Siddhartas letztes Geheimnis - Erich Follath - E-Book

Siddhartas letztes Geheimnis E-Book

Erich Follath

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Beschreibung

Eine faszinierende Reise durch Geschichte und Gegenwart des Buddhismus

Er war Entdecker, Wissenschaftler, Abenteurer – und ein zutiefst gläubiger Reisen-der auf der Suche nach Erleuchtung. Gegen den Willen des chinesischen Kaisers zog der Mönch Xuanzang im Jahr 629 durch Wüsten und über Gebirgspässe der Seidenstraße nach Indien, auf der Suche nach Zeugnissen des Religionsstifters Siddharta Gautama. Siebzehn Jahre und viele dramatische Erlebnisse später kehrte er im Triumph in die Heimat zurück, seine spirituelle Suche machte ihn zur Legende. Bestsellerautor Erich Follath hat sich ein Jahr lang auf seine Spur begeben und zeichnet das Leben und die Abenteuer des Xuanzang nach.

»Siddhartas letztes Geheimnis« lässt sich gleichermaßen als spannende historische Biografie, als Einführung in den Buddhismus und als geopolitische Analyse der heutigen Weltmächte China und Indien lesen.

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Zum Buch

Er war Entdecker, Wissenschaftler, Abenteurer – und ein zutiefst gläubiger Reisender auf der Suche nach Erleuchtung. Gegen den Willen des chinesischen Kaisers zog der Mönch Xuanzang im Jahr 629 durch Wüsten und über Gebirgspässe der Seidenstraße nach Indien, auf der Suche nach Zeugnissen des Religionsstifters Siddharta Gautama. Siebzehn Jahre und viele dramatische Erlebnisse später kehrte er im Triumph in die Heimat zurück, seine spirituelle Suche machte ihn zur Legende. Bestseller-Autor Erich Follath zeichnet das Leben und die Abenteuer des Xuanzang nach – und hat sich ein Jahr lang auf seine Spur begeben.

Siddhartas letztes Geheimnis lässt sich gleichermaßen als spannende historische Biografie, als Einführung in den Buddhismus und als Analyse der heutigen Weltmächte China und Indien lesen.

Zum Autor

Erich Follath, 1949 geboren, ist promovierter Politikwissenschaftler und bekannter Sachbuchautor. Lange Jahre war er als Diplomatischer Korrespondent und Auslandschef des SPIEGEL tätig, unterwegs war er vor allem im Nahen Osten, auf dem indischen Subkontinent und in Ostasien. Über die Geschichte dieser Regionen, über die Menschen und ihre Kulturen hat er zahlreiche Reportagen geschrieben. Seine Bücher »Das Vermächtnis des Dalai Lama« (2007), »Die neuen Großmächte« (2013) und »Jenseits aller Grenzen« (2016) wurden Bestseller.

Erich Follath

Siddhartas letztes Geheimnis

Eine Reise über die Seidenstraße zu den Quellen des Buddhismus

Deutsche Verlags-Anstalt

Redaktionelle Mitarbeit: Marieanne Wolny-Follath

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2018 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Matteo Colombo/Getty Images

Karten: Peter Palm, Berlin

Typografie und Satz: DVA / Andrea Mogwitz

Gesetzt aus der Aldus nova

ISBN 978-3-641-22186-7V002

www.dva.de

INHALT

VORWORT

Der Mönch, die geheimen Schriftrollen und eine dramatische Reise

Luoyang, China: Der Tempel des Weißen Pferdes

Turfan, China: Buddhas, Barbies, böse Geister

Bischkek, Kirgisistan: Die »Neue Seidenstraße« und der Traum von der Freiheit

Samarkand, Usbekistan: Pracht und Paranoia

Peschawar, Pakistan: Auf dem Basar der Märchenerzähler

Lumbini, Nepal: Der Prinz, die Lotosblume und dunkle Geschäfte

Bodhgaya, Indien: Der Baum der Erleuchtung

Benares, Indien: Stadt des Lichts, Stadt der Schatten

Kuschinagar, Indien: Bis dass der Tod euch verbindet

Nalanda, Indien: Im Museum der großen Geister

Kaschgar, China: Auf dem Markt aller Märkte

Dunhuang, China: Das Versteck der buddhistischen Schätze

Xian, China: Die Wildganspagode und ein Vermächtnis

NACHWORT

BUDDHISTISCHEZEITTAFEL

BILDTEIL

LITERATUR

Personenregister

Ortsregister

Sachregister

Bildnachweis

VORWORT

Kann es sein, dass Gott nur stört?

Eine katholische Eminenz, ein muslimischer Großajatollah, ein hinduistischer Hohepriester und eine buddhistische Heiligkeit – vielleicht ist es im Verlauf eines langen Lebens als Auslandsreporter nicht ganz ungewöhnlich, dass man neben politischen Führern auch wichtige religiöse Autoritäten trifft. Es könnte aber auch sein, dass es sich um etwas anderes handelt als um eine Anhäufung von Zufällen. Ich denke manchmal, dass ich diese Bekanntschaften unbewusst gesucht habe. Als Ausgleich zu den Interviews mit den Berufspolitikern. Vielleicht auch aus einer mehr oder minder tief sitzenden spirituellen Neugier auf »alternative« Führungspersönlichkeiten. Auf die großen Repräsentanten ihres Glaubens, die tiefer gehende Antworten für uns haben.

František Tomášek, den Kardinal-Erzbischof von Prag, interviewte ich an einem Sonntag im Sommer des Jahres 1989. Er hatte gerade in der Privatkapelle des Veitsdoms auf dem Hradschin die Messe gelesen. Wir mussten nur ein paar Schritte gehen, der katholische Würdenträger bewohnte einen Flur des denkmalgeschützten Gebäude-Ensembles, keinen Steinwurf vom kommunistischen Staats- und Parteichef Gustáv Husák entfernt, dem unbestrittenen Herrscher auf dem Gelände des Hradschin. Aber auch das Empfangszimmer Seiner Eminenz im ersten Stock machte einen fürstlichen Eindruck, golden glänzende Barockengel, kostbare Intarsienmöbel, schwere Gobelins.

Für Tomášek war es ein langer, steiniger Weg hierher gewesen: In Olmütz als Sohn einer kinderreichen und wenig begüterten Familie aufgewachsen, hatte er sich sein Studium der Theologie hart erarbeiten müssen, die Zeit unter den deutschen Besatzern im Protektorat Böhmen und Mähren konfrontierte ihn mit Grausamkeiten und Religionsfeindschaft; auch die von Moskau eingesetzten lokalen Kommunisten, seit 1948 an der Macht, misstrauten dem Katholizismus.

In seinem Allerheiligsten, seinem Arbeitsraum, türmten sich – daran erinnere ich mich bis heute genau – überall Bücher, an allen vier Wänden, sogar verstreut über den Boden. Auf dem Schreibtisch aus dunklem Holz eine Schreibmaschine, Modell Monika. »Mit der erledige ich meine ganze Korrespondenz, auch die mit dem Vatikan. Wie Sie ja wissen, habe ich zum großen Missfallen des Präsidenten gerade den Papst eingeladen«, sagte Tomášek mit einem spitzbübischen Lächeln, als sei ihm damit ein Streich gelungen, und nahm sein rotes Seidenkäppchen ab. Und natürlich war das auch ein Scoop, eine ungeheure Provokation der Staatsmacht: Der KP-Chef fürchtete den als polnischen KP-Kritiker bekannten Johannes Paul II. (und hier trifft es einmal das sprachliche Klischee) wie der Teufel das Weihwasser.

Auch ohne das erzbischöfliche Ornat, ohne die Albe, das weiße, bis auf den Boden herunterreichende Leinengewand, ohne das Zingulum, sein Gürtelband, wäre der Kardinal eine eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen: ein rüstiger, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn höchst aufrechter Mann. Aber die Insignien der Kirche verliehen ihm natürlich eine zusätzliche Autorität. Nach den ersten Fragen und Antworten stand Tomášek auf und drehte das Radio auf seinem Schreibtisch laut, ziemlich laut, offensichtlich, um es potenziellen Mithörern unseres Gesprächs vom Geheimdienst schwerer zu machen. Und er erzählte von seiner Gratwanderung – den Versuchen, die Gläubigen zum Kampf um mehr Freiheiten zu ermutigen, sie aber nicht allzu sehr in Gefahren zu verstricken. Dennoch wanderten Tausende ins Gefängnis, auch viele Christen, die sich auf ihre Kirche beriefen. »Es ist ein Balanceakt, bei dem ich nie richtig weiß, ob ich meiner Verantwortung gerecht werde.«

Über Risiken für seine eigene Person erzählte Tomášek nichts, er schob sie zur Seite. Er wusste, dass es sich die KP-Oberen kaum leisten konnten, ihn zu verhaften, und war entschlossen, seine Freiheiten bis zum Äußersten auszuloten. Einige Jahre nach unserem Interview hat sich der Kardinal dann noch weiter vorgewagt. Er kritisierte offen die Menschenrechtsverletzungen der Kommunisten, unterstützte die Samtene Revolution in seinem Heimatland. So wurde Erzbischof Tomášek neben Karol Wojtyła einer der entscheidenden Freiheitshelden in Osteuropa. Ihm war noch vergönnt, den Sieg der Männer um Václav Havel mitzuerleben und Papst Johannes Paul II. tatsächlich in Prag zu empfangen.

Großajatollah Hossein Ali Montazeri traf ich 2003 in Ghom, neben Maschhad der heiligsten Stadt des Iran. Er lud mich ein zu einem Gespräch in seine kleine, bescheidene Privatwohnung. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Schriften über den Islam, nicht wenige von dem Religionsgelehrten selbst verfasst. Auf einer Kommode, an einem höher gestellten Platz, thronte der Koran. Sonst war der Raum absolut schmucklos.

Wenn einer die Geschichte der iranischen Revolution von ihren Ursprüngen bis heute symbolisiert, dann ist es dieser Mann. Er wurde von den Schergen des Schahs wegen seiner aufrührerischen Reden gegen die korrupte Monarchie gefoltert; er dachte sich die Verfassung des Gottesstaates mit aus, die den Religionsführer zur entscheidenden staatlichen Instanz machte; er zog 1979 an der Seite des Großajatollah Ruhollah Khomeini im Triumphzug durch Teheran. »Die Frucht meines Lebens« nannte der seinen »jüngeren Bruder« und designierte ihn zu seinem Nachfolger. Doch dann entzweiten sich die beiden. Montazeri kritisierte den Blutrausch der Revolution wie die Selbstherrlichkeit der Mullahs und weigerte sich, den Mordaufruf gegen den Schriftsteller Salman Rushdie zu unterstützen. Khomeini stellte ihn kurz vor seinem Tod 1989 kalt. Bis heute sitzt als Nachfolger der Scharfmacher Ali Khamenei auf dem Schild.

Als Montazeris Kritik an den Versäumnissen der Theokratie immer lauter wurde, verordnete der neue Religionsführer strengen Hausarrest für seinen Konkurrenten. Montazeris Lehrinstitut in Ghom wurde von islamistischen Schlägertrupps verwüstet. Allerdings wagte selbst Khamenei es nicht, den hoch angesehenen (und vom religiösen Status her deutlich überlegenen) Konkurrenten ins Gefängnis zu werfen. Ich konnte Montazeri durch die Vermittlung von Freunden unmittelbar nach der Aufhebung seines Hausarrests kennenlernen, er sei todkrank und dem Ende nahe, hieß es, die Freisetzung ein Gnadenakt. Er durfte jetzt wieder außer Haus, aber offiziell keine Besucher empfangen, Ausländer schon gleich gar nicht. Doch der Achtzigjährige dachte gar nicht daran, sich an irgendwelche Auflagen der Staatsmacht zu halten.

Sein früher rundes Gesicht war eingefallen, sein Händedruck, sagte sein besorgter Sohn, sei schlaffer geworden. Ansonsten machte der Greis, ganz in Blütenweiß gewandet, einen höchst vitalen Eindruck. Was er beim Interview sagte, war so radikal und revolutionär, dass es im Iran sonst keiner öffentlich zu äußern gewagt hätte. »Unser Gottesstaat ist gescheitert, wir haben durch unsere Exzesse die Achtung der Welt verloren. Khamenei hat schwere Fehler gemacht, er sollte alle politischen Gefangenen freilassen, auf Massenexekutionen verzichten und wirkliche Reformen einleiten.« Montazeri hatte klare Vorstellungen, wie diese Reformen aussehen müssten: Der Religionsführer sollte nur mehr repräsentative Aufgaben wahrnehmen, ähnlich einem konstitutionellen Monarchen. Das wirkliche Sagen sollten das gewählte Parlament und ein ihm verantwortlicher Regierungschef haben. Und auch mit Selbstkritik sparte der Großajatollah nicht; es sei schon richtig, sagte Montazeri, er trüge durch seine früheren Entscheidungen eine Mitschuld an den Fehlentwicklungen.

Der Großajatollah wurde zur hoch respektierten Symbolfigur aller Oppositionellen im Land, immer misstrauisch beäugt vom Religionsführer und den konservativen Rechtsgelehrten. Er hat dann über sechs Jahre in relativer Freiheit gelebt, konnte beobachten, wie seine Gedanken nach der offensichtlich manipulierten Parlamentswahl im Sommer 2009 von der studentischen Jugend aufgegriffen und verbreitet wurden. Er erlebte allerdings auch noch die weitgehende Niederschlagung der »Grünen Revolution«. Am 19. Dezember 2009 starb Hossein Ali Montazeri. Das Regime konnte nicht verhindern, dass ihm Hunderttausende Iraner das letzte Geleit gaben. Und viele fragten sich – und fragen sich bis heute –, was denn aus ihrem Land geworden wäre, hätte er es an die Spitze des Staates geschafft.

Den hinduistischen Hohepriester Veer Bhadra Mishra besuchte ich 2012 in der heiligen indischen Stadt Varanasi am Ufer des Ganges, die der Legende nach einst Lord Shiva selbst gegründet hat und in der sich eine ganze Sippschaft von Göttern austobte. Dort, wo das Sterben seine Angst verliert, weil die Erlösung vom Kreislauf der Wiedergeburten garantiert ist, wo Tausende täglich an den geweihten Treppen am Fluss verbrannt werden. Als Hüter des Sankat Mochan-Tempels genoss Mishra unter den Gläubigen höchste Autorität, das dem Affengott Hanuman geweihte Gotteshaus gehört zu den berühmtesten im ganzen Land. Pilger wie örtliche Gemeindemitglieder erhofften sich ein gemeinsames Gebet mit dem verehrten Priester – einem Mann, der beispielhaft die Widersprüche und die Ambivalenz, das Schizophrene und das Schöne an seiner Religion verkörpert.

Seit Generationen wurde das Amt des Hohepriesters an den Erstgeborenen der Familie weitergegeben. Aber um diese Rolle des »Mahant« ausfüllen zu können, musste jeder Auserwählte eine strenge und traditionelle Erziehung durchlaufen. So war auch Veer Bhadra Mishra von den besten Professoren der Stadt unterrichtet worden, lernte als Jugendlicher Sanskrit und die Verse der Veden, spielte Sitar und übte sich im Schauspiel wie im Ringen, das bei den Hindu-Traditionalisten weniger als ein Sport denn eine religiös-kulturelle Kraftprobe galt. Auf wissenschaftliche Fächer wurde weniger Wert gelegt. Nur weil sich Mishra als Jugendlicher so besonders für Mathematik interessierte, hatte man eine Ausnahme gemacht – der Hochbegabte durfte Ingenieurswesen studieren. Er bestand alle Prüfungen mit Auszeichnung und wurde, neben seinem spirituellen Amt und »aus Hobby«, wie er sagte, Professor für Wassermanagement und Hydraulik.

Die Kurta, das kragenlose gebleichte Hemd, fiel über seinen asketischen Körper, das schneeweiße Haar und der schlohweiße Schnurrbart verliehen ihm Würde und Gelassenheit, und er streckte mir die Hände entgegen, als wollte er nicht nur mich, sondern gleich die ganze Welt umarmen. Aber Mishra musste sich dabei stützen lassen, mit seiner Gesundheit ging es sichtbar abwärts. Wir nahmen Platz auf der schlichten Couch seines Arbeitszimmers, während draußen vor dem Fenster die Schimpansen spielten, kein Gläubiger wagte sie zu vertreiben, da sie als Nachfahren des Hanuman hier doch die eigentlichen Herrscher waren.

Der Wächter des Tempels verlor keine Zeit, sein Leid zu klagen. Denn der Hohepriester wusste nicht mehr so recht, wie er seine religiösen Überzeugungen mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammenbringen konnte – als Experte für heiliges Wasser wie Abwasser fühlte sich der Hohepriester Mishra schlicht überfordert. Es ging um eine Gottheit seines Glaubens: um »Mutter Ganga«, den heiligen Fluss. »Ich nehme jeden Morgen mein Bad im Ganges, ich bin ja ein gläubiger Hindu und kenne die Vorschriften meiner Religion. Aber ich weiß als Naturwissenschaftler natürlich, dass das ein Fehler ist, nicht einmal meinen kleinen Zeh sollte ich in die Kloake stellen«, sagte er seufzend. Und dann zählte er auf, was so alles im Ganges schwamm: Fäkalien, Leichenteile von den zu hastig durchgeführten Verbrennungen und vor allem all die Industrieabfälle und Chemierückstände, die von den Fabriken ungefiltert in den Strom gepumpt wurden.

Die Hindu-Traditionalisten glauben an die Selbstheilungskräfte der Göttin Ganga, der Fluss sei nicht schutzbedürftig, da er doch von allen Sünden reinwasche. »Aber in meiner Eigenschaft als Wissenschaftler weiß ich natürlich, dass das Unsinn ist«, sagte mir der Hohepriester. Mishra kämpfte schon jahrelang gegen die Verschmutzung des Ganges, fest davon überzeugt, dass auch heilige Gewässer Umweltprobleme haben können. Er hat gemeinsam mit anderen Fachleuten Pläne zur Ganges-Rettung entworfen, die Vereinten Nationen ehrten Mishra mit einem wichtigen Preis, das amerikanische Nachrichtenmagazin Time ernannte ihn zu einem ihrer »Helden des Planeten«. Aber trotz fester Zusicherungen führender indischer Politiker kam das Reinigungsprojekt nie so recht voran. »Religiöse Ultras und die indische Bürokratie erstickten jeden Fortschritt im Keim.«

Mishra wurde an diesem Abend dann ein Zettel gereicht, ein Gläubiger hatte ein dringendes Anliegen. Jetzt war nicht mehr der Wissenschaftler, sondern der Seelsorger gefragt. Eine Prozession, eine Puja, stand an. Und wie selbstverständlich schlüpfte der Mann in Weiß von der einen in die andere Rolle. Ein Jahr nach meinem Interview verstarb der kluge alte Mann; seine Asche wurde in dem heiligen Fluss verstreut, dessen Säuberung er so tatkräftig vorangetrieben hatte und die doch an seinen Glaubensbrüdern scheiterte.

Den Kardinal habe ich bewundert, den Ajatollah respektiert, den Hohepriester sehr geschätzt – emotional nahegegangen sind mir ihre religiösen Botschaften nicht. Vielleicht, weil ich die Kirchenfürsten primär als Politiker sah: Tomášeks Agenda richtete sich gegen die alles beherrschenden Kommunisten, er kämpfte für den Aufbau einer Gegenmacht. Montazeris Hauptanliegen war das Wohl des Islamischen Staates beziehungsweise die Begrenzung seiner Auswüchse. Mishra konzentrierte sich auf Good Governance, er sah seinen Glauben im Alltag besonders durch Umweltprobleme herausgefordert. Sie alle waren eben auch und vor allem Funktionsträger, gefangen in Organisationen, die sich – was beispielsweise die Hierarchien anging – von politischen Parteien nicht allzu sehr unterschieden.

Wie alle Weltreligionen lehren das Christentum des Kardinals, der Islam des Großajatollah und der Hinduismus des Hohepriesters viel Positives, sie mahnen die Gläubigen zur Nächstenliebe, geben ihnen Kraft und Halt im Alltag und in schweren Stunden Trost. Aber sie predigen auch Ansichten, die mir teilweise rückständig und weltfremd vorkommen. Schlimmer noch, sie zwingen ihre Gläubigen von der Kanzel herab, diese Vorschriften bedingungslos einzuhalten, bei Androhung von Strafen – im äußersten Fall der Exkommunikation, dem Ausschluss aus der Gemeinschaft. Sie fordern Unterwerfung unter ein Dogma. Und sie zeigen sich nicht gerade flexibel darin, ihre Vorschriften den über die Jahrhunderte veränderten Lebensbedingungen der Menschen anzupassen.

Die katholische Kirche etwa verbietet bis heute Verhütungsmittel, obwohl sie damit die Überbevölkerung provoziert und vielen Familien in diversen Entwicklungsländern ein menschenwürdiges Leben unmöglich macht. Trotz eines Papstes, der liberale Ansichten propagiert, wurde das gerade zurückliegende »Jahr der Barmherzigkeit« auch durch christliche Intoleranz geprägt – etwa in Osteuropa, wo mehrere Kardinäle nicht christlichen Immigranten die Einreise verweigern wollten und, ganz im Sinne der nationalkonservativen Regierungen, in grellen Farben die Gefahr der »Überfremdung« an die Wand malten. In den USA haben die »Evangelikalen« die Republikanische Partei gekapert und bekämpfen an der Seite ihres Präsidenten Donald Trump liberale Grundwerte. Homosexuellen-Ehe und Abtreibung sind für sie Teufelswerk, Waffenbesitz ein göttliches Recht. Die orthodoxe Kirche Russlands geht mit ihrer Anbiederung noch weiter und propagierte 2017 sogar die »freiwillige Selbstversklavung« der Gläubigen unter einem Präsidenten Wladimir Putin, als sei der ein vom Himmel geschickter Messias.

Natürlich ist der Islam keine »extremistische politische Ideologie«, wie rechtspopulistische Demagogen à la Geert Wilders in den Niederlanden, Marine Le Pen in Frankreich, Viktor Orbán in Ungarn oder Alexander Gauland hierzulande glauben machen wollen. Sondern eine Weltreligion, die durch den Stammvater Abraham und den Glauben an den einen Gott eng verbunden bleibt mit Judaismus und Christentum. Ich habe auf den Spuren des mittelalterlichen Gelehrten und Abenteurers Ibn Battuta ein Jahr lang intensiv die meisten der muslimisch geprägten Länder der Welt bereist. Was ich da 2015 sah, war ein ganz überwiegend friedlich gelebter Glaube mit karitativem Akzent. Aber richtig bleibt auch, dass Frauen in den meisten dieser Staaten benachteiligt werden, Bürger zweiter Klasse sind. Dass ein strikt wörtlich genommener, nicht für eine zeitgemäße Interpretation freigegebener Koran die Muslime in ihrer wirtschaftlichen wie politischen Entwicklung behindert. Und dass die meisten Terroristen weltweit heute Islamisten sind, die – wie fehlgeleitet auch immer – glauben, sich bei ihren unmenschlichen Taten auf die Religion berufen zu können.

Der Hinduismus hat als eine mythologisch gewachsene Religion weder einen Gründer noch einen unveränderlichen Kanon. Die Urmutter aller Glaubensgemeinschaften hält eine verwirrende Vielfalt bewundernswert heiliger und schrecklich teuflischer Wesen bereit, die den Menschen begleiten und zu einem erbaulichen Leben anleiten, das in der nächsten Wiedergeburt eine bessere Existenz verspricht. Doch trotz der Vielfalt anerkennen die allermeisten Hindus ein gemeinsames Pantheon von Göttern, basierend auf Brahma, dem Schöpfer, Vishnu, dem Erhalter, und Shiva, dem Zerstörer. Und sie gründen ihre Gebete auf die Autorität der heiligen Veden, die traditionell eine strikte Einteilung der Gesellschaft in Kasten vorschreiben und damit bis heute gesellschaftliche Durchlässigkeit und sozialen Fortschritt erschweren.

Viele Jahrzehnte lang haben Sozialwissenschaftler erwartet, Religionen würden durch Globalisierung und Modernisierungsprozesse allmählich ausgezehrt. Doch alle großen Glaubensgemeinschaften wachsen heute wieder, ihre Bedeutung nimmt weltweit erkennbar zu. Experten sprechen vom »Ende der Säkularisierungsthese«. Umso wichtiger wird die Frage: Wie problematisch ist das Verhältnis der Weltreligionen zur Gewalt, welchen politischen – und realen – Sprengstoff bergen sie in sich? Wie gefährlich ist der Terror im Namen des Herrn?

Fanatismus und Wahn hat es zu allen Zeiten in allen Glaubensrichtungen gegeben, er ist gleichsam deren dunkle Seite, die »Rache Gottes«, wie es der französische Soziologe und Islamexperte Gilles Kepel einmal formuliert hat. Anhänger der militanten Strömung »Hindutva«, des Hinduismus-über-Alles, haben sich in Indien, Nepal und Bangladesch immer wieder zu Gewaltorgien gegen Andersdenkende hinreißen lassen. Verbreitet waren – und sind bis heute – fundamentalistische Strömungen aber auch in den drei monotheistischen Offenbarungsreligionen Judaismus, Christentum und Islam. Gemeinsam vertreten sie die Überzeugung, der Herr im Himmel habe jeder von ihnen allein die Wahrheit über sich, den Menschen und die Welt offenbart, niedergelegt in der Thora, dem Neuen Testament, dem Koran.

In den heiligen Schriften findet sich neben den überwiegend barmherzigen Botschaften auch die Aufforderung zum Missionieren. Und wenn es sein muss, mit dem Flammenschwert, das nach manchem, zumindest missverständlichem Credo »Ungläubige« ebenso wie »Verräter« an der Glaubensgemeinschaft richten darf. Jüdische Extremisten begründeten so ihren Mord an Premierminister Jitzchak Rabin, katholische Extremisten ihre Bluttaten gegen Abtreibungsärzte, muslimische Extremisten ihren »Dschihad« – ihrem Terror fielen im vergangenen Jahrzehnt weitaus die meisten Menschen zum Opfer.

Und der Buddhismus?

Der Buddhismus fällt aus dem Rahmen. Anders als die anderen Weltreligionen müssen und dürfen seine Gläubigen ohne Gott auskommen. Es gibt in der über 2500 Jahre alten Lehre keine Erbsünde, keinen Teufel, keinen Zwang zur Missionierung Andersdenkender, keine hierarchisch strukturierte Gesamtkirche, kein allgemeingültig verpflichtendes Dogma, keine authentische und einheitliche »Heilige Schrift«. Der Glaube lehrt eine Lebensethik, die auf Gewaltlosigkeit, Mitgefühl und Achtung für die Natur basiert. »Mein ist die Rache, spricht der Herr«, heißt es bei Mose. Anders als im Alten Testament und im Koran finden sich im Pali-Kanon, den überlieferten Äußerungen Buddhas, keine Textstellen, die sich für blutige Feldzüge im Namen des Glaubens heranziehen ließen; ebenso unbekannt ist ein Gott, den man zu fürchten hätte (was im Christentum einst zum Vornamen »Fürchtegott« führte, der heute – Gott sei Dank – weitgehend ausgestorben ist).

Als Buddhist kann sich jeder bezeichnen, der anerkennt, dass Siddharta Gautama die Erleuchtung erlangte und dann den Weg zur Erkenntnis wies. Und wer überwiegend Gutes getan hat, darf nach dem Tode auf eine angenehmere Daseinsform hoffen, auf eine Wiedergeburt in besserer sozialer Stellung, letztendlich die Befreiung im Nirvana, dem Zustand, in dem alle falschen Vorstellungen über das Ich »verwehen«. Dabei können ihm Lehrmeister helfen, beispielsweise die Bodhisattva genannten »Erleuchtungswesen«. Auch das Vorbild Siddhartas selbst, der vom Fürstensohn zum Asketen wurde und dann durch Meditationen zu seinem »Mittleren Pfad« fand. Aber letztlich muss sich jeder Mensch selbst von Unwissenheit und Leid, von Gier und Hass befreien.

Der Religionsstifter glaubte nicht an einen Schöpfer. »Er betrachtete metaphysische Spekulationen, wer die Welt geschaffen haben könnte und warum, als reine Zeitverschwendung«, sagte mir einmal der Düsseldorfer Indologe Hans Wolfgang Schumann, einer der besten deutschen Kenner des fernöstlichen Glaubens. »Der Ausgangspunkt, dass alles im Fluss ist und es keine ewige Seele gibt, dass das Weltall rotiert nach Gesetzen, die sich physikalisch und aus der Materie ergeben, ohne dass ein höheres Wesen dafür einen Plan gemacht hat – das verbindet den Buddhismus mit der Naturwissenschaft und macht ihn für viele Menschen gerade heute so modern.«

Das allein erklärt aber sicher nicht, warum der Buddhismus zumindest unter den westlichen Eliten zur »Religion à la mode« geworden ist. Attraktiv macht ihn, dass das Potenzial zur Erleuchtung nach den Lehren des Buddha in jedem Menschen angelegt ist. Und dass er zum Experimentieren anregt. Anders als die anderen Weltreligionen verordnet er keinen strikten Gehorsam, sondern lädt zur ständigen kritischen Nachfrage ein. Der Einzelne solle niemals etwas vorbehaltlos und blind glauben, lehrte Buddha, sondern die Lehren und ihre Gültigkeit für sich überprüfen – »so wie man Gold auf Echtheit prüft, indem man es schneidet, brennt und feilt«.

Der Buddhismus kennt keine Geschlechtsgrenzen, die Religion geht von der Autonomie des Individuums aus. Wer mit anderen meditieren will, darf das einzeln oder zusammen mit anderen Übenden tun. Dieser »Sangha« genannten Gemeinschaft können Mönche und Nonnen, aber auch Laien angehören, das Maß an Bindung kann jeder selbst wählen. Und er kann, anders als in anderen Weltreligionen, den Glauben, wenn er ihm denn nichts mehr sagt, und die Gemeinschaft auch wieder problemlos verlassen.

Aber wenn es (fast) keinen Zwang, (fast) kein Dogma gibt – ist der Buddhismus dann überhaupt eine Religion oder doch eher eine Feel-good-Philosophie? Lädt das Experimentieren, so sympathisch und zeitgerecht es auch erscheinen mag, nicht ein zur Beliebigkeit? Und gibt es das wirklich – eine »sanfte« Religion, die sich nicht als Begründung, als Blaupause für Gewalt missbrauchen lässt? Hat es nicht auch in der buddhistischen Geschichte zumindest vereinzelt Übergriffe gegeben, in denen sich brutale Herrscher mit skrupellosen Äbten zusammentaten, hatte der ceylonesische König Dutugamunu, als er im zweiten vorchristlichen Jahrhundert die Insel blutig vereinte, nicht mehrere Hundert Mönche in sein Heer integriert?

Fragen, die mich zum letzten und eindrucksvollsten meiner hochrangigen klerikalen Gesprächspartner bringen, zu einem Mann, gegenüber dem ich vor mehr als einem Vierteljahrhundert beim ersten unserer fast ein Dutzend Treffen erhebliche Vorbehalte hatte – sein Titel »Ozean der Weisheit« klang mir zu pompös, die Anrede »Eure Heiligkeit« zu ehrfurchtgebietend, sein Ruf als allseits verehrter und angebeteter »Gottkönig« zu aufgesetzt, manche seiner floskeldurchsetzten Reden über die Notwendigkeit der Mitmenschlichkeit zu nahe an Glückskeks-Banalitäten. Der Dalai Lama war doch eigentlich nur der Anführer der Gelugpa, der verhältnismäßig kleinen Glaubensgemeinschaft der »Gelbmützen«, und damit nicht einmal für alle Tibeter die wichtigste spirituelle Autorität, geschweige denn für alle Buddhisten weltweit. Und dass er auch im Westen als höchste moralische Instanz galt, bei Meinungsumfragen in Deutschland sogar Papst Benedikt XVI. als größtes aller Vorbilder hinter sich ließ, musste doch zumindest einige kritische Nachfragen aufwerfen.

Was für ein Leben! Als Tenzin Gyatso 1935 in einem unscheinbaren Bauerndorf auf dem Dach der Welt geboren; als Kleinkind von einem Suchtrupp hochrangiger Äbte als Wiedergeburt früherer Dalai Lama »erkannt« und nach Lhasa gebracht; mit neun Jahren die Krönung zum religiösen Oberhaupt der Tibeter im Potala-Palast; intensive Kurse durch buddhistische Lehrer; als Jugendlicher von Mao Zedong umworben, der ihn für seine Ziele instrumentalisieren wollte; mit vierundzwanzig Jahren die abenteuerliche Flucht über die Himalaja-Pässe, nachdem Chinas »Volksbefreiungsarmee« in Tibet einmarschiert war. Seine Karriere ging dann weiter im indischen Exil, als geistiger und politischer Führer seines Volkes, der den »Mittleren Weg« des gewaltlosen Widerstands predigte, ohne freilich den kulturellen Genozid in seiner Heimat aufhalten zu können. Dann als Krönung für den sanften Führer-ohne-Land, für den berühmtesten aller Buddhisten: der Friedensnobelpreis 1989.

Seitdem zieht der vierzehnte Dalai Lama noch rastloser durch alle Kontinente, trifft Politiker in der EU und in den USA. Er wirbt längst nicht mehr für eine vollständige staatliche Unabhängigkeit Tibets, sondern für einen »wahren« Autonomiestatus, der KP-Führung in Peking gilt er dennoch als Separatist und Staatsfeind Nummer eins. Vor allem aber reist der »Ozean der Weisheit« als spirituelle buddhistische Führungspersönlichkeit durch die Welt, füllt mit Vorträgen und Seminaren überall die Hallen und sogar ganze Stadien. Sind seine Reden eher allgemein gehaltene Appelle zum Weltfrieden und Aufforderungen zum ethischen Handeln im privaten wie im öffentlichen Leben, dienen die komplexen Kalachakra-Riten, denen er vorsteht, Buddhisten mit fortgeschrittenen Glaubenskenntnissen.

Wir trafen uns während der vergangenen dreißig Jahre in Leipzig und Lausanne, in München und Montreal. Aber meist sah ich den Dalai Lama in Dharamsala, dem kleinen Ort im indischen Himalaja-Vorgebirge, wo er nach seiner Flucht vor Maos Truppen 1959 Asyl fand und wo die tibetische Exilgemeinde ihr »Little Lhasa« aufgebaut hat. Mit kleinen Tempeln, Pilgerherbergen, Devotionalienläden – und dem schlichten, von einem Rosengarten eingerahmten Amtssitz des vierzehnten Dalai Lama.

In den engen Gässchen des Ortes drängten sich neben etwa fünftausend Tibetern, von denen die meisten schon hier in Indien geboren wurden, manchmal fast genauso viele Sinnsuchende und Pilger unterschiedlichster Provenienz. Pensionierte Lehrerinnen aus Bayern ebenso wie mittellose italienische Hippies, die zur Finanzierung ihrer Yogakurse mit Marihuana handelten, französische Unternehmer, die in einem der Klöster Meditationsseminare besuchten, Vertreter von Umweltgruppen, die sich von den Lamas in ihrem antikapitalistischen und »grünen« Weltbild Unterstützung erhofften. Und abends begegnete man sich im Café Shambala, wo mehrmals im Jahr auch Dalai-Lama-Fans aus Hollywood wie Richard Gere und Sharon Stone zu Gast waren und sich wie die Rocksängerin Tina Turner unter die weit gefasste spirituelle Gemeinde mischten.

Zu den prominenten deutschen Buddhisten zählten damals schon Schauspieler wie Marie-Luise Marjan, Armin Rohde und der später so jung verstorbene Jazzmusiker Roger Cicero. Unter den Wissenschaftlern fühlten sich so bedeutende Gelehrte wie der Physiker (und ältere Bruder des Bundespräsidenten) Carl Friedrich von Weizsäcker und der Psychoanalytiker (und ursprünglich katholisch geprägte Theologe) Eugen Drewermann zu der sanften Religion hingezogen. Vom politisch ganz linken Spektrum bis zu den Grünen und Wertkonservativen faszinieren gerade heute viele die Lehren des Siddharta Gautama – sie stehen dabei in der großen Tradition von so bedeutenden Denkern wie Arthur Schopenhauer, Hermann Hesse und Dietrich Bonhoeffer.

Heute machen vor allem Topmanager aus der Industrie zwischen Berlin, Hamburg und München »Achtsamkeit« zum Wort und Trend der Stunde: Pate stand ein Begriff aus der buddhistischen Literatur, »Satipatthana«, es geht darum, bewusst die eigenen Empfindungen wahrzunehmen, das, was im Körper vorgeht und sich im Bewusstsein abspielt. Die neu entdeckte Innerlichkeit, in zahlreichen Seminaren gelehrt, soll helfen zu entspannen und sich dem Wesentlichen im Leben zuzuwenden, als Mittel gegen Burnout. Meditations-Apps sind zu einem Massenphänomen geworden, »Buddha to go« überschrieb das ZEITmagazin seine Titelgeschichte Ende Februar 2018.

»Warum begeistert der Buddhismus die Menschen im Westen so, weshalb versprechen die Menschen sich gerade von Ihnen persönlich so viel?«, habe ich den Dalai Lama einmal gefragt.

Er zögerte lange mit der Antwort. »Vielleicht glauben sie, ich könnte ihnen so eine Art Instant-Erleuchtung beschaffen«, sagte er. »Womöglich denken sie auch an tantrische Sexpraktiken.« Und dann prustete er los. Lachte sein dröhnendes, ansteckendes Lachen, das er manchmal wie eine Waffe einsetzt. Wenn er nicht weiterweiß, wenn er nicht wirklich antworten will.

Aber später kamen wir immer wieder auf das Thema zurück, und natürlich hatte sich der Religionsführer über das Phänomen seiner Beliebtheit und der Attraktion des Buddhismus ernsthafte Gedanken gemacht. »Den Menschen im Westen, gerade den Erfolgreichen, ist bewusst geworden, dass es jenseits aller materieller Errungenschaften, jenseits aller beruflicher Erfolge noch etwas geben muss. Der Kapitalismus, die Leistungsgesellschaft, der gesteigerte Lebensstandard mit all seinen Möglichkeiten zu immer mehr Konsum ersetzen nicht die spirituellen Werte. Sie erzwingen im Gegenteil die Suche nach ihnen.«

Und die Antworten auf diese Sinnleere hat ausgerechnet eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Religion, deren Gründer aus einer Feudalgesellschaft stammte, als abtrünniger Fürstensohn jahrelang halbnackt und hungernd durch die Wälder und Sümpfe am Ganges zog, Welten und Lichtjahre von Europa und Amerika und deren heutigen Problemen entfernt?

Der vierzehnte Dalai Lama war sich da weniger sicher als viele seiner angereisten Anhänger. »Ich sage denen immer: Warum muss es ausgerechnet der Buddhismus sein, der ja bei näherer Beschäftigung ein durchaus komplexes und schwieriges Gedankengebäude darstellt? Schaut euch doch erst mal nach einem Glauben in eurem Kulturkreis um! Und muss es denn überhaupt eine formale Religionszugehörigkeit sein?«

Ähnlich verblüffend waren seine Aussagen zur eigenen Rolle. Wir unterhielten uns einmal lange über seine früheste Jugend, über die merkwürdigen Riten, durch die er nach dem Todes seines Vorgängers als der Auserwählte, als der wiedergeborene Dalai Lama gefunden wurde – Äbte aus Lhasa waren aufs Land gefahren und hatten ihn als Dreijährigen aufgrund von Tests mit einer alten Gebetstrommel und einem Perlenkranz »erkannt«. Er erinnere sich nicht an die Prüfungen, auch nicht an eines seiner Vorleben, sagte er mir. »Ich muss akzeptieren, dass ich mit allen meinen Vorgängern und auch mit dem Buddha selbst spirituell verbunden bin.«

Er hat mir wohl meine Skepsis angesehen. Wenn Menschen aus einem anderen Kulturkreis wie ich mit dieser Geschichte Verständnisprobleme hatten, leuchtete ihm das durchaus ein. »Aber glauben Sie mir, das mit der jungfräulichen Geburt ist für mich auch nicht so ohne Weiteres zu begreifen.«

Der Dalai Lama hält es für möglich, dass er der Letzte seiner Art sein könnte. Er sei sich völlig unsicher, ob es noch eine Wiedergeburt geben würde, geben sollte, sagte er mir bei einem unserer letzten Gespräche. Für seine eigene Zukunft habe er einen Traum: Er würde gerne nur Tenzin Gyatso sein, ein einfacher Mönch ohne politische Verpflichtungen, und als solcher seine Heimat wiedersehen. Ich habe das lange Zeit für ein reines Gedankenspiel gehalten, für einen geschickten Trick, die Tibeter noch mehr hinter sich zu scharen, für eine dieser Koketterien, zu denen der Dalai Lama durchaus fähig ist: Er verblüfft gerne einmal seine Gegner (»Ich bete täglich für die Erleuchtung der chinesischen KP-Führung«), aber auch seine Anhänger (»Das kann doch nicht so schwer sein, ohne mich auszukommen«) – wie ein weiser Clown kam er mir immer vor, ein bisschen Mahatma Gandhi, ein bisschen Groucho Marx.

Aber 2011 zog sich der Dalai Lama tatsächlich aus allen seinen politischen Ämtern zurück. Er verzichtete im Exilparlament, dem er bisher vorstand, auf jeden Einfluss und wollte auch gegenüber Peking nicht mehr in offizieller Funktion auftreten. Stattdessen ließ er für seine Exilgemeinde freie Wahlen ausschreiben, schuf ein unabhängiges Parlament mit einem Ministerpräsidenten und damit demokratische Strukturen, wie es sie in seiner Heimat nie gegeben hatte (und derzeit unter Pekings Statthaltern in Lhasa natürlich auch nicht gibt). Als geistlicher Führer aber blieb der Dalai Lama seinem Volk erhalten, an seiner Bedeutung als Symbolfigur Tibets änderte sich wenig. Im Westen machten seine Schriften Furore: DerAppell des Dalai Lama an die Welt wurde ebenso zum Bestseller wie das mit dem südafrikanischen Friedensnobelpreisträger und Erzbischof Desmond Tutu gemeinsam verfasste Buch der Freude. Und nach wie vor – trotz aller Verbote, auch nur ein Bild von ihm zu besitzen – genießt er als »Ozean der Weisheit« in seiner Heimat große Verehrung.

Das hat offensichtlich auch das Zentralkomitee der Volksrepublik China erkannt. Kaum etwas fürchten die Mächtigen von Peking mehr, als dass der Dalai Lama noch zu Lebzeiten eine »Wiedergeburt« ernennt, einen charismatischen Nachfolger, womöglich in Lhasa ansässig, den sie schwer kontrollieren können. Deshalb ist die KP so weit gegangen, selbst das Recht auf die Feststellung einer Reinkarnation zu beanspruchen – ein einmaliger Vorgang für eine atheistisch geprägte Partei. Und dennoch: Der Dalai Lama ist fest davon überzeugt, dass nicht alles Show ist, was in China als »Buddhismus-Revival« daherkommt. »Viele der führenden Funktionäre der Partei sind doch selbst Buddhisten und praktizieren ihren Glauben, darüber habe ich konkrete Informationen«, sagte er in einem unserer Gespräche und bekräftigte die Aussage, als er meinen zweifelnden Blick bemerkte. »Das können Sie recherchieren!« Auch weltweit sieht er seinen sanften Glauben auf dem Vormarsch, trotz oder gerade wegen des Verzichts auf Missionierung.

Selbstzweifel, Selbstbescheidung, Selbstironie – das alles sind Werte, für die der Dalai Lama steht. Nach Auffassung seiner Anhänger symbolisieren sie gleichzeitig weltweit einen durchgehend sanften und friedlichen Glauben. »Im Namen des Buddhismus wurden jedenfalls keine Kriege und Kreuzzüge geführt«, sagt Religionswissenschaftler Schumann. Dabei verdrängen viele Buddhisten, dass doch auch Vertreter dieser Religion heute in der Welt Verbrechen begehen: In Sri Lanka, wo Scharfmacher in safranfarbenen Roben Flüchtlingsunterkünfte zerstören. Vor allem aber in Myanmar, wo militante Mönche gegen die muslimische Minderheit der Rohingya hetzen, sich monatelang an der Seite des Militärs daran beteiligt haben, Dörfer niederzubrennen. Der Dalai Lama hat die Übergriffe im früheren Burma 2017 scharf verurteilt. Lebte Buddha heute, stünde er auf der Seite der verfolgten Muslime, schrieb er in einem offenen Brief. (Das Schlusskapitel dieses Buchs widme ich der Geschichte des Buddhismus, einschließlich seiner historischen und aktuellen Verfehlungen.)

Wer diese Religion, diese Philosophie wirklich kennenlernen und begreifen wolle, sollte zu den Ursprüngen zurück, meinte der Dalai Lama einmal zu mir, zu den Stätten aufbrechen, in denen Buddha gewandert ist. Sollte sich auch mit dem Mann vertraut machen, der China und Indien auf einzigartige Weise verbinde: einem Mönch namens Xuanzang alias Hsüan Tsang oder Hiuen Tsiang. Irgendwann bei meinen Gesprächen in Dharamsala fällt dieser Name. Und dann taucht er wieder auf. Und wieder.

Tibets Führer bewundert den chinesischen Mönch, der im frühen siebten Jahrhundert aus dem Reich der Mitte aufbrach, unter größten Gefahren durch Wüsten und über hohe Bergpässe über die legendäre Seidenstraße Richtung Westen zog, um am Ganges nach Originalspuren und authentischen Manuskripten des Siddharta zu suchen. Fast siebzehn Jahre und über fünfzehntausend Kilometer war der Pilger unterwegs, bevor er im Triumph in die Heimat zurückkehrte. Und je mehr ich mich mit dem Mönch beschäftigte, desto mehr konnte ich die Bewunderung des tibetischen Gottkönigs nachvollziehen.

Ich erfuhr dann auch von der ganz besonderen Beziehung, die den Dalai Lama mit diesem Xuanzang verbindet. 1954, als es bei einer kurzen Tauwetterperiode so aussah, als könnte sich der tibetische Führer mit dem Großen Vorsitzenden versöhnen, durfte der Dalai Lama dem indischen Premierminister Jawaharlal Nehru im Auftrag Maos eine Urne mit Reliquien des Mönchs übergeben: Es war als großzügige, entgegenkommende Geste Maos gegenüber dem Tibeter wie gegenüber dem Inder gedacht – aber beide stellten bald fest, dass der Politiker in Peking falschspielte: Mao Zedong dachte gar nicht daran, Tibets Autonomie zu respektieren. Enttäuscht musste sich der damals noch sehr junge und naive Dalai Lama von seinen Illusionen verabschieden.

Der Große Vorsitzende überfiel mit seiner Armee wenige Jahre nach der Unterwerfung Tibets auch seinen großen Nachbarn Indien wegen Grenzstreitigkeiten, fügte Nehru im November 1962 eine bittere militärische Niederlage zu. Sie wirkt bis heute nach, trotz verbesserter diplomatischer Kontakte und intensivierter Geschäftsbeziehungen haben sie viele Inder zumindest psychologisch noch immer nicht ganz verdaut. Und gerade in jüngster Zeit kommt es immer wieder zu Grenzscharmützeln zwischen den asiatischen Riesen, die doch mit ihren Gesellschaftsmodellen, mit allem, wofür sie stehen und kämpfen, einen scharfen Konkurrenzkampf ausfechten.

Xuanzangs sterbliche Überreste aber werden in China wie in Indien verehrt. Warum preisen gerade in diesen Tagen Chinesen wie Inder den Mönch so als »ihren« Helden, wieso entstehen in immer mehr Metropolen beider Staaten neue Denkmäler, Erinnerungsstätten und Museen? Warum haben chinesische und indische Regisseure, von ihren jeweiligen Regierungen animiert, einen gemeinsamen Film über Xuanzang gedreht – und kommentieren doch gleichzeitig eifersüchtig die angebliche »Vereinnahmung« des großen Pilgers und Abenteuerreisenden durch den jeweils anderen?

Wer ist dieser geheimnisvolle Xuanzang, der bis heute die beiden größten Völker der Welt mal eint, mal entzweit, wer ist dieser ganz besondere Heilige, der so viele Buddhisten weltweit fasziniert?

KAPITEL I

Der Mönch, die geheimen Schriftrollen und eine dramatische Reise

Dieser Mann hat alles gesehen, alles erlitten, alles genossen, was ein Chinese an Tiefen und Höhen in der Geschichte des großen Reiches erleben konnte: das turbulente Ende einer Ära, einen furchtbaren Bürgerkrieg, Aufstieg und Glanz eines Kaisers, der das Mandat des Himmels vorbildlich zu nutzen vermochte. Und all das, obwohl sich Xuanzang ein Drittel seines Erwachsenenlebens weit von seiner Heimat entfernt aufhielt, unter größten Gefahren durch fremde Länder zog und auf seiner Pilgerfahrt haarsträubende Abenteuer überlebte. Er war ein gelegentlich belächelter, lange verfemter und sogar steckbrieflich gesuchter Außenseiter und wurde gegen Ende seines Lebens doch zum Freund des ersten Mannes im Staate, bewundert und verehrt von Millionen seiner Landsleute. Heute gilt er der Geschichtsforschung als bedeutender Reisender und Religionswissenschaftler, als herausragender Forscher und Philosoph, dessen Vermächtnis bis in diese Tage reicht. Ein einmaliges Leben, ein unvergleichliches Schicksal.

Xuanzang kommt im Jahr 600 nahe Luoyang am Gelben Fluss in Zentralchina zur Welt, ein genaues Geburtsdatum gibt es nicht. Es lässt sich kaum behaupten, dass ihm eine große Karriere in die Wiege gelegt ist, jedenfalls keine, die von seiner Herkunft oder den finanziellen Möglichkeiten begünstigt wäre. Ganz im Gegenteil.

Die Familie kämpft hart ums Überleben, es sind viele Mäuler zu stopfen. Xuanzang ist schon Sohn Nummer vier, und die Mutter weiß nicht, wie sie das alles mit den kärglichen Barmitteln und dem kleinen Garten schaffen soll. Ihr Mann gilt zwar als ein Gelehrter, bewandert in den klassischen Schriften wie in konfuzianischen Lehren, aber er schlägt aus seinen intellektuellen Fähigkeiten kein Kapital. Das mag an seiner schwächlichen Gesundheit liegen, vielleicht aber auch an seiner politischen Vorsicht: Er will in diesen chaotischen Zeiten nicht als Beamter in den Staatsapparat eintreten, er fürchtet, sich zu exponieren – und wie so viele im Kerker zu enden oder, noch schlimmer, vor einem Exekutionskommando.

Die Sui-Dynastie trägt damals schon alle Kennzeichen des Niedergangs in sich. Korruption, Willkür und Folter prägen das Land, und besonders schlimm wird es, als sich mit einem Brudermord im Jahr 604 ein neuer Kaiser an die Spitze des Reiches putscht. Dieser Yang nimmt selbst in der an grausamen und inkompetenten Herrschern nicht armen Geschichte Chinas bald eine Sonderstellung ein.

Er richtet das Land mit immer neuen aberwitzigen Mammutprojekten zugrunde. Über fünf Millionen Arbeiter werden zur Fron für den Bau des Großen Kaiserkanals gezwungen, überwacht und angetrieben von Schlägertruppen. Gleichzeitig befiehlt Yang, die Große Mauer auszubauen, und erweitert Luoyang mit riesigem Aufwand zu seiner zweiten Hauptstadt. Und der Despot belässt es nicht bei diesem mörderischen Größenwahn im Inneren und an der Grenze: Er führt auch noch Angriffskriege, schickt seine Truppen in fast alle Himmelsrichtungen. Vor allem der Feldzug gegen das Reich Koguryo (das heutige Korea) wird zum verlustreichen Fiasko. Viele Bauern weigern sich, ihre Söhne der kaiserlichen Armee zu opfern, Hungerunruhen und Aufstände brechen aus.

All das prägt die Jugend des Xuanzang, kostet ihn den größten Teil seiner Kindheit. Die Umstände zwingen ihn, zu schnell erwachsen zu werden. Gleichaltrige Freunde hat er nicht. Aber inmitten der Anarchie bietet ihm zunächst noch die Familie Halt. Die Mutter, wahrscheinlich von buddhistischen Lehren beeinflusst, sorgt für eine liebevolle Erziehung. Der Vater impft seinen Söhnen den strengen Konfuzianismus ein, die Achtung gegenüber den Älteren. Xuanzang lernt schnell und will den Eltern immer wieder beweisen, wie ernst er es mit seiner Sohnestreue nimmt. Übereifrig, bis zur Selbstverleugnung gehorsam, von Verlustängsten geplagt: Er muss schon in jungen Jahren gespürt haben, wie die Welt um ihn herum zusammenbricht.

Alle seine Albträume werden wahr. Zu den politischen Wirren kommen private Tragödien. Vater und Mutter sterben schnell hintereinander, die Kinder werden mehr schlecht als recht bei entfernten Verwandten untergebracht. Sie sind nun bei ihrer Zukunftsplanung auf sich alleine gestellt. Ein Bruder Xuanzangs entschließt sich, Mönch zu werden, er macht den Jüngeren mit den wesentlichen Schriften des Glaubens bekannt, holt ihn über Wochen zu sich. Gemeinsam studieren sie, in einer Zelle aneinandergekauert, lesen, beten und meditieren die Nächte durch.

Xuanzang ist gerade erst zwölf Jahre alt, als im berühmten Basma Si, dem »Kloster des Weißen Pferdes« von Luoyang, vierzehn neue Mönche gesucht werden. Sie sollen eines der damals sehr begehrten staatlichen Stipendien erhalten. Hunderte junge Männer bewerben sich, auch Xuanzang stellt sich an die Klosterpforte, um zur Aufnahmeprüfung zugelassen zu werden.

Der Emissär, der das Zulassungsverfahren leitet, fragt den Knaben erstaunt nach seiner Herkunft und nach seiner Motivation, alle anderen Kandidaten sind wesentlich älter. Xuanzang verblüfft ihn mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Glaubensinbrunst. »Mein einziger Gedanke ist, das Licht der buddhistischen Religion zu verbreiten«, sagt der Knabe. Und da er auch alle inhaltlichen Fragen erstaunlich gut zu beantworten weiß, macht der Abt nach Rücksprache mit dem kaiserlichen Gesandten eine Ausnahme: Xuanzang wird trotz seiner Jugend als einer der Novizen im Kloster aufgenommen.

Er versenkt sich jetzt mit noch größerem Feuereifer in die komplizierten Schriften. Fünf glückliche Jahre lang ist das »Kloster des Weißen Pferdes« sein neues, geliebtes Zuhause. Eine geschützte Insel in dem erbarmungslosen Meer von Gewalt und Tod, das außerhalb der Mauern des Stifts tobt.

Aber der Bürgerkrieg wird immer schlimmer, und er kommt immer näher. Schilderungen von Historikern aus der Zeit zeichnen ein apokalyptisches Bild: Die Straßen von Luoyang sind von Leichen übersät, nachts übernehmen wilde Tiere die Stadt und machen auch nicht mehr halt vor den Mauern des Klosters. Truppen rivalisierender Rebellen bekämpfen sich gegenseitig, viele verbünden sich mit den Osttürken jenseits der Grenzen. Kaiser Yang flieht im Jahr 615, verschanzt sich mit den letzten Getreuen, ein machtloser Herrscher ohne Land, ein Kaiser a. D., über den langsam, aber sicher der Himmel einstürzt. Zwei Jahre kann er sich noch halten. Dann ermordet ihn einer seiner Generäle im Bad.

Das Reich zerfällt, aufgestückelt von marodierenden Bandenführern, die überall in Nord- und Zentralchina das Kommando übernehmen. Niemand ist mehr seines Lebens sicher, auch kein Mönch. Xuanzang entschließt sich schweren Herzens, von seinem Kloster Abschied zu nehmen. Er flieht mit seinem Bruder in den noch einigermaßen sicheren Süden, in das über tausend Kilometer entfernte Chengdu. Dort kommen sie in einer Abtei unter und können, einigermaßen geschützt, ihren Studien nachgehen. Xuanzang verblüfft seine Lehrer. Er brilliert in allen Fächern, und so erhält er schon ungewöhnlich früh, im zarten Alter von zwanzig Jahren, die Mönchsweihe. Ein sanfter, ein heiliger Mann – so ganz das Gegenteil des neuen Herrschers, der im Norden nach einigen erfolgreichen Feldzügen die Macht an sich gerissen hat.

Li Shimin heißt der Feldherr, der heimtückisch seine Verwandten aus dem Weg räumt und schließlich den Vater zwingt, zu seinen Gunsten auf das höchste Amt zu verzichten. Li lässt sich 626 zum Kaiser Taizong krönen. Wenig deutet angesichts dieser grausamen Vorgeschichte darauf hin, dass aus ihm einer der bedeutendsten Kaiser der chinesischen Geschichte werden könnte. Und doch führt dieser rücksichtslose und entschlusskräftige Regent sein Land zur Blütezeit der Tang-Dynastie – und er wird, mindestens ebenso erstaunlich, auf seine alten Tage auch zum besten Freund, Bewunderer und Gönner von Xuanzang.

Als der junge Mönch mitbekommt, wie sich die Lage in Zentralchina langsam beruhigt, verlässt er sein Refugium im südlichen Sichuan. Schweren Herzens nimmt er Abschied von seinem Bruder, der bleiben will. Xuanzang hat ermutigende Nachrichten über die neue Hauptstadt Chang’an gehört, die nur eine Tagesreise von seinem Heimatort Luoyang entfernt liegt. Schon ihr Name gefällt ihm, er bedeutet »Ewiger Friede«. Der junge Mann, nun Mitte zwanzig, findet in einem Kloster Unterkunft, wo er sich weiterbilden kann. Er vertieft sich weiter in die Studien, die religiösen wie die weltlichen. Er lernt Tocharisch, das auf den Märkten der Stadt von den aus Persien stammenden Händlern der Seidenstraße gesprochen wird; vor allem vervollständigt er seine Kenntnisse des Sanskrit, der wichtigsten Sprache im indischen Herzland des Buddha, der Sprache der heiligen Texte.

Mit diesen Schriften hat er so seine Probleme. Nicht dass er am Buddhismus als seiner Religion zweifeln würde, dafür gibt es keine Anzeichen. Er steht selbstverständlich zu den Grundsätzen seines Glaubens, zu der Ethik von Gewaltlosigkeit und Mitgefühl, zu der Verpflichtung, nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu lügen.

Buddhas Vier edle Wahrheiten bilden das Zentrum dieser Philosophie, für Xuanzang wie für alle seine Glaubensbrüder innerhalb und außerhalb des Klosters bindend. Da ist zum Ersten die Erkenntnis, dass alles auf Erden leidvoll ist, solange ein Mensch in Unwissenheit lebt: Er bleibt ohne die höhere Erkenntnis in Frustrationen gefangen, weil ihm selbst Liebe und Glück als vergänglich erscheinen. Doch da ist zum Zweiten ein tröstliches Wissen, dass er diesem Leiden entkommen kann, wenn er dessen Ursprung erkannt hat, nämlich den Hass und die Gier und das Festhalten an so weltlichen Dingen und Gelüsten wie etwa der Macht über andere. Die daraus resultierenden menschlichen Taten – genauer gesagt, schon die Absichten – häufen das Karma an, eine Art Konto der Lebensführung. Die guten und schlechten Handlungen bestimmen im Kreislauf der Wiedergeburten die nächste Existenzform.

Der Mensch kann in fünf verschiedenen Reichen wiedergeboren werden. Höchst unerfreulich bei den Höllenwesen und den Tieren, schon besser, aber keinesfalls perfekt bei den Geistern, den Menschen und den Göttern. Die Götter und Geister sind laut Buddhas Lehre mächtig, aber sterblich, und sie können nicht vom Samsara, dem ewigen Kreislauf, erlöst werden. Das kann nur der Mensch, dem als einzigem Lebewesen das Nirvana winkt, das Übergehen in den Zustand der letzten Läuterung, des Nichtleidens, des ewigen Glücks. Aber um dieses Ziel zu erreichen, muss der Mensch – edle Wahrheit Nummer drei – erst einmal Unwissenheit, Hass und Gier überwinden. Das ist, edle Wahrheit Nummer vier, nur möglich, wenn er den richtigen Weg zur Erlösung beschreitet.

Der Achtfache Pfad weist jedem Buddhisten die Richtung. Er besteht zunächst einmal aus der rechten Anschauung, nämlich der Erkenntnis, dass er mit den oben genannten »Wahrheiten« richtigliegt. Dann aus dem rechten Entschluss – du sollst dich freihalten von Habgier und Böswilligkeit; aus der rechten Rede – du sollst Verleumdungen und aufgebrachten Tonfall vermeiden; aus dem rechten Handeln – du sollst nicht stehlen und sinnliche Ausschweifungen meiden; aus dem rechten Lebensunterhalt – du sollst keinen Beruf ausüben, bei dem andere Wesen getötet oder gequält werden; dem rechten Streben – du sollst üble Gedanken vermeiden und »heilsame« weiterentwickeln; aus der rechten Achtsamkeit – du sollst die Kontrolle über alle Abläufe des eigenen Körpers und des eigenen Geistes erringen; und zuletzt noch aus der rechten Konzentration – du sollst dich in Meditation versenken und so den Frieden der inneren Stille genießen und zu höheren Einsichten gelangen.

So weit, so gut, so schwierig. Aber Xuanzang muss feststellen, dass es in den Klöstern seiner Umgebung und mehr noch im Kreis der Laien jenseits der allgemeingültigen Grundlagen wenig Übereinstimmungen gibt. Der Buddhismus zerfällt in verschiedene Schulen, die sich in ihren Auffassungen teilweise diametral widersprechen.

Manche Mönche glauben, wahre Erleuchtung sei nur denen möglich, die das weltliche Leben ganz aufgeben und in Klöstern meditieren. Sie sehen sich als Bewahrer der ursprünglichen Lehre und behaupten, ihre Schriften seien die ältesten und damit allein gültigen, die strengstens zu befolgen seien. Theravada oder auch Hinayana (»Kleines Fahrzeug«) nennt man diese Tradition, der zufolge sich jeder ohne Hilfsmittel auf den Heilsweg begeben muss. Asketisch und elitär.

Xuanzang macht diese Lehrmeinung mal traurig, mal ärgerlich. Tagelang grübelt er, ob es wirklich stimmen kann, dass die buddhistischen Schriften nur Mönchen die Erleuchtung verheißen – ihm erscheint das ungerecht. Seiner Überzeugung nach sind andere überlieferte Texte die gültigen, obwohl sie, zugegeben, aus späteren Jahren datieren. Das Mahayana (»Großes Fahrzeug«), dem er nachhängt, betont das Mitgefühl und die Sorge um andere Menschen auf dem Erlösungsweg. »Groß« wird diese Strömung deshalb genannt, weil der menschliche Geist hier zwar wie beim Hinayana das »Fahrzeug« zur Erleuchtung ist, man aber bei der Buddhaschaft nicht nur an sich selbst denkt, sondern auch anderen dabei hilft, den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen. Dazu dienen die Bodhisattva, die Wesen der Barmherzigkeit, die ihren Eingang ins Nirvana selbstlos verschieben und die selbstverständlich auch Laien außerhalb der Klostermauern zur Verfügung stehen.

Xuanzangs Glaubensvorstellungen sind nicht denkbar ohne aktive Tugenden, ohne Großzügigkeit, Mitgefühl und Wohltätigkeit für andere. Aber ihn plagen Zweifel. Meint es Buddha wirklich so? Und was ist mit all diesen anderen Schriften und Doktrinen, die da in manchen Klöstern kursieren, die seiner Meinung nach gar keinen Sinn ergeben? Was mit den richtigen Yogapraktiken, den Meditationsübungen?

Der Mönch kommt nach Jahren des intensiven Studiums zu dem Ergebnis, dass sich die Widersprüche nicht auflösen lassen. Er ahnt, warum es so viele Auslegungen des Glaubens gibt: Der Buddhismus hatte einen langen und steinigen Weg, bis er es von seinen Ursprüngen im indischen Ganges-Land nach China schaffte. Händler mit ihren Kamelkarawanen brachten den neuen Glauben im ersten Jahrhundert über die schwindelnd hohen Pässe des Karakorum und Pamir auf die Seidenstraße und dort von Zentralasien ins Reich der Mitte. Dabei machte die Lehre fast zwangsweise manche Wandlungen durch. Musste sie durchstehen, um im chinesischen Herzland Fuß zu fassen – ein schwieriger Prozess.

Die Idee von der Irrealität des Seins wirkte auf chinesische Politiker wie Gelehrte morbid, unrealistisch, widersinnig. Im konfuzianisch geprägten Reich der Mitte ging es immer um die ideale Ordnung des Diesseits. Das Streben nach einer Erlösung im Jenseits, die Idee von einem Kreislauf der Wiedergeburten und der Erleuchtung im fernen Nirvana passten nicht in die praktische Gedankenwelt der Menschen am Gelben Fluss und am Jangtse. Keusches Mönchsleben und Einäscherung der Toten widersprachen den chinesischen Vorstellungen von Familie, Sittlichkeit sowie Dienst an den Ahnen zutiefst.

Erst als sich der Buddhismus im fünften und sechsten Jahrhundert chinesischen Vorstellungen anpasste, als er sich in der Begrifflichkeit der mystischen Volksreligion des Daoismus anglich, konnte er in China populär werden. Zu Xuanzangs Zeiten ist das alles schon vollzogen. Aber Xuanzang will wissen, ob bei dieser Annäherung nicht Wesentliches verloren gegangen ist. Und je mehr er sich mit den klassischen Texten beschäftigt, desto mehr treiben ihn Sorgen um: Haben die verschiedenen chinesischen Übersetzer wirklich gut genug Sanskrit gekonnt? Haben sie unabsichtlich – oder gar mit vollem Bewusstsein – die wahre Lehre verfälscht?

Er hat bei den wenigen Originaltexten, die ihm vorliegen und bei denen er die Übertragung ins Chinesische verfolgen kann, viele Ungereimtheiten und Widersprüche gefunden. Er sieht nur einen Weg, um herauszufinden, was wahr ist. Er muss selbst an die Ursprungstexte herankommen. Er muss sie in Buddhas Heimat finden und dort lesen. Und sie dann in seine chinesische Heimat mitbringen, sie selbst übersetzen, um alle Zweifel auszuräumen. Er muss zu den Quellen seiner Religion reisen.

Xuanzang weiß, dass eine solche Expedition mit höchsten Gefahren verbunden ist – vor ihm liegen Tausende Kilometer hitzeflirrende Wüste, schneebedeckte, lawinenbedrohte Gebirgspfade, reißende, schwer zu überwindende Ströme. Und es drohen menschengemachte Gefahren: Regionen, die von Völkern bewohnt und von Regierenden beherrscht werden, die den Chinesen feindlich gesinnt sind, vor allem in den Gebieten der Osttürken; außerdem ganze Landstriche, die von marodierenden Räuberbanden kontrolliert werden. Der Kaiser hat sein Reich abgeschottet, die Armee überwacht von einer ganzen Reihe dicht gestaffelter, hintereinander liegender Wachtürme die Grenzen. So ist dafür gesorgt, dass China nicht von Feinden überrannt wird. Und dass keiner ohne Genehmigung von ganz oben das Land verlässt.

Der Mönch entschließt sich im Jahr 628, eine Petition an den Herrscher zu schicken und ihn um eine Sondererlaubnis zu bitten. Ausführlich erläutert er seinen Wunsch, die buddhistischen Schriften in Indien zu erforschen und Kopien nach Hause zu bringen, er betont den friedlichen Charakter seiner Reise.

Taizong ist da gerade erst zwei Jahre an der Macht. Er hat in dieser Zeit Erstaunliches geleistet, der Bürgerkrieg ist beendet, die Wirtschaft in Schwung gebracht; die Hauptstadt Chang’an (das heutige Xian) erblüht. Manches deutet schon auf kommende Glanzzeiten hin. Doch der Kaiser ist sich seiner Macht offensichtlich noch längst nicht sicher, er will das Reich mit gezielten Angriffen nach außen konsolidieren. Was er am wenigstens gebrauchen kann, ist Unruhe und ein unreguliertes Regiment an den Staatsgrenzen.

Und was den Glauben betrifft: Taizong interessiert sich für den Buddhismus, aber ganz geheuer ist ihm die Religion nicht. Seine Berater am Hof warnen ihn, die Lehre mit ihrer fremdländischen Herkunft und ihrer potenziell subversiven Haltung gegenüber jedem weltlichen Herrscher könnte zu einer ernst zu nehmenden Herausforderung für den Staat werden. Da hält es Taizong in seinen frühen Regierungsjahren lieber mit der daoistischen Religion, die mit ihren naturreligiösen und mystischen Elementen einen ganz anderen, eher staatstragenden Charakter besitzt. Der Kaiser lehnt Xuanzangs Ansinnen, in den Westen zu reisen, nicht nur ab, sondern bekräftigt mit einem öffentlichen Dekret noch einmal ausdrücklich sein Reiseverbot.

Der Mönch ist verzweifelt – jetzt kann er nicht einmal mehr sagen, er hätte von einem solchen Verbot nichts gewusst. Er weiß, er begeht ein Verbrechen, wenn er seine Pläne weiterverfolgt. Aber Xuanzang ist zu seinem Vorhaben entschlossen, koste es, was es wolle. Und ein Traum bestärkt ihn noch in seiner Berufung: Da sieht er als Pilger den goldglitzernden, heiligen Berg Sumeru vor sich, der Überlieferung nach Mittelpunkt des Universums. Vor ihm liegt ein See. Lotosblumen tragen ihn über das Wasser. Als er den Berg besteigen will, rutscht er immer wieder an den steilen Gletschern aus. Auf einmal trägt ihn ein mächtiger Wirbelwind zum Gipfel, vor seinen Füßen erstreckt sich die Welt mit all ihren Ländern, bis nach Indien und sogar darüber hinaus.

Xuanzang wacht auf und fühlt sich in seinem Entschluss noch gefestigter. Das große Abenteuer kann beginnen. Muss jetzt beginnen.

Man schreibt das Jahr 629, als es losgeht. Xuanzang hat gerade seinen achtundzwanzigsten Geburtstag hinter sich, er ist ein weit über sein Kloster hinaus geschätzter buddhistischer Gelehrter und auch äußerlich eine imposante Erscheinung. Ungewöhnlich groß für seine Zeit und sein Volk, so um die eins achtzig, federnder Gang, ebene Gesichtszüge, strahlende Augen, ein heller, gleichmäßiger Teint – all das vervollständigt das Bild eines Beaus. Er trägt gern weite Gewänder aus Baumwolle, zusammengehalten von einem breiten Gürtel; als Reisegepäck bevorzugt er eine Art Tornister, den er sich auf den Rücken schnallt. Sein schwärmerischer Biograf Huili beschreibt diesen Xuanzang geradezu als Lichtgestalt: »Er ist stets freundlich, aber nie anbiedernd, achtet sehr auf die Auswahl seiner Freunde, seine Sprache ist gebildet und gewandt, die Stimme sonor und voll. Er zeichnet sich gleichermaßen durch Würde, Eleganz und Harmonie aus, so dass seine Zuhörer nicht müde werden, ihm zu lauschen …«

Wir wissen das alles so genau, weil Xuanzang in späten Lebensjahren einem seiner Klosterbrüder für eine Biografie Rede und Antwort gestanden hat. Dieser Mönch namens Huili ist ein historischer Glücksfall: Er beschäftigt sich nicht nur mit dem Werk des Meisters und dessen Vermächtnis, sondern entlockt ihm auch persönliche Eindrücke über seine Pilgerfahrt, gelegentlich sogar Emotionen. Dann ist da noch Xuanzangs eigener, akribisch genauer politisch-geografischer Bericht über seine siebzehnjährige Reise zu den Quellen des Buddhismus. Die beiden Werke – in englischen Übersetzungen erhältlich – ergänzen sich wunderbar (wenngleich man beim sehr von Verehrung geprägten Text Huilis gelegentlich den Eindruck hat, dass die »Wunderkräfte« des Freundes überstrapaziert werden). Aber alles in allem: zwei Bücher, die ziemlich präzise Auskunft darüber geben, was da vor etwa 1400 Jahren passiert ist.

Xuanzang ist trotz des kaiserlichen Dekrets entschlossen, sein Gelübde zu erfüllen. Er erreicht die Hochtäler und Schluchten der Provinz Gansu, die damals das westliche Ende des Reiches bildeten. Liangzhou, das heutige Wuwei, ist die letzte bedeutende Stadt vor der Grenze. Jenseits der Wachtürme beginnt die unwirtliche Steppe von Alashan und dann bald auch die noch schwerer zu durchdringende Wüste Gobi. Der Pilger hält sich einen Monat in der Grenzstadt auf, sammelt Informationen und legt sich Vorräte an. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hält er buddhistische Vorträge für Mönche wie Kaufleute. Bald spricht sich herum, dass da ein brillanter Religionsgelehrter unterwegs ist – und wohl beabsichtigt, weiter Richtung Westen zu ziehen. Der Bürgermeister der Stadt lädt Xuanzang vor, drängt ihn, den kaiserlichen Erlass auf jeden Fall zu respektieren und in die Hauptstadt des Tang-Reichs zurückzukehren.

Der Mönch denkt nicht daran, sich von seinem Weg abbringen zu lassen. Doch er weiß jetzt, dass er sehr vorsichtig sein muss. Er beendet seine Predigten, bewegt sich nur noch nachts durch die Straßen Liangzhous. Zwei junge Mönche führen ihn bei spärlichem Mondlicht zum letzten Rastplatz, bevor er sich Richtung Feindesland und Wüste aufmacht – »traurig und schweigend«, wie sein Biograf notiert.

Bei der Auswahl seiner Führer an der Grenze zeigt der unerfahrene Weltreisende zunächst wenig Geschick und zahlt Lehrgeld. Er lässt sich mit einem Zentralasiaten ein, der großspurig anbietet, ihn bis jenseits der Festung Jadetor zu schleusen und ihn auch an den fünf Wachtürmen vorbeizubringen. Nach einem langen Ritt, den Xuanzang zudem noch auf einem eher klapprigen Gaul bewältigen muss, breiten sie nachts, in Sichtweite des Jadetors, ihre Matten auf dem Boden aus. Der Mönch fällt in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Doch plötzlich schreckt er aus seinem Traum auf – sein Führer steht mit gezücktem Dolch vor ihm. Im letzten Moment und ohne Erklärung steckt er die Waffe weg; Xuanzang wagt nun nicht mehr einzuschlafen, dämmert fiebrig dem Morgen entgegen. Und betet zum buddhistischen Erleuchtungswesen Guanyin, die »Mitleidvolle« möge ihn doch vor Meuchelmördern beschützen.

Bei Tagesanbruch schleicht sich sein dubioser Begleiter weg – eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Der Mönch hat keinen mehr, der ihm etwas antun kann, aber er ist nun ganz auf sich allein gestellt. Und vor ihm liegt die menschenfeindliche Wüste.

Er sieht keine Lebewesen in dem Meer von Sand und Geröll, nur Knochen und Gerippe. Sie zeugen von all denen, die es nicht geschafft haben, lassen Leid und Verzweiflung erahnen. Plötzlich glaubt er am Horizont glühende Kohleberge zu erkennen, schwer bewaffnete Männer reiten auf ihn zu, rätselhafterweise mit dicken Felljacken bekleidet. »Vor seinem Auge taucht das Glitzern von Lanzen auf, die Gestalten nehmen Tausende neue Formen an und lösen sich dann in Nichts auf«, schreibt sein Biograf Huili. Offensichtlich hat der vom Durst geplagte Mönch Halluzinationen, in der flirrenden Hitze geht eine schreckenerregende Fata Morgana in die nächste über. Endlich dann ein Bild, das real ist, auch beim dritten und vierten Sehen nicht verschwimmt: Xuanzang sieht am Horizont den ersten Wachturm. Die Grenze zur Welt da draußen.

Er gräbt sich in einer Sandkuhle ein Bett, wartet das Verschwinden des Tageslichts ab, will sich nachts an den Wachen vorbeischleichen. Doch als er nahe der Befestigung einen Wasserplatz sieht, wird er unvorsichtig und will einen Schluck trinken. Ein Fehler, denn als er seine mitgebrachte Flasche mit dem kostbaren Nass auffüllen will, zischt ein Pfeil knapp an ihm vorbei. Dann noch einer. Xuanzang weiß, dass die Wärter ihn entdeckt haben. »Hört bitte auf zu schießen, ich bin kein Verbrecher, sondern nur ein Mönch auf Pilgerreise!«

Man bringt ihn zum Chef der Garnison – und das hätte eigentlich das Ende seiner Pläne bedeuten müssen, seine Inhaftierung. Doch der Hauptmann ist selbst ein Buddhist, er lässt ihn nach zahlreichen Mahnungen und Aufforderungen zur Rückkehr kopfschüttelnd ziehen. Die nächsten vier Wachtürme passiert der Mönch nachts und ohne besondere Probleme. Dann verschwindet der letzte chinesische Posten hinter ihm im Morgengrauen: Vor Xuanzang liegt nun endgültig der weite, unbekannte Westen – Königreiche mit Herrschern, die den Chinesen nicht immer freundlich gesinnt sind, manche mit dem Tang-Reich sogar tödlich verfeindet.

Bis zur nächsten größeren Oase sind es noch einmal fast vierhundert Kilometer Wüste. Kein Vogel, kein Baum, kein Orientierungspunkt. Ein aufbrausender Sturm verweht die Sanddünen. Xuanzang weiß von einer Quelle, die er erreichen muss. Doch er läuft im Kreis, wird immer schwächer. Zu allem Überfluss entgleitet ihm auch noch die Wasserflasche. Das Nass versickert.

Vier Tage und fünf Nächte lang kämpft sich der Pilger immer weiter, weiß sein Biograf zu berichten. Dann bricht er zusammen. Fieberträume schütteln ihn, im Delirium betet er verzweifelt, ist fast schon bereit aufzugeben. Aber sein klappriges Pferd beweist die entscheidenden Überlebensinstinkte. Die Mähre trägt ihn in einem aufkommenden kühlenden Wind zu einer Wasserstelle. Gegen alle Wahrscheinlichkeit schafft es Xuanzang bis zur nächstgrößeren Stadt Hami. Er verschlingt die berühmten Melonen, die dort gedeihen, erholt sich von den Strapazen. Und zieht dann weiter zum ersten wichtigen Etappenziel seiner Reise gen Westen, Richtung Quellen des Buddhismus. Nach Turfan.

Die Spione des Herrschers von Turfan haben Chü Wentai berichtet, dass da ein merkwürdiger Heiliger auf dem Weg in sein Reich ist. Der König bringt auch bald in Erfahrung, dass es sich bei dem Reisenden um einen Mönch aus dem Tang-Reich handelt, der weiter nach Indien will und als brillanter Religionsgelehrter und Redner gilt. Er sieht dem Neuankömmling mit großer Spannung entgegen: Der Monarch ist selbst ein überzeugter Buddhist und fühlt sich den Chinesen von seiner Abstammung wie von seinen politischen Überzeugungen her verbunden. Als sich Xuanzang abends der Oasenstadt nähert, zieht er ihm persönlich mit Fackeln entgegen, geleitet ihn nach der Ankunft im Palast zu einem Sitzplatz an seiner Seite. Xuanzang ist müde, aber der König besteht darauf, noch in der Nacht mit ihm zu diskutieren und ihn mit religiösen Fragen herauszufordern. Die beiden verstehen sich prächtig.