»Sie können mir den Kopf abschlagen, aber nicht meine Würde nehmen« - Hala Kodmani - E-Book

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Hala Kodmani

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Beschreibung

Mutig in Rakka Ruqia Hassan war eine junge muslimische Lehrerin. Sie lebte in Raqqa und postete unter Pseudonym gegen Assad und den Islamischen Staat. Bis sie verraten wurde. Für ihre Kritik wurde sie vom IS ermordet. Hala Kodmani hat das Lebensumfeld von Ruqia genau recherchiert, immer wieder streut sie deren Original-Facebook-Einträge in den Text ein. So gelingt es ihr, die junge Frau authentisch darzustellen: ihren Ängsten, Hoffnungen, der Liebe zu ihrem Land und der wachsenden Wut Ausdruck zu verleihen.

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Seitenzahl: 152

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Hala Kodmani

»Sie können mir den Kopf abschlagen, aber nicht meine Würde nehmen«

Ruqias tödlicher Kampf auf Facebook

Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

 

Für Rakka

Für die Familie, die mich dort aufgenommen hat

Für meine Lieben und meine Freunde an den Ufern des Euphrat, die ich am liebsten mit Namen nennen würde, jeden Einzelnen und jede Einzelne, was ich nicht darf, weil ich sie immer noch vor Gefährdung schützen muss – euch gilt meine ganze Anerkennung, meine ganze Zärtlichkeit

Vorwort

Die Heldin dieses Buches ist eine Facebook-Seite: ein Pseudonym, Nissan Ibrahim, und ein Foto. Das Gesicht einer jungen Frau, umrahmt von einem goldenen Band, welches das Schwarz ihres Schleiers abmildern soll. Ihr Lächeln akzentuiert von leuchtend rotem Lippenstift, ein forschender Blick unter dem dichten schwarzen Wimpernkranz und jadegrünen Lidschatten. Mag sie auch ein wenig aussehen wie eine Provinzlerin im Sonntagsstaat, Nissan Ibrahim nimmt kein Blatt vor den Mund. Kaum habe ich ihre ersten Posts gelesen, wird mir klar, dass ich es mit einer ungewöhnlichen jungen Frau zu tun habe. Da wechseln sich tiefschürfende Betrachtungen und witzige Anekdoten ab, die sie manchmal rebellisch, manchmal fast teeniehaft erscheinen lassen, fromm und zynisch, unschuldig und abgebrüht zugleich. Diesen ungebärdigen Geist spiegelt das biedere Mädchenfoto nur unzureichend wider.

Ihre »Freunde« aus den sozialen Netzwerken haben mich Anfang 2016 auf die Spur Nissan Ibrahims gebracht, und ich war sofort fasziniert von dieser vielschichtigen Persönlichkeit, die sich hinter ebenso vielen Schleiern verbarg, wie der Islamische Staat sie den Frauen zu tragen vorschreibt. Aus der Höhle des Löwen, aus dem Machtzentrum dieser schrecklichen dschihadistischen Vereinigung, hat Nissan Ibrahim, mithilfe ihres Computers und der Anonymität sozialer Netzwerke als Schutzschild, eine Chronik der Ereignisse der Jahre 2011 bis 2015 veröffentlicht. War sie auch fast allen unter diesem Namen im Netz bekannt, persönlich kennengelernt hat sie kaum jemand. Was in Syrien, wo virtuelle Beziehungen mindestens ebenso fruchtbar und belastbar sind wie reale Freundschaften, keine Seltenheit ist.

Nissan Ibrahim – genauer gesagt die Frau, die sich hinter diesem Namen und diesem Foto verbirgt – ist meine Führerin durch Rakka geworden. Sie war es, die mir durch ihre Posts ihr Viertel gezeigt hat, ihr Haus, ihre Familie. Sie hat mich mit ihren Freunden bekannt gemacht, hat mir ihr Herz geöffnet und die Welt ihrer Gedanken. So ist sie in ihren Posts Stück um Stück hervorgetreten, manchmal spontan, manchmal zusammenhanglos, ohne den Schleier je ganz zu lüften. So hat sie mich in ihren Bann geschlagen, bis es schließlich nichts mehr gab, das mich an ihr nicht interessiert hätte. Nachdem meine erste Neugier gestillt war, wurde ich die Komplizin ihrer Hoffnungen, ihrer Ängste, ihrer Kühnheit, ja selbst ihrer gelegentlichen Albernheiten. Ich habe sie nie kennengelernt, nicht einmal, als ich Rakka 2013 besuchte. Doch wir haben viele gemeinsame Freunde. Also habe ich mich unter diesen Menschen auf die Suche gemacht, um Klarheit zu bekommen, wie Nissan Ibrahim lebte und starb.

 

Nissan Ibrahim, meine liebe, kleine syrische Schwester mit dem falschen Namen, ist die Co-Autorin dieses Buches, unsere Antigone.

Kapitel 1 Rakka – ein neues Eldorado?

Anfang der Siebzigerjahre entsteht östlich des Euphrats ein neues Eldorado. Eine kleine Stadt, eingezwängt zwischen dem breiten Strom und der Wüste, zieht mit einem Mal Zehntausende von Menschen an. Syrer aus dem ganzen Land strömen nach Rakka. Ein gewaltiger Staudamm am Euphrat und damit verbundene Bewässerungsprojekte verwandeln die kleine Stadt plötzlich in ein dynamisches Wirtschaftszentrum. Ingenieure, Techniker, Beamte, Arbeiter kommen mit ihren Familien. Geschäfte werden eröffnet, Ärzte lassen sich nieder, Anwälte, Künstler und Handwerker jeglicher Couleur. Wie so viele Kurden, die sich ein anderes Leben wünschen, verlässt auch Mustafa Hassan sein kleines Dorf in der Nähe von Ain al-Arab, dem »Ursprung der Araber«, auch Kobanê genannt. Diesen Ort kennt die Welt seit dem Sommer 2014, als er vom IS angegriffen wurde. Der schnurrbärtige junge Mann aus dieser sehr armen Region ist geschickt in allem, was kräftige Arme erfordert. Er eröffnet eine Ziegelei, und die Geschäfte gehen gut. Die meisten kurdischen Migranten leben in Rumeilah, das noch eine Barackensiedlung ist, als Mustafa Hassan dort ankommt. Überall schießen Behelfssiedlungen aus dem Boden und entwickeln sich schnell zu einem lebendigen Viertel verschlungener Gassen und Gässchen. Auch heute noch ist Rumeilah ein überbevölkerter Stadtteil am Nordrand von Rakka.

Nachbarn, die wie er aus Kobanê stammen, machen Mustafa mit der schönen Hamidah bekannt. Die noch nicht Dreißigjährige ist von ihrem ersten Ehemann geschieden, der zweite ist gestorben. Und so hat Hamidah bereits drei Kinder. Sie bringt sich und die Kinder mit Nähen und Schneidern durch, weil sie so zu Hause arbeiten und immer ein Auge auf die Kinder haben kann. Mustafa und sie heiraten Anfang der Achtzigerjahre, und Hamidah schenkt ihrem Mann in fünf Jahren zwei Mädchen: zuerst Nissan, dann zwei Jahre später ihre jüngere Schwester. Die Familie hält fest zusammen und bleibt in diesem Großfamilien-Umfeld gerne für sich. Rumeilah erlebt zu jener Zeit eine regelrechte Bevölkerungsexplosion. Haushalte mit acht bis zehn Kindern sind keine Seltenheit. Doch im Hause von Mustafa Hassan lässt man die Vordertür nicht offen, wie die Nachbarn das tun, die Kinder spielen nicht auf der Straße. Wie bei Einwanderern, die sich nach Stabilität sehnen und oft einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, häufig der Fall, stehen auch im Haus der Hassans Bildung und Arbeit an oberster Stelle. Hamidah leidet ihr Leben lang darunter, dass sie selbst die Schule nicht abschließen konnte, daher legt sie großen Wert darauf, dass ihre Töchter etwas lernen. Mustafa wiederum erzieht seine Kinder nach den religiösen Grundsätzen des Sufismus, der mystischen Strömung des Islam, der auch er angehört und deren wichtigste Prinzipien die Liebe zum Himmel und die Großzügigkeit gegenüber den Mitmenschen sind.

Nissan geht zunächst den Weg, den ihre Familie ihr vorzeichnet. Die hübsche Kleine mit der hellen Haut und den sehr langen braunen Haaren trägt Zöpfe, die ihre Mutter jeden Tag neu flicht. Sie ist ebenso lebhaft wie intelligent und will vor allem eine gute Schülerin sein, zu der sie dann auch wird. Nach der Grundschule wechselt sie in die Mädchenschule Al-Faraby, wo sie die Sekundarstufe I absolviert. Bald wird deutlich, dass Nissan die Literatur liebt, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die ihre Tochter gerne als Ärztin oder Apothekerin gesehen hätte. Aber Nissan hat ihre besten Noten nun mal in Geschichte und im Aufsatzschreiben. Es ist also nicht verwunderlich, dass sie nach Abschluss der Sekundarstufe auf den sprachlichen Zweig des Gymnasiums wechselt und dort Abitur macht. Als Teenie verbringt sie lange Stunden lesend auf ihrem Zimmer. Was ungewöhnlich ist, denn in ihrem Umfeld vertreibt man sich die Zeit eher mit Fernsehen oder beim Zusammensein mit Freunden. Nissan jedoch interessiert sich buchstäblich für alles. Sie leiht sich von ihren Lehrerinnen religiöse Bücher ebenso aus wie arabische Gedichtsammlungen. Und die Gedanken, die sie in diesen Büchern aufschnappt, wecken ihr Interesse. Sie liebt alte ägyptische Filme und amüsiert sich mit den arabischen Sitcoms, deren deftiger Humor die traditionelle Gesellschaft aufs Korn nimmt. Beim Kartenspielen schummelt sie gerne, einfach weil sie das Risiko liebt und wissen will, ob man ihr auf die Schliche kommt.

Das Abitur schafft sie mühelos, und natürlich will Nissan jetzt auch studieren. Sie schreibt sich für Philosophie ein. Dazu muss sie nach Aleppo, in die zweitgrößte Stadt Syriens und das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Dass die Eltern ihre achtzehnjährige Tochter allein in eine fremde Stadt zum Studium ziehen lassen, ist für das konservative Milieu, aus dem sie stammen, nicht unbedingt üblich. Denn die Mädchen werden von der Pubertät an streng von der Familie überwacht, damit sie bis zur Ehe ihre »Ehre« bewahren. An ihrem Verhalten darf es nichts zu bekritteln geben, denn die Nachbarn sind bei Mädchen nur allzu gern bereit, sich das Maul zu zerreißen. Die zierliche und dabei recht hübsche Nissan trägt also, seit ihr Körper sichtbar weibliche Formen angenommen hat, ein Kopftuch, wenn sie das Haus verlässt, und auch im Sommer lange Ärmel und einen Rock, der ihr bis zum Knöchel reicht. Sie hält den Kleidercode sehr genau ein und achtet darauf, mit wem sie Umgang pflegt. Schon gar nicht reagiert sie auf die Blicke und Kommentare der jungen Männer auf der Straße, die versuchen, sie anzubaggern. Ihre Eltern vertrauen ihr. Und Nissan weiß, wie privilegiert sie ist.

In Aleppo öffnen sich dem jungen Mädchen, das zum ersten Mal den trauten Kokon der Familie verlässt, neue Horizonte. Sie ist im Studentenwohnheim untergebracht und absolviert der Reihe nach alle Pflichtseminare. Sie hat sich, wie die meisten Mädchen, für Geisteswissenschaften eingeschrieben. Nissan schließt Freundschaft mit ihren Kommilitoninnen, die aus ganz Syrien kommen und aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Manche, die aus dem fortschrittlichen Bürgertum stammen, tragen nicht einmal Kopftuch. Sie gehen in hautengen Jeans auf die Straße, rauchen und sprechen voller Selbstbewusstsein mit den Jungs, mit denen sie auch ganz offen ausgehen. Andere Kommilitoninnen wiederum kommen wie sie aus bescheidenen Verhältnissen und geben sich weniger westlich. Doch die Mädchen halten zusammen. Sie lernen und diskutieren miteinander, ohne alle Vorurteile oder Schwierigkeiten. Sie können ohne Scheu ihre Meinung äußern und stellen die repressiven gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie groß geworden sind, leidenschaftlich infrage. Nissan genießt diese Diskussionen und findet Gefährtinnen auf ihrem intellektuellen Weg. Sie lernt zu argumentieren und empört sich über jede Form von Ungerechtigkeit, Korruption und Nepotismus, auf die sie in ihrem Land stößt. Obwohl an den Universitäten jede Bildung von politischen Gruppierungen strengstens untersagt ist, so ist das Wort doch zumindest im Freundeskreis frei. Die fleißige Nissan genießt aber auch die geistige Gesellschaft von Sartre oder Plato, die sie beide in arabischer Übersetzung verschlingt.

Nach ihrem zweiten Jahr an der Uni kommt auch ihre Schwester nach Aleppo, um Zahnmedizin zu studieren. Die beiden Mädchen mieten eine kleine Wohnung in einem Viertel nahe der Universität. Nissan findet eine Anstellung als Grundschullehrerin, um die finanziellen Belastungen für ihre Eltern zu verringern. Sie lebt immer noch in Aleppo, als in ihrem vierten und letzten Studienjahr, kurz vor ihrem Abschluss in Philosophie, im März 2011 die syrische Revolution ausbricht.

14. Juni 2014

Immer wenn ich meinen Kopf auf dem Kissen zur Ruhe bette, zieht vor meinem inneren Auge der Strom der Erinnerungen vorbei. Er trägt mich zurück in die glücklichen Tage, die wir als so bitter empfanden … nach Aleppo, wo ich zu Beginn der Revolution unterrichtet habe. Wir konnten am Freitag nicht abreisen [der Freitag ist in Syrien traditionell Ruhetag, Anm. Kodmani], denn da gab es ja die Demonstrationen und die vielen Schießereien. Und doch, wie schön diese Tage waren! Wir hatten Angst, aber wir waren auch tapfer. Liebe, Geld, Macht – all das war uns gleichgültig. Wir hatten uns einer nobleren Sache verschrieben … der Freiheit eines ganzen Volkes!

Eine Aufrührerin erblickt im Frühjahr 2011 das Licht der Welt, zusammen mit einer ganzen Generation. Wie alle Syrer verfolgt Nissan jeden Tag im Fernsehen und in den sozialen Netzwerken die Fortschritte der Revolution in Tunesien, Ägypten, Libyen und im Jemen. Mit ihren Freundinnen in Aleppo debattiert sie lange über die aufregenden Neuigkeiten, die aus den anderen arabischen Ländern zu ihnen dringen. Junge Leute wie sie gehen auf die Straße und rufen laut nach Freiheit und Demokratie. Sie singen und skandieren ihre Parolen und fordern damit die Ordnungskräfte der Diktatoren heraus. Es dauert nicht ganz einen Monat, bis in Tunesien Präsident Ben Ali und Präsident Mubarak in Ägypten »zurücktreten« – wie es die Menge in jenem Winter 2010/2011, der sich bald zum »Arabischen Frühling« entwickeln sollte, gefordert hat.

Die Revolution kommt für die intellektuell gereifte Nissan gerade zum richtigen Zeitpunkt. Sie hat das Gefühl, dass die Ideen und Werte, die sie bislang nur aus Büchern kannte, nun leibhaftig auf die Straße treten. Bald interessiert sie nur noch eines, nämlich die brennende Frage: Wird der Funke der Revolution auch auf Syrien überspringen? Für die jungen Leute, die nie etwas anderes kennengelernt haben als die brutale Diktatur der Baath-Partei, die seit den Sechzigerjahren über Syrien herrscht, ist der Ruf der Freiheit unwiderstehlich.

Doch der Funke sollte sich weder in Aleppo noch in Rakka entzünden, sondern im tiefen Süden des Landes, in der ländlichen Region Daraa, unter den Augen der ganzen Welt. Dort verhaften die syrischen Ordnungskräfte Schüler, weil sie angeblich die Wände ihrer Schule mit regierungskritischen Parolen beschmiert haben. Als die Eltern mit ihren Kindern sprechen wollen, werden sie abgewiesen. Empört und voll Angst um ihre Kinder protestieren sie vor dem Gefängnis und werden mit Schüssen vertrieben. Es gibt zwei Tote. Die Revolte bricht aus, als man die Kinder drei Wochen später entlässt. Sie sind brutal gefoltert worden. Eine riesige Menschenmenge begleitet die Familien der Gefolterten, als sie protestieren. Ihr Protest wird mit Gewalt niedergeschlagen. Das löst eine Welle der Solidarität aus, die das ganze Land erfasst. In wenigen Wochen demonstrieren die Syrer in zahlreichen Städten und Dörfern. Hunderttausende gehen auf die Straße und fordern den Sturz der Regierung von Baschar al-Assad. Die Kugeln der Armee fordern Dutzende Tote und Tausende Verletzte. Ein Teufelskreis beginnt, denn die brutale Repression befeuert den Protest nur weiter.

7. Oktober 2011

Man nennt die syrische Revolution auch eine »Revolution der Würde«, denn als die Väter der in Daraa verhafteten Kinder mit dem Chef der Sicherheitspolizei sprachen, um die Freilassung der noch Minderjährigen zu fordern, sagte dieser zu ihnen: »Was, es gehen euch Kinder ab? Dann macht doch welche! Und wenn ihr das nicht könnt, könnt ihr eure Frauen ja zu uns schicken!«

Hätten sie etwa ihre Kinder im Stich lassen sollen? Oder ihre Frauen zur Polizei schleppen, um sich dergestalt unterwürfig zu zeigen? Ich spucke auf die Pflicht zur Selbsterniedrigung … pff!

Nissan schreibt das sechs Monate nach diesen Ereignissen, um ihre Verachtung gegenüber den Syrern auszudrücken, die angesichts des Protests auf der Straße untätig bleiben. Aber kann sie selbst sich denn anders als passiv verhalten? Aleppo, wo sie bis zum Ende des Schuljahres im Juni 2011 wohnt, und Rakka, wohin sie im Sommer zurückkehrt, werden von den Protesten nicht berührt. Aleppo, weil die Stadt zu groß ist und fest in der Hand der Sicherheitskräfte. Rakka, weil es zu klein ist und administrativ von der Regierung abhängt. Die junge Frau begnügt sich für den Moment noch damit, die Revolutionäre vom Sofa und vom Bildschirm aus zu unterstützen. In den sozialen Netzwerken lässt sie ihrer Wut freien Lauf. Unter dem Pseudonym Nissan Ibrahim legt sie auf Facebook ein Profil an, um die Ereignisse in Syrien zu kommentieren. Aber sie achtet peinlich genau darauf, ja keinen Hinweis auf ihren Wohnort zu geben. Und es gibt auch kein Foto von ihr.

5. August 2011

Für Hama.

Tag für Tag durchquert der Bus der Al-Ahliah nach Damaskus Hama. Ganz langsam dringt er in den Ort ein. Seine Räder rollen durch die Geisterstadt. Der Geruch nach Tod und Trauer umhüllt die Passagiere.

Ich kann die versteinerte Stille dieser Stadt nicht vergessen. Ihre Traurigkeit tötet mich. Blutleer, machtlos, untätig. Hama! Du wirst nicht vergessen! Du warst die Festung des Widerstands.

Diese schmerzliche Erinnerung an Hama ist Nissan Ibrahims erster Post. Sie war noch nicht geboren, als im Februar 1982 das Massaker in der Stadt am Orontes stattfand, die genau zwischen Damaskus und Rakka liegt. Das Gemetzel in Hama verfolgt die Syrer bis zum heutigen Tag. Dass es gewaltig war, weiß man, doch die Zahl der Opfer bleibt bis heute im Dunkeln: 10 000, 15 000 oder 35 000 Tote soll es gegeben haben, je nach Schätzung. Um die von den Muslimbrüdern angezettelte Revolte niederzuschlagen, führten die Sicherheitskräfte unter dem Regime von Hafis al-Assad (Baschars Vater) eine kollektive Strafaktion durch. Zwei bis drei Wochen lang rollten Panzer durch jedes Viertel der Stadt und zerstörten es bis auf die Grundmauern. Straße um Straße, Haus um Haus wurden durchkämmt, ganze Familien erschossen, die Leichen in Massengräbern verscharrt. Das Gemetzel fand sozusagen hinter verschlossenen Türen statt, denn sämtliche Telefonleitungen waren gekappt worden. Alle Straßen in die Stadt wurden abgesperrt.

Bis heute gibt es keine Untersuchung dieser Vorfälle. Uns sind keine Dokumente erhalten geblieben, es gibt nur ganz wenige Zeugenaussagen. Doch diese brutale Strafaktion lässt die Syrer bis heute in Angst und Schrecken leben. Sie erstickte auf Jahrzehnte hinaus in den Bürgern jeden Willen zum Protest. Es musste erst eine neue Generation heranwachsen, und diese bot im Frühling 2011 der Diktatur erneut die Stirn. Nun gingen auch die wenigen überlebenden Einwohner der Märtyrerstadt wieder geschlossen auf die Straße.

Mittlerweile jedoch gibt es Internet, die sozialen Netzwerke und YouTube, sodass es nicht mehr ungesehen zu solchen Grausamkeiten kommen kann wie noch 1982. Die Demonstranten von 2011 filmen und fotografieren ihre Kundgebungen. Sie machen ihre Demonstrationen öffentlich und dokumentieren jede Repressalie, der sie ausgesetzt sind. Die Videos, die sie mit ihren Handys machen, verbreiten sich in Windeseile in den sozialen Netzwerken und werden von arabischen wie internationalen Fernsehsendern aufgegriffen und ausgestrahlt. Die jungen Leute machen die Welt zum Zeugen und liefern dem syrischen Regime und seinen Medien einen veritablen Informationskrieg. Nissan nimmt auf ihre ganz eigene Weise an der Schlacht an der Informationsfront teil. Sie schreibt ironische Kommentare über die Propagandatechniken des Regierungssenders Addounia TV.

21. August 2011

Hier ein Beispiel für die »objektive« Berichterstattung auf Addounia: Der Sender bestreitet die Echtheit eines Videos aus den sozialen Netzwerken, das zeigt, dass es bei einer Demonstration Tote gegeben hat, und zwar mit folgenden Worten: »Wir bezweifeln sehr, dass dieses Video echt ist und es wirklich Tote gegeben hat. Sehen Sie denn nicht, dass einige der angeblich Toten den Kopf bewegen?«

Darauf gibt es nur eine Antwort: »Wir sind untröstlich, wissen wir doch, dass dieser Fernsehsender der ganze Stolz des Assad-Regimes ist. Aber natürlich gab es neben den Toten auch Verletzte. Wir müssen hiermit ernsthaft gegen die schlampige Arbeit der Sicherheitskräfte protestieren. Die Löwen Assads mögen doch bitteschön alle Demonstranten sofort töten! Dann bleibt dem Volk wenigstens der Anblick von Verletzten erspart.«

 

14. Oktober 2011

Addounia TV herrscht ungehindert über die »Unterwürfigen«, die Verächtlichen, die Strohdummen. Der Sender füllt ihre leeren Schädel mit Verschwörungen, ausländischen Einmischungen, Chaos, Sektierertum und Sprüchen wie »Assads Syrien oder den Tod!«

Leider begreifen die »Unterwürfigen« nicht, dass diese Argumente verlogen sind, unlogisch und verachtenswert … Lieber Gott, bewahre uns unser kritisches Denkvermögen.

Nissan geht mit der Diktatur in ihrem Land ebenso streng ins Gericht wie mit ihren »unterwürfigen« Landsleuten. Was aber tut sie? Sie zappt sich von TV-Sendung zu TV