben lang von anderen Menschen angesehen – schauen wir aber auch andere Menschen an und geben ihnen das Gefühl, für uns zu existieren, wichtig zu sein. In den Augen der anderen schauen wir aber auch unser Leben an, sehen wir, was vielleicht verändert werden muss, oder gerade nicht verändert werden darf, damit wir uns selbst nicht verlieren. Aber nicht nur andere Menschen geben uns Reaktionen auf die Weise, wie wir sind, wie wir uns verhalten, wir bekommen auch Reaktionen aus unserer Innenwelt. Träume können uns darauf hinweisen, dass wir etwas Wichtiges in unserem Leben verpassen, oder dass wir etwas längst Überfälliges nicht loslassen können. Wandlungen sind ein altes Menschheitsthema: Unsere Geschichten, besonders auch die Märchen, aber auch die Filme erzählen alle von Veränderungen, von Wandlungen und den damit verbundenen Problemen. Veränderungen entstehen nicht nur aus unserem älter werdenden Körper, sondern auch aus seelischen Notwendigkeiten oder auch aus Anforderungen der Umwelt – und oft kommt dies alles zusammen.

Wir verändern uns manchmal fast unmerklich, manchmal indessen auch krisenhaft. Krisenhaft können Wandlungen werden, wenn wir uns zu lange gegen Veränderungen wehren, so tun, als wäre alles noch beim Alten. Krisenhaft können Wandlungen auch angesichts von Schicksalsschlägen werden – und wir Menschen können mit diesen Situationen umgehen, manchmal besser, manchmal schlechter. Besser vor allem auch dann, wenn wir mit anderen Menschen darüber sprechen können, und herausfinden, dass alle Menschen mit diesen Problemen ringen. Menschen sind kreativ in dem Sinne, dass sie ihr Leben verändern können, dass sie Veränderungsimpulse aufnehmen können.

Dieses Buch soll dazu anregen, sich immer wieder neu zu entdecken – die Neugier auf sich selbst zu stimulieren. Auch wenn wir im Kern dieselben bleiben, können wir uns doch verändern, neue Seiten an uns finden, die uns eine gute Lebensqualität ermöglichen. Neugier auf sich selbst ist ein Stimulans für ein gutes Leben und für die Idee, dass Leben immer auch anders sein kann als bisher.

St. Gallen im Juni 2017

Verena Kast

1. Teil Wie Wandlung möglich werden kann

Sprechen wir von Wandlung, dann sprechen wir unter anderem auch von schöpferischen Prozessen, von Prozessen, in denen etwas sich zeigt und auch lebbar wird, was zuvor nicht existiert hat, etwas, das man neu aus irgendeiner Quelle geschöpft hat. Auch wenn man den schöpferischen Prozess verhältnismäßig gut beschreiben kann, der Moment, in dem das Neue aufblitzt, die Situation, in der man einen Einfall hat, bleibt geheimnisvoll. Der Einfall, der Moment, in dem die schöpferische Idee aufblitzt, ist nicht machbar, er ereignet sich, oder ereignet sich eben nicht, und er bleibt auch in sich geheimnisvoll, trotz allen Forschens.

Die Hoffnung auf schöpferische Veränderung steht hinter aller Hoffnung auf das »bessere Leben«, die uns Menschen auszeichnet, und die ja gelegentlich gegen alle Vernunft zu stehen scheint, und die uns dennoch hilft, das Leben zu bestehen.

Schöpferische Veränderung zeigt sich unter anderem sowohl in der Symbolbildung als auch in der Entwicklung von Symbolen, und zwar den persönlichen und den kollektiven. Spüren wir den Symbolen nach, zum Beispiel anhand eines Märchens, dann erfassen wir einen Aspekt der schöpferischen Wandlung. Aus einer Mangelsituation, die zu Beginn des Märchens geschildert und meistens symbolisch ausgedrückt wird, wird am Ende des Märchens ein Symbol, das geglücktes Leben ausdrückt. Dazwischen stehen verschiedene wunderbare Wandlungen, schöpferische Wandlungen, oft auch wieder ausgedrückt in Symbolen, die dem Protagonisten oder der Protagonistin des Märchens widerfahren sind und die von ihm oder ihr durchgetragen werden.

Schöpferische Veränderung sollte aber nicht nur im Bereich der Fantasie erlebbar sein, obwohl es auch schon für die Alltagsbewältigung hilfreich ist, wenn es gelingt, fixe Vorstellungen durch flexiblere zu ersetzen; schöpferische Veränderung muss sich dann aber letztlich auch im Lebensvollzug bewähren.

Ein schöpferischer Prozess, der Wandlung bewirkt – vom Umgang mit Symbolen

»Der schöpferische Weg ist der Beste, dem Unbewussten zu begegnen. Denken Sie sich zum Beispiel eine Fantasie aus und gestalten Sie sie mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Kräften. Gestalten Sie sie, als wären Sie selber die Fantasie oder gehörten zu ihr, so wie Sie eine unentrinnbare Lebenssituation gestalten würden. Alle Schwierigkeiten, denen Sie in einer solchen Fantasie begegnen, sind symbolischer Ausdruck für Ihre psychischen Schwierigkeiten, und in dem Maße, wie Sie sie in der Imagination meistern, überwinden Sie sie in Ihrer Psyche« (C. G. Jung).

Das Erleben von Symbolen

Symbole erleben wir in Träumen, in Fantasien, in Kunstwerken, in Faszinationen, im Alltag, in Märchen und Mythen, in Symptomen … Wird ein Symbol bedeutsam für unser Leben, dann beginnen wir, unsere aktuelle Lebenssituation auf dieses Symbol hin zu beziehen und zu verstehen. Emotionen und Bedeutungen, die mit diesem Symbol verbunden sind, werden erlebt und erinnert. Leben im Zusammenhang mit diesem Symbol wird bedeutsam. Wir beginnen uns dafür zu interessieren, welche Bedeutung dieses Symbol in der Menschheitsgeschichte schon immer gehabt hat. Wir versuchen zu verstehen, welche Bedeutung für unser aktuelles Leben stimmig sein könnte. Das Symbol meint einerseits unsere ganz aktuelle existentielle Situation und verweist gleichzeitig auch auf Hinter-Gründiges, auf Zusammenhänge, die jeweils nicht besser als eben in diesem Symbol auszudrücken sind. Auch wenn wir meinen, ein Symbol zu verstehen, wenn wir mit ihm in Kontakt getreten sind, behält es doch immer noch einen Bedeutungsüberschuss in der jeweiligen Situation. Gerade dieser Bedeutungsüberschuss bewirkt, dass das Symbol Hoffnungen in uns erweckt, Erwartungen am Leben hält. Den Symbolen sind Erinnerung und Erwartung eigen.

Für den therapeutischen Prozess sind Symbole Brennpunkte unserer menschlichen Entwicklung, Verdichtungskategorien: Lebensthemen, die einerseits unsere Schwierigkeiten ausmachen, aber auch unsere Lebensmöglichkeiten in sich bergen, unsere Entwicklungsmöglichkeiten abbilden. Zudem zeigen Symbole – und darauf hat Jung immer wieder hingewiesen –, dass unsere persönlichen Probleme meist typisch menschliche Probleme sind; Probleme, mit denen Menschen schon immer gerungen haben, was sich ja im Niederschlag der Dichtung, der Kunst, der Philosophie zeigt.

Ein Beispiel: Ein 44-jähriger Mann, sehr gefangen vom Prinzip »Bewältigung«, sehr erfolgreich in seinem Beruf, kommt in Therapie, weil er seine Beziehung als unbefriedigend empfindet, sich selbst als verschlossen, wenig herzlich. Seine zweite Ehe ist eben gescheitert. Obwohl er an äußeren Maßstäben gemessen in seinem Leben viel erreicht hat, fragt er sich doch, »ob das denn nun alles sei«, ob er schon die Grenzen seines Lebens ausgeschritten habe. Nach vierzehn Stunden Therapie bringt er den ersten Traum:

»Ich bin in einem sterilen Gebäudekomplex der frühen siebziger Jahre. Alles ist sehr sauber, grau und steril. Ich suche eine bestimmte Wohnung, kann sie aber nicht finden. Als ich sie endlich finde, ist die Türe verschlossen. Ich habe das Gefühl, dass sich in der Wohnung etwas Wichtiges verbirgt. Ein kleiner Bub kommt, er hält in der Hand eine tiefrote Blume. Er hält sie mit beiden Händen, sehr sorgsam. Er schaut die Blume an und geht einfach durch eine Tür, vor der ich stehe. Ich bin äußerst verwundert, denke: Das darf doch nicht wahr sein! – Ich erwache.«

Sein Kommentar zu dem Traum, von dem er sichtlich beeindruckt war: »Das ist jetzt natürlich Traumbewusstsein. Dieses gilt nicht für das alltägliche Leben.« Nach dem Gefühl befragt, das der Traum ausgelöst habe, sagte er, er sei fasziniert von diesem Traum. Einmal davon, dass er überhaupt träume und auch einen Traum im Bewusstsein behalten könne, dann aber auch über diesen speziellen Traum. Als Erstes sei ihm der Satz in den Sinn gekommen: »Blumen öffnen Türen.« Das wäre ganz wunderbar, wenn es so wäre und er die Blume hätte. Er sei auch fasziniert gewesen von der Konzentration des kleinen Buben. Wie er vor lauter Konzentriertsein auf die Blume diese fast zerdrückt hätte. Aber ganz gepackt sei er von der roten Blume, die müsse doch etwas bedeuten. Davon, dass er eigentlich in diese Wohnung hineingehen wollte, dass ihm da zunächst noch etwas verschlossen blieb, war nicht mehr die Rede.

Der kleine Bub mit der roten Blume, vor allem aber die rote Blume waren die Traumsymbole, von denen der Träumer ergriffen war, die ihm plötzlich viel bedeuteten. Ich fragte ihn, ob ihn der kleine Bub an jemanden erinnere. An seinen eigenen Buben, sagte er. Der sei ein Träumer, könne auch ganz konzentriert auf einen Aspekt des Lebens sein und alles andere vernachlässigen. Eigentlich beneide er seinen kleinen Sohn um diese Fähigkeit. Aber er schelte ihn oft deswegen, er müsse realistischer werden. Ob ihn der Bub auch an ihn selbst als Kind erinnere? Ja, er habe oft etwas getragen, wie der Bub im Traum, einen Vogel, erinnere er sich, oder Erdbeeren. Die Erdbeeren habe er jeweils zerdrückt und die Kleider schmutzig gemacht, mit dem Vogel sei er in eine Fensterscheibe hineingelaufen, weil er so sehr achtgab, dass dem Vogel nichts passierte. Wie er sich damals gefühlt habe? Er sei emotional ganz bei einer Sache gewesen, ganz vertieft, diese eine Sache habe ihn ganz ausgefüllt. Heute würde er dieses Gefühl »Lebensgefühl der Dichte« nennen. Aber er sei dann auch immer gescholten worden, er sei als Träumer beschimpft worden, mehr Realitätssinn wurde gefordert. Und bitter fügte er hinzu: »Den habe ich jetzt im Laufe des Lebens genügend bewiesen.«

Fast beiläufig wird ihm bewusst, dass er mit seinem Sohn so umgeht, wie man mit ihm als Kind umgegangen ist. Es wird deutlich, dass das Traum-Symbol eine Dimension der Erinnerung abdeckt. Nicht nur die Beziehung zu seinem Sohn kommt in ihrer Problematik ins Bewusstsein, sondern auch die Erinnerung an die eigene Kindheit, an ihn als Kind, das ihn fasziniert, das er aber nicht mehr sein durfte, weil Anpassung an die Realität so sehr gefragt war. Das Traumsymbol kann über diesen Zusammenhang in Beziehung mit der aktuellen Lebenssituation gebracht werden. Das Symbol hat aber auch eine Dimension der Erwartung: Indem das Kind im Traum auftritt, mit einer Blume eine Tür auf unkonventionelle Art und Weise öffnet, Gefühle im Träumer weckt, die mit diesem Kind verbunden sind, zeigt sich, dass dieses Kind in der Seele noch vorhanden ist, einschließlich der Gefühlsqualität, die es verkörpert. Auf die Assoziationen zur roten Blume befragt, sagte der Träumer, sie drücke Lebendigkeit, aber auch Heftigkeit, Intensität des Gefühls aus. Mit einer neuen Intensität des Gefühls können neue Räume betreten werden, können Durchgänge geschaffen werden. Der Träumer versteht, dass alle diese Lebensgefühle, die er mit dem Buben und mit der Blume verbindet, Gefühle sind, die in ihm einmal wach waren und die er jetzt wieder dringend braucht, um sich neue Lebensräume zu erschließen. Und obwohl ihm noch viele Einfälle zu dieser roten Blume kamen, war sie in ihrer Bedeutung noch immer nicht ganz erfasst.

Ein Symbol ist ja geradezu dadurch gekennzeichnet, dass es in sich einen Bedeutungsüberschuss hat, dass man es in seiner Bedeutung eben nicht erschöpfen kann. Er erzählte Wochen, nachdem er den Traum geträumt hat, er sehe jetzt viele rote Blumen. Es sei schwierig, die Blume zu finden, von der er geträumt hat. Er spürte auch deutlich den Unterschied zwischen einem »Zweckbautengefühl« und dem »Rote-Blumen-Gefühl«. Mit diesem Symbol verbindet er eine Hoffnung, eine Erwartung, ohne dass er sich bewusst anstrengt. Einmal versuchte er das Lebensgefühl, das er als kleiner Bub hatte, wieder zu spüren, dann aber erwartet er eine geheimnisvolle Lebenserfahrung, die in dieser roten Blume nun einmal so und nicht anders ausgedrückt ist, die sich aber entfalten wird, Gestalt annehmen wird. Das Verständnis des Symbols wäre einseitig, würden wir den finalen Aspekt nicht auch mitbedenken in der Frage: Was wird der Bub mit der roten Blume für diesen Menschen bedeuten, was werden die beiden ihm eröffnen?

Persönliche und kollektive Symbole

Symbole sind Bilder, die für uns eine emotionelle Bedeutung haben, sie sind bestmöglicher Ausdruck für eine emotionell bedeutsame Situation. Im Symbol ist auch eine zukünftige Entwicklungslinie gekennzeichnet und erfasst. Das Symbol offenbart etwas, es eröffnet uns aber auch etwas, nämlich neue Perspektiven des Erlebens und des Selbstverständnisses. Aber nur dann, wenn wir uns empathisch auf das Symbol einlassen, werden wir auch dieses Offenbarende, dieses Eröffnende erleben können.

Bei diesem Sich-empathisch-auf-ein-Bild-Einlassen geht es darum, das Rationale, aber auch das Irrationale, das mit einem Symbol verbunden ist, das Erhabene und das Lächerliche, das Verstehbare und das Unverständliche zu erfassen. Die Frage ist zudem auch immer, ob wir uns auch betreffen lassen, wenn uns jemand an seinen Symbolen, an seinen Bildern Anteil nehmen lässt, ob wir unsere eigenen Bilder zu den Bildern aufsteigen lassen können. Das hängt nicht nur von unserer Bereitschaft ab, empathisch auf Symbole eines anderen Menschen einzugehen, sondern auch davon, ob die geschilderten Symbole mehr eine persönliche Bedeutung haben, also nur für den bedeutsam sind, der sie erlebt, oder ob sie über diese persönliche Bedeutung hinaus eine kollektive Bedeutung haben.

Jung unterscheidet Fantasien persönlichen Charakters, die auf persönliche Erlebnisse zurückgehen und aus der individuellen Anamnese weitgehend geklärt werden können, von Fantasien überpersönlichen Charakters. »Diese Fantasiebilder haben unzweifelhaft ihre nächsten Analoga in den mythologischen Typen, es ist darum anzunehmen, dass sie gewissen kollektiven Strukturelementen der menschlichen Seele überhaupt entsprechen.« Diese kollektiven Strukturelemente nennt Jung andernorts auch Archetypen. Er hält sie für die »A-priori-Determinanten der Imagination und des Verhaltens«. Archetypen werden von ihm als anthropologische Konstanten des Erlebens, Abbildens, Verarbeitens und Verhaltens gesehen. Wenn dem so ist, muss es möglich sein, jedes Symbol letztlich auf ein archetypisches Bild zurückzuführen. Das heißt, dass Bilder, die für uns ganz persönlich bedeutsam sind, auch mit Strukturelementen angereichert sind, die nur aus unserer persönlichen Lebensgeschichte heraus verstehbar sind, in ihrer Grundstruktur mit Bildern übereinstimmen, und damit auch mit Emotionen und Sinnfindungsprozessen, die irgendwann und irgendwo in der Geschichte der Menschheit gekannt, thematisiert und dargestellt worden sind. Dies entspricht der Idee, dass wir Menschen eben typisch menschliche Schwierigkeiten, typisch menschliche Bilder, Erlebnismöglichkeiten, Emotionen und Verhaltensweisen kennen, die allerdings auch von der je eigenen individuellen Erlebens- und Verhaltensweise überlagert werden. Wir sind also immer mehr als unsere Lebensgeschichte.

Betrachten wir die Fragestellung nach dem individuell beziehungsweise kollektiv bedeutsamen Symbol im Spiegel des geschilderten Traums: In diesem Traum sind verschiedene kollektive Symbole dargestellt. Da ist einmal das Motiv der Suche nach dem Verborgenen, vielleicht das Motiv des Suchens überhaupt; ein Motiv, das den Menschen als Menschen geradezu kennzeichnet – der Mensch als Suchender. Auch das Motiv der »verschlossenen Türen« ist ein Symbol, das uns alle betreffen kann: Wie oft fühlen wir uns in vielfältiger Weise vor verschlossenen Türen, wissen nicht, wie sie zu öffnen sind. Die weite Thematik des Öffnens und Sich-Verschließens, des Offenseins und des Verschlossenseins ist angesprochen. Weiter begegnen wir in diesem Traum dem Symbol der wunderbaren Wandlung, dem Ausdruck für die Möglichkeit, dass Leben sich schöpferisch verändern kann – wenn auch diese Wandlungen uns oft als »unglaublich« erscheinen. Diese schöpferische Wandlung ereignet sich im Zusammenhang mit dem Kind und der roten Blume. Auch das Kind ist nicht einfach ein Kind, sondern ein Symbol, das uns den immer wieder möglichen – auch immer bedrohten – Neuanfang allen Lebens und die dadurch verheißene Entwicklung ins Gefühl zurückbringt. Das Kind lässt uns nicht nur an unsere Kinder denken und an das Kind, das wir einmal gewesen sind, sondern auch daran, dass alles Leben immer wieder die Kindform kennt. Das Symbol lockt jene Gefühle aus uns heraus, die Kinder in uns auslösen können und die wir und sie brauchen, um auch mit dem, was kindlich ist und was kindlich geblieben ist in unserer Seele, umzugehen. Auch die rote Blume hat bestimmt nicht nur eine Bedeutung für diesen einen Träumer, obwohl sie ihn ganz zu faszinieren vermag.

Symbole als Abbild der Komplexe

Symbole sind Brennpunkte menschlicher Entwicklung. In ihnen verdichten sich existenzielle Themen, in ihnen sind aber nicht nur Entwicklungsthemen, sondern damit verbunden auch Hemmungsthemen angesprochen. Das wird uns dann klar, wenn wir uns die verschiedenen Themen des geschilderten Traums noch einmal vergegenwärtigen. Da ist das Thema der verschlossenen Türen, die aufhören, verschlossen zu sein. Das Kind mit der roten Blume wird in der Bedeutung seiner Lebendigkeit gesteigert angesichts dieser grauen Leblosigkeit. Dass im Symbol immer ein Hemmungsthema, das zugleich ein Entwicklungsthema ist, angesprochen ist, wird dann deutlich, wenn wir bedenken, dass Symbole Komplexe abbilden. Jung sagt von den Komplexen, sie würden eine eigentümliche Fantasietätigkeit entwickeln; im Schlaf erschiene die Fantasie als Traum, aber auch im Wachen würden wir unter der Bewusstseinsschwelle weiterträumen, wegen der »verdrängten oder sonst wie unbewussten Komplexe«.

Schon 1916 hat Jung auf die gefühlsbetonten Inhalte hingewiesen, die Ausgangspunkt von Imaginationen (Fantasiebildungen, Bilderfolgen), also Ausgangspunkt zur Symbolbildung sind. Komplexe sind Energiezentren, die sich um einen affektbetonten Bedeutungskern aufbauen, hervorgerufen vermutlich durch einen schmerzhaften Zusammenstoß des Individuums mit einer Anforderung oder einem Ereignis in der Umwelt, denen es nicht gewachsen ist. Sie sind Verdichtungen und Generalisierungen von meist schwierigen Erziehungserfahrungen in unserer Kindheit und auch später. Jedes Ereignis in ähnlicher Richtung wird dann im Sinne dieses Komplexes erlebt und gedeutet und verstärkt den Komplex: der Gefühlston, die Emotion, die mit diesem Komplex verbunden ist und ihn zum Teil auch ausmacht, wird dabei verstärkt. So bezeichnen die Komplexe die krisenanfälligen Stellen im Individuum. Als Energiezentren haben sie aber eine gewisse Aktivität – ausgedrückt in der Emotion –, die zu einem großen Teil das psychische Leben ausmacht. Sicher liegt im Komplex vieles, was das Individuum in seiner persönlichen Weiterentwicklung hindert, in diesen Komplexen liegen aber auch die Keime neuer Lebensmöglichkeiten. Diese schöpferischen Keime zeigen sich dann, wenn wir die Komplexe akzeptieren, wenn wir sie ausfantasieren lassen. Wir alle haben Komplexe, sie sind Ausdruck von Lebensthemen, die auch Lebensprobleme sind. Sie machen unsere psychische Disposition aus, aus der keiner herausspringen kann. So wären also die Symbole der Ausdruck der Komplexe, gleichzeitig auch deren Verarbeitungsstätte. Komplexe sind ja an sich nicht sichtbar. Sichtbar und fühlbar ist die Emotion, die ihnen eignet; sichtbar sind auch die stereotypen Verhaltensweisen im Komplexbereich. In den Symbolen werden die Komplexe sichtbar durch die Fantasie, denn wo Emotionen sind, sind auch Bilder.

Jung unterscheidet zwischen persönlichen und kollektiven Komplexen. Während persönliche Komplexe die persönliche Eigenart, die persönlichen Gesichtspunkte und die persönliche Weltanschauung begründen, gehen von den kollektiven Komplexen Philosophien, Religionen, kollektive Weltanschauungen aus. Sie begründen auch Geschichte. Man erkennt die Nähe zum Archetypus. Der Unterschied besteht darin, dass ein Archetypus als Möglichkeit bestehen kann, ohne in Beziehung zu einem bewussten Symbol zu stehen. Der Komplex hat immer eine Beziehung zum Bewusstsein, steht mit diesem in Auseinandersetzung, ist also konstelliert, wie wir das nennen, und besteht aus archetypischem und persönlichem Material. Diese Fantasien, die auch Ausdruck der Komplexe sind, weisen auf ein noch nicht erreichtes Ziel hin. Auch dies ist eine Idee, die von Anfang an mitgeschwungen hat im Begriff des Symbols und die Jung in seinem letzten Buch Mysterium Conjunctionis (1954) nochmals aufgreift. Meines Erachtens ist dieses Hinweisen auf Unbekanntes, auf noch nicht Gewusstes, Ausdruck dafür, dass psychisches Leben die Tendenz hat, sich schöpferisch zu entwickeln, wenn man diese Prozesse nicht hemmt. Diese schöpferischen Entwicklungsprozesse werden, wenn immer möglich, in der Therapie aufgenommen.

Fassen wir zusammen, was Jung im Laufe der Zeit zum Symbol gesagt hat, dann ergibt sich etwa Folgendes: Traumbilder und spontane Fantasiebilder sind Symbole, die als natürliche Lebensäußerungen des Unbewussten sich immer dort bilden, wo Emotion mit im Spiel ist. So drückt ein Symbol eine unbewusste Projektion aus. Das ergibt die zweifache Bedeutung des Symbols: die diagnostische und die therapeutische. Einerseits ist das Symbol diagnostisch eine Aussage über konstellierte Komplexe, der zugehörigen Emotion und der daraus resultierenden Erlebnis- und Verhaltensweisen. Andererseits wird am Symbol die Tendenz der Psyche sichtbar, aus dieser Komplexkonstellation heraus sich zu entwickeln, da in ihm auch immer eine Tendenz nach vorwärts besteht, nach Entwicklung (ausgedrückt nach Jung in der Komponente, dass im Symbol immer etwas noch nicht Gewusstes enthalten ist, da es sonst gar kein Symbol wäre). Dabei hilft die Energie, die im Komplex gebunden ist, eben diese Komplexkonstellation zu überwachsen, wenn es gelingt, den Komplex an das Bewusstsein anzuschließen. Neben dem diagnostischen Aspekt finden wir in den Bildern also auch einen therapeutischen Aspekt. Das Selbstbild und das Weltbild verändern sich, wenn wir die Bilder aufnehmen können, wir spüren Hoffnung, »archetypisch eingekapselte Hoffnung« (Bloch).

Diese schöpferische Entwicklung wird im Symbol sichtbar und auch über das Symbol ans Bewusstsein herangetragen und bearbeitet. Im Aufsatz Die transzendente Funktion von 1916 schreibt Jung eingehend über Symbolisierung. Jung berichtet, wie Unbewusstes und Bewusstsein in einem Symbol »transzendiert« werden, das ein Drittes ist und über die gegensätzlichen Positionen hinausweist. Deshalb der Name »transzendente Funktion«, wobei transzendent nicht von vornherein religiöse Bedeutung hat. Energetisch denkt sich Jung den Vorgang so: Herrschen im Bewusstsein und im Unbewussten eines Menschen entgegengesetzte Intentionen, dann kommt die psychische Dynamik vorübergehend zum Stillstand. Die psychische Energie regrediert, und im Unbewussten wird dadurch ein Drittes konstelliert, das die beiden gegensätzlichen Positionen in sich hat, aber auch über diese hinausweist. Dabei ist wesentlich, dass das Unbewusste sich ausdrücken darf und wahrgenommen wird, und dass das Ich, das von Jung als »kontinuierliches Zentrum des Bewusstseins« bezeichnet wird, sich mit den Äußerungen des Unbewussten auseinandersetzt. 1916 beschreibt Jung den Prozess der Symbolbildung so, wie heute das Prinzip der schöpferischen Prozesse beschrieben wird.

Jung weist im Übrigen darauf hin, dass die Symbolbildung oft mit psychogenen körperlichen Störungen verbunden ist. Er begründet dies einerseits damit, dass das »Unbewusste die Psyche aller autonomen Funktionskomplexe des Körpers« ist. Andererseits lässt sich dieses Phänomen auch aus seiner Komplexdefinition erschließen. Das Wesentliche an einem Komplex ist die damit verbundene Emotion. Emotionen haben aber immer ein physiologisches Korrelat. Mit dieser Sichtweise hat Jung schon früh Aspekte zur ganzheitlichen psychosomatischen Sichtweise des Menschen beigetragen, wie sie heute aus der Sicht verschiedener Autoren langsam zum Allgemeingut unseres Denkens und Erlebens werden. Das bedeutet aber, dass wir auch körperliche Symptome als Symbole auffassen können, uns fragen können, welche Bedeutung damit verbunden, welcher Sinn dahinter verborgen ist. Dasselbe könnten wir uns auch anhand sozialer Phänomene fragen. Überhaupt stellt sich die Frage, ob es Wandlungen gibt, die nicht alle Bereiche des Menschen gleichzeitig erfassen, wobei sich das Symbol auf einer Ebene bevorzugt ausdrückt.

Der therapeutische Umgang mit Symbolen

Der therapeutische Prozess, verstanden als Individuationsprozess, besteht im Wesentlichen darin, dass sich das Unbewusste und das Bewusstsein im Bereich der jeweils belebten Inhalte, im Symbol verbinden. Diese Symbolbildungen ermöglichen die schöpferische Entwicklung der Persönlichkeit: Ein Mensch wird in lauter kleinen Schöpfungsakten immer mehr er selbst, Lebensmöglichkeiten werden lebbar, die wirklich seine Persönlichkeit ausmachen. Die Regulierungen in der Psyche als ein selbstregulierendes System werden über die Symbole und die Symbolbildungen ans Bewusstsein herangetragen.

Es wäre aber falsch, bei diesen Prozessen nur immer den Moment der Geburt des Symbols im Auge zu haben. Der Vergleich mit dem schöpferischen Prozess legt nahe, dass das Wesentliche des Prozesses zwar im Aufleuchten der neuen Idee zu sehen ist und damit auch im Erleben eines neuen Lebensgefühls. Dem geht aber ein langer Prozess von Unsicherheit, von Frustration, aber auch der harten bewussten Auseinandersetzung mit dem Forschungs- oder dem Gestaltungsgegenstand voraus. Übertragen auf psychische Prozesse bedeutet das, dass die Gegensätze zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten oft qualvoll lange betrachtet und ertragen werden müssen, bis sich ein neues Symbol und damit auch ein neuer Lebensinhalt einstellt. Dennoch – es gibt diese Symbolbildungen, und sie wirken, wenn wir sie aufnehmen können, sei es als Traum, als Fantasie oder als Faszination in der Projektion, wie »schöpferische Sprünge« in unserem Leben.

Beim therapeutischen Umgang mit dem Symbol geht es zunächst einmal darum, das jeweilige Symbol wahrzunehmen, es festzuhalten und sich von ihm gefühlsmäßig betreffen zu lassen. Es gilt, die emotionelle Wirkung der Symbole zu erleben und damit ihre emotionelle Bedeutsamkeit und das damit verbundene Veränderungspotential für unsere Lebenssituation zu erfahren. Sehr oft wird diese Haltung zunächst vom Analytiker an den Analysanden herangetragen. Inhaltlich arbeiten wir mit Träumen, mit Alltagsgegebenheiten oder mit Erfahrungen in der analytischen Beziehung, und wir versuchen alle diese Symbole in Beziehung zu setzen zur aktuellen Situation des Analysanden. Wir versuchen, die Botschaft, die in den jeweils erlebten Symbolen enthalten ist, zu verstehen und damit dem Erleben und Denken des Analysanden eine neue Perspektive hinzuzufügen. Diese Botschaft richtet sich – innerhalb einer Therapie – sowohl an den Therapeuten als auch an den Analysanden. Für den Therapeuten bringt jedes Symbol einen Aspekt der Diagnose, der Prozessdiagnose in dem Sinne, dass sie uns sagt, wie sich der Analysand verändert hat, welche Probleme anstehen und in welche Richtung die Entwicklung tendiert. Für den Analysanden ist ein Symbol ein Bild mit einem sehr hohen subjektiven Bedeutungsgehalt, mithin hochemotional, begleitet vom Gefühl, lebendig zu sein und etwas Bedeutsames zu erleben. Inhaltlich wird das, was sich tut, gemeinsam von Analysand und Therapeutin erarbeitet.

Dabei können Symbole auf Erfahrungen in der Mitwelt (objektstufige Deutung) oder aber auch auf innerpsychische Erfahrungen und Strukturen (subjektstufige Deutung) bezogen werden. »Subjektstufig« heißt, dass man symbolische Inhalte, die in einem Bild, in einem Traum, einer Fantasie auftauchen, in der analytischen Beziehung als Wesenszüge des Menschen, der dieses Symbol erlebt hat, sieht. Die subjektstufige Interpretation wird immer auch ergänzt durch die objektstufige Interpretation, bei der symbolische Inhalte Begebenheiten im realen Alltag entsprechen: Menschen, die wir im Traum treffen, Menschen, die wir kennen, Beziehungsprobleme, die sich im Raum oder in Symbolen darstellen, sind Abbildungen des Alltags. Indem wir Symbole auf der Subjektstufe betrachten, versuchen wir, diese Inhalte aus der Projektion zurückzuholen, sie als eigene Wesensanteile zu sehen und zu ergründen, welche Wirkungen sie auf die zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Die subjektstufige Deutung ist ein wesentlicher methodischer Zugang zu den Symbolen, den Jung eingeführt hat und der heute von vielen psychologischen Schulen übernommen worden ist. Theoretisch beruht die Möglichkeit der subjektstufigen Interpretation auf der Idee, dass das, was außen ist, auch innen ist; dass das, was wir in der Beziehung zur Welt und in Repräsentanten der Welt erleben, auch unsere innerpsychische Wirklichkeit ausmacht. Die ganze Welt ist auch ein Symbol für unsere Innenwelt.

Kann ein Symbol nicht, oder nicht befriedigend, aus dem persönlichen Kontext heraus verstanden werden, kann zu einem Bild überhaupt keine Assoziation beigebracht werden, dann versuchen wir, ähnliche Motive aus Märchen, Mythologie, Dichtung oder Religionsgeschichte heranzuziehen und diese auf ihren Bedeutungsgehalt und ihre psychische Entsprechung zu befragen. Es ist eine Grundhypothese der Jung’schen Psychologie, dass an Märchenmotiven und an mythologischen Motiven Struktur und Dynamik der Psyche sichtbar werden.

Die Amplifikation von Symbolen durch Märchenbilder

Mir scheint, in diesem Zusammenhang eignen sich am ehesten die Märchen zum Vergleich mit dem persönlichen Material. Immer wieder ist eine große Ähnlichkeit unserer Traum- und Imaginationsbilder mit den Märchenbildern festzustellen. Bei der Amplifikation – beim Hineinstellen eines persönlichen Bildes in den größeren Zusammenhang eines Motivs aus Mythos oder Märchen – scheint mir vor allem wichtig, dass man die Dynamik innerhalb der jeweils dargestellten Zusammenhänge von verschiedenen Symbolen beleuchtet, um den symbolischen Prozess verstehen zu können.

Als Beispiel möchte ich noch einmal den eingangs erwähnten Traum beiziehen. Dass eine rote Blume eine Türe aufspringen lässt, ist ein Motiv, das wir aus dem von den Brüdern Grimm aufgezeichneten Märchen »Jorinde und Joringel« kennen.

Jorinde und Joringel, die in den Brauttagen sind, kommen bei einem Spaziergang im Wald dem Schloss einer Erzzauberin zu nahe und werden von dieser verzaubert. Joringel wird vorübergehend versteinert, Jorinde wird als Nachtigall von der Zauberin in einen Saal gebracht, in dem schon 7000 solcher Vögel sind. Joringel wird später wieder frei, trauert um Jorinde, geht fort, hütet Schafe, umringt immer wieder in sicherem Abstand das Schloss und sinnt darüber nach, wie er Jorinde nur zurückgewinnen könnte. Eines Nachts hat er einen Traum:

Er findet eine blutrote Blume, in deren Mitte eine schöne große Perle ist. Die Blume bricht er und geht damit zum Schloss: Alles, was er mit der Blume berührt, wird von der Zauberei frei. So bekommt er Jorinde zurück. Wieder aufgewacht, beginnt er, in Berg und Tal nach dieser Blume zu suchen, und nach neun Tagen findet er am Morgen eine rote Blume. In deren Mitte ist ein großer Tautropfen, so groß wie die schönste Perle. Diese Blume trägt er zum Schloss, und obwohl er dem Schloss ganz nahe kommt, wird er nicht versteinert, sondern die Pforte öffnet sich, er geht ins Schloss und erlöst Jorinde vom bösen Zauber.