Sie er & ich Bei Verwechslung Liebe: Komplette Serie - Adelina Zwaan - E-Book
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Sie er & ich Bei Verwechslung Liebe: Komplette Serie E-Book

Adelina Zwaan

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Beschreibung

Die Spezial Edition enthält Band 1-10 Alle kompletten Bände gibt es jetzt als Spezial Edition und zum Vorteilspreis.

Milla will in wenigen Wochen heiraten, doch ihr Leben wird komplett auf den Kopf gestellt.
Eine verkorkste Junggesellinnenfeier, ein Barkeeper, ein Mofafahrer, eine Brücke, ein Sturz …
Lesen Sie alle Bände zum Vorteilspreis und erleben Sie, wie Milla den Sturz überlebt, ihr Leben umkrempelt und zu einer anderen Frau wird.

Romantik, Humor und viel Gefühl gepaart in einem zeitgenössischen Liebesroman.

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Sie er und ich - Bei Verwechslung Liebe Special Edition

Sammelband (Band 1 - 10 - komplette Serie)

 

 

Adelina Zwaan

AZ Books

 

Band 1

 

Widmung

Kinder, die sich selbst überlassen werden, wachsen zu unabhängigen, eigenverantwortlichen Erwachsenen heran und leben ihre Freiheit aus, denn sie kennen diese zu genau. Ist nichts da, was sie hält, drehen sie sich um und gehen suchen, was sie so sehr vermissen. Wahre und glaubhafte Liebe, die aus tiefstem Herz kommt, hält sie davon ab, zu gehen.

Diese Liebe fühlte ich nie dort, wo ich meine Kindheit verbrachte. Selbst, als ich als Erwachsene eindeutig darum bat, Vorschläge brachte und versuchte, ihnen zu sagen, was ich sah, wurde ich abgewiesen.

Also ging ich. Das steht mir als Erwachsene schließlich frei.

 

Adelina Zwaan

 

Kapitel 1

2016

Ich werde Maximiliana oder einfach nur Milla genannt. Seit wenigen Sekunden stehe ich auf dem Geländer einer Brücke. Krampfhaft umklammern meine nassen und kalten Finger das kalte Metall. Klingt nach Jackass und komisch, ist allerdings das genaue Gegenteil.

Todernst.

Ehrlich gesagt, bin ich nicht als der Typ Frau bekannt, der sich am frühen Morgen für gewagte Stunts auf Brückengeländer begeistert. Eher der Typ Frau, der auf McGyver, den rettenden Held wartet. Verdammt noch eins, wo zum Henker bleibt McGyver, wenn man ihn mal braucht? Der widmet sich doch humanitären Notfallsituationen und das hier, ist so was von einer Notsituation und humanitär.

Schon der Blick aus dem zweiten Stockwerk meines Berliner Immobilienbüros lässt mich erschaudern. Im Leben fällt mir nicht ein, mich freiwillig höher als drei Meter in die Luft zu begeben. Nun, um ehrlich zu bleiben, blieb ich bislang vor derlei Abenteuern verschont. Nebenbei bemerkt von sämtlichen Abenteuern.

Mit neunundzwanzig bevorzuge ich ein beschauliches, gediegenes Leben und heirate in vier Wochen. Vorausgesetzt McGyver rettet mich. Fraglich bleibt augenblicklich, ob ich noch heiraten will, denn vor einer halben Stunde erfuhr ich etwas Bedeutsames, was mir schwer verzeihlich erscheint.

Nun gut.

Ich fasse zusammen: Mein hollywoodreifer Stunt stellt das i-Tüpfelchen eines durch und durch misslungenen Abends dar. Der Abend, an dem ich meinen Junggesellinnenabschied feiere, und jetzt sage mir noch einer, es gäbe keinen Grund zur Panik. Der ursprüngliche Plan lautete, dass der Abend fröhlich endet. Im Normalfall klingen derlei Feiern nicht so aus, dass sich die Braut panisch an einem Geländer klammert und um Hilfe von McGyver fleht. Ich behaupte sogar ganz kühn, die wenigsten Verlobten lassen sich an diesem Abend und auf diese Art den Wind um die Nase wehen.

Rein theoretisch gehöre definitiv zu diesen wenigen.

Aber ich erzähle von vorne:

Mein Morgen fing damit an, dass ich verschlief. Ich hastete in mein Büro, wo ich nur schnell einige Akten sortieren, einen Anruf bei einem Kunden tätigen und frühstücken wollte. Im Anschluss wollte ich zu meiner Junggesellinnenfeier aufbrechen.

Auf dem Weg in mein Büro organisierte ich mir in einem Café ein kleines Frühstück. Dazu fuhr ich mit hinabgelassenem Fenster eine Runde um den Häuserblock, um einen freien Parkplatz zu finden. Für gewöhnlich finde ich um diese Uhrzeit immer einen Parkplatz vor dem Café. Heute nicht. Immer, wenn es schnell gehen soll, geht es schleichend voran und raubt mir den letzten Nerv.

An einer roten Ampel hielt ich und blätterte auf meinem Handy kurz den Nachrichteneingang durch. Ein lautes, metallisches Poltern erschreckte mich. Ich sah auf und erblickte ein Mann, der soeben meine Motorhaube traktierte. Grimmig sah er mich an und holte erneut zum Fausthieb aus. Die Faust senkte sich und hinterließ in meiner Motorhaube eine Delle.

Von der rohen Art schockiert, legte ich sicherheitshalber den ersten Gang ein und anschließend beide Hände auf das Lenkrad.

»Geht’s noch?«, brüllte ich.

Bisweilen ist Berlin eine exzentrische Stadt und randvoll mit skurrilen Personen. Keine Ahnung was dem erbosten Mann an der Motorhaube nicht passte, denn ich stand vorschriftsmäßig. Nicht zu weit links, nicht zu weit rechts auf der Fahrbahn und auch nicht auf dem Fußgängerüberweg. Alles ordnungsgemäß. Ausgenommen, dass er mich attackierte. Genauer gesagt meinen Mercedes, den ich liebevoll Meftel taufte.

»Wo warst du?«, schrie er mich an.

Ich sah mich um und fragte mich, ob ich im falschen Film bin. Allerdings meinte er eindeutig mich, denn hinter meiner Meftel stand lediglich ein Motorroller. Einige Passanten, die auf dem Bürgersteig schlenderten, sahen zu mir.

»Wir hatten vorhin einen Termin beim Jugendamt.«

»Geh gefälligst von meinem Auto weg!«, schrie ich.

Eilig gab ich mit der Hupe Signale und wedelte hektisch mit meiner Hand, damit er von Meftels Motorhaube ablässt.

»Deinem Auto?«

Er trat einen Schritt zurück, besah sich mit einem höhnischen Gesichtsausdruck Meftel und trat mit seinem Fuß kräftig gegen den Kotflügel. Meine arme Meftel. Eine zweite Delle zierte nun den Wagen an der Stelle, die er sich jetzt im Siegesrausch ansah. Mir ging sogleich auf, dass es sich um kein Versehen oder Scherz handelte, denn der Typ war eindeutig wütend und zu roher Gewalt bereit.

»Wie gefällt dir das, hä? Dich interessiert deine Scheiß Karre mehr als Kim?«

Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Aber der, der sich einbrannte, war der, dass eine total durchgeknallte Existenz seine Armseligkeit an Meftel ausließ. Reden schien aussichtslos, so verschnupft, wie der Knabe sich gab. In der Zwischenzeit schritt er im zackigen Tempo zur Fahrertür. Im Handumdrehen verriegelte ich den Wagen und schaute mich fieberhaft nach möglichen Helfern um.

Alle gafften, viele sahen weg und keiner kam zu Hilfe.

Seine flachen Hände knallten gegen die geschlossene Fensterscheibe und fuchsteufelswilde Augen starrten mich an.

Rein äußerlich erschien er nicht wie ein Durchgeknallter, aber bisweilen täuscht das Äußere bekanntermaßen. Das äußere Erscheinungsbild erschien gepflegt und ließ eher auf eine grundsolide Mentalität schließen, als auf derlei Gewaltausbrüche. Im Grunde einnehmend, wenn er mich nicht angegiftet, wirres Zeug geredet und mich gallig angesehen hätte.

Wer will schon genau wissen, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt? Drogen verunstalten einen gefälligen Menschen zu einem mentalen Wrack. Ich fragte mich zwangsläufig, was der Typ konsumierte. Egal, was er sich rein pfiff, er verwechselte mich mit irgendwem oder halluzinierte.

Und überhaupt: Jugendamt?

»Dir ist hoffentlich klar, dass du mein Auto demolierst? Deinetwegen habe ich jetzt zwei Dellen im Auto, du Knallkopf!«

Durch die geschlossene Scheibe und den verriegelten Türen blähte sich mein Mut auf Rekordniveau. Ich trat das Gaspedal durch, weil die Verkehrsampel endlich auf Grün umschaltete, und wollte bloß rasch fort von dem Verrückten.

Ohne geliebten Kaffee und belegte Brötchen meines Lieblingscafés fuhr ich in mein Büro, denn mein Magen rebellierte vor Schreck. Dem Verrückten wollte ich aus freien Stücken nicht erneut begegnen und befürchtete, er folgt dem Wagen. Wer weiß schon, was der Typ mit mir angestellt, wenn ich keine Autotüren verriegele? Seinetwegen bekam Meftel Beulen, was mich zur Weißglut brachte. Ein zeitnaher Termin in der Werkstatt arrangierte ich zwar rasch, hielt mich aber zwanzig Minuten auf.

Zum Glück wollte ich die nächsten Tage keine Kunden treffen, weil ich mir Urlaub nahm. Wie erkläre ich Kunden und Geschäftspartner die unschönen Dellen? Ein Verrückter erinnerte mich an meinen verpassten Termin im Jugendamt?

Auf keinen Fall, denn das klingt zu lächerlich und abwegig.

Der Schreck über den Vorfall saß mir noch im Nacken, als ich am frühen Nachmittag meine Freundin Viola traf, erwähnte allerdings nichts. Sie empfing mich kurz angebunden und wir warteten die meiste Zeit schweigend auf den angemieteten Cocktail-Bus. Keiner sagte etwas und niemand erkundigte sich nach Neuigkeiten beim Anderen. Sie sah versunken in ihr Handy, ich prüfte mein E-Mail-Postfach auf neue Anfragen für verfügbare Immobilien.

Viola kenne ich seit dem Kindergarten und wir brauchen uns aus diesem Grund nicht ununterbrochen zu unterhalten. Wir besuchten dieselben Schulen und steuerten denselben Beruf an. Immobilienkauffrau. Ich schaffte den Abschluss. Viola entschied sich für eine erfolgreiche Karriere als Freundin von reichen Männern.

Auf diese Weise umging sie die lästige Büffelei für die Abschlussprüfung mit ungewissem Ausgang. Durch wohlsituierten Liebhaber lebt sie in verschwenderischer Fülle und arbeitet für ein paar Stunden in meinem Büro. Im Sekretariat knüpft sie geschickt Kontakte zu potenziellen Liebhabern, von denen keiner einen Mittelklassewagen fährt. Diese Männer passen genau in das Beuteschema von Viola, die auf ebendieser Weise ihren Hang zu Luxusgütern nachgeht.

Inzwischen verlobte sich Viola mit Victor.

Wir kennen uns aus der Schulzeit, denn wir besuchten gemeinsam das Gymnasium. Er vermittelt mir immer neue, reiche Freunde, die eine Wohnung, ein Haus oder beides gleichzeitig suchen. Seine schier endlose Menge an betuchten Freunden und Geschäftspartnern suchen Liegenschaften in den rentabelsten Wohnquartieren, die Berlin bietet.

Ich vermittle sie ihnen.

Meine Maklergebühren lassen sich sehen und dank Victor bin ich das, was Viola eine gemachte Frau nennt.

Sie versteht sich ebenso als gemachte Frau, obwohl sie das Vermögen ausgibt, das Victor durch Aktienspekulationen erwirtschaftet. Sei’s drum. Sie schaffte es, sich den Casanova unter den Aktienhändlern zu angeln, der ihr eines schönen Tages einen Ring anbot.

Ihre Antwort lautete: »Ich ging mit Milla in den Kindergarten und zur Schule. Wir feierten gemeinsam Kommunion und trösteten uns bei unserem ersten Liebeskummer. Ich wünsche mir eine Doppelhochzeit mit Milla.«

Viola bekommt, was sie will. Olli schenkte mir einen Ring und in vier Wochen geben wir uns das Ja-Wort. Heute feiern Viola und ich mit unseren Freundinnen unseren Junggesellinnenabschied in einem Cocktail-Bus. Viola organisierte ihn, legte die Route fest und besprach die Getränkekarte mit mir. Alle ihre Vorschläge segnete ich unbeteiligt ab. Letztlich mutiert jede Party zu Violas Veranstaltung und garantiert läuft das bei der Hochzeit ebenso ab.

Im Großen und Ganzen kamen mir in den letzten Wochen vermehrt Zweifel darüber, ob es eine gute Idee war, zusammen zu heiraten. Rasch bemerkte ich Violas typische Art, die Partys pompös und feudal zu planen. Victor ist eine Marke, was Aktien anbelangt. Was Immobilien betrifft, bin ich es. Beide Tatsachen nutzt sie clever für sich aus, um sich am Ende zu profilieren.

Mithilfe einer opulenten Hochzeitsfeier will sie Berlin zeigen, dass sie es in die obere Gesellschaft geschafft hat. Der ganze Schnickschnack nervt mich zunehmend. Ich stelle mir eine schöne Hochzeit nicht mit einhundert Menschen vor, sondern mit wenigen, aber herzlichen. Sie müssten nicht das Kleid, die Blumen, den Tischschmuck oder das feine Meißner Porzellan bestaunen. Es gäbe den ganzen Pomp gar nicht, wenn ich es mir genau überlege. Ich heirate nicht, weil ich der Welt zeigen will, in welcher Hierarchie der Gesellschaft ich ankomme.

Oder glaube, anzukommen.

Vor Jahren kam Olli in mein Büro. Er bat mich um einen Untermietvertrag für eine Wohnung, die ich für einen Auftraggeber verwalte. Olli lächelte gewagt, gab kühne Komplimente, die nicht zu verwegen daherkamen und lud mich nach Vertragsunterschrift auf ein Kaffee ein. Wir saßen drei Stunden in dem Café, lachten uns schelmisch an und gingen im Anschluss zwei weitere Stunden durch das nächtliche Berlin schlendern.

Wir landeten bei Olli in der Wohnung, die er sich mit Kommilitonen teilte. Grinsend nannte er es einen Ortstermin, schloss die Haustür mit einem schelmischen Augenzwinkern auf. Drei Stunden später, nach etlichen Gläsern französischen Wein und etlichen Geschichten aus seinem Studentenleben, küsste er mich und lud mich ein, zu bleiben.

Was die Doppelhochzeit betrifft, entspannt Olli vollkommen. Ganz im Gegensatz zu mir scheint es ihn nicht zu stören, dass Viola aus dem schönsten Tag in unserem Leben einen Zirkus für die bessere Gesellschaft von Berlin veranstaltet. Ihn kostet es keine ohnehin fehlenden Nerven, dass sie alle Zügel straff in ihren Händen hält. Mir passt das gar nicht in die Tüte, aber ich füge mich widerwillig und protestiere nur dann lautstark, wenn ihre Vorstellungen ausufern.

Im Besonderen wäre die Hochzeitstorte zu nennen. Eines Nachmittags platzte mir der Kragen, weil sie allen Ernstes ein Reichstagsgebäude in Rosa vorschlug, weil sie Politiker einlud. Ich möchte so eine Torte auf der eigenen Hochzeitsfeier nicht anschneiden, ehrlich! Wie bringe ich diese Peinlichkeit Kindern und Enkeln bei, wenn sie die Hochzeitsvideos anschauen?

Nach langen Kontroversen einigten wir uns auf eine fünfstöckige Torte in Rosa. Die kommt für mein Empfinden ebenso kitschig und abgeschmackt daher, eignet sich aber ohne Frage besser als das Gebäude, in dem der Bundestag debattiert.

Klar könnte ich mir problemlos noch mehr Pomp leisten, sogar ohne mit der Wimper zu zucken. Knauserig bin ich nicht, im Gegenteil, ich gebe gerne das Geld aus, was ich verdiene. Eine aufwendige Hochzeit ist nicht ausschlaggebend für mein empfundenes Glück an diesem Tag.

Der Hochzeitstag soll mein Herz anrühren und mich im hohen Alter noch immer zu Tränen rühren. Das wäre mein Maßstab für einen gelungenen Hochzeitstag. Egal, wie hingebungsvoll Viola die Oberschicht zufriedenstellen und beeindrucken will, das stelle ich mir unter einer gelungenen Hochzeitsfeier vor.

Kapitel 2

Ich wuchs als einzige Tochter in einem Mittelschicht-Elternhaus auf. Meine Eltern arbeiten als Pädagogen und unterrichten an einem Gymnasium. Klingt für viele Menschen paradiesisch, doch mir gehen ab und zu Bilder aus meiner Kindheit durch den Kopf.

In der Grundschule hängte ich mich unter den Wasserhahn der Schultoilette, um den knurrenden Magen mit etwas zu befüllen. Sehnsüchtig stierte ich in den Pausen zu den Brotdosen meiner Mitschüler, wagte aber nie, um einen Happen zu bitten.

Meine Grundschullehrerin sorgte sich ab einem Zeitpunkt ernsthaft um meine Gesundheit, weil ich so oft darum bat, auf die Toilette gehen zu dürfen. Sie bekam mit, warum ich so oft zur Toilette wollte und schob mir nach der ersten Pause immer ihren Apfel und eine dick beschmierte Scheibe Brot zu. Mit Honig.

Im Rückblick endet liberale Erziehung für mich dort, wo sich Erziehungsberechtigte mit blöden Ausreden aus der Affäre ziehen. Nachdem meine Lehrerin das Thema bei meinen Eltern angeschnitten hatte, erwirkten sie deren Versetzung an eine andere Schule. Der Schulleiter, ein ehemaliger Studienkollege meiner Eltern, bevorzugte eine einseitige Sicht auf die Dinge und entledigte sich der »aufdringlichen« Lehrkraft.

So kam es, dass sich meine mustergültigen Lehrereltern weiter zukifften, anstatt mir Brote zu streichen. Oder dafür zu sorgen, dass ich sie mir selbst schmieren konnte, denn zu Hause gähnte der Kühlschrank vor Leere. Sie genossen ihren schwerfälligen und passiven Zustand. Den romantisierten sie voller Hingabe »Reise zum Ich«.

Den Zeitpunkt ihrer Abreise fand ich immer ebenso ungünstig, wie ihr Reiseziel. Zu mir, ihrer Tochter, reisten sie niemals, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte. Mit sechs Jahren hörte ich auf, darauf zu warten, dass sie mal eine Reise zu mir buchten und legte mir Strategien zu, um etwas Essbares in den Magen zu bekommen. Ich lud mich bei Violas Eltern zum Sonntagsbraten ein, den ich überschwänglich lobte. Ausgerechnet zu den Mahlzeiten sah ich vorbei, um mit ihr Hausaufgaben zu erledigen oder Viola Nachhilfe zu geben.

Meine Eltern rechtfertigten ihr Delirium damit, dass ich möglichst früh lerne, Verantwortung für mich zu übernehmen. Sie nannten es »Selbsterfahrung durch eigenes Erleben«. Noch heute kotze ich um ein Haar, wenn sie es erwähnen. Sie übersahen, dass ihre Gedankenlosigkeit, die Gefahr bot, ebenfalls gescheiterte Kopien von ihnen in die Welt zu entlassen.

Der Schuster trägt bekanntermaßen die schlechtesten Leisten, sagt ein Sprichwort und trifft auf meine Pädagogen Eltern komplett zu. Sie gingen ernsthaft davon aus, dass ich mit acht Jahren durch eigene Erfahrungen an den Herausforderungen im Leben wachse.

Hallo?

Heute weiß ich, wie viele unter einer starken Hand armseliger Menschen leiden. Ich litt unter der schwachen Hand armseliger Menschen.

Sicher sehr selten, kommt aber vor.

Mit acht Jahren kam ich auf die glorreiche Idee, nach den Schließzeiten der Supermärkte in deren Abfalltonnen was Essbares zu suchen. Durch Zufall beobachtete ich einen Obdachlosen dabei und fragte ihn aus. Er verriet mir die beste Uhrzeit, um was Brauchbares zu finden. Dieser Mann stank schrecklich, schenkte mir aber eine Banane und eine Dose Pfirsiche.

Traurig aber wahr … bevor das System von Hartz IV den Supermarktketten hohe Spendengelder für die Belieferung der Tafeln ermöglichte, warfen sie alles in den Müll, statt es zu verschenken. Sie bekamen ja letzten Endes nichts dafür.

Also Spendengelder.

Und wer verschenkt schließlich seine Produkte, wenn er diese nicht als Spende steuerlich absetzen kann? Anständige Menschen sicherlich, aber niemals ein Kapitalist. Der wirft es fort, gönnt dem Hungernden den Dreck unter den Nägeln nicht und zeigt sie an, wenn sie in seinen Mülltonnen was Essbares suchen.

Egal, das wollte ich hier nicht in erster Linie erzählen, obwohl es darüber massiven Redebedarf gibt.

Zurück zum Containern.

Die Bosse der Supermärkte ließen hemmungslos entsorgen, was der wählerische und zahlungskräftige Kunde nicht mehr kaufte oder worüber er die Nase rümpfte. Bananen mit braunen Flecken, zerknautschten Verpackungen von Keksen oder Milch, die in drei Tagen abläuft.

Geht gar nicht, oder?

Bei mir schon und ich entdeckte ein Paradies aus Leckerbissen. Die weggeworfenen Produkte schimmelten nicht. Im Gegenteil. Viele Lebensmittel waren einwandfrei, bis auf ihre Verpackungen. Eines Tages lernte ich eine Gruppe von Menschen kennen, die dem enormen Konsumverhalten der westlichen Gesellschaft etwas entgegensetzten und containerten.

Aus tiefster Überzeugung teilten sie, was sie fanden. Sie verschenkten es an Obdachlose, mittellose Rentner und Alleinerziehende. Sie verwerteten und verteilten die Lebensmittel anstelle der Supermarktketten, was denen selbstverständlich nicht gefiel. Diese Partisanen untergruben schließlich ihre wählerische Kundschaft und setzen sich mittels willfähriger Angestellter, mit Pfefferspray und Elektroschocker zur Wehr.

Die Partisanen wurden meine Ersatzfamilie. Wir kochten unsere Beute, aßen und lachten unter lauthals erzählten Geschichten, nach erfolgreichen Beutezügen. Stundenlang klingelten wir uns mit dem Essen, was übrig blieb, bei dankbaren Nachbarn durch. Nebenbei schmiedeten und diskutierten wir Pläne, wie wir die Welt zum Besseren verändern. Wir waren die Guten, der moderne Robin Hood.

Kühn, unerschrocken, rebellierend und weltverändernd.

Liebe für alle, Essen für alle, war unsere Parole, die wir in selbst komponierten Liedern sangen, dazu tanzten und uns selig fühlten. Ich fühlte mich bedeutsam, geschätzt und als ein Teil einer Gruppe.

Auf meinem Heimweg bedachte ich Obdachlose mit einer Kleinigkeit, auch wenn ihnen Alkohol lieber war. Den stinkenden Mann, der mir eine Banane und die Pfirsiche schenkte, traf ich nie wieder, dachte aber andauernd an das große Herz.

Viola ahnte nichts von meinem Doppelleben. Sie bewunderte meine Eltern und ihren lockeren Erziehungsstil. Ich klärte sie nie auf, was es bedeutet, sich allein und verloren zu fühlen, während die Eltern sich zudröhnen. Für Viola lebte ich in einer Hochglanzwelt mit Vorzeigeeltern, die lässig und entspannt rüberkamen.

Ich verschwieg meiner besten Freundin, dass ich mir insgeheim eine andere Familie wünschte. Eine Familie, die für meine Probleme interessiert und mich in die Arme nimmt, wenn ich weine.

Viola verstand nie, warum ich Schritt für Schritt den Kontakt zu meinen Eltern abbrach und hält mich für unfair. Ich danke meinen Eltern für alles, was sie mir ermöglichten. Für sie ist das, was sie mir ermöglichten, unbestritten das Maximum an Zuneigung und Gefühlen, was für sie realisierbar erschien. Für mich blieben sie jedoch unter allen Erwartungen an tugendhafte, vorbildliche und liebende Eltern.

Jeder, der sich entscheidet, ein Produkt herzustellen, hofft auf ein einwandfrei produziertes Produkt. Er nimmt sich ernsthaft vor, alles besser, als die anderen Hersteller zu produzieren. Tatkräftig und hoch motiviert geht er an die Arbeit. Die Produktionsketten gestalten aber leider allzu oft mangelhaft und ungenügend im Zustand. Kenntnisse fehlen und ruckzuck ist der Produzent müde, ungeduldig oder schlägt mit der Faust auf den Tisch. Blödes Produkt, aber auch! Es nervt, gestaltet sich anstrengend, kostet Geld und die natürliche Haarfarbe.

Wer hinterher mit dem Erschaffenen unzufrieden dasteht, hinterfragt besser den Produktionsablauf. Ja, wer hat es denn unter unmöglichen Umständen produziert? Leider wird oft das Produkt als mangelhaft angesehen, nicht der Hersteller. Sage dem Hersteller ja nie, dass er unsauber, ungenau oder unwissend arbeitete! Das kann er überhaupt nicht leiden.

Regel Nummer eins: Produkt lehnt sich niemals gegen Hersteller auf.

Regel Nummer zwei: Noch nie zweifelte ein Produkt die Art und Weise der Produktionskette an. So ist es seit Generationen und so bleibt es weitere Generationen. Basta!

Regel Nummer drei: Der Hersteller gleicht einer Gottheit. Er stellt alle weiteren Regeln auf, die unbedingt befolgt werden müssen.

Nur er nicht.

Kann ich das Produkt vielleicht zurückgeben, wegwerfen oder in eine Ecke stellen?

Genau! Stellen wir es in die Ecke und ignorieren unsere eigene Pfuscherei.

Was produziere ich jetzt?

Schatz, schaffen wir uns einen Hund an? Der da ist aber auch so Herz erwärmend!

So lautet in etwa die Kurzversion, wenn meine Eltern »Selbsterfahrung durch eigenes Erleben« praktizieren. Erst mit Kind und dann mit Hund. Keine Ahnung, wie hoch ihr Lerneffekt war.

Meiner war jedenfalls enorm.

Ich will meine Produkte nicht nur besser produzieren, sondern ich werde sie definitiv besser produzieren, wenn mir einmal Kinder vergönnt sind.

Respekt, Moral und Fürsorge sind dehnbare Begriffe und in jeder Rede meiner Eltern klangvolle Namen. Sie bleiben ohne Inhalt, wenn die Lupe heranzoomt. Von Geborgenheit, Stabilität und Sicherheit, die ich als Kind benötigte, rede ich gar nicht erst.

Ich lernte, dass darüber ein gemeinsamer Konsens mit meinen Eltern nicht möglich ist und zog mich immer mehr zurück. Sie und Viola halten mich durch meinen Rückzug für ungerecht. Aus ihrer Sicht sorgten sie stets für mich, gaben mir ein Zuhause und liebten mich. Ich bewies doch eindeutig, dass ich durch ihren genialen Erziehungsstil im Leben zu was gebracht habe.

Wie makaber!

Ich will in die Arme genommen werden, wenn ich mich unglücklich oder allem nicht gewachsen fühle. Ich wünsche mir Zuspruch, wenn ich zum Beispiel Angst vor einer bevorstehenden Prüfung oder einen Termin plagt, von dem viel für meine Zukunft abhängt. Ich wünsche mir echte Liebe, die spürbar und fühlbar ist, demzufolge für mich als diese eindeutig erkennbar.

Danke also dafür, dass ihr mich in einer Vollmondnacht gezeugt habt. Danke für das Dach über dem Kopf, unter dem ich mich einsam und verloren fühlte, mir manchmal sogar fehl am Platz vorkam. Und ja, ich brachte es im Leben zu etwas.

Die vielen Mühen und der eiserne Wille, die mich das kosteten, bleiben hier unerwähnt. Meine Eltern verstehen diesen Punkt nicht und erwähne ich es, klinge ich in ihren Ohren verbittert. Dabei fühle ich mich alles andere als entmutigt oder vom Leben enttäuscht.

Sonst wäre ich nicht die, die ich bin.

Kinder, die sich selbst überlassen werden, wachsen zu unabhängigen, eigenverantwortlichen Erwachsenen heran und leben ihre Freiheit aus, denn sie kennen diese zu genau. Ist nichts da, was sie hält, drehen sie sich um und gehen suchen, was sie so sehr vermissen. Wahre und glaubhafte Liebe, die aus tiefstem Herz kommt, hält sie davon ab, zu gehen. Diese Liebe fühlte ich nie dort, wo ich meine Kindheit verbrachte.

Selbst, als ich als Erwachsene eindeutig darum bat, Vorschläge brachte und versuchte, ihnen zu sagen, was ich sah, wurde ich abgewiesen.

Also ging ich.

Das steht mir als Erwachsene schließlich frei.

Jahre später verdiente ich Geld durch kleine Jobs. Durch ihre fatalen Erziehungsfehler reiften erste Früchte an meinem Baum. Nachmittags ging ich gelegentlich in einem Kiosk helfen und bekam ein paar Scheine und Süßkram auf die Hand. Den Süßkram vernaschte ich und das verdiente Geld legte ich bei Victor an. Der verdreifachte es in kürzester Zeit für mich, weil er Geld an Mitschüler verlieh und deftige Zinsen verlangte.

Victor war meine erste Bank und ich seine erste Aktionärin. Ich verdiente durch ihn Geld, weil er an anderen verdiente. Ein echter, gewissenloser Kapitalist, der seine Eintreiber vorschickte, wenn jemand die ausstehenden Zinsen nicht begleichen wollte.

Mehrmals schlug er mir vor, dass wir fusionieren sollten. Gemeinsam wären wir ein unschlagbares Team, betonte er gerne. Zu genau begriff ich, er schlug es mir nicht einzig vor, weil er mit mir zusammen mehr Geld scheffeln wollte. Die Begehrlichkeiten von Victor waren schon immer eine ganz spezielle Thematik. Erwartungsgemäß ging er in die Finanzbranche und verdiente nach seinem Studium in Windeseile die erste Million.

Eines schönen Nachmittags besuchte er mich in meinem florierenden Immobilienbüro in Innenstadtlage und schlug mir wiederholt einen Deal vor. Er und ich gemeinsam, nicht allein beruflich ein Gewinnerpaket. Ein zweites Mal lachte ich von ganzem Herzen und lehnte dankend eine intime Partnerschaft ab.

Die reine Vorsicht hielt mich davon ab, denn Victor und Treue passt ebenso wenig zusammen, wie Grammatik und Mathematik. Ich aber brauche die Treue, wie die Luft zum Atmen, will einen loyalen Mann, der einzig und allein mich liebt. Einen, der nicht zu meiner Sekretärin schielt, wenn ich ihn aus dem grauen Ledersessel im Wartebereich abhole und ihm meine Hand reiche. Hier triggern meine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Stabilität, die ich in meiner Kindheit so sehr vermisse.

Das erklärte ich Victor sinngemäß. Nun lachte er und legte die Hand in meine. Er versicherte mir, mich zwei seiner betuchten Freunde zu empfehlen, die zu diesem Zeitpunkt dringend eine stilvolle Eigentumswohnung suchten. Nach unserem Handschlag gab er mir einen galanten Handkuss und ging mit einem Lächeln zum Schreibtisch von Viola.

Sie angelte sich den vielversprechenden Fisch. Victor und ich blieben enge Geschäftspartner. Er hielt sich an Absprachen, Versprechen und vermehrte eifrig mein Geld. Bis heute. Das erscheint mir wesentlich attraktiver, als mich in einer intimen Partnerschaft und seinen Liebesabenteuern aufzureiben.

Viola merkte rasch, dass sie nur die zweite Option von Victor war. In der Schulzeit deutete er genug an. Sie überging diese Tatsachen gerne und blendet es demonstrativ aus. Zu seinem Antrag sagte sie schnellstens ja. Finanzielle Sicherheit kommt für sie vor Liebe, Treue und moralischen Werten. Sie strebt materiellen Reichtum an und lechzt regelrecht danach. Mehr als alles andere will sie in der gehobenen Gesellschaftsschicht von Berlin glänzen und wie ihr hochwertiger Diamant am linken Ringfinger brillieren.

Sie passt prima zu Victor.

Ich freue mich auf mein gemeinsames Leben mit Olli. Nach der Hochzeit beabsichtigen wir, zusammenzuziehen, uns eine Katze zulegen und auf dem Balkon gemeinsam in den Sonnenuntergang sehen. Die Wohnung fand ich bereits. Vollkommen wird das Glück für mich mit einem Kind, was ich mir seit längerer Zeit wünsche und eigens dafür die Pille absetzte. Widerwillig verschob ich diesen Wunsch jedoch auf später, weil die Hochzeit Vorrang bekam und es nach einem Jahr Bemühungen bis dato noch nicht klappte.

Mich betrübte das alles sehr, verblieb mit Olli aber so, dass mein Kinderwunsch nicht auf die lange Bank schiebe. Will heißen, nach der Hochzeit wieder aktiv angehe. Ich verschwieg ihm allerdings, dass ich die Verhütung nicht wieder aufnahm, um meine Erfolgsaussichten zu erhöhen.

Mit der Zeit beschleichen mich Zweifel, warum es nach so langer Zeit nicht klappt und plante vor Kurzem die Abklärung körperlicher Ursachen. Aber wie gesagt, die Hochzeit verschob auch diese Pläne. Zumindest kurzfristig, denn nach der Hochzeit kümmere ich mich eingehend darum.

Kann auch sein, dass der Stress mit der Hochzeit und Ollis Libido alle meine Pläne durchkreuzt. Ich blende geschickt aus, dass ich beunruhigende Videos im Verlauf meines Browsers entdeckte. Die stammen von Olli und verunsichern mich mehr, als ich offen zugeben mag.

Bislang war ein klärendes Gespräch mit ihm nicht ausführbar. Ab und zu beschleicht mich aus einer hinteren Ecke meines Hirns ganz leiser, aber nagender Zwerg namens Zweifel. Durch diese Videos fühlt sich für mich alles wie eine merkwürdige Beklommenheit an, ihm körperlich nicht zu genügen, damit seelisch und emotional. Im Umkehrschluss frage ich mich, ob er mich seelisch und emotional ausfüllt.

Die Frage geistert schon wochenlang in meinem Hinterkopf herum. Das sagt schon vieles über die mögliche Antwort aus und mag als Erklärung dafür hinhalten, warum es mit dem Babywunsch noch nicht klappte. Am liebsten zappe ich auch jetzt in meinem Kopfkino auf einen anderen Kanal, um der unliebsamen Antwort auszuweichen.

Der volle Terminkalender vor der Hochzeit, der damit verbundene Stress und seine ständige Müdigkeit, löschen meine schwelenden Gedanken nicht ernsthaft oder verscheuchen sie. Olli weicht mir bei Gesprächen aus, zieht mich mit beschwichtigenden und vertröstenden Worten in seine Arme. Energielos schließt er die Lider, wenn er neben mir im Bett liegt. Auf der Stelle schläft er ein und überlässt mich meinen wirren Gedankengängen, die unermüdlich ihre Kreise ziehen. In meinem Hirn nagt sich eine kleine Maus durch das poröse Holz.

Zweifel ist ohne jede Frage Gift für jeden Hoffnungsschimmer.

 

Kapitel 3

»Geht es noch Gerti? Das ist meine Veranstaltung und du baggerst unverschämt meinen Bräutigam an?«, fragt Viola.

Um ihre großen, braunen und schwarz geschminkten Augen, blitzt ein besitzergreifender Schimmer auf, der wie Eifersucht anmutet.

Sie reißt Gerti das kostspielige Telefon aus der Hand, welches sie vor zwei Wochen geschenkt bekam. Viola bekommt immer was Teures geschenkt, wenn Victor ausgleichen muss, was ihm an Treue mangelt. Auf diese Art glättet er bei Viola die aufgewühlten Wogen. Seine Geschenke nimmt sie dankend an und verliert im Anschluss kein Wort über seine sexuellen Eskapaden.

Gerti kichert und schaut sich erheitert in die versammelte Runde im angemieteten Cocktail-Bus um. Sie nimmt ihr Glas mit dem Champagner auf, hält es in die Höhe und schreit lallend: »Der hat sowieso nur Augen für trockene Aktien und Börsennotierungen.«

»Daher kommt also sein ausgeprägtes Interesse, an allem, was feucht oder nass ist?«, krakeelt Sophie prompt hinter mir und gackert ohrenbetäubend.

Alle johlen, denn unter uns Freundinnen kursiert das offene Geheimnis, dass Victor sich für weit mehr als nur trockene Wertpapiere interessiert. Mit fast jeder hier im Bus war er intim. Mal länger, mal kürzer, aber immer durchgängig diskret. An seinen besten Tagen amüsierte er sich bis zu drei Frauen, mit denen er sich seinen körperlichen Bedürfnissen hingab.

Einige von Violas Freundinnen schwärmen von Victors hinreißendem Liebesspiel. Hinter vorgehaltener Hand plaudern sie ungeniert über pikante Details, die mir alle Haare zu Berge stehen lassen. Gott, ich stelle mich nicht prüde an, brauche aber gewisse Sexspielchen nicht.

Generell keine Spielchen.

Jedenfalls behaupten die Mädeln, es gäbe einen triftigen Grund, bei ihm Schlange zu stehen, um einmal stundenlang, besser gesagt stundenlang ›rammelhart‹, von seinen strammen … bedacht zu werden. Ihn freut die Quatscherei und ich vermute, dass die Klatschgeschichten die Neugier auf ihn weckt und dafür sorgt, gerne auch zum wiederholten Mal Schlange zu stehen. Ich frage mich öfter, was seine anormale und übersteigerte Neigung zur Nähe und Selbstbestätigung einst verursacht. Streckenweise befürchte ich, wie sehr ihm als Kind jemand wehgetan haben musste.

Derzeit sitzen wir im Cocktail-Bus, der uns seit einigen Stunden quer durch alle Berliner Bezirke fährt. Wir, das sind zwanzig feiernde Frauen um die dreißig Jahre, die die Sau in gehobener Manier herauslassen. Es geht geräuschvoll zu, die muffige Luft treibt jeden Ruhepuls in die Höhe und es herrscht eine ausgelassene Stimmung, weil jede anwesende Frau in Feierlaune schwelgt.

Momentan beneiden alle Freundinnen Viola und mich um unsere pompöse Doppelhochzeit. Viola, die an einer Haarlocke spielt, nimmt diese Huldigungen allzu bereitwillig entgegen. Ich schweige zu den Lobpreisungen und schlürfe geräuschvoll ein Getränk, das einen Schuss Amaretto enthält. Die Zitronenmelisse, die im Wasser schwamm, naschte ich längst.

Die Gesprächsthemen drehen sich um die neuesten Designerhandtaschen, die teuersten Edelpumps und angesagte Nachtbars in Berlin-Mitte. Ich sehe mich unauffällig zu der kleinen Bar in der Nähe der Bustür um.

Der dunkelhaarige Mann, der uns dort seit einigen Stunden lächelnd die Getränke im Akkord zubereitet, wischt gründlich den Schanktisch. Einige Frauen nahmen seine Dienste so häufig in Anspruch, dass sie nur noch mit Ach und Krach selbstständig laufen können. Schuld an ihrem Drang, sooft es geht, ein neues Getränk zu bestellen, gebe ich seinem Äußeren.

Unter breiten, geradlinig gewachsenen Augenbrauen ruhen dunklen Augen und mustern eindringlich jeden, der sich längere Zeit mit ihm unterhält. Das wild frisierte Haar reicht bis zu den Schultern. Zusammen mit seinem großspurigen Lächeln wirkt der etwa vierzigjährige Mann sehr undurchsichtig auf mich.

Bevor er herüberschaut, wende ich mich ab und betrachte Viola, die auf dem Sitz kniet und damit beträchtlich über uns thront. Absichtlich überhört sie Sophies nadelspitzen Kommentar, zieht keine Schnute und wirkt durch und durch beherrscht. Mit einer gekonnten Geste streift sie sich ihre langen, glatten und blonden Haare über die Schulter. Sie setzt eine zuckersüße Miene auf und schließt ihre bildschönen Augen, die dichten, schwarzen Wimpern umrahmen.

In das Handy, das sie in ihren Händen hält, säuselt sie ebenso zuckersüß: »Wir sind an den vier Buchstaben angekommen, Vic.«

Sie lacht und sieht hinter sich, damit jeder ihrem Blick folgt. Dort befingert sie gedankenversunken ihre teuren Pumps eines neuen Designers. Ein Geschenk von Victor, der ihr diese nach einem Zerwürfnis vor fünf Wochen spendierte.

»Nein, das werde ich dir nicht sagen, denn alle lauschen. Nur so viel verrate ich: Es ist sehr, sehr, sehr finster hier.«

Alle um mich wiehern mehr oder minder lärmend los. Die mehr als angeheiterte Diana und aktuelle Geliebte von Victor beugt sich vor und schreit einige unverständliche Silben. Jeden plagen nach ihrem Geschrei doppeldeutige Gedanken. Einige vollführen nicht ganz stubenreine Bewegungen, andere bedenken ihren geistlosen Kommentar mit Beifall. Ich verfolge die absurde Darbietung und schlürfe gelangweilt an meinem Ladykracher.

Echt mal, wer lässt sich solche Namen einfallen?

Schmeckt eher nach eingeschlafenen Käsemauken, als nach Kracher. So was Scheußliches verkauft sich mit wohlklingenden Namen millionenfach. Vermutlich an betrunkene Frauen, die sowieso nichts mehr in ihrem Zustand schmecken.

Bin ich schon so weit?

Nicht wirklich

Entschlossen, auf etwas mit Geschmack auszuweichen, ziehe ich die Getränkekarte zu mir und gehe die aufgelisteten Longdrinks durch. Erdbeermojito klingt ganz passabel. Schwerfällig stehe ich auf und drängele mich durch die schreiende, Östrogen verströmende Horde Frauen. Am Ausschank stelle ich mich geduldig in die wartende Reihe. Hier wirkt die Luft etwas weniger vermieft, als im hinteren Teil des Busses, in dem Viola ihre Protzerei inszeniert. Der Östrogenspiegel in der Luft lässt Luft zum Atmen und erscheint wohltuend.

Der gestriegelte und appetitliche Witwentröster, den alle anhimmeln, wischt geschäftig den Tresen ab. Er lässt uns warten, lächelt aber jede Einzelne von uns an, als wären wir allesamt seine Herzdamen.

Bekommt er dafür Extrageld?

Viola bedenkt echt an alles.

Erstaunlich geschäftig, arbeitet er andachtsvoll und lächelt charmant. Ich setze mich auf einen Barhocker und drängele mich auf diese Weise vor Diana und Sophie.

»Lady?«, fragt er gönnerhaft und setzt das schönste Lächeln für mich auf. Der Wischlappen fliegt alsbald in die Ecke und er ignoriert alle anderen Ladys, die tierischer Durst plagt.

Durst auf ihn.

»Lady«, wiederhole ich verächtlich seinen ungeschickten Versuch, bei mir zu punkten. »Der Kracher brachte es bei mir nicht und ich steige auf Erdbeermojito um. Schmeckt der so fies, wie der Ladykracher oder hast du vorhin nur deine Füße darin erfrischt?«

Diana kichert neben mir wie ein albernes Huhn, der es scheinbar nicht im Geringsten stört, dass mich der Schönling vor ihr bedient. Statt über meine fiese Bemerkung beleidigt Diana und Sophie zu bedienen, lacht er aus vollem Hals. Jede andere Person wäre jetzt abgrundtief beleidigt oder zumindest gekränkt, er nicht. Das gefällt mir.

Ich beuge mich über die Theke, um zu seinen Füßen zu sehen. Die stecken ordnungsgemäß in Schuhen, die erstaunlicherweise so gar nicht zu dem Rest der Kleidung passen. Blitzsauber, komfortabel und eher zweckmäßig, als stilvoll. Das finde ich ebenso mysteriös wie das geheimnisvolle Lächeln. Passt alles nicht zusammen und ich möchte herausfinden, warum. Hektisch trommele ich den Takt zur Musik auf der Theke mit, während ich ihn beobachte.

»Diana, Sophie, was trinkt ihr«, frage ich die kichernden Ladys, denen er keinerlei Beachtung schenkt, »oder steht ihr hier, um dem männlichen Liebreiz zu huldigen?«

»Nur keine Sorge um uns, lieb Milla«, entgegnet Diana sauertöpfisch, »und ja, wir beten männlichen Liebreiz an. Wie mir scheint, hast du wie immer keinen Sinn für Ästhetik, Milla.«

»Stimmt, habe ich nicht«, sage ich und hefte meinen Blick an den geheimnisvollen Barkeeper. »Falls es dich interessiert, wachsen bei meinem Bräutigam die Geheimratsecken, statt Haare. Der kleine Bauchansatz juckt mich null und jetzt ist raus, dass nicht jeder Mann Adonis gleicht. Ach, ich mag Männer, die keine Östrogentussi sabbernd anschwärmt, weil sie die übersehen. Übrigens, ein Diamant sieht im Rohzustand so was von nichtssagend aus. Du übersiehst ihn glatt, Diana. Einen Brilli, stell dir vor!«

Ich stimme erheitertes Gelächter an und schlage dabei heftig mit der flachen Hand auf den Tresen, doch der Barkeeper arbeitet unbeeindruckt weiter.

»Dann pass nur fein auf, dass andere deine Vorliebe nicht abkupfern und an deinem Rohdiamanten rumfeilen! Passiert doch, wenn er so außergewöhnlich genial ist, wie du behauptest?«, zischt sie mich in dieser Sekunde an.

»Ich brauche keinen geschliffenen Edelstein und will auch nicht, dass andere ihn schleifen. Begreifst du?«

»Ich schon, er auch?«

»Für den Fall, dass du mir was sagen willst, solltest du es tun, bevor ich in wenigen Wochen vor dem Altar stehe, liebe Freundin.«

Diana greift zu ihrem Cocktail, den der Barkeeper ihr hinschiebt.

Ohne ein weiteres Wort stöckelt sie mit spitzem Mund in den hinteren Teil des Busses und setzt sich an einen freien Tisch. Sophie schaut mich merkwürdig an, bevor sie ihr hinterher fegt. Misstrauisch hebe ich meine Augenbraue, denn ich bemerkte den kleinen Seitenstupser von Sophie sehr wohl.

In Gedanken rattere ich alle Optionen durch, bis eine sonore Stimme erklingt: »Sie bemerken nicht einmal das Abwaschwasser in ihrem Glas.«

Unermüdlich säubert er wieder seinen Arbeitsplatz. Ich reiße meine Augen auf und drehe mich zu Diana um, die hektisch ihre Arme bewegt, um von der schreienden und grölenden Menge Gehör zu bekommen.

»Nun«, erklärt er, »ich ging davon aus, dass es keiner hier bemerkt, wenn ich das alte Abwaschwasser so nach und nach verteile.«

»Du gibst ihr das Abwaschwasser in das Glas?«, frage ich entgeistert und sehe fassungslos auf seinen Putzlappen.

Den wringt er mit einem reizenden Lächeln in dem kleinen Waschbecken aus. Vergnügt brülle ich vor Begeisterung und erschrecke zugleich über so viel Dreistigkeit von Adonis.

»Nur einen kleinen Tropfen«, grinst er und wringt erneut den Lappen aus.

Nach getaner Arbeit entdecke ich ein Aufblitzen in der dunklen Iris. Die Augen sind klar und ungetrübt. Erleichtert bemerke ich, dass er keine Betäubungsmittel konsumiert. Garantiert auch kaum Alkohol, obwohl er direkt an der Quelle sitzt und jede Östrogentussi ihn ausgiebig animiert.

Gott!

Ich bin so derart geschädigt von meinen Eltern, dass ich den Menschen noch immer prüfend in die Augen sehe, und lege diese Angewohnheit gewiss mein Lebtag nicht ab.

»Sag es nicht der Chefin, denn ich brauche das Geld, für meine Luxuswohnung in Luxuslage.«

Seine Hand liegt an seinem Brustkorb auf Höhe des Herzens und die dunklen Augenbrauen senken sich mitleidvoll an den Enden. Er sieht mich regelrecht herzzerreißend an.

»Welcher Chefin soll ich es nicht sagen?«, frage ich und ziehe meine Augenbrauen in die Höhe.

»Egal, der Chefin eben. Ich spendiere dir auch ein Getränk, von dem du noch in zehn Jahren träumst.«

Verächtlich wiegele ich ab. »Aller Voraussicht nach lebe ich noch vierzig Jahre. Sollte es gut für mich laufen, sogar noch fünfzig oder sechzig Jahre. Wenn du willst, dass ich mich an dich erinnere, mixe mir lieber was zu trinken, was mich in null Komma nichts in den siebten Himmel katapultiert!«

Ich werfe einen Blick über meine rechte Schulter zu Gerti, die ganz dicht an Viola heranrückt und ihre Wange herzt. Warum zum Teufel entging mir bis heute, wie Viola Heuchler um sich scharrt, die ihre Tricksereien nicht durchschauen?

Und was sagt das über mich aus?

Gerti war vor Diana die Geliebte von Victor und Viola übersieht es geflissentlich, weil er ihr ein neues, teures Handy schenkt. Das Handy, in welches beide jetzt in friedlicher Eintracht für ihn Marry me hauchen.

Wie bescheuert!

»Nun denn«, murmele ich und wende mich zum Barkeeper, »da habe ich dich für mich allein. Muss ich dich jetzt anschmachten oder bekomme ich ohne dieses Brimborium was Schönes zu trinken?«

»An mir soll es nicht scheitern!«

Er stützt seine Arme auf die Theke und beugt sich vor. Auf diese Weise gelangt er dicht vor mein Gesicht, wobei ich ein betörendes Parfüm wahrnehme. »Für dich mache ich das Unmögliche möglich, Milla.«

»Mit einem leckeren Erdbeermojito machst du mich zur glücklichsten Frau des Abends. Mix mir ein Getränk!«

Sofort greift er zum Geschirrtuch, wirft es sich lässig über die linke Schulter und greift zu der Schale mit den gewaschenen Erdbeeren.

Den Blick gesenkt, lächelt er zufrieden, püriert geschickt die roten Früchte und murmelt er über das Geräusch des Mixers hinweg: »Ich verstand: Wichse mir ein Getränk.«

»Ich sagte aber, mix mir bitte ein Getränk.«

Ohne Eile schiebt er die Früchte zur Seite, rückt näher und schaut auf meine Lippen. »Wiederhole es bitte für mich!«

Ich beuge mich weiter vor. »Mix mir bitte ein Getränk!«

»Wichs?«

»Nein, ich sagte: Mix mir bitte ein Getränk. Siehst du den Unterschied zwischen M und W?«, frage ich, forme beide Buchstaben mit meinen Lippen und lasse ihn dabei zusehen.

»Okay, ich wichse dir bitte dein Getränk«, raunt er und rückt ab, um seine Arbeit wieder aufzunehmen, wobei eindeutiges Entzücken in seinem Gesicht steht.

In einem wenig eleganten Hopser rappele ich mich auf und erklimme umständlich zwei Barhocker. Ich halte mich an der Arbeitsplatte fest, ziehe mich daran hinauf und pfeife für eine Sekunde Aufmerksamkeit seitens der mondänen Ladys.

»Milla, was machst du da?«, will jemand aus Violas Dienerschaft erfahren.

»Er wichst mir jetzt bitte in das Getränk und ihr dürft dabei zusehen!«, brülle ich auf wackeligen Beinen und stehe bereits auf dem Tresen. Es dauert keine zwei Sekunden, bis alle Damen im heiratsfähigen Alter auf den Beinen stehen und zum Tresen stürmen.

 

Kapitel 4

Postwendend stürmen alle her, als verschenke hier jemand gratis Edelpumps. Die hochprozentige und Östrogen geschwängerte Luft verlagert sich augenblicklich an den Tresen. Ich stehe auf dem Teil, auf dem der Adonis normalerweise Getränke reicht und befeuere die ohnehin angeheizten Damen mit ohrenbetäubenden Kommentaren, schneller herbeizueilen.

Dreist grinsend sehe ich zum sprachlosen Opfer meiner Flunkerei. Unter seinem wachsamen Blick setze ich den einen Fuß auf die Arbeitsplatte, die er so gründlich reinigte und ziehe den anderen nach. Zufrieden mit dem Effekt, den meine Unverschämtheit bei ihm hervorruft, setze ich mich vor ihn und spreize die Beine. Ich ziehe die rechte Augenbraue in die Höhe und frage ihn auf diese Weise, was er dagegen unternimmt. Mittlerweile drängeln sich die Schaulustigen hinter mir und murmeln aufgeregt durcheinander.

»Lass mich durch, ich will was sehen!«

»Drängele nicht so, Sophie!«

»Er hat ja noch nicht mal die Hose runter.«

»Will er hier echt wichsen?«

Unter diesen und weiteren Kommentaren halbiert er Erdbeeren mit einem Messer.

»9 1/2 Wochen«, murmelt er und greift zum Hosenbund. Gerti atmet flach, Sophie glotzt zu seiner Hand und irgendwer flucht leise über die verdammt geile Schamlosigkeit. Zur Enttäuschung aller hält er inne und betrachtet sich die erwartungsvollen Gesichter.

»Ja?«, frage ich gedehnt.

»Du kennst den Film?«

»Will er jetzt wichsen oder was?«

»Schhh! Sei still, Sophie!«

»Damals hatte Mickey Rourke noch Sex-Appeal.«

»Er ist kein Rohdiamant mehr?«, lacht er erheitert und kratzt nachdenklich an seiner geraden Nase.

Kopfschüttelnd verneine ich und lächele mit eingeklemmter Lippe. An seinem rechten Mundwinkel zuckt es, während er eine Erdbeere einritzt. Er spaltet sie vorsichtig und steckt sie auf den Rand des bauchigen Glases.

Blitzschnell ergreift er beide Knöchel, was mit erschrockenen und nervenschwachen Schreien der Umstehenden quittiert wird. Nach einem prüfenden Blick, der hinterfragt, ob ich aus dem Konzept komme, spreizt er genüsslich meine Beine.

»Jesus, ich kollabiere gleich«, röchelt Gerti atemlos neben mir.

»Der ist aber auch rattenscharf«, flüstert Hilde und drängelt sich dichter heran, um besser zu sehen.

Zum Takt der Musik lässt er jetzt den geschlossenen Shaker links und rechts über die Arme gleiten. Er wirft ihn wie ein Akrobat in sämtliche Richtungen und schlägt ihn hin und wieder rhythmisch auf die Arbeitsplatte. In eleganten und geschmeidigen Bewegungen fängt er den Shaker und knallt ihn am Ende geräuschvoll vor sich auf den Tresen. Die Mädels schreien hellauf begeistert von seiner Showeinlage und applaudieren trunken vor Ekstase.

Ich hingegen frage ihn mithilfe einer hochgezogenen Augenbraue, ob das schon alles war.

War es nicht.

Der Verdreher der Frauenköpfe langt mit seiner Hand genau unter meinen Schritt, wo die Strohhalme in einem Glas stecken. Hinter mir vergisst Hilde gefesselt und fasziniert den Atem an. Gerti flüstert, wie geil er doch sei und Fabiana meldet sich freiwillig für die nächste Show.

»Herr im Himmel, ich will auch mal ein Getränk gewichst bekommen«, japst Janina nach Luft, die immer dünner wird.

»Ich nehme das mit dem Handy auf und zeige es Mario, der das auch einmal bei mir probieren soll, und zwar genau so«, flüstert Hilde.

Der Herzensbrecher, der die Frauen hinter mir betört, sieht in meinen Schritt und zupft aus dem Glas unter mir einen Strohhalm hervor. Eben jener stößt an meinen Schritt, was platztechnisch vorauszusehen war.

»Würdest du mal kurz?«, fragt er lächelnd und sieht zum Strohhalm.

Rotzfrech lege ich einen beschuhten Fuß auf seinem Brustkorb, obwohl er an seinem weißen Hemd einen Schmutzfleck hinterlässt. Anschließend hebe ich behäbig mein Becken in die Höhe und ziehe erneut die Augenbraue in die Höhe.

Grinsend quittiert er meine Akrobatik und lässt für einen Atemzug die angestaute, explosive Atemluft entweichen, der über meinen Fuß streift. Nebenbei öffnet er den Shaker in einer raffinierten Bewegung, die Gertis Herz wieder wie ein Schmetterling davon flattern lässt. Der fertig geschüttelte Mojito läuft schleppend in das Glas, das er mir im Anschluss reicht.

Ich nehme das Getränk entgegen. Mich ansehend, greift er zu einem Büschel frischer Pfefferminze, zupft eine Triebspitze ab und führt sie zu seiner Nase. Bei dem Duft, der ätherischen Öle schließt er genießerisch die aufsehenerregenden Augen. »Erfrischend, wie die Nacht, an die du dich noch ewig erinnern wirst.«

Pfiffe ertönen, Ah-Rufe füllen die zum Zerschneiden gespannte Luft und irgendwer klopft meine Schulter für diese erstklassige Show. Mit einem breiten Grinsen, das nicht gekünstelt wirkt, lässt er unterdessen die duftende Pfefferminze in den Cocktail fallen. Warme Finger umfassen meine Waden und schließen mit einem zufriedenen Lächeln meine gespreizten Beine.

»Er ist sein Geld wert, oder?«, frage ich und schaue mich in der versammelten Runde um, in der sich schlagartig die entzückten Gesichter der Frauen verändern.

»Du bist echt oberarschmäßig arrogant, Milla!«, schnaubt Viola aus und stöckelt verschnupft tuend in den hinteren Teil des Busses, wo sie in ihrem Handy herumtippt.

Sofort weiß ich Bescheid, was zu erahnen war.

»Habt ihr ihn denn etwa nicht für mich eingekauft? Er wichst doch so ästhetisch in das Getränk. Hier probiert mal, der ist echt exquisit!«, rufe ich ihr zuckersüß hinterher und halte Gerti den Mojito unter die Nase. Sie nippt am Strohhalm, wobei ihre Augen wollüstig zu dem Barkeeper sehen.

»Ich will auch so einen«, wispert sie belegt und schluckt schwer, als er sie beäugt, »aber bitte unbedingt mit einem ganz dicken Strohhalm, sofern möglich!«

Alle lärmen lachend los und sehen zu dem armen Mann hinter den Tresen. Der Shaker kommt erneut zum Einsatz und weitere Mojitos schieben sich über den Tresen. Die bereitet er mit weniger Aufwand zu, was aber niemand stört, solange er nur lächelt. Genüsslich schlürfe ich an dem kühlen und erfrischenden Mojito, während sich hinter mir das Gewimmel nach und nach auflöst.

Ich bleibe sitzen und sehe ihm bei der Arbeit zu, denn noch immer interessiert mich das Geheimnis seiner Gegensätze.

»Milla, komm dir was ansehen! Viola dreht ein Live-Video und du sollst bitte einmal kurz was Witziges sagen.«

Diana zerrt mich vom Hocker, wobei ich angestrengt den Cocktail in die Höhe hebe, ohne ihn zu verkleckern. Erbarmungslos zieht sie mich durch den halben Bus zum Tisch, an dem der Geräuschpegel so entsetzlich laut erhebt, dass ich mich wieder an den Tresen zu dem Witwentröster zurückwünsche.

Viola zieht sich aufreizend die Hosen von der Hüfte, was ihr erstaunlich spektakulär gelingt, obwohl hier nicht genügend Platz für derartige Künste zur Verfügung steht. Ihre anmutigen Bewegungen begleiten schrille Pfiffe. Sie grinst in die Kamera des Handys und schwenkt zu uns. Sogleich geht das Gegröle abermals los und unzählige Arme heben sich begeistert in die Höhe. Cocktails verschütten sich auf Shirts, Blusen und Kleider. Niemand stört es, denn alle sehen sich als Stars in der Liveübertragung.

»So, Jungs! Dieser heiße Popo ist in vier Wochen nicht mehr zu haben. Jetzt seht ihr Jungs, was ihr zukünftig verpasst, denn er gehört demnächst nur noch einem«, kommentiert sie ihre Mottoaufgabe, die unsere Freundinnen stellten.

Schrille Pfiffe ertönen und ich schüttele lachend meinen Kopf. Nachher frage ich sie, wer ihren Hintern in letzter Zeit so alles ansah, denn das ruchlos gehauchtes »nur noch einem« bemerkte ich sehr wohl. Manierlich applaudiere ich, als sie ihre Mottoaufgabe beendet.

»Milla, jetzt du!«, werde ich von der Menge aufgefordert.

Das teure Handy in Violas Hand wendet sich zu mir. Es fährt herab und filmt mich, während ich verlegen hineinlächele. Viola hebt ungeduldig eine ihrer Augenbrauen, was mir sagt, dass ich mich beeilen und nicht zieren soll.

Ich drehe mich um und halte kurz das Hinterteil in die Linse. »Wusstet ihr, dass der Hintern bei Pavianfrauen so rot leuchtet, damit die Affenmännchen sehen, wann ein Affenweibchen paarungsbereit ist?«

»Zeig mal, ob deiner rot leuchtet?«, schrillt Gertis Stimme durch den Bus. Sie bekommt meine fließend fallende Bluse zu fassen, doch ich entziehe ich mich den tatschenden Fingern, die an der Bluse zerren.

»Wie ich so höre, soll deiner so rot wie eine untergehende Abendsonne glühen, Gerti«, halte ich gegen und stoppe damit ihre Bewegung auf mich zu. Lautes Gekicher ertönt von allen Seiten.

»Ach nein! Das, was so rot glüht, kommt ja bei ihr von den vielen Reibungen mit Herrn Dingsbums«, kichert Hilde albern.

»Milla, du hast so eine weite Hose an. Die Herren der Schöpfung sehen gar nicht, was sich darunter verbirgt«, ruft Viola, um in Windeseile ein anderes Thema anzuschneiden.

»Tja, Kinder. Ihr und die Jungs seht Null, denn ich sage nicht nur so daher, dass nur einer mein Prachtexemplar von einem Hintern zu sehen bekommt. Es sieht ihn tatsächlich nur einer und ihr müsst wohl mit meiner weiten Hose vorliebnehmen«, raune ich in die Kamera, werfe den Zuschauern einen Luftkuss zu und lächele verschmitzt.

»Spielverderberin!«, schallt es durch die Reihen der enttäuschten Mädels.

Ich richte mich auf und sehe in ein rot angelaufenes Gesicht von Viola, die mich über ihre Kamera böse anfunkelt.

»Milla bekam die meisten Likes«, verkündet Fabienne, die auf ihrem Handy das Ranking für den Strip überprüft. Ich wende mich ab und lasse die misslaunige Viola hinter mir, denn ihre ständigen Vergleiche hängen mir echt zum Hals raus.

»Kleiner Straßenfeger, deine Freundin, was?«, werde ich an der Bar gefragt. Dunkelbraune Augen mustern mich von der anderen Seite des Tresens.

»Ja, wo sie feiert, steht hinterher kein Baum mehr aufrecht«, antworte ich und sauge abwesend an dem Strohhalm. Ich will wieder gehen, jedoch hält mich eine Hand zurück.

»Und du?«, fragt er mich mit gesenkter Stimme.

»Ich säge hinterher die Äste von den Bäumen, damit der Verkehr wieder uneingeschränkt rollt«, umschreibe ich ihm schroff mein Aufgabengebiet nach Violas Partys. »Und du suchst dir heute anscheinend aus, aus welchem Körperteil du für sie opferst. Im Moment tippe ich auf deine Hand?«

Unmissverständlich sehe ich zu meinem Unterarm. Die Hand mit der gefälligen Fingernagelform lockert sich sogleich und ordnet eine zerzauste Haarsträhne, die ins Gesicht rutscht. Rasch, und ohne einen weiteren Blick, düse ich zur feiernden Menge.

Der Erdbeermojito schmeckt mir besser, aber durch den Strohhalm steigt der Alkoholpegel im Blut. Sophie organisiert mir einen Zweiten und Diana einen Dritten, weil ich nicht mehr zur Bar will. Die Getränke steigen zu Kopf, woraufhin ich kurz pausiere und auf Mineralwasser umsteige.

Ein Trommelwirbel ertönt. Im Bus klingt dieses Geräusch wahnsinnig markerschütternd und ich halte meine Ohren zu. Diana, mit der ich im Chor der Mariannenkirche singe, donnert mit ihren Fingern auf der Handtrommel und zieht die Aufmerksamkeit auf sich.

»Nun kommt eine besondere Mottoaufgabe für Milla. Milla, komm bitte zu mir!«

Unzählige Hände schieben mich durch die Menge, bis ich vor ihr zum Stillstand komme. Würdevoll hebt Gerti ein paar Utensilien in die Höhe, bei deren Anblick ich Schreckliches ahne. Umringt von allen erspähe ich in ihrer Hand meine Maskerade für diese besondere Aufgabe.

»Bitte ziehe dieses Kostüm an! Du erfährst danach sofort deine Mottoaufgabe und kannst loslegen.«

»Och, Kinder. Nö!«, sträube ich mich leicht angeheitert.

Bedröppelt schaue ich auf schwarze Overknee-Strümpfe, Lack High Heels, einen Minirock aus schwarzem Leder, etwas, was aussieht wie Hasenohren aus Plastik und einen Hugh-Hef-Bunnykragen.

Na wunderbar!

»Jetzt mach schon!«, fordert Fabienne mich ungeduldig auf und zupft unsanft an meiner Bluse. »Wir gaben uns extra viel Mühe und brauchen keine Partyblocker, zu dem du heute anscheinend mutierst. Los jetzt!«

Ich ahnte, dass sie sich ein paar Späße mit uns erlauben. Was ich allerdings jetzt in ihren Händen erkenne, wirkt so knallig und minimal, dass mir vom Anblick sofort die Wangen glühen. Prüde und schüchtern wäre nicht unbedingt die erste Charakterisierung, die Leuten einfällt, wenn sie mich beschreiben.

Extrovertiert bin ich hingegen auch nicht sonderlich.

Schlagartig werde ich umringt. Die Mädels geben mir vor dem voyeuristischen Blick, der aus der Bar kommt, dezent Deckung. Dennoch streife ich mir zögerlich meine schwarzen Pumps von den Füßen und knöpfe umständlich die Bluse auf. Bei jedem meiner Handgriffe ertönt Beifall und lautstarke Aufmunterungen. Heilfroh, dass ich gescheite Unterwäsche anzog, die farblich zu dem Lederrock passt, lasse ich die Marlenehose über meine Hüfte gleiten, woraufhin alle glucksen und meinen Slip anstarren.

Raffinierte schwarze Spitze rahmt an den entsprechenden Stellen ein dekoratives Herz ein. An den Seiten halten hübsche Schleifchen das sündige Paket zusammen. Warnend hebe ich einen Finger und ernte begeisterte Mienen und Nachfragen, wo es das raffinierte Teil zu kaufen gäbe.

Gerti nimmt derweil meine ausgezogene Garderobe entgegen und reicht mir meine neue Arbeitskluft. Sie und Diana sehen mich angespannt an und zupfen mal hier, mal dort an mir herum.

Ich bekomme die Ohren aus Plastik aufgesetzt, die auf einem Haarreifen sitzen. Beide Frauen vor mir kichern so albern, wie ich mir vorkomme. Viola knipst ein Foto und stellt es sofort allen Abonnentinnen zur Verfügung. Gewiss mit den dazugehörigen Kommentaren, die mir wenig schmeicheln, ich allerdings geduldig über mich ergehen lasse.

Kurz darauf sehe ich aus, wie ein Sexobjekt bei einer Party von Hugh Hefner und als ob mein Aufzug nicht schon peinlich genug wäre, bekomme ich den typischen Kragen umgelegt. Meinen Minirock ziert ein schwarzer Puschel am Gesäß, wie es sich für ein echtes Häschen gehört.

Oje!

Artig drehe ich mich im Kreis, damit mich jede meiner Freundinnen begutachtet. Einige klatschen erfreut in die Hände, wobei sich mein Magen flau regt. Fraglich bleibt, ob dieses Gefühl am Alkohol liegt oder an dem neuen Aufzug für die Mottoaufgabe. Der Bus stoppt und die Gruppe drängt mich zur Theke.

»Gib ihr ein Champagnerglas, Lorenz!«, verlangt Viola über den Tresen gebeugt.

Der Angesprochene greift blind tastend nach hinten, ohne mich aus den Augen zu lassen. Blut steigt heiß in mein Gesicht auf und der Restalkohol, der in meinem Blut noch seine Bahnen dreht, verglüht dort dampfend. Lorenz schiebt das gewünschte Glas über den Tresen und wartet darauf, dass ich es ergreife. Meine Hand berührt das Glas und will es hochheben, jedoch hält er es fest.

»Ich opfere dir ein Körperteil und frage mich, wer nachher deine Äste absägt.«

Unfähig, zu antworten, glotze ich ihn an, während Pfiffe ertönen. Freilich versteht keine der Anwesenden seine Bemerkung, deutet sie jedoch in eine beliebige Richtung. Abermals steigt eine Hitzewelle in mein Gesicht, denn das Angebot klingt mehr als unmissverständlich.

Diana drängt mich unerbittlich zum Ausgang des Busses, wobei die Menschentraube sich uns anschließt und sich an die frische Luft wälzt. Der Abend ging unbemerkt in die Nacht über und breitet seine dunklen Arme über die Hauptstadt aus.

Vor dem Bus umringen mich alle. Alkohol und Schweiß vermischen sich mit der Frischluft. Gerti positioniert sich, setzt eine feierliche Miene auf und verliest meine Aufgabe von einem Blättchen.

»Geh hinaus in die unbarmherzige Welt. Erbitte Almosen für deine Mitgift. Wir geben dir zwanzig Minuten, um drei Euro zu sammeln. Sammelst du sie in dein Champagnerglas zusammen, bekommst du den Preis überreicht, der dir von uns allen bereitgestellt wurde. Gehe hinfort und erfülle deine Aufgabe rechtschaffen!«, rezitiert sie geschwollen und deutet würdevoll mit ihrer Hand in eine Gasse, die sich nun bildet.

Mein Magen regt sich noch flauer, denn ich sehe auf einen abgelegenen Güterbahnhof, auf dem Obdachlose wohnen.

Hier soll ich drei Euro sammeln?

Haben die noch alle Tassen im Schrank?

Welches abgewrackte Hirn denkt sich so eine Mottoaufgabe aus und findet die auch noch umsetzbar und spaßig? Betreten sehe ich die versammelten Frauen an, die allesamt heitere Mienen aufsetzen. Keine von ihnen scheint zu bemerken, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Viola schiebt mich durch die Gasse auf die Brücke zu, unter der die Obdachlosen Schutz vor der Witterung suchen.

Ich marschiere gemächlich auf die düster gekleideten Personen zu, die mich neugierig mustern.

»Los, Milla, wir geben dir zwanzig Minuten und deine Zeit läuft ab jetzt«, brüllt Viola hinter mir.

Ohrenbetäubende Pfiffe begleiten sie, die mir gelten und mich ermutigen.

 

Kapitel 5

Langsam schreite ich auf die Menschen zu, die sich schaulustig versammeln. Argwöhnisch beäugen sie jede meiner Bewegungen, was ich absolut nachvollziehe und daher ein Lächeln aussetze. Ein Verunsichertes wohlgemerkt.

»Entschuldigen Sie die späte Störung!«

»Was willst du hier? Haste dich im Puff geirrt?«, fragt mich eine junge Frau übertrieben gackernd. Sie sieht mich mit benebeltem Blick an, der mir den hohen Prozentpegel in ihrem Blut verrät. Ihre drei Stummel im Mund waren in besseren Zeiten Zähne und leuchten von Weitem wie Mahnmale an die Vergangenheit.

Ich sehe zum Bus zurück. Dort steht der Fahrer neben Lorenz, um die seltsame Mottoaufgabe zu verfolgen. Das Bizarre an der Sache sind die Mädels, die neben ihnen jubelnden und aus dem Häuschen zu sein scheinen. Vermutlich, weil ich mich traue, einen Obdachlosen anzusprechen, oder sie ihre Aufgabe wirklich geistreich finden.

»Ich feiere meinen Junggesellinnenabschied und wollte für zwanzig Minuten Ihr Herz wärmen. Meine Freundinnen im Bus stellten mir diese Aufgabe.«

»Schleich dich!«

»Nicht, ohne meine Aufgabe zu erfüllen.«

»Die da wäre? Dich auf unsere Kosten zu amüsieren oder wat? Schleich dich besser zu de Tussis, sonst mach ick dir Beene!«

»Sie gaben mir zwanzig Minuten Zeit, schleiche mich danach sofort. Kostet Sie nichts. Ich gehe nicht eher, bevor ich meine Aufgabe erfüll …«

»Nerv mich ja nich! Willste heiraten oder was?«

»Ja, in vier Wochen.«

Sie sieht zu meinem leeren Glas, welches ich in der Hand halte. Was die Leistungsträger der Gesellschaft, die neugierig zu uns herüber gaffen, preistechnisch an einem Abend daraus trinken, reicht der Frau vor mir finanziell gesehen mehrere Monate. Ich finde diese Tatsache beschämend und fühle mich hundsmiserabel in meiner Haut.

»Mein Herz ist angenehm warm, das brauchste nich aufzuwärmen, Häschen. Wie es aussieht, brauchste ne Erwärmung viel nötiger.«

Ihr Blick gleitet an meiner spärlichen Aufmachung hinab. Sofort erscheint sie mir liebenswert und ich drücke es mit einem zurückhaltenden Schmunzeln aus.

»Sie fanden den Aufzug irrsinnig schick«, verteidige ich die snobistische Art meiner Freundinnen und lasse mich in Augenschein nehmen. Dazu drehe ich mich einmal um meine Achse.

»Hübsche Fijur, aber dir is kalt wa?«

»Nicht zu übersehen, was? Mich gruselt es.«

»Wir gruseln dich?«

»Ne, die da«, entgegne ich und deute mit dem Kopf hinter mir.

»Erbsenschädel landen grundsätzlich immer erst nach dem Tod in die Hölle, das musst de dir merken. Komm nur näher und wärm dich am Feuer, Häschen!«

Während unserer Plauderei nähern sich noch mehr Menschen, die mich neugierig beäugen.

»Wat will die denn hier?«, fragt ein faltiger Mann, der einige Menschen beiseiteschiebt und durch die gebildete Gasse schreitet. Der geschmeidige Gang, die Intensität seiner Augen und die Klangfarbe seiner Stimme sagen mir, dass sich eine wichtige Person nähert.

»Soll unser Herz wärmen, weil se heiraten will, Stav. Is ne Aufgabe, die das Jeschmeiß da hinten urkomisch findet. Dem armen Häschen hier is das unangenehm und se friert, da nahm ich se mit.«

»Wat?«, fragt der faltige Stav, schaut zum Bus und zieht seine Augenbrauen zusammen. »Die ham se wohl nich mehr alle? Wat is daran komisch?«

Ohrenbetäubende Pfiffe und Jubelschreie ertönen hinter mir. Ich will am liebsten in den Boden versinken und senke meinen Blick. »Ich heirate in vier Wochen und heute ist mein Junggesellinnenabschied.«

»Wenn einer heiratet is det n juter Grund, um zu feiern. Komm mit kleenet Hoppelchen. Ich bin Gustav, aber alle nennen mich Stav. Wie willst du unser Herz wärmen?«

Ich folge ihm zu einer Tonne, aus der meterhohe Flammen lodern. Dabei atme ich durch den Mund, weil er nach Erbrochenem und Harn riecht. Meine Strategie besteht darin, das Äußere auszublenden und den Menschen zu sehen. In meinem Fall einen freundlichen, aber vom Leben gezeichneten Anführer.

»Ich singe für euch?«

»Ne, Nachtigall besucht uns?«, lacht er.

Meine Anspannung löst sich schlagartig. Ich werde an die Tonne geführt, in die augenblicklich Holz landet, um mich zu wärmen, was mir beinahe die emotional bewegte Kehle zuschnürt. Noch mehr Menschen strömen herbei, die mich trotz zerstörten Zähnen im Mund anlächeln. Stav erklärt allen, die dazukommen, meine Aufgabe. Ich ernte zustimmendes Nicken und alle erwarten jetzt mein Lied.

»Wohnt ihr hier?«, frage ich nach und deute in den finsteren Tunnel, in dem gestapelte Pappe und Decken als Schlafstätte dienen. Einkaufswagen und Plastiktüten beinhalten den ganzen Besitz der Menschen, die um die brennende Tonne versammelt stehen.

Stav nickt. »Ja, ich seit zehn Jahren.«