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Gott schickt seine Engel, um Seelen zu helfen, die gerettet werden sollen! Mein Name ist Lisa, und mein Platz ist bei denen, die Gott fallen ließ. Ich war achtzehn Jahre alt, als mein Stiefvater versuchte, mich zu vergewaltigen. Ich schlug zurück, indem ich ihm Rattengift verabreichte und genüsslich dabei zusah, wie sein Leben aus ihm wich. Seltsam, wie leicht es mir doch fällt, Menschenleben auszulöschen – als wäre ich fürs Töten geschaffen worden. War das der Grund, weshalb Gott sich von mir abwandte? Zweifelsohne wusste er, dass Teufelsblut durch meine Adern fließt – und die Hölle mir auf Schritt und Tritt folgen würde.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
SIE KANN NICHT VERGEBEN
Thriller
Berkan Arslan
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB
1. Auflage
Februar 2025
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios
Texte: © Copyright by Berkan Arslan
Lektorat: Barbara Madeddu
Cover & Buchsatz: V.Valmont @valmontbooks
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Infinity Gaze Studios AB
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829 60 Gnarp
Schweden
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Gott macht seine Engel zu Stürmen
und seine Diener zu flammendem Feuer.
Aus der Bibel, Psalm 104,4
Seine Instinkte brüllten ihn an, er solle sich in Sicherheit bringen. Zu spät, viel zu spät! Das Messer, das sie mit beängstigender Kaltblütigkeit in ihn gestoßen hatte, verursachte scharfe Schmerzen, die inzwischen seinen ganzen Körper eingenommen hatten.
Schnell verlor er seine Kraft und seinen Widerstand. Zittern stach in seine Knie. Sein rechtes Bein gab nach. Er hatte Mühe, es zu stabilisieren. Ihm war bewusst, dass er schon bald in sich zusammenfallen und sterben würde. Dennoch hatte er nicht die Absicht, sie davonkommen zu lassen. Er musste sie aufhalten, wenn er nicht wollte, dass sein Sterben umsonst gewesen war. Er atmete schwer, stockend. Sein Inneres hatte sich mit Blut gefüllt. Mit jedem Atemzug trat es zäh, schleimig aus seinem Mund, floss seinem Kinn hinab. Ihm war klar, dass er nicht mehr sehr viel Zeit hatte. Sie hatte sich von ihm abgewandt, ging die Straße hinunter. Ihr goldenes Haar schimmerte im Licht der Straßenlaternen. Ihre Schritte waren sanft, nahezu lautlos, als schwebte sie über dem Asphalt. Er gelangte an seine Waffe. Sie fühlte sich schwer an. Er hatte Mühe, sie hervorzuholen. Endlich hielt er sie in seiner Hand, musste seine linke zur Hilfe nehmen, damit er sie in eine bestimmte Höhe transportieren konnte. Zittrig brachte er sich in Position. Jetzt brauchte er nur noch den Abzug betätigen. Ein Knall, laut wie ein Donner kroch durch die Nacht, verstummte schließlich in der Ferne. Er hatte es geschafft, mit allerletzter Kraft. Er hatte ihr Leben beendet. Erbarmungslos, so wie sie seines ausgelöscht hatte.
Gemeines Miststück! Erneut knickte sein rechtes Bein ein.
Er taumelte, haltlos, wie eine Strohpuppe und stürzte er auf seinen Rücken. Er blieb liegen. Auf dem feuchten Beton. Regungslos, als wäre er bereits tot. Seine Augen, aus denen allmählich der Glanz entwich, waren auf den düsteren Himmel gerichtet. Er spürte seine Beine nicht mehr, als wären sie von ihm getrennt worden. Kälte durchdrang seine Kleidung, strich wie mit zarten Fingern über seine Haut. Von nun an würde es nicht mehr lange dauern, bis der Tod kam. Er hätte sich so gern verabschiedet. Von seinen Eltern, zum Beispiel. Oder von Tanja, in die er so viele Jahre verliebt gewesen war. Er versuchte zu lächeln. Es waren nicht die Bilder des Lebens, die sich der Sterbend zum letzten Mal ansah. Es waren Gedanken, erkannte er jetzt. Die letzten, die jene galten, die einem etwas bedeutet hatten.
»Ich habe bereits den Rettungsdienst angefordert!«, rief ihm eine aufgebrachte Männerstimme plötzlich zu. »Halten Sie durch!«
Durchhalten…Das lag nicht mehr an ihm. Sein Leben war bereits aus ihm getropft. Langsam, mit wachsenden Abständen.
Er schloss seine Augen.
Hinter seine Lider empfing ihn ein grauer, dichter Nebel, der sich über ihn ausbreitete; ihn einrollte und verschlang.
»Sechs Uhr fünfundvierzig. Dienstag. Es war am Morgen, der sechsten Juli, als die sympathische Stimme des Radiomoderators mich aufweckte. »Es sieht bis jetzt nicht danach aus«, sagte er, »aber glaubt es mir, es wird heute warm werden. Ach, was sage ich da? Es wird heiß, so richtig heiß! Das bedeutet natürlich nicht, dass ihr euch verstecken müsst. Nein, Leute! Geht an den See, oder in einem Schwimmbad. Esst ein oder zwei Eis. Genießt den Tag, wenn ihr könnt.«
Ich hielt meine Augen geschlossen, obwohl ich wach war.
Ich wartete bis sieben Uhr, so wie jeden Morgen.
Als der Nachrichtensprecher über ein Unglück in einem entfernten Land zu berichten begann, schaltete ich das Radio aus.
Ich bin Lisa. Achtzehn Jahre alt. Gymnasiastin.
Als ich schließlich mein Bett, danach mein Zimmer verließ, um ins Bad zu gelangen, ahnte ich nicht, dass mein junges Leben genau an diesem Tag komplett auf den Kopf gestellt werden würde. - Und von heute an sollte nichts mehr so sein, wie es mal war!
Sie stieß die Tür des kleinen Ladens auf und blieb einen Augenblick lang stehen. Sie wartete, bis ihre Augen sich an die Trübheit, in die sie geraten war gewöhnten. Im Licht des strahlenden Sonnenscheins hinter ihr, schimmerte ihr schulterlanges Haar wie Gold. Nachdem sie die Tür in den Rahmen zurückgedrückt hatte, bewegte sie sich auf den Verkaufstresen zu, der nicht besetzt war. Wer Hannes Graf, den Ladenbesitzer kannte, wusste, dass das nicht ungewöhnlich war. Wenn keine Kundschaft da war, zog er sich in seine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung zurück, die durch einen Durchlass zu erreichen war. Ungeduldig klopfte sie mit einer Münze, die sie in ihrer schmalen Hand hielt, auf die cremefarbenen Marmorplatte vor sich.
»Einen Moment, bitte!«, meldete sich die Stimme des älteren Mannes. »Nur eine Sekunde! Ich bin sofort bei Ihnen!«
»Ist schon gut, Herr Graf, ich bin‘s nur!«
Als der Ladenbesitzer aus seiner Wohnung trat, war er immer noch damit beschäftigt seine Kleidung zu ordnen. Er war etwas zu klein geraten. Nicht größer als 1.68 Meter. Schmächtig. Schütteres, graues Haar, das einen Schnitt nötig hatte. Er besaß ein knorriges, blasses Gesicht, aus dem kleine, runde, wasserblaue Augen, umgeben von tiefen Falten hervorsahen.
»Lisa!«, stieß er aus. In seiner Stimme lag nun ein Ton freudiger Überraschung, als er verkündete: »Noch gestern, Prinzessin, habe ich an dich denken müssen.«
»Ist das wahr?«, fragte sie nach, wobei sie ernst blieb. »Hoffentlich fielen sie nicht allzu sehr böse aus, Ihre Gedanken.«
Mit einem Lächeln auf seinen schmalen Lippen zwang er sich hinter dem Tresen. »Ach, wo denkst du hin? Ich habe keine bösen Gedanken, dass weißt du. Selbst, sie würden niemals dir gelten.«
»Na, da bin ich aber beruhigt.«
»Womit kann ich dir dienlich sein?«
»Geben Sie mir vier Zigaretten, bitte.«
Graf beugte sich nach unten. In einer Schublade fand er die offene Schachtel, aus dem er die Zigaretten herauszog und sie auf die Marmorplatte ablegte.
Lisa schob ihm die Zwei-Euro-Münze entgegen.
»Behalte sie«, sagte er. Er kannte sie. So viele Jahre schon. Und er wusste, wenn sie einzelne Zigaretten kaufen wollte, hatte sie nicht viel Geld.
»Danke.« Ihre fleischigen Lippen entblößten in einem zögernden Lächeln ihre weißen, gleichmäßigen Zähne. »Sie sind ein netter, vor allem aber ein sehr verständnisvoller Mann.« Eine der Zigaretten klemmte sie zwischen ihre Lippen, suchte anschließend die Taschen ihrer engen, verwaschenen Jeans nach einem Feuerzeug ab. Als sie nicht fündig wurde, wandte sie sich an ihrem braunen Rucksack. Bevor sie ihn jedoch auseinanderklappte, hatte Graf ein Streichholz gezündet und hielt ihr die kleine Flamme entgegen. Lisa war die Einzige, der er gestattete im Laden zu rauchen, solange keine Kundschaft zugegen war. Sie tat einen tiefen Zug, fühlte wie der scharfe, bittere Rauch ihre Lungen durchzog. Er wirbelte aus ihrem Mund und Nase, als sie wieder ausatmete. »Mann, tut das gut!«, stöhnte sie auf. »Ich dachte schon, ich komme überhaupt nicht mehr aus der verfluchten Schule heraus. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich nach dieser Zigarette gesehnt habe.«
»Wo hast du so lange gesteckt?«, erkundigte er sich. Er hatte das Fenster zum Hinterhof weit geöffnet, beobachtete nun mit einer strahlenden Sanftheit auf seinem farblosen Gesicht seine Besucherin. »Ich glaube, es ist schon vierzehn Tage her, wo du zuletzt hier warst.«
»Pleite«, gestand Lisa freimütig. »Immer nur pleite, Herr Graf und ich schulde Ihnen schon genug.«
Er langte mit seiner linken über die Marmorplatte hinweg und ergriff ihre freie Hand. »Ich habe nie nach Geld gefragt, oder?«, beschwerte er sich. »Und außerdem, du weißt, dass ich mich immer freue, dich hier zu sehen. Du bist mir jede Zeit willkommen.«
Sie sah auf ihre Hand hinab, die er umklammerte, unternahm jedoch keinen Versuch, sie ihm zu entziehen. »Sie freuen sich über alle Frauen, ob jung oder alt«, wusste sie. »Sie mögen sie alle, habe ich recht? Sagen Sie nicht, dass es nicht so ist.«
Der alte Mann lächelte. »Aber dich sehe ich am liebsten«, hauchte er. »Dich habe ich schon immer gemocht, mehr als jede andere.«
»Sie versuchen mir etwas vorzuschwindeln«, gab Lisa zurück, endlich lächelte auch sie.
»Ich meine es ernst, wirklich«, versicherte er. »Du bist die Einzige, die hier rauchen darf – und der ich Kredit gewähre. Ich würde sonst niemanden in Ruhe lassen, der mir, was weiß ich wie viel Geld schuldet.«
Langsam zog sie ihre Hand aus seinem Griff. Die leichte Verschleierung in seinen Augen waren ihr nicht entgangen. Kleiner, geiler, alter Mann! »Und was ist mit Steffi Horst?«, fragte sie, nachdem sie zwei Schritte von dem Tresen zurückgewichen war. »Sie hat doch auch etwas schuldig bleiben dürfen. Und ich weiß, dass es wahr ist. Sie hat es mir nämlich erzählt.«
Hannes Graf fuhr mit seiner Zunge über seinen plötzlich ausgetrockneten Lippen. »Aber, dass ich sie eines guten Tages habe bezahlen lassen, hat sie dir nicht erzählt, nicht wahr? Von dir jedoch habe ich noch nie etwas verlangt.«
Lisa trat noch weiter vom Tresen zurück und sah forschend um sich. »Irgendetwas hat sich hier verändert«, erkannte sie und entdeckte zugleich, was es war: »Die Decke, die war sonst Beige. Sie haben sie weiß gestrichen.«
»Das stimmt«, bestätigte er, lächelte erneut. Endlich sah jemand sein Bemühen. »Ich bin dabei auch die Wohnung hübsch zu machen«, setzte er fort. »Und irgendwann werde ich auch den Laden herrichten lassen. Das heißt, wenn ich das Geld dafür zusammenbekomme.«
»Nun hören Sie aber auf!«, rief sie ihm heiter zu. »Sie haben sicherlich reichlich.«
Graf zeigte ein bekümmertes Gesicht. « Das sagt ihr alle, ihr jungen Leute. Was habe ich schon, hm? Diesen Laden hier, durch den ich mich gerade so über Wasser halte...Und eine kleine Wohnung an der Ostsee, meine Bleibe im Alter.«
»Heißt das, Sie planen irgendwann umzuziehen?«
»Irgendwann, ja.«
Lisa wandte sich den Zeitschriftenregalen zu. »Sie sollten jetzt, wo Sie noch nicht so alt sind dorthin gehen«, schlug sie ihm vor, beugte sich dem untersten Regal entgegen, um ein paar Magazine aus der Nähe anzusehen. Es war ein dummes Spiel. Andererseits, es machte ihr Spaß den alten Mann zum Schwitzen zu bringen. Und wenn er genügend aufgeheizt war, zeigte er sich auch sehr großzügig. »Wenn Sie später alt und gebrechlich sind«, fuhr sie weiter, »haben Sie nichts von ihrer Wohnung in einer schönen Gegend.«
Hannes Graf hielt den Atem an. Sein gieriger Blick streichelte Lisas Po, den sie ihm entgegenstreckte. Das Zittern kam, fühlte sich anfangs wie Kribbeln an. Es steigerte sich in Windeseile, befiel seine Knie. Anschließend bewegte es sich Aufwärts, belagerte seine Lendengegend. »Willst du…« Er brach ab, schluckte laut. Seine Stimme kam brüchig aus seiner Kehle, als er neu ansetzte. »Willst du vielleicht etwas Süßes?«
»Hab kein Geld«, antwortete Lisa, ohne ihre Position zu verändern.
»Habe ich etwas von Geld gesagt?« wehrte er sich. »Was möchtest du?«
»Irgendwas, egal was.«
Der alte Mann griff hinter sich und holte eine Tafel Zart-Bitter-Schokolade aus einem Stapel hervor. Sein knorriges Gesicht war errötet, es zeigte seltsame Flecken, als Lisa ihr Spiel beendete und an den Tresen zurückkehrte. Er schob ihr die Schokolade entgegen, ergriff erneut ihre Hand, als sie sich danach ausstreckte. »Du bist das hübscheste Mädchen in der ganzen Gegend, Lisa!«, keuchte er nahezu atemlos. »Wirklich, ich sah bisher keine, die auch nur halbwegs mit dir mithalten konnte. «
Ja, ja…»Schon wieder dieses Anschwindeln, Herr Graf?«
Er steckte nicht auf. »Es ist mir ernst«, sagte er, drehte ihre Hand um und besah ihre Handfläche. »Und du hast, für so ein junges Ding sehr schöne Hände.«
»Ich bin kein junges Ding!«, protestierte sie, jedoch nicht allzu heftig. Nicht, dass er es sich anders überlegte mit der Schokolade, und auch mit dem Geld, das sie ihm schuldete. »Ich wurde vor drei Monaten achtzehn.«
»Tatsächlich?« Er wirkte überrascht. Natürlich, die Zeit verstrich so schnell. Die, die noch gestern Kinder waren, waren inzwischen erwachsen und über alle Berge. Nicht wenige, die er hier bediente, auch mit Ratschlägen fürs Leben versorgt hatte, hatte er niemals wiedergesehen. Einige wiederum, die in der Gegend Verwandte oder Freunde zurückgelassen hatten, kamen auf einen Sprung bei ihm vorbei, wenn sie in der Gegend waren. »Achtzehn«, murmelte er. Wie lange dauerte es wohl, bis Lisa aus seinem Leben verschwand? Ob sie dann jemals wiederkommen würde, um nach ihm zu sehen?
»So ist es«, bestätigte sie, Hochmut und Trotz in ihren Zügen.
»Und die Jungs in der Schule, sind wohl ganz wild nach dir?«
Lisa sah ihn einen Moment lang mit gespielter Verwunderung an. »Wie meinen Sie das?«
»Ich denke, du weißt, wie ich es meine?«
»Nein, das weiß ich nicht«, behauptete sie. Schimmer von Übermut blitzte in ihren tiefblauen Augen auf. »Das müssen Sie mir schon etwas genauer erklären.«
Er ließ ihre Hand los, kam um den Verkaufstresen und blieb unmittelbar vor ihr stehen. Lisa entdeckte vereinzelt Schweißperlen auf seiner Oberlippe. Ein kleiner Nerv zuckte unruhig an seinen rechten Mundwinkel.
»Ich höre, Herr Graf.«
Er streckte seine linke Hand aus. Seine Fingerkuppen berührten vorsichtig ihre nackte Schulter, die ihr Achselshirt mit weitem Ausschnitt freigegeben hatte. Lisa rührte sich nicht vom Fleck. Und während er seine Hand langsam abwärts wandern ließ, suchte er in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Unbehagen. Er war erstaunt, als er keines entdeckte. Sie machte nicht mal den Anstalten, sich ihm zu entziehen. Sie lächelte sogar, als sie »Ach, warum sagen Sie nicht gleich, dass Sie das meinen«, sagte und erklärte: »Das stimmt, die Jungs sind ganz scharf auf mich. Manchmal gehe ich darauf ein, manchmal wieder nicht. Kommt ganz auf meine Stimmung an, verstehen Sie?«
»Willst du sehen, in welchen Farben ich die Wohnung streiche?«, fragte er, als sie von ihm etwas abrückte. Lisa gab ihm keine Antwort, wickelte die Schokolade aus und biss Stückchen davon ab.
»Wenn du mit nach hinten kommst – wenn du lieb zu mir bist, vergesse ich auch das Geld, das du mir schuldest«, setzte er nach.
Nachdem sie kurz innegehalten hatte, drehte sich Lisa schweigend um und bewegte sich auf die Tür zu.
»Lisa!«, rief er flehend ihr nach. »Ich gebe dir alles, was du willst!«
Geh‘ nur nicht, bitte!
»Tut mir leid, Herr Graf, aber ich bin in einer miserablen Stimmung«, antwortete sie, öffnete die Tür und trat hinaus. Und der kleine Laden kam dem alten Mann ohne das helle, leuchtende Gold ihres Haares und die Schönheit ihres jungen Gesichtes leer und freudlos vor. Er seufzte schwer, bevor er noch immer mit zitternden Knien in seine Wohnung zurückkehrte.
Die Sonnenstrahlen prallten auf die Teerdecke, aus der sie als kochende Dämpfe aufstiegen. Auch von den Betonmauern der Mietshäuser wurden sie zurückgeworfen, betasteten nun wie züngelnde Flammen eines offenen Feuers Lisas sanftem Gesicht. Sie wartete einen Augenblick in der Türnische, bevor sie in die Wärme hinaustrat. Langsam zerkaute sie das letzte Stück Schokolade, während ihre Augen die Umgebung nach einem Lebenszeichen absuchten. Bis auf zwei kleine Kinder, die auf der Treppe eines vierstöckigen Gebäudes, im Schatten saßen war die Straße leer. Gerade eben tauchte ein kleiner, silberner Wagen, japanisches Fabrikat auf, bog an der nächsten Querstraße rechts ab und verschwand. Nachdem sie ihre Finger an dem Papier gesäubert hatte, stopfte sie es in dem kleinen Papierkorb, den Hannes Graf links neben dem Eingang aufgestellt hatte. Die Sonne stach in ihre Augen, als sie den Bürgersteig betrat. Sie musste blinzeln, erneut brach an ihrem Körper der Schweiß aus. Und sie bereute ihren Entschluss, der sie aus dem kleinen Laden verdrängt hatte. Dort war es wenigstens angenehm kühl gewesen, obwohl der alte Mann dabei gewesen war, seine Tabugrenzen zu überschreiten. Etwas später hätte er wohl möglich seine Zurückhaltung gänzlich aufgegeben und sich auf sie gestürzt. Und sie hätte die Schuld, weil sie ihn so weit gebracht hätte. Vielleicht sollte sie ihn in Zukunft weniger provozieren und auch etwas mehr Distanz zu ihm wahren, wenn sie nicht wollte, dass ein Unglück sie beide ereilte.
»Lisa!«
Sie sah hinter sich, blieb aber nicht stehen. Die verdammte Hitze machte ihr zu schaffen. Steffi Horst, von Kindesbeinen an Lisas Freundin, hatte ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr rundes Gesicht zeigte eine dünne Schweißschicht. Sie verfügte über Lisas Größe, war jedoch etwas korpulenter. »Unsere Absprache war, dass du auf jeden Fall auf mich wartest«, klagte sie, als sie Lisa einholte.
»Das stimmt«, entgegnete diese. »Tut mir leid, aber mir war warm und ich musste unbedingt eine rauchen.«
»Warst du bei Graf?«
»War ich, ja.«
»Und?«
»Das Übliche.«
»Was hat er dieses Mal herausgerückt?«
»Schokolade, die Billige, du weißt schon.«
»Früher war er großzügiger, findest du nicht auch?«
»Er ist nur geblendet, von dem, was wir ihm anbieten, sieht daher nicht, nach was er greift.«
Steffi grinste. »Armer, geiler Mann.«
»Was hast du heute noch vor?«
»Eigentlich nichts. Ich dachte, erst einmal nach Hause, mal sehen, was dann kommt.«
»Ich habe auch keinen Plan«, gestand Lisa. »Aber ganz ehrlich, nach Hause zieht mich auch nichts. Wenn ich an die Augen denke, die mich immer zu beobachten, wird mir übel.«
»Ich habe vorhin deine Mutter gesehen. Sie war auf dem Weg zum Bus.«
»Diese ewige blöde Spätschicht macht sie ganz fertig.«
»Für sie wäre es sicherlich erfreulich, wenn dein Stiefvater auch etwas arbeiten würde.«
»Der doch nicht!«, stieß Lisa verächtlich aus. »Für nichts auf der Welt würde er seine Bierkiste zurücklassen!«
»Sucht er überhaupt Arbeit?«
»Warum sollte er?“ Kalter Wut schimmerte in Lisas Augen. „Niemals zuvor ist ihm so gut gegangen. Drei Mahlzeiten am Tag und Bier so viel er trinken kann. Er ist kein Dummkopf. Er sitzt von morgens bis spät in die Nacht vor der Glotze und rülpst wie ein Schwein!«
»Er hat mich neulich angesprochen«, verriet Steffi, nachdem sie sich gefragt hatte, ob sie das ihrer Freundin erzählen sollte. Nun aber war es raus. Selbst wenn sie von jetzt an beharrlich schwieg, Lisa würde keine Ruhe mehr geben. Sie würde sie so lange bearbeiten, bis sie erfuhr, was Steffi ursprünglich unbedingt für sich zu behalten vorgesehen hatte.
»Was wollte er?«
»Er hat sich nach dir erkundigt.«
»Geht es auch genauer?«
»Er wollte wissen, was du so treibst, mit Jungs und so.«
»Mich hat er auch schon mal ausquetschen wollen«, erklärte Lisa daraufhin. »Ich sagte ihm, er soll sich gefälligst aus meinem Leben heraushalten. Was hast du ihm erzählt?«
»Was für eine Frage?«, knirschte Steffi, schüttelte ihren Kopf. »Natürlich nichts. Soweit kommt es noch, dass ich diesem Schwachkopf irgendetwas, was dich betrifft unter die Nase binde.«
»Von Tag zu Tag fällt es mir schwer, ihn zu ertragen«, sagte Lisa nach einer kurzen Pause. »Ich sage dir, sobald sich die Möglichkeit anbietet, irgendwo Geld zu verdienen, bin ich verschwunden.«
»Aber die Schule bringst du zu Ende, oder?«
Lisa winkte ab. »Die wäre mir dann vollkommen egal!«
»Hey, Steffi!«
Steffi folgte dem Ruf, indem sie sich umdrehte. Lisa zog ihr nach. Zwei junge Männer waren aus dem Haus jenseits der Straße herausgetreten. Der Schmächtige mit dunklen Haaren wollte wissen: »Wie hieß deine Freundin noch?«
Steffi antwortete: »Was hält dich davon ab, her zu kommen und sie selbst zu fragen?«
Den Schmächtigen kannte Lisa, noch aus der Zeit als er für einige Monate mit Steffi liiert war. Sein Name war Burkhard, genannt Burki. Lisa hatte ihn schon immer für einen Looser gehalten, der es nicht einmal zu einem Schulabschluss gebracht hatte, keine Pläne hatte und der sich frech durch das Leben schnorrte. Ein ausdrucksloser Kerl aus der Menge; eine Erscheinung, der Mitleid erregte. Lisa hatte nie verstanden, was Steffi veranlasst hatte, sich mit ihm einzulassen. Gegensätze ziehen sich an, fiel ihr ein, auch wenn sie zusammen ein auffällig schlechtes Bild abgegeben hatten. Der Andere war ihr fremd. Er stammte bestimmt nicht aus der Gegend. Er wäre ihr aufgefallen, wenn es der Fall gewesen wäre. Er war groß, drahtig. Sicherlich Sportler, überlegte sie. Er hatte hellblondes Haar, modisch frisiert. Dazu ein offenes, im ersten Blick sympathisches, schlankes Gesicht, freundliche, blaue Augen. Ein gutaussehender Typ. Aber was hieß das schon? Gutes Aussehen, beschissener Charakter! Der Letzte, der ihr den Hof gemacht hatte, war auch so einer gewesen. Und sie hatte ihn ganz schnell in den Wind geschossen. Sie benötigte keinen, der in erste Linie in sich selbst verliebt war und immerzu Bestätigung brauchte, wie unwiderstehlich er war.
Die jungen Männer kamen über die Straße.
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, erkundigte sich Burkhard, klang als hätte sich Sorgen gemacht, er nun froh sei, weil diese sich letztendlich als Unbegründet herausstellte. Er hatte grünblau gesprenkelte Augen, die ein wenig schräg in den Höhlen lagen. Sein längliches Gesicht zeigte Spuren eines längst verheilten Hautausschlages. Er lächelte und entblößte seine etwas schiefen Schneidezähne, als er fortsetzte: »Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen. Dachte schon, ihr wärt umgezogen.«
»Ich bin immer hier gewesen«, gab Steffi emotionslos zurück. »Hab mich nicht vor dir versteckt, oder so. Und du?«
»Auch immer in der Gegend gewesen«, antwortete Burkhard Schulter zuckend, als wollte er darauf hinweisen, dass es in seinem Leben nichts Außergewöhnliches stattgefunden hätte.
»Wer ist dein Freund?«
»Ich bin Arne«, warf sich der Fremde ins Gespräch ein und fügte im nächsten Atemzug hinzu: »Burki und ich haben vorhin überlegt, ob wir an den See fahren sollten. Vielleicht habt ihr Lust uns zu begleiten.«
»Wow, du scheinst einer von diesen Superschnellen zu sein.«
»Das Leben ist zu kurz«, gab Arne lächelnd zurück. Den Sarkasmus in Steffis Worten schien er nicht bemerkt zu haben.
Steffi blieb dran: »...Sagt ein achtzehnjähriger.«
»Arne ist schon zwanzig«, wusste Burkhard.
»Oh, ein alter Mann also.«
»Ich habe das Gefühl, deine Freundin mag mich nicht, Burki.«
»Ich bin nicht seine Freundin!«, widersprach Steffi. »Wenn er das Gegenteil behauptet hat, weiß ich nicht, warum er das getan hat.«
»Hört zu, lass uns an den See fahren«, nahm Burkhard das Wort an sich. Er hatte nicht die Absicht, gerade dieses Thema zu vertiefen, sodass es am Ende wohl möglich in Ärger mit Steffi enden würde. »Und während wir schwimmen und uns sonnen, werdet ihr sehen, dass wir uns alle liebhaben.«
»Was, wenn nicht?«, schaltete sich Lisa ein. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie dieser Unterhaltung am liebsten den Rücken gekehrt hätte. Die Sonne biss in ihren Nacken. Ihre Achselhöhlen glichen einen Tümpel. Sie blieb nur, weil der Fremde sie neugierig machte. Vom Aussehen her war er schon ihr Typ. Wenn der Rest von ihm ebenfalls positiv ausfallen sollte, wäre sie unter Umständen bereit, ihn näher kennenzulernen. »Dann werden wir sicherlich nicht sterben, wenn wir uns für ein paar Stunden wie Menschen verhalten, die einen angenehmen Nachmittag miteinander verbringen«, erklärte Burkhard. »Ich meine, wir sind alle zivilisiert, und niemand muss Angst haben, etwas tun zu müssen, das er ablehnt.«
Steffi wandte sich an ihre Freundin. »Was meinst du, haben wir Lust schwimmen zu gehen?«
»Vielleicht«, antwortete Lisa, klang eindeutig abwartend.
»Das Blöde an der Sache ist, wenn ich jetzt nach oben gehe, um meine Badesachen einzupacken, wird meine Mutter mir tausend Aufgaben auferlegen, sodass ich nicht mehr fortkommen werde«, erklärte Steffi, verzog dabei säuerlich das Gesicht.
»Wo wir hinfahren werden, gibt es mindestens ein Dutzend Bikinis und ebenso viele Badeanzüge«, beruhigte Arne sie.
»Und wo wäre das?«, wollte Steffi wissen.
»Wir, das heißt, meine Eltern haben an diesem See ein kleines Wochenend-Häuschen.«
»Und dort sind auch Schwimmsachen?«
»In jedem Schrank. Meine Mutter und meine Schwester sind verrückt nach Badeklamotten. Ihr werdet unter all diesem Zeug sicherlich etwas Passendes finden.«
»Und du hast einen Wagen, damit wir auch zu diesem See kommen?«
»Ja, habe ich.«
»Was stehen wir noch hier herum und schwitzen wie Maulesel bei dem Ackerbau!«, rief Steffi. »Also, auf geht’ s!« Und sie schob Lisa vor sich her, die sich nach wie vor zurückhaltend gab.
Peter Rolfes saß seit einiger Zeit im abgedunkelten Wohnzimmer am weitgeöffneten Fenster. Er sah dem Wagen entgegen, der in seiner Straße eingebogen war und in niedrigem Tempo heranrollte. Er verlagerte seinen Oberkörper ein wenig nach vorne, als der Wagen vor dem Haus, in dem er wohnte zum Stehen kam. Der Fahrer brachte den Motor zum Schweigen. Die Scheinwerfer ließ er hingegen an. Rolfes entdeckte Steffi, die als erste aus dem Wagen stieg. Ein hagerer junger Mann folgte ihr. Jetzt zeigte sich auch Lisa. Nachdem sie einen prüfenden Blick zu den Fenstern ihrer Wohnung geworfen hatte, wandte sie sich dem jungen, blonden Fahrer zu, der in diesem Augenblick zu ihr stieß. Ja, ich bin hier! rief Rolfes ihr im Stillen zu. Ich sehe zu dir hinunter und habe dein Treiben genau im Blick, du kleines Luder!
Seine, durch den Alkohol benebelten Augen fuhren Lisas verführerischen Formen ab. Natürlich war es ihm nicht entgangen, dass ihre Brüste inzwischen so groß wie die von ihrer Mutter waren. Auch ihr Po war schon richtig fraulich. Aus ihr ist klammheimlich eine sehr hübsche junge Frau geworden, erkannte er, während er weiterhin auf die Straße unter ihm sah. Er hatte sie schon oft halbnackt gesehen, wenn sie aus dem Badezimmer kam und in ihr Zimmer ging. Bilder, die sein Inneres zum Kribbeln brachten, erschienen vor sein geistiges Auge. Sie hatte kein Recht ihn zu behandeln, als sei er Luft. Verflucht nochmal! Nahezu ohne Kleidung durch die Wohnung zu spazieren, wo führte das hin? Sie machte das ganz bewusst, dessen war er sich sicher. Sie wusste genau, dass das ihn erregte, ihm auch den letzten Rest seines Verstandes raubte. Er war kein kranker oder ein uralter Mann, der nur noch auf den Tod wartete. In ihm pulsierte ein riesiger Berg aus Gefühlen, Empfindungen und Verlangen.
Irgendwann musste er ihr sagen, dass sie das gefälligst sein lassen sollte, wenn sie nicht wollte, dass der Vulkan, der in ihm brodelte zum Ausbruch kam. Er wischte mit der rechten Hand über seine Stirn, auf der Schweißtropfen entstanden waren und rückte sich anschließend leicht schwankend von seinem Beobachtungsposten ab. Er musste sich auf seinen Weg in die Küche, an den Wänden abstützen. Dort angekommen, öffnete er den Kühlschrank. Kein Bier mehr. Er warf die Kühlschranktür zu, vollendete auf seinen schwachen Beinen eine Viertel Umdrehung. Nun ragte er über die Bierkiste. Er kontrollierte jede einzelne Flasche. Es konnte nicht sein, dass er sie alle geleert hatte. Er hoffte inständig, dass er zumindest eine übersehen hatte. Er hatte jedoch kein Glück. Er stieß ganze Reihe von Flüchen aus. Wie sollte er zum Teufel nochmal durch den Abend kommen?
Im nächsten Moment fielen ihm die Flaschen in der Besenkammer ein. Er steuerte auf den schmalen Raum zu, öffnete die Tür, machte Licht. Da standen sie, auf einem Regal. Zwei Flaschen Wodka und eine Flasche Weinbrand. Himmel, vielen, lieben Dank! Er ließ den Wodka stehen. Er kriegte ihn nicht durch seinen Hals, schon gar nicht, ohne ihn verdünnt zu haben. Gegen Weinbrand sprach nichts. Achtundzwanzig Prozent Alkoholgehalt. Die brauchten nicht verdünnt zu werden. Mit der Flasche in seiner Hand kehrte er in die Küche zurück. In einem der Hängeschränke über dem Waschbecken fand er auch das passende Glas. Nachdem er den Drehverschluss geöffnet hatte, goss er sich etwas ein. Nur ein wenig. Um zu probieren. Ja, das schmeckte hervorragend. Die Flasche und auch das Glas behielt er in seiner Hand, als er ins Wohnzimmer zurückkam. Auch dieses Mal warf er einen Blick auf die Straße. Die jungen Menschen weilten noch immer neben dem Wagen. Rolfes schüttelte seinen Kopf. Unbegreiflich. Was hatten die so viel zu bereden?
Lisas Haar schimmerte im Licht der Straßenlaterne. Er ertappte sich erneut dabei, wie er ihren Po anstarrte. Seine Erregung, die während der Suche nach Alkohol abgeflaut war, kam wieder und rollte durch seinen Körper wie ein Feuerball. Er löste sich vom Fenster. Er musste sich dringend wieder in Griff bekommen. Als er auf seinen gewohnten Platz auf dem Sofa saß, kippte er etwas von dem Weinbrand in dem Glas. Er leerte es in einem Atemzug und befüllte es aufs Neue. Nach einer Weile vernahm er Schritte auf dem Treppenhaus. Kurz danach wurde die Wohnungstür aufgeschlossen und das Flurlicht eingeschaltet. Rolfes lehnte seinen Kopf nach hinten, in einer leichten Schieflage, schloss seine Augen. Er konnte hören, wie Lisa die Wohnungstür ins Schloss drückte, sich anschließend der Wohnzimmertür näherte. Leise, kleine Schritte.
Wahrlich, wie von einem Engel.
»Peter!«
Er gab kein Lebenszeichen von sich.
Sollte sie doch glauben, er sei eingeschlafen.
Lisa ging in ihrem Zimmer gegenüber. Das sanfte Licht der Lampe auf ihrem Nachtschrank leuchtete auf. Von dort aus, wo er saß, konnte Rolfes sie beobachten. Da Lisa ihre Tür offengelassen hatte, ging sie tatsächlich davon aus, dass er seinen Alkoholrausch ausschlief. Er verfolgte nahezu atemlos jeden ihrer Schritte; sah ihr zu, wie sie sich entkleidete. Bis sie schließlich in Unterwäsche dastand. Sein Herz jagte. Er kämpfte gegen seine Erregung an, die ihn immer wieder attackierte. Und genau in diesem Augenblick sah Lisa auf. Ihr Blick wirkte misstrauisch. Ahnte sie etwa, dass er wach war? Verfluchtes Weibstück! fluchte er in sich hinein, als sie der Tür einen Fußtritt versetzte. Sie war nur noch ein paar Zentimeter offen. Dieser enge Spalt reichte nicht aus, um sie weiterhin im Auge behalten zu können.
Lisa trug einen glänzenden Bademantel in Pink als sie wieder erschien. Gleich drauf verschwand sie im Badezimmer, um sich dort für die Nacht fertig zu machen. Über dem Waschbecken gebeugt, wusch sie sich ihr Gesicht, wobei sie auf die wunde Stelle auf ihren Nasenrücken aufmerksam wurde, die etwas weh tat. Sonnenbrand, erkannte sie, nachdem sie ihr Spiegelbild begutachtet hatte. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen besser auf sich aufzupassen. Ihre helle Haut war nicht dafür geschaffen, ungeschützt der Sonnenstrahlen ausgesetzt zu sein. Nachdem sie ihre Zähne geputzt hatte, trug sich etwas von der Nachtcreme ihrer Mutter auf. Wieder in ihrem Zimmer, legte sie ihren Morgenmantel ab, unter dem sie einen weiten, weißen Schlaf-Shirt trug, das knapp über ihre Knie endete. Sie schlug ihre Bettdecke zurück, und erst jetzt entdeckte sie ihren Stiefvater. Er hatte sich hinter der Tür, neben ihrem Kleiderschrank verschanzt. Einfältiges Lächeln verzog ihm das Gesicht, auf dem Schweißperlen schimmerten. Unsicher, zögerlich kam er aus seinem Versteck hervor. »Lisa…«, begann er, verstummte dann abrupt, weil ihm die Stimme versagte.
»Mach, dass du hier rauskommst!«, fuhr sie ihn mit düsterer Stimme an. »Na, los!«
Rolfes näherte sich ihr. Seine Zunge fuhr nervös über seine Lippen.
»Hast du nicht gehört, du versoffener Penner! Ich sagte, verschwinde von hier!«
»Warum bist du so gemein zu mir?«, fragte er, wirkte ernsthaft betroffen und verwirrt gleichermaßen. »Sage ich dir nicht immer wieder, wie gern ich dich habe?«
»Du glaubst gar nicht, wie egal es mir ist, ob du mich magst oder nicht!«, antwortete sie. Ihr Ton unverändert giftig.
»Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet. Ich dachte mir, wenn sie da ist…«
»Schön, schön!«, schnitt sie ihm schroff das Wort ab. »Und nun, raus aus meinem Zimmer! Geh einfach!«
»Zu diesem Schmalzlocke, diesem Jüngling, mit dem du gekommen bist, zu dem bist du sicherlich immer lieb, nicht wahr?«, erkundigte er sich, wobei er zum ersten Mal verächtlich und niederträchtig klang. Auch seine Gesichtszüge zeigten, dass seine Empörung echt war. »Zu dem sagst du bestimmt nicht, er soll sich verpissen, sich von dir fernhalten, habe ich recht?«
»Es hat dich nicht zu interessieren, was ich zu ihm sage und was nicht!«
»Sagst du ihm auch, dass er dich küssen und streicheln soll? Lässt du auch zu, dass er seine Hand in dein Höschen steckt?«
»Du widerst mich an!«
»Sagst du ihm auch, dass er dich schon bald vögeln darf? Hmm? Oder hat er dich bereits gevögelt? Dann weißt du ja wie es geht, wie es sich anfühlt. Aber was weiß der kleine Mann, wie man eine junge, heiße Frau glücklich macht? Nein, er weiß es nicht, ganz sicher nicht. Ich hingegen habe ganze Menge Erfahrung. Ich weiß genau, wo ich Hand anlegen muss. Ich werde es dir zeigen, gleich. Und danach wirst du dich niemals mehr mit kleinen Jungs abgeben! Das schwöre ich dir!« Unerwartet schnell kamen seine Hände nach vorne, womit er Lisa überraschte. Rolfes ergriff sie noch bevor sie die Möglichkeit fand, um zu reagieren. Er hatte sehr viel Kraft in seinen Armen. Auch seine Finger, die sich in ihre Schultern bohrten, waren stark. So wie sie sich auch wandte, schaffte Lisa es nicht, sich von seinem Griff zu befreien. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit schleuderte er sie auf das Bett. Auch hier fand sie nicht die Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Er hatte keine Sekunde vergeudet und sich auf sie geworfen. »Gleich!«, stieß er atemlos aus, während er sie mit seinem Körpergewicht festhielt.
»Du weißt, dass meine Mutter das erfahren wird!«, rief Lisa, kämpfte, warf sich umher, damit sie freikam. »Und sie wird dich aus der Wohnung jagen! Du wirst auf der Straße enden und du wirst nichts mehr haben! Keine Frau, keine Bleibe, nichts mehr zu trinken und zu essen! Ein Obdachloser, mit leeren Taschen!«
Rolfes hielt inne.
Er wirkte, als wurde es ihm erst jetzt bewusst, was er getan hatte.
Er schrie schmerzvoll auf, als Lisa sein Zögern ausnutzte und ihm seine rechte Gesichtshälfte zerkratzte. Anschließend gelang es ihr, ihn von sich zu stoßen und das Bett zu verlassen. Sie raffte schnell ihre Kleidung, dazu ihren kleinen Rucksack, rannte aus dem Zimmer, noch bevor er erneut nach ihr greifen konnte.
»Du wirst aus unserem Leben verschwinden!«, hörte er sie rufen. »Und wir werden endlich anfangen zu leben!«
Rolfes hechtete ihr nach. »Lisa, warte - bitte!«
Die Nacht, die sich wie eine sanfte Decke über die Wohnstraße ausgebreitet hatte war still. Lediglich ihre kraftlosen Schritte, die ein leichtes Echo erzeugten, zerrissen das Schweigen. Es waren nur noch wenige Fenster, hinter denen etwas Licht war. Die, die in der Frühe aus den Federn mussten, lagen bereits in ihren Betten. Auch für sie war der lange Tag gleich, sobald sie ihren Fuß in ihrer Wohnung warf zu ende. Vielleicht noch ein paar Sätze mit Peter wechseln. Das hieß, wenn er dazu noch in der Lage sein sollte. Dann noch kurz duschen und anschließend unter ihre Decke kriechen. Pläne für den morgigen Tag hatte sie noch gar nicht gemacht. Aber die hatten auch Zeit, bis sie wieder die Augen aufschlug. Carola Westerhoff staunte nicht schlecht, als sie ihre Tochter auf dem Stufen vor der Eingangstür sitzen sah. Sie geriet sogar für einen kurzen Augenblick ins Stocken. Da ist etwas passiert! lauteten ihre Gedanken und sie registrierte wie ihre Gedärme sich zusammenzogen. Hoffentlich fiel der Ärger, der sie erwartete nicht allzu schlimm aus, und sie konnte ihn mit wenig Aufwand aus der Welt schaffen. Ihr Leben war wahrlich nicht geradeein fröhlicher Platz und sie bewegte sich nahezu jeden Tag entlang einem tiefen Abgrund. Und zusätzlich Komplikationen, die sie leicht in die Tiefe stürzen konnten, konnte sie weiß Gott nicht gebrauchen.
»Warum sitzt du hier, mitten in der Nacht?«, erkundigte sie sich, als sie ihre Tochter erreichte. Lisa hatte tatsächlich wenig Ähnlichkeit mit ihr. Sie sah wie ihr Ex-Mann aus, stellte sie immer wieder fest. Das leuchtende, blonde Haar, die dunkelblauen Augen. Auch ihre Art, ihr Wesen überhaupt hatte sie von ihrem Vater. Allein schon wie sie redete. Auch ihr Ex, dieses miese Schwein, dem eine Familie angeblich zu großer Last war und er eines guten Tages seine Sachen packte und einfach ging, hatte seinen Mund so wie Lisa bewegt.
»Ich habe auf dich gewartet«, antwortete sie, ihre Augen auf ihre Mutter gerichtet. Als versuchte sie allein durch den Blickkontakt erklären zu wollen, dass etwas vorgefallen wäre, das für sie alle ungeahnten Konsequenzen haben würde. Aber Carola verstand die stummen Worte ihrer Tochter nicht. Hatte sie noch nie. »Wieso hier draußen?«, wollte sie jetzt kraftlos wissen. Sie war müde, ausgelaugt. Ihre Augen brannten. Ihre Hüften und Waden schmerzten, so sehr, dass sie sich nur noch mit letzter Kraft auf den Beinen hielt.
Lisa gab ihr keine Antwort, lenkte ihren Blick von ihrer Mutter ab. Und Carola war sich sicher, dass auch dieses Wegsehen etwas zu bedeuten hatte. Sie wusste nur nicht, was. Lisa hatte zwar wenig Ähnlichkeit mit ihr, dennoch war sie ihr Kind, das sie so gut kannte, wie sie sich selbst. »Was ist passiert?«, fragte sie endlich, obwohl sie viel lieber darauf verzichtet hätte. Weil sie wusste, die Antwort, die dieser Frage nachziehen würde, werde sie so hart treffen, sodass sie den Bodenkontakt unter ihren Füßen verlieren und sie unendlich fallen würde.
Lisa wartete.
Welche Sätze wären jetzt die Richtigen? Wie sollte sie das, was geschehen war schildern? Sie musste versuchen, es ihrer Mutter möglichst schonend beizubringen, damit ihr Schmerz nicht unerträglich wurde. Aber gleich drauf erkannte sie, dass jedes Wort, das sie in nächsten Minuten aussprach, gewisse Zerstörung verursachen würde, ganz gleich für welche Ausdrucksweise sie sich auch entschied.
»Was ist passiert?«, wiederholte Carola. Dieses Mal beinhaltete ihre Stimme etwas mehr Nachdruck. Sie wollte endlich den Grund erfahren, der ihre Tochter aus der Wohnung getrieben hatte. Und sie ahnte, dass das, was Lisa ihr offenbaren würde, nicht spurlos an ihr vorbeiziehen und es ihrer Seele vermutlich neuerliche Wunden zufügen würde.
»Er hat versucht mich zu vergewaltigen«, gestand Lisa zögerlich.
Carola erwiderte zunächst einmal nichts. Sie starrte Lisa mit verständnislos leerem Blick an, als würde sie sich fragen, wovon hier die Rede war. Sie schluckte laut, würgte den Kloß, der plötzlich in ihrer Kehle entstanden und gewachsen war hinunter. »Was...Verstehe ich nicht«, stammelte sie schließlich mühsam.
»Was gibt es da nicht zu verstehen?«, beschwerte sich Lisa. »Ich sagte, dein Scheiß-Typ wollte mich vergewaltigen!«
Carolas Gesichtszüge zeigten keinen Ausdruck. Sie wirkte, als erreichte die Erklärung ihrer Tochter sie erst gar nicht. Plötzliches Zittern entstand in ihren geschwächten Beinen, das sich langsam emporarbeitete. Wildes Pochen machte sich an ihrer rechten Halsseite bemerkbar. Im nächsten Augenblick zog auch ihr Herz sein Rhythmus an. Es drosch nun gegen ihren Brustknochen, als wollte es zersprengen. »Wovon…«, setzte sie an, kam aber nicht weiter. Der Kloß, den sie sich vor einigen Atemschlägen entledigt hatte, blockierte erneut ihrer Kehle.
Lisa hatte begriffen, welchen Satz ihrer Mutter zu formen versuchte. »Ich spreche von deinem versoffenen Ehemann!«, stieß sie ihr entgegen. Sie schien ihre Zurückhaltung abgelegt zu haben, klang nun empört und fassungslos zugleich. Sie musste sich beherrschen, damit nicht jedes Wort durch einen Schreikrampf begleitet wurde. Tränen traten hervor und liefen ungehindert ihren Gesichtsknochen hinab. »Ich sage dir, dass er mich vergewaltigen wollte!«
Carolas Zittern bearbeitete inzwischen ihre Eingeweide, rief Krämpfe hervor, die sich wie brennende Stiche anfühlten. »Ich…« Ihre Stimme versagte aufs Neue. Es ging ihr alles viel zu schnell. Selbst die Fragen, die sich unter ihrer Schädeldecke türmten, sich anfangs zu einem sinnvollen Satz formten, zogen rasend schnell vorüber und verpufften wie eine Luftblase. Sie fand nicht die Zeit, die Worte, die nun angebracht wären auszusprechen. Sie fühlte sich überfordert, zutiefst verwundet, letztendlich verloren. Sie konnte nicht erklären, was sie empfand; nicht das Feuer beschreiben, das sich in ihr entfacht hatte und sich durch sie hindurch wälzte. Sie glaubte zu glühen, zu verbrennen.
»Mama, hast du gehört, was ich dir gesagt habe?«
Natürlich hatte sie das. Sie wusste nur nicht, was sie hätte darauf erwidern sollen. Ihr Schmerz, gegen den sie die Oberhand zu behalten versuchte, zerlegte sie gerade in Tausend Teile, brachte ihren Verstand zum Erlahmen. Ihre Tränen pressten sich von innen her gegen ihre Augäpfel. »Ich werde mit ihm reden«, brachte endlich aus ihr heraus. Ihre Stimme besaß keinen Ton; sie klang wie ein kraftloses Seufzen. »Er soll sich bei dir entschuldigen.«
»Bei mir entschuldigen?«, stieß Lisa verwirrt aus. Ein bösartiges Grinsen verzerrte ihre Gesichtszüge. »Ist das alles, was dir dazu einfällt? Dieser Mann wollte mich vergewaltigen und dir genügt es, wenn er sich bei mir entschuldigt? Was dann? Geht das Leben wie bisher weiter?«
Carola verbarg ihren Blick vor ihrer Tochter. »Was soll ich dazu sagen?«
»Was du dazu sagen sollst? Wie wäre es, wenn du mir sagen würdest, dass du ihn vor die Tür setzen und ihn anzeigen wirst!«
Carola schloss ihre Augen. Ihr Zittern steckte inzwischen in ihrem Schädel. Es verursachte hinter ihrem Stirnknochen seltsames Kribbeln und in ihren Ohren rauschte es. »Das kann ich nicht«, sagte sie, öffnete ihre Augen, die sie auf ihre Füße richtete, die in abgetretenen Schuhen steckten. Lisa hatte recht. Sie musste Peter aus der Wohnung jagen, auf die Straße, wo er, ohne Zweifel hingehörte. Und anschließend musste sie eine Anzeige erstatten, damit er die gerechte Strafe für sein Vergehen erhielt. Ja, das musste sie tun. Das war der einzig richtige Weg, den sie hätte gehen müssen. Das war das, was Lisa, ihr einziges Kind von ihr erwartete. Und das mit Recht. Und das war es auch, was die Gesellschaft von ihr erwartete: Ein völlig korrektes Verhalten. Wenn sie das täte...ja, was dann? Sie wäre wieder allein. Allein! Nein – sie konnte das nicht. Auf keinen Fall, ganz gleich, was ihre Pflichten auch sein mochten. Die Zeit, in der sie allein gewesen war, ohne einen Partner, der sie durch ihr ganz und gar verkorkstes Leben begleitete, war für sie schlimmer gewesen als der Tod. Ganz gleich, was von ihr auch erwartet wurde, sie brauchte Peter! Sie brauchte ihn, damit sie weiterleben konnte. Er gab ihr Kraft, die sie brauchte, damit sie die Dinge meisterte, die ihre kleine Welt bedeuteten. Er sorgte dafür, natürlich auf seine Weise, dass sie sich wie eine Frau fühlte. Hübsch und begehrenswert. Er gab ihr Liebe, streichelte ihre Seele, sodass sie das Gefühl hatte, etwas wert zu sein. Das war nicht immer so. Zu der Zeit, als Lisas Vater sie verließ, kam sie sich nutzlos, überflüssig und hässlich vor. Sie hielt sich am Leben, obwohl sie viel lieber gestorben wäre. Der Grund für ihr Durchhalten war Lisa gewesen. Nur für dieses kleine Mädchen war sie am Leben geblieben. Dann kam Peter. Ein strahlender Held. Mit ihm kehrte der Sonnenschein in ihr düsteres Verlies. Er zeigte ihr, wie toll sie war, als Frau aber auch als Mutter. Er gab ihre Hoffnung, impfte ihr Zuversicht und Glaube ein. Er ließ sie wortwörtlich wieder erblühen. Und jetzt sollte all das vorbei sein? Mit einem Schlag? Nein, Gott, bitte nicht! Sie wollte auf keinen Fall in dieses finstere Loch zurück, aus dem sie es nach endlosem Kampf herausgeschafft hatte.
»Ich werde mit ihm reden«, meinte sie nun und verkündete gleich im nächsten Atemzug mit bissiger Entschlossenheit: »Er soll mir erklären, warum er das getan hat! Ich sage dir, er wird sein blaues Wunder erleben!«
»Heißt das, du wirst gegen ihn nichts unternehmen?« fragte Lisa. Bestürzung in ihrer Stimme. »Bedeutet das, du wirst einfach hinnehmen, dass er seinen hässlichen Schwanz in deine Tochter stecken wollte?«
»Hör auf so zu reden.«
»Wie soll ich sonst reden, Mama?«, setzte Lisa nach. »Sag es mir!«
Carola stieg die Stufen hinauf, vorbei an Lisa, blieb stehen. »Ich brauche ihn«, gestand sie endlich. Tiefe Bekümmertheit lag auf ihr erschöpftes Gesicht. »Ohne ihn bin ich nichts, verstehst du das nicht?«
»Aber was ist mit mir?«, beharrte Lisa. »Brauchst du mich nicht? Ich bin dein Kind, dein Fleisch, dein Blut. Bedeute ich dir gar nichts?«
Carola überwand auch die letzten Stufen, erreichte die Eingangstür. »Doch, du bedeutest mir sehr viel«, gab sie zurück. »Aber er auch.«
»Heißt das, wenn du zwischen mir und ihm wählen müsstest…«
»Lass es nicht so weit kommen, ich flehe dich an.«
Lisa hatte verstanden. »Du wirst also diesen versoffenen Kerl, der dich nach Belieben ausnimmt deinem Kind vorziehen? Du würdest deine Tochter wegwerfen, damit du ihn behalten kannst?«
»Das habe ich nicht gesagt«, wehrte Carola schnell ab.
»Nein, das hast du nicht, jedenfalls nicht mit Worten«, erklärte Lisa mühsam. Ihr Wut war verflogen, es war nur noch der Schmerz in ihr, den sie, trotz aller Versuche nicht einzudämmen schaffte. So war das also. Niemand wollte sie. Selbst ihre Mutter nicht. Erst ihr Vater, jetzt ihre Mutter. Sie brachte ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor und putzte sich die Nase.
»Ich werde jetzt nach oben gehen und mit ihm reden«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Vielleicht war das Ganze ein großes Missverständnis.«
»Das war es ganz sicher«, stimmte Lisa ihr zynisch zu. »Ein Missverständnis. Er wollte deine Tochter nicht ficken, sondern nur so tun. Es war ganz bestimmt ein Missverständnis. Nachdem wir das geklärt haben, sollten wir einfach vergessen, was war und wieder eine glückliche Familie werden.«
Carola betrat das Haus. Sie blieb gleich hinter der zugesperrten Tür stehen und ließ zu, dass ihre Tränen die Dämme, die sie bis hierhin zurückhielten durchbrachen. Ohne Frage, sie hatte versagt. Sie hatte es nicht hinbekommen eine gute Mutter und ein Rückhalt für ihrer Tochter zu sein. Stattdessen hatte sie sie vom Kopf gestoßen, sie einfach zurückgelassen, als wäre sie ihr vollkommen gleich. Und das wegen diesem Mann! Der, objektiv betrachtet ihr keine Freunde bereitet, sie ihn dennoch benötigte, damit sie sich nicht alt, verbraucht und hässlich vorkam. Sie schluchzte laut. Irgendwann, dessen war sie sich sicher, würde sie für ihre Entscheidung, ihrem Kind den Rücken gekehrt zu haben bitter bereuen. Aber dann würde es viel zu spät sein, um den Fehler ihres Lebens, den sie genau in diesem Augenblick begangen hatte wiedergutzumachen. Natürlich noch hatte sie Zeit. Sie konnte die Tür nach draußen aufreißen, Lisa um Vergebung bitten und sie an sich drücken. Anschließen konnte sie ihr versichern, dass sie das Wichtigste in ihrem Leben sei und kein Mann je wertvoller sein würde als sie. „Wir schaffen es, all die Unannehmlichkeiten, die das verfluchte Schicksal für uns beide vorgesehen hat zu meistern. Wichtig ist, wir beide halten zusammen.“
Aber anstelle sich der Tür zu wenden, bewegte sie ihren ausgebrannten Körper der Stufen zu, die sie nach oben führten.
Lisa vernahm die Kühle der Nacht, die ihr T-Shirt durchdrungen hatte und nun wie mit eisigen Fingern ihre Haut betastete. Sie fröstelte. Ihre Tränen schienen versiegt, als sie sich ihre letzte Zigarette anzündete. Ihr Hass jedoch loderte in ihr nach wie vor in unveränderter Intensität. Bewahre deinen Hass in dir und er wird dir den wahren Weg zeigen! fiel ihr plötzlich ein. Sie hatte keine Ahnung, wo sie den Satz aufgeschnappt hatte. Aber er hatte Sinn. Durchaus. Sie beschloss ihren Hass aufrecht zu halten, so wie dieser Spruch es empfahl. Er soll sie begleiten, ihr Wegweiser sein, bis sie jener, die sie schlecht behandelten ihren Fehler bereuten. Niemand sollte glauben, es sei ausgestanden; man hatte darüber geredet und es sei vorbei. Wer das dachte, irrte sich gewaltig. Peter zuerst! Sie würde mit ihm beginnen. Er würde für sein Vergehen die entsprechende Quittung erhalten. Und diese würde sehr hoch ausfallen. Garantiert. Aber sie hatte auch Hass auf ihre Mutter. Auf sie sogar etwas mehr, weil sie sie einfach wegwarf. Damals ging ihr Vater und ließ sie zurück. Und nun wurde sie durch ihre Mutter im Stich gelassen. Sie war allein. Ein Mensch, den offensichtlich niemand wollte.
Nach einer Weile richtete sie sich auf, warf einen Blick zu den Fenstern ihrer Wohnung. Im Wohnzimmer war noch Licht. Es sah aus, als wurde über den Vorfall geredet. Der versoffene Mistkerl stand Rede und Antwort. Oder aber auch nicht. Vielleicht hatte ihre Mutter ihm längst vergeben und hielt ihn nun liebevoll an sich gedrückt. Genaugenommen hatte er von Anfang an nicht das Geringste zu befürchten gehabt. Er hatte gewusst, mit wem er es zu tun hatte; sie nicht in der Lage sein würde, ohne ihn zu leben. Warmes Bett, Kiste Bier und eine leicht beeinflussbare Frau, die böse auf das ungerechte Leben war und jede Zeit über seinen Fehlern hinwegsah, waren ihm sicher gewesen.
Lisa seufzte.
Es war spät.
Inzwischen Dunkelheit in jedem Wohnblock.
Da sie nicht die Absicht hatte zu jetzigem Zeitpunkt in ihre Wohnung zurückzukehren, war sie gezwungen sich eine Bleibe zu finden. Und sie kannte nur eine Person, die sie selbst zu später Stunde belästigen konnte. Steffi. Sie war Lisa schon immer eine gute Freundin gewesen. Auf Steffi konnte sie sich verlassen. Steffi wäre auch niemals verstimmt, wenn Lisa sie Mitten in der Nacht aus ihrem Schlaf holte.
Sie wählte Steffis Nummer.
»Schläfst du schon?«
»Tief und fest.«
»Kann ich zu dir kommen?«
»Dicke Luft?«
»Und wie, frag nicht nach Sonnenschein.«
»Komm hoch, aber sei leise, nicht meine Eltern aufwachen.«
Schnellen Schrittes erreichte Lisa die Wohnung ihrer Freundin. Steffi stand bereits an der Tür. Ihr dunkles Haar, das sie zu einem Dutt gebunden hatte, hatte sich gelöst, hing nun wirr von ihrem Kopf ab. Sie hatte sich vor dem Schlafengehen nicht abgeschminkt und etwas von der Wimperntusche hatte sich auf ihre rechte Wange verteilt. In ihrem Zimmer angekommen, erkundigte sie sich, während sie sich hingebungsvoll am Hinterkopf kratzte: »Was ist denn passiert?«
»Meine Mutter und Peter sind ineinander geraten«, schwindelte Lisa. Sie hatte sich entschieden, die Wahrheit für sich zu behalten. »Und ich machte den blödsinnigen Fehler, mich einzumischen, was nicht gerade zu Beruhigung der Gemüter beitrug. Das Ganze eskalierte, mehr oder weniger. Ich dachte, ich mache mich für eine Weile vom Acker, bis die Fronten sich abgekühlt haben.«
»Worum ging es dieses Mal?«
Lisa winkte ab. »Wieder einmal um nichts Wichtiges. Aber du weißt, wie so was ist. Ein dummes Wort ergibt das nächste dumme Wort und ganz plötzlich ist der Hausfrieden vollkommen im Eimer.«
»Willst du auf deine Lieblingsseite?«
Lieblingsseite Lisas war die Fensterseite. Schon früher, als sie noch klein waren und sie hin und wieder bei Steffi übernachtete, hatte sie stets die rechte Seite des Bettes für sich beansprucht. Auf der anderen Seite war die Wand. Und sie fühlte sich beengt, bekam Schweißausbrüche, wenn sie an der schlafen sollte. Hinzu kam, dass Steffi sich im Schlaf ziemlich ausbreitete und ihren überaus warmen Körper gegen Lisas presste. Manchmal legte sie sogar ihren schweren Arm über sie. Da war die Fensterseite viel besser. Von dort aus konnte sie leichter flüchten, wenn Steffi ihr zu nahekam.
Der Mond warf fahles Licht durch das Fenster ins Zimmer.
Steffi war in einem ruhigen Schlaf gefallen. Sie lag auf dem Rücken. Ihre Atemstöße kamen gleichmäßig aus ihrer Brust. Lisa hingegen lag wach. Ihr Inneres war dermaßen aufgebracht, sodass es leichte Übelkeit auslöste. Sie hatte eingesehen, dass die Zeit gekommen war, auf eigenen Füßen zu stehen. Sie war allein. Allein! Schon das Wort klang so traurig.
Sie schüttelte ihren Kopf. Sie sollte sich nicht mit Dingen, die sie nicht mehr ändern konnte, länger als nötig beschäftigen. Viel wichtiger war das Leben, das vor ihr lag. Es würde schwer genug werden, dem eine brauchbare Richtung zu geben. Sie machte im Geiste Pläne, radierte sie wieder aus. Gleich danach entwarf sie neue, nahm sie auseinander, fügte noch etwas hinzu. Als sie schließlich doch noch einschlief, hatte sie einen Weg entdeckt, der ihr eine verheißungsvolle Zukunft versprach.
Der nächste Morgen.
»Es wird Zeit!«, verkündete Steffi, wühlte sich über Lisa hinweg.
»Warum diese Eile?«
»Die Pflicht ruft«, antwortete Steffi. »In weniger als einer Stunde, müssen wir die Wohnung verlassen haben.«
Lisa reagierte verständnislos. »Wie kann man um diese Zeit dermaßen gutgelaunt sein, mein Gott? Das ist ja ekelig.«
»Herumjammern bringt nichts. Von einem kleinen, braven Mädchen, ich rede von uns beiden, wird erwartet, dass wir morgens aufstehen, uns zurechtmachen und an unsere Zukunft basteln.«
Lisa lächelte. »Kleines, braves Mädchen, von wegen. Ich habe gesehen, was du mit diesem Burki getrieben hast. Und ich sah da nichts, von einem kleinen Mädchen.«
Auch Steffi lächelte, als sie zurückgab: »Das ist unsere geheime Seite, über die, die uns für süß halten nichts wissen. Und das ist auch gut so. Und jetzt, hopp und raus aus dem Federn.«
Lisa drehte sich auf ihren Bauch. »Ich werde heute schwänzen.«
Steffi kehrte zurück, setzte sich auf die Bettkante. »Warum das? Doch nicht etwa wegen dem Streit? Worum ging es da überhaupt?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr«, antwortete Lisa, nachdem sie kurz geschwiegen hatte. Sie wollte über das, was sich zugetragen hatte, mit keinem reden. Auch an die Pläne, die sie in der Nacht eifrig geschmiedet hatte, wollte sie Steffi nicht teilhaben lassen. Umso weniger sie davon preisgab, desto besser war es für sie. Zu viele Köche verderben den Brei! Diesen Spruch kannte auch sie. Steffi musste draußen bleiben. Sie war eine gute Freundin, so viele Jahre schon. Und es wurde Lisa schwer ums Herz, als es ihr klar wurde, dass diese Stunde, die sie jetzt und hier verbrachten, ihre letzte gemeinsame war. Wenn ihr Plan aufgehen sollte, würde sie Steffi wahrscheinlich niemals wiedersehen. Ihre Freundschaft würde beendet sein. Sie war gezwungen von nun an, an sich zu denken. Sie musste stark sein, unerschütterlich, ihr Ziel stets vor den Augen. Immer geradeaus, ohne zurückzublicken. Wankelmütigkeit und Reue sah ihr Plan nicht vor. Steffi auch nicht. Sie schluckte die Blockade, die in ihrem Hals gewachsen war hinunter. Trotz der Entschlossenheit, die sie für ihre Vorgehensweise benötigte, tat der Gedanke, ihre Freundin zurückzulassen doch sehr weh. Steffi war der letzte Mensch, der ihr in diesem Leben etwas bedeutet hatte. Und sie wusste, wenn sie den ersten Schritt in ihr neues Leben setzte, würde sie ganz und gar einsam sein. Auch die Überlegung, dass ein neuer Anfang, ein neues Umfeld, eventuell auch neue Freunde hervorbringen könnten, stimmte sie nicht glücklich. »Peter schrie mich an«, setzte sich mit ihrem ausgedachten Bericht fort. »Ich schrie ihn an. Meine Mutter schrie uns beide an. Irgendwann wurde mir das Ganze doch zu viel und bin raus aus der Wohnung. Als ich dann auf dem Treppenhaus stand, hörte ich wie die Beiden richtig Fahrt aufgenommen hatten. Ich hatte das Gefühl, dass es eine lange, aber auch eine unruhige Nacht werden würden. Und ich hatte keine Lust durch ihn oder durch sie wachgehalten zu werden.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich werde einfach nur herumhängen. Möglich, dass ich mir dabei auch ein paar Gedanken machen werde.«
»Worüber denn?«
Lisa zuckte mit der Achsel. »Keine Ahnung, vermutlich über nichts Bestimmtes. Vielleicht aber auch über meine Zukunft.«
»Was dann?«
»Möglich, dass ich mich für einen neuen Anfang entscheide. Wäre nicht schlecht, oder?«
Steffi zeigte sich ein wenig kritisch. »Wenn du mich fragst, Verschwendung von Gedanken«, meinte sie. »Ehrlich, was könnte das für eine Zukunft sein? Du hast kein Geld, keinen Job, keine Unterkunft.«
»Das ist nur eine Überlegung, verstehst du?«, wehrte sich Lisa. Ihr war bewusst, dass ein Neuanfang nervenaufreibend sein würde. Aber das war es nicht, was sie von ihrer Freundin hören wollte. Andererseits Steffi kannte die Wahrheit nicht. Wenn sie erfahren würde, was sich in der Nacht zugetragen hatte, hätte sie Lisa ganz sicher ermutigt ihr Elternhaus zu verlassen. Entweder das, oder aber sie hätte darauf bestanden die Polizei einzuschalten. Das Letztere wollte Lisa auf keinen Fall. Die Polizei wäre eine augenblickliche, sie hingegen strebte eine fortwährende Lösung an. Und diese sah Qual und Auslöschung für diejenigen vor, die ihr wehtaten.
»Der Grund, weshalb ich mich so mies fühle, ist dieses Arschloch!«, gestand sie jetzt. »Ich habe einfach keine Lust mehr, mit ihm unter einem Dach zu leben!«
»Wenn du die Schule beendest, kannst du machen, was du willst«, glaubte Steffi, klang dabei wenig überzeugend.
»Ich will nicht so lange warten«, antwortete Lisa. »Und außerdem, selbst wenn ich die Schule beende, heißt nicht, dass ich frei bin. Ich müsste dann eine Ausbildung beginnen, was bedeuten würde, ich müsste weitere drei Jahre diesen Bastard ertragen.«
»Wenn du die Schule abbrichst, wirst du es wesentlich schwerer haben, deine Zukunft zu gestalten«, wusste Steffi.
»Mag sein, aber ich wäre frei.«
Steffi schwieg. Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie sich mit diesem grässlichen Szenario auseinandersetzte. Die Vorstellung, dass ihre Freundin es ernst meinen und sie sie wohl möglich für immer verlieren könnte, verursachte Frösteln, das durch ihren Körper zog. So ein Scheiß-Thema am frühen Morgen! ging es ihr durch den Kopf, bevor sie sich an Lisa wandte. »Ich muss mich fertigmachen“, sagte sie und richtete sich auf. „Du kannst liegenbleiben. Es ist niemand mehr da. Meine Eltern sind schon zur Arbeit. Wenn auch ich weg bin, gehört die Wohnung dir.«
Das war eine gute Nachricht, fand Lisa, drehte sich auf die andere Seite. »Ich brauche etwas Geld.«
»An wie viel hast du gedacht?«
»Wie viel hast du?«
»Etwas mehr als zwanzig.«
»Zwanzig müssen reichen«, sagte Lisa. Etwas Kleingeld hatte sie auch.
»Kriegst du gleich«, erklärte Steffi, während sie sich ankleidete. »Willst du gleich mit frühstücken?«
Nein, Lisa hatte keinen Hunger. »Später vielleicht«, gab sie zurück. »Das heißt, wenn ich darf.«
»Klar, du weißt noch, wo alles ist, oder?«
Denke, schon, dachte Lisa. Sie warf die Decke über sich und schloss ihre Augen.
Es war beinahe schon zwölf Uhr, als Lisa erwachte.
Ganze fünf Stunden hatte sie geschlafen. Sie fragte sich, ob sie überhaupt mit Steffi gesprochen hatte, bevor diese die Wohnung verließ. Sie konnte sich nicht erinnern. Vielleicht hatte sie das. War aber auch gut möglich, dass Steffi sich leise davongestohlen hatte. Das Geld, das sie ihr versprochen hatte, lag auf der Kommode, rechts neben dem Fenster. Kurz ging sie ihren Plan noch einmal durch. Sie meinte, die Dinge, die sie ins Auge gefasst hatte, gut koordiniert zu haben. Alles griff lückenlos ineinander, wie die Zahnräder einer perfekt durchdachten Maschinerie. Endlich schlug sie die Decke zurück und kletterte schwungvoll aus dem Bett. Im Badezimmer, nachdem sie die Toilette benutzt hatte, begab sie sich an dem Waschbecken. Dort wusch sie sich das Gesicht. Zähneputzen konnte sie nicht, spülte daher mehrmals ihren Mund aus. Das musste vorerst einmal genügen. Frische Unterwäsche wären jetzt nicht schlecht, überlegte sie. Aber dafür müsste sie in ihre Wohnung. Nach den Vorkommnissen, war es kein guter Zug jetzt schon dort aufzutauchen. Auch saubere Unterwäsche mussten warten. Wieder in Steffis Zimmer, zog sie sich an.
Während sie vor dem Spiegel ihr Haar zu einem Pferdeschwanz band, fragte sie sich, ob sie etwas Schminke auftragen sollte. Wäre vielleicht vom Vorteil, meinte sie. Erstens ließ die Schminke sie reifer aussehen. Und im Weiteren, sah sie dadurch anziehender aus. Ein hübsches, junges Frauengesicht, dazu eine ausgesprochen gute Figur. Das war es, was Männer, ganz gleich in welchem Alter begehrten. Sie durchstöberte Steffis kleine, bunte Kosmetiktasche, nahm heraus, was sie benötigte. Nachdem sie sich fertiggemacht hatte, toastete sie sich in der Küche eine Scheibe Vollkorntoast, das sie mit Erdbeermarmelade bestrich.
Während sie im Stehen aß, beobachtete sie die Fenster im Block gegenüber. Die nahezu identische Aussicht wie aus dem Küchenfenster ihrer Wohnung. Langweilig, eintönig, erdrückend. Wenn ihr Plan gelingen sollte, würde sie bereits vom kommenden Tag an ein anderes Bild vor den Augen haben.
Zwölf Uhr fünfunddreißig verließ sie Steffis Wohnung.
Ein leicht bewölkter Tag empfing sie, als sie auf die Straße trat. Die übermäßige Wärme der letzten Tage war gewichen. Es war zwar immer noch warm, aber nicht annähernd so erdrückend. Heute war sogar etwas Wind da, der ihrer Haut Kühle anhauchte. Am Ende der Wohnblock blieb sie kurz stehen, den kleinen Laden Hannes Grafs im Blick. Im Schnellgang ging sie ein weiteres Mal ihren Plan durch. Möglich, dass ihr in irgendeinem Abschnitt etwas entgangen war. Noch hatte sie die Zeit, die Dinge in die richtigen Positionen zu bringen. Sobald sie mit Graf gesprochen hatte, startete ihr Plan. Und von da an war es für sie nicht mehr möglich, einen Rückzieher zu machen. Es sei denn, es traf etwas völlig Unerwartetes ein, das sie zwang doch noch eine kurzfristige Änderung vorzunehmen.
Entschlossen überquerte sie die Straße.
Hannes Graf bediente gerade eine ältere Frau mit ihrem Enkelkind. Er lächelte Lisa an. Sie lächelte zurück, wandte sich anschließend den Magazinen auf dem Regal zu. Dieses Mal verzichtete sie darauf, sich hinab zu beugen.
»Ist das alles, Frau Meyer?«, erkundigte sich Graf, ganz plötzlich wirkte er ungeduldig.
»Ja, das ist alles«, gab die Kundin zurück, entschied sich kurzerhand doch noch einmal ihre Enkelin zu fragen, ob diese etwas wollte. Das kleine Mädchen schüttelte ihren blonden Schopf.
»Das macht dann sechs Euro und zwanzig«, erklärte Graf. Nachdem er kassiert hatte, überreichte er dem Kind einen Lutscher.
»Herr Graf hat dir etwas geschenkt«, bemerkte die Kundin sanft. »Müsstest du nicht etwas sagen, mein Engel?«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
»Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag, Herr Graf, bis zum nächsten Mal.«