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Julia ist ein hübsches Mädchen, deren Mutter Sophie für sie eine große Zukunft geplant hatte. Doch Julia hat andere Pläne, und möchte Forscherin werden. Dies führt zu Konflikten innerhalb der Familie, und gerät völlig ausser Kontrolle, bis das Mädchen von zu Hause abhaut, und sich für ein hartes Leben unter neuen Freunden entscheidet. Hier lernt Julia den jungen Punker Kai kennen, und verliebt sich in ihn. Immer wieder versucht vor allem Julia's Vater, Kontakt zu ihr aufzunehmen, was sich schwierig gestaltet, da Sophie keine Kompromisse eingeht, und durch Julia selbst verpasste Träume kompensieren möchte. Das Mädchen fällt immer mehr in einen Sog aus Alkohol, Drogen und Aggression, und wird für ihre Mutter immer unnahbarer...
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2013
www.tredition.de
Über den Autor:
Michael Jannis Stern, geboren am 6. Juni 1976 in Karlsruhe, arbeitete über zehn Jahre als freier Sozialarbeiter im Rhein-Neckar-Kreis sowie dem Umkreis von Karlsruhe, und hatte so nicht nur Einblick in die Straßenszene, sondern lebte direkt darin mit, und konnte so Erfahrungen sammeln, die man für gewöhnlich nur aus szenischen Filmen oder Büchern kennt. So entstand ein authentischer Roman, aufgebaut auf wahren Begebenheiten, der vom Leben jener Menschen erzählt, welche die Welt anders kennen lernen mussten. Der Autor hatte selbst viele Jahre lang Menschen von der Straße aufgenommen, um die Winter zu überstehen oder um ihnen ein Sprungbrett für einen Neuanfang zu geben.
Dieses Buch ist allen Straßenkindern gewidmet, die meist durch Unverständnis in ihre teils ausweglose Situation gebracht wurden.
Der Autor möchte mit diesem Werk dem Mädchen Error gedenken, ebenso wie allen anderen Opfern der Familien, die es nicht vermochten und vermögen, Verständnis für ihre Kinder aufzubringen.
Gewidmet ist dieser Roman auch meinen Eltern Peter und Barbara Schade, die stets bemüht waren, Verständnis für mich aufzubringen.
Auch gewidmet ist dieser Roman allen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, und den vielen Ehrenamtlichen für ihr Zutun, Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Michael J. Stern
Sie nannte sich Error
Roman
www.tredition.de
© 2013 by Michael J. Stern Umschlaggestaltung: Michael J. Stern Korrektorat und Lektorat: Anna Kuhn Verlag: tredition GmbH, Hamburg,www.tredition.de ISBN: 978-3-8495-5002-8
Homepage des Autors: www.sternbuch.net
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ein besinnliches Fest
Es war gemütlich warm, der Weihnachtsbaum war prunkvoll geschmückt, und es lag eine im Jahr einmalige, warme Harmonie in der Luft, welche in dieser herzlichen Form nur zu Weihnachten um sich griff. Der große Tisch war festlich gedeckt, und im gesamten Hause roch es nach Festessen und anderen Leckereien, die es zu dieser Zeit des Jahres immer gab. Auf der Festtafel befanden sich acht Gedecke aus edlem Porzellan und echtes Silberbesteck, welches sauber zu den Gedecken arrangiert war, und höchst raffiniert gefaltete, rote Stoffservietten. Die Familie hatte heute, an Heiligabend, seltenen Besuch, denn neben Julia, ihrem Bruder Tim und ihren Eltern waren auch ihre Großeltern zu Gast, die alle vier einen weiten Weg auf sich genommen hatten, um an diesem heiligen und besinnlichen Abend bei ihren Kindern und Enkelkindern zu sein. Alle warteten gespannt darauf, dass das Essen endlich aufgetischt wurde, um endlich zu der von den beiden Kindern Julia und Tim so sehr erwarteten Bescherung kommen zu können.
Julia war ein sehr hübsches, zierliches Mädchen von sechs Jahren, mit leicht gewellten, langen blonden Haaren und einem neugierigen, wissbegierigen Charakter. Sie war sehr lebensfroh. Julia feierte im März ihren sechsten Geburtstag. Sie hatte fast immer ein weißes Kleidchen und weiße Schuhe an, und eine weiße Schleife im Haar. Ihre Eltern fanden es süß, wenn sie so aussah, und außerdem sollte sie stets gut gekleidet sein, um ein gutes Bild ihres Zuhause nach außen zu tragen. Ihr Bruder Tim war schon zwölf Jahre alt. Er war ein sehr ruhiges und gehorsames Kind, so wie es seine Eltern gerne hatten; stets zuvorkommend und sehr gut in der Schule. Er war recht klein für sein Alter, hatte braune, glatte, mittellange Haare, und sein größtes Interesse galt seinen Briefmarken, die er zu sammeln begann, als ihm sein Vater zu seinem fünften Geburtstag bereits seine ersten Sammelmarken und ein Album dazu geschenkt hatte. Tim war ebenfalls immer gut gekleidet und er trug seine Anzüge auch sehr gerne. Ihre Eltern, Bernd und Sophie, waren beide Anfang vierzig. Bernd war Architekt und arbeitete in einem sehr angesehenen Büro in Stuttgart. Sophie arbeitete als Chefsekretärin in einem großen Konzern, welcher Baumaschinen herstellte. Sie lebten in einem modernen, großen Haus, ein paar Kilometer außerhalb von Stuttgart. Ihre Großeltern waren, alle vier, charakterlich sehr ähnlich: Christlich und konservativ erzogen, und legten Wert auf Aussehen und Tradition, wobei die Eltern ihres Vaters, Friedhelm und Gudrun, noch etwas weltoffener waren als Gerhardt und Mechthild, der Vater und die Mutter von Sophie.
Als das Festmahl dann endlich fertig zubereitet war und serviert werden konnte, setzte sich die ganze Familie an den Tisch. Alle fassten sich bei den Händen und sprachen ein Gebet, was sie immer zu Weihnachten und während der Osterfeiertage taten. Nun wurde erst einmal gespeist, ehe es zur großen Bescherung, vor allem für die Kinder, kam. Der Speiseplan war üppig, nicht wie bei vielen anderen Familien, welche sich mit Frikadellen und Kartoffelsalat zufrieden gaben.
Nachdem sie gegessen hatten, und die beiden Kinder Julia und Tim ein paar einstudierte Weihnachtslieder auf ihren erlernten Instrumenten zum Besten gaben, waren die Großeltern sehr gerührt.
„Mein Gott, ihr könnt ja schön spielen!“, zeigte sich Mechthild begeistert.
„Seit wann spielt Julia denn die Querflöte?“, fragte Friedhelm.
„Ach, das hat sie vor etwa einem Jahr angefangen. Das macht sie wirklich toll und mit Begeisterung, deshalb wollen wir sie da weiter fördern. Etwas Kulturverständnis und Können hat ja noch nie geschadet.“, gab Sophie zur Antwort. „Wir werden sie ab dem nächsten Frühjahr einem Privatlehrer anvertrauen, der übt weitaus professioneller mit ihr, als sie das jetzt in der Musikschule tut. Julia und Tim haben ja beide so viel Potenzial! Tim spielt die Violine auch schon seitdem er fünf ist!“
„Ja, ja, unsere Wunderkinder…“, lachte Bernd. „Na, noch ein Gläschen Rotwein für alle?“, fragte er in die Runde.
„Jetzt wollen wir doch zuerst einmal die Geschenke verteilen, oder?“, setzte Gudrun dagegen.
Gesagt, getan. Zuerst bekam Julia ein großes Paket von ihren Eltern in die Hände, das sie sofort und sehr aufgeregt öffnete. Sie hatte sich ja schon so lange Schlittschuhe gewünscht, und hoffte, dass sie diese nun zum Geschenk gemacht bekommen würde. Sie riss voller Ungeduld das Geschenkpapier des Pakets auf, öffnete den Karton, und ihr Blick wurde etwas enttäuschter.
„Aber das sind ja Ballettschuhe und Ballettkleider… Ich mach‘ doch gar kein Ballett…“, seufzte sie.
„Noch nicht, mein Schatz! Dein Papa und ich haben dich aber dazu angemeldet! Und sobald die Ferien vorbei sind, und du wieder in den Kindergarten gehst, darfst du zwei mal in der Woche zur Ballettschule gehen, ist das nicht toll?!“, freute sich Sophie.
„Ich will aber doch gar kein Ballett machen, ich lern‘ doch schon Flöte!“, gab Julia zu verstehen.
„Das wird dir sicher gefallen, mein Schatz! Mach‘ dir da mal keine Sorgen! Du bist ein ganz besonderes Mädchen, und besondere Mädchen geh‘n halt ins Ballett!“, mischte sich Gudrun ein.
„Sie soll sich gar nicht beschweren! Früher hatten wir nicht die Möglichkeit, ins Ballett zu gehen.
Ich wäre gerne zur Ballettschule gegangen, aber ich musste arbeiten, da wir uns sonst kein Essen hätten leisten können!“, meckerte Mechthild.
„Hör‘ auf deine Oma, Julia! Sie hat schon viel erlebt und weiß, wie das Leben funktioniert!“, fügte Gerhardt hinzu.
Julia setzte sich enttäuscht und beleidigt wieder an den Tisch und stocherte mit ihrer Kindergabel in ihren wenigen Essensresten herum.
„So, nun ist aber der Tim an der Reihe!“, freute sich Bernd, und gab seinem Sohn ebenfalls ein etwas größeres Paket. Tim holte sich eine Schere aus der Schublade eines Schränkchens, das in der Wohnzimmerecke stand, schnitt das Geschenkband durch, öffnete äußerst sorgfältig die Klebstreifen am Geschenkpapier und öffnete das Paket ebenso bedacht.
„Oh danke!“, freute er sich, und zeigte seinen Großeltern, was er bekommen hatte. „Seht her, ein Mikroskop! Danke, danke, danke!“
„Siehst du, Julia? Dein Bruder freut sich über das, was er geschenkt bekommt!“, ließ Sophie ihre Tochter wissen.
„Er hat auch bekommen, was er sich gewünscht hat! Ich wollte Schlittschuhe laufen geh‘n, nicht ins Ballett!“, erwiderte Julia.
„Hier, meine Kleine! Von uns!“, übergab Friedhelm seiner Enkelin ein weiteres Geschenk. Als sie dies ausgepackt hatte, konnte sie tatsächlich wieder etwas lächeln.
„Mami, Papi, schaut mal, der neue Pferdestall für meine Peggy!“, freute sich Julia dann doch noch. Peggy war eine ihrer Puppen, von deren Art sie mehrere besaß, und die bei Mädchen ihres Alters äußerst beliebt waren.
Als etwas später alle ihre Geschenke bekommen hatten, und sie gemeinsam noch einen Film angesehen hatten, wurden die Kinder zu Bett gebracht, und die Erwachsenen öffneten noch eine Flasche Wein und ließen den Abend gemächlich ausklingen.
Das Vorzeige-Mädchen
Mit neun Jahren war Julia bereits eine sehr gute Ballerina. Sie hatte auch immer gut aufgepasst, und ihre Lehrerin war ihr sympathisch, da sie zwar hart aber gerecht unterrichtete, und privat immer ein offenes Ohr für ihre Schülerinnen und Schüler gehabt hatte. Als dann der Tag der großen Aufführung eines Stückes ihrer Mentorin namens Svenja Rösch gekommen war, freute sich Julia sogar darauf, und wirkte sehr aufgeregt und voller Euphorie.
Vor dem Auftritt stand Julia mit vier Mädchen ihrer Ballettgruppe hinter der Bühne und sie spickten immer wieder durch den roten, geschlossenen Vorhang, um zu sehen, wie viel Publikum anwesend war, und deren Stimmung vor dem Stück erkennen zu können.
Wenige Minuten vor dem Auftritt kam Svenja zu den Mädchen, klatschte zwei mal in die Hände, und feuerte die Kinder an:
„Auf geht’s, Kinder, die Show fängt gleich an! Alle nach hinten zur Aufstellung!“.
„Kommt, lasst uns geh’n!“, sagte Sandra, eines der vier Mädchen, und stupste Julia an der Schulter an.
„Ja, auf geht’s!“, stimmte diese ihr zu. „Lasst uns tanzen!“.
Das Licht im Saal dimmte sich aus, und die ersten Töne des Stückes waren zu hören: Eine leise, sanfte Melodie, von einer Oboe gespielt, ertönte, worauf einige ebenso sanfte Streicher folgten. Der rote Vorhang öffnete sich, und ein leichtes, blaues Licht erfasste die ersten Tänzerinnen auf der Bühne.
In dem Stück ging es um ein armes Mädchen, das ihre Eltern bei einem Unfall verloren hatte, die aber ihre Hoffnung in ihrer großen Liebe wieder gefunden hatte. So zog diese mit ihrem Traumprinzen zusammen, und sie wurden glücklich.
…Glücklich. Das war Julia in diesem Moment, als das Stück vorüber war, und die Mädchen ihren hoch verdienten Applaus entgegen nehmen durften, auch.
Ja, in diesem Moment war sie wirklich glücklich!
Nachdem der Applaus nachließ, die Lichter im voll besetzten Saal wieder hell wurden, die Zuschauer den Saal verlassen hatten und Julia auf der Bühne in den Zuschauerraum stehend die verbrauchte Luft dieses Raumes in sich einsog, kam ihr das Wissen, jetzt wieder nach Hause gehen zu müssen, und ihr Glück schwand. Es wich einem Mischgefühl aus Glück und Niedergeschlagenheit.
Nein, nach Hause wollte sie nicht. Ihre Mutter schickte sie drei mal in der Woche zum Ballett, wo sie gerne hinging, was aber mit den zwei malen Musikunterricht in der Woche und der Schule, die sie seit einem Monat besuchte, nicht immer eine Form der Freizeitgestaltung, sondern vielmehr zusätzliches Lernen für sie war. Am Liebsten wäre es ihr gewesen, zwei mal in der Woche ins Ballett zu gehen, und nur ein mal wöchentlich Flötenunterricht zu haben, was sie immer wieder ihrer Mutter klar zu machen versuchte. Diese wehrte jedoch immer mit den Worten, „du musst das machen, du bist doch ein besonderes Mädchen! Und besondere Mädchen sind begabt und intelligent. Du wirst es mir später einmal danken, mein Kind! Ich hatte früher nie die Chance, so viel aus mir zu machen, wie du es kannst!“, ab.
Zuhause angekommen wollte Julia nur noch etwas essen und sich noch mit ein paar Kindern treffen, doch ihre Eltern wollten mit ihr reden.
„Julia, mein Kind, wir haben eine ganz besonders tolle Nachricht für dich!“, freute sich Bernd, ihr Vater, und fuhr fort: „Wir waren heute nicht alleine bei deinem Auftritt. Wir waren mit Herrn Steimle da, der extra gekommen ist, um dich zu sehen. Und weißt du was? Er möchte dir zusätzlich Unterricht geben.“
„Was denn für Unterricht?“, wollte Julia wissen.
„Er ist Schauspiellehrer“, erklärte Sophie. „Er möchte dich gerne in der hohen Kunst des Schauspiels unterrichten, damit du später mal bei großen Musicals tanzen und singen kannst.“
„Singen?“, fragte Julia völlig erschrocken.
„Singen.“, entgegnete ihr Sophie. „Wenn du eine erfolgreiche Tänzerin werden möchtest, dann musst Du auch singen und schauspielern können.“, erklärte Sophie.
„Aber das will ich doch gar nicht! Ich möchte später einmal Forscherin werden, und tanzen und Flöte spielen sind meine Hobbys!“, reagierte Julia schockiert.
„Ach Kind…“, lachte Sophie, „das kannst du doch jetzt noch gar nicht wissen! Wir wissen das, wir sind schon erwachsen! Weißt du, früher habe ich auch immer gedacht, ich würde das, was mir meine Eltern gesagt haben, nicht wollen. Aber mittlerweile bin ich erwachsen und weiß, dass sie das alles zu meinem Besten gemacht haben, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Und auch du wirst mir später mal dafür danken, das hab’ ich dir schon öfter gesagt. Du wirst schon sehen…!“
„Und außerdem wollen wir dich ja auch vorzeigen können, und stolz auf dich sein! Und jetzt stell’ dir doch mal vor, wie cool du bist, wenn du perfekt Querflöte spielen kannst, im Tanzen und Singen ausgebildet bist, und noch dazu eine gute Ausbildung in der Schauspielerei hast… Du kannst dich dann überall blicken lassen, jeder will dich seh’n!“, versuchte ihr Bernd voller Euphorie den Unterricht schmackhaft zu machen, und fügte hinzu: „Julia, wir sind alle sehr stolz auf dich!“.
„Okay, dann mach’ ich’s halt…“, antwortete Julia leise.
Die erste große und verbotene Liebe
Als Julia zwölf Jahre alt wurde, organisierten ihre Eltern eine große Überraschungsparty zu ihrem Geburtstag. Sie luden alle 11 Kinder aus ihrer Ballettgruppe ein, auch ihre gesamte Schulklasse.
Das Haus war für diesen Anlass hübsch hergerichtet: Es hingen bunte Lampions auf der großen Terrasse und überall im weitläufigen Garten mit dem frisch gemähten Rasen und den hübschen Blumen, die in vielen kleinen Blumenbeeten durch den Garten und um das Haus herum arrangiert waren. Auf der Terrasse befand sich ein großer Buffet-Tisch, auf dem das üppige, heiße Buffet für die Partygäste serviert wurde. Bunte Servietten lagen neben den ebenfalls bunten Gedecken, und auf jedem Teller wartete bereits ein kleines Täfelchen Schokolade auf die Kinder. Auch eine Stereoanlage mit großen, leistungsfähigen Boxen stand bereit.
Die Party war in vollem Gange, die Gäste hatten gegessen, und begannen nach einigen lustigen Gesellschaftsspielchen auf dafür eingelegte Musik zu tanzen. Julia ging auf einen Jungen zu, der neu in ihre Klasse gekommen war, und der von daher noch keinen Kontakt zu seinen Mitschülern hatte. Sie wollte ihn zum Tanzen auffordern, und ihm ein paar ihrer Freunde vorstellen, damit er schnell Leute kennen lernen konnte, um Anschluss zu haben, und nicht alleine zu sein.
„Hi! Schön, dass du gekommen bist, Oliver!“, begrüßte Julia ihn näher.
„Hi! Schöne Party!“, erwiderte Oliver. „Wohnst du schon lange hier?“
„Schon seit ich geboren bin.“, antwortete Julia. „Wo wohnst du denn eigentlich?“, wollte sie von ihm wissen.
„Ach… Wir sind in die Nordstadt gezogen… In ein Hochhaus.“.
Hochhäuser hatte Julia bisher nur gesehen, noch nie aber betreten. Außer als sie mit ihren Eltern einmal in einer großen Bank war. Aber da hatte niemand drin gewohnt, es waren nur Büros in diesem Gebäude.
„Wieso wohnt ihr denn in einem Hochhaus?“, wollte Julia wissen.
„Meine Eltern haben beide keine Arbeit, und wir haben nicht viel Geld. Ich glaube, wir können uns nur eine Wohnung in einem Hochhaus leisten.“, schämte sich Oliver.
„Das ist mir egal!“, munterte Julia ihn auf, „jetzt bist du nicht in einem Hochhaus. Lass uns tanzen!“.
Oliver blickte etwas verschämt und schüchtern in Richtung Boden, gab Julia aber dennoch seine Hand, damit sie ihn auf die Tanzfläche zerren konnte. Sie lachte ihn an, und er fing an, Spaß zu haben, und vergaß, dass er sich für etwas geschämt hatte, für das er nichts konnte.
Völlig außer Atem setzten sich Julia und Oliver auf eine kleine Couch, die in einer Ecke im Wohnzimmer, welches an die Terrasse grenzte, stand, und lachten sich an.
„Du, Julia, ist echt schön bei dir!“, versuchte Oliver ihr ein Kompliment zu machen.
„Danke!“, freute sich Julia. „Bin echt froh, dass du zu meiner Party gekommen bist, Oliver! Ich mag dich!“, fügte sie noch lächelnd hinzu, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und zerrte ihn in ihr Zimmer.
„Siehst du, das ist mein Zimmer, hier haben wir unsere Ruhe.“
Oliver stand mit offenem Mund da und staunte, als er dieses wirklich riesige Zimmer sah, das schon fast so groß war wie die kleine Wohnung, in der er mit seiner Familie leben musste.
Als Oliver im Zimmer war, schloss sie die Türe und legte eine CD mit ruhiger Musik auf. Sie nahm ihn an der Hand, ging mit ihm zu ihrem Bett, und sie setzten sich beide auf dessen Kante.
„Was willst du mal werden?“, erkundigte sich Julia.
„Ich glaub’ Lokführer oder Elektriker“, gab Oliver zur Antwort. „Und du? Was willst du mal werden?“, wollte auch er wissen.
„Ich möchte Forscherin werden.“, sagte sie, und fuhr fort: „Es macht mir Spaß, Sachen heraus zu finden. Das mag ich! Am liebsten wäre ich Zoologin und würde Tiere erforschen. Ja… oder Ausgrabungen machen, das wäre auch gut!“, erklärte sie Oliver.
„Dann sind deine Eltern bestimmt voll stolz auf dich.“, stellte Oliver fest.
Julia’s Gesichtsausdruck wurde ernst, obwohl sie versuchte, weiter zu lächeln. „Nein, nicht wirklich. Die wollen lieber, dass ich Schauspielerin werde und Musicals mache…“. Sie dachte kurz nach, während Stille im Raum lag, da Oliver nicht wusste, wie er darauf hätte antworten können, und meinte schließlich: „Du, es ist schon spät, und meine Eltern kommen bestimmt gleich, und wollen, dass ich schlafen gehe…“.
Oliver blickte sie etwas traurig an. „Entschuldige, ich wollte nichts Falsches sagen.“
Nun lächelte Julia wieder, und beruhigte Oliver: „Hey, keine Sorge! Wir seh’n uns ja am Montag in der Schule wieder! Vielleicht kann ich dich dann ja auch mal besuchen?!“
„Ja, gut… Aber ich wohne nicht so toll wie du… Vielleicht gefällt es dir nicht… Vielleicht findest du es dreckig…“, antwortete Oliver.
„Du, das ist kein Problem für mich. Ich mag mal was anderes seh’n als immer nur meine Familie oder irgend eine Schule!“, beruhigte sie ihn.
Als die Beiden sich montags darauf dann in der Schule sahen, viel die Begrüßung sehr herzlich und voller Freude aus. Sie Umarmten sich, lachten sich gegenseitig an, und Julia gab Oliver, wie bei ihrem ersten gemeinsamen Abend auf Julia’s Party, einen Kuss auf die Wange. Nach der Schule fuhr Julia nicht wie gewohnt mit dem Bus nach Hause, sondern stieg mit Oliver in Seinen, da sie mit ihm nach Hause wollte. Ihre Eltern hatten eine Ausnahme gemacht, und ihr den Besuch erlaubt, obwohl sie an diesem Tage eigentlich zur Ballettschule gehen hätte sollen. Aber sie dachten, dass es einmal gestattet werden könnte, einen Schulfreund zu besuchen, um keine Außenseiterin in der Schule zu werden. Sie wollten ja schließlich immer, dass ihre Tochter einen guten Status in der Gesellschaft hatte. Zwar kannten sie Oliver nicht genau genug, jedoch verließen sie sich auf die Ausführungen ihrer Tochter, dass er ein intelligenter, höflicher Junge aus gutem Hause sei. So machten Bernd und Sophie ihr den Vorschlag, mit Oliver nach der Schule mit zu fahren, und am Abend sollte Julia dann abgeholt werden. Bei dieser Gelegenheit erhofften sie sich, die Eltern von Oliver kennen lernen zu können.
Als die Kinder vor dem Haus, in dem Oliver lebte, angekommen waren, kam Julia aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ja, sie hatte schon Hochhäuser gesehen, aber die waren meist verglast; zumindest waren diese aber immer sauber. Und jene, die nicht sauber waren, konnte sie nur in Filmen oder aus der Ferne begutachten. Es war ein ganz neues, sonderbares Gefühl da zu stehen, und die dreckigen, grauen, mit Sprüchen verschmierten Wände zu sehen, zu riechen und letztlich auch zu berühren. Ein ganz neues und sonderbares Gefühl…
Viele Kinder unterschiedlicher Nationen rannten vor dem Haus herum, spielten Fangen, und einige der Kinder spielten Fechten mit Holzstöcken, die sie um die dort vereinzelt angesiedelten Bäume herum gefunden hatten. Es schien diese Kinder nicht im Geringsten zu stören, dass sie da etwas Gefährliches taten, wobei man sich ernstlich verletzen könnte, und die Elternteile, die das mitbekommen hatten, schien dies nicht zu stören. Julia wurde argwöhnisch von vielen der Kinder und von einigen der Erwachsenen, die dort auf einigen Bänken verweilten, wie diese Menschen es nahezu täglich taten, begutachtet.
„Keine Angst! Du bist neu hier, dich haben sie hier noch nicht gesehen. Das ändert sich, wenn die merken, dass du zu mir gehörst. Ich brauch’ hier keine Angst zu haben, ich wohne hier.“, sprach Oliver zu Julia.
„Ich habe keine Angst. Es ist nur alles so neu für mich. Die Leute hier haben alle nicht so viel Geld, oder?“, erwiderte sie.
„Nein, hier hat keiner Kohle.“, seufzte Oliver. „Aber wir halten zusammen. Selbst die brutalsten Schläger, die hier wohnen, tun einem nichts, wenn man auch hier wohnt. Das finde ich gut.“
„Wohnen hier viele Schläger?“, wollte Julia wissen.
„Ja, ein paar. Aber die Meisten tun nur so. Dabei sind das eher Diebe und so was.“, erklärte Oliver.
„Was meinst du damit?“, fragte sie genauer nach.
„Weißt du, die Menschen hier haben alle nicht viel. Und viele von ihnen können nur schlecht Deutsch oder sprechen nur Straßen-Slang. Na ja, vielen ist langweilig, weil sie in der Schule nicht mitkommen oder mitgekommen sind und deshalb keine Ausbildung oder Arbeit bekommen, da kommt man halt manchmal auf dumme Gedanken. Und dann gibt es noch welche, bei denen das so weit geht, dass sie schon, weil sie kein Geld haben oder Ausländer sind, so böse beleidigt oder geschlagen worden sind, dass du die nicht mal mehr angucken kannst, ohne verprügelt zu werden. Aber, wie ich dir gesagt hab’, du brauchst hier keine Angst zu haben, weil ich hier wohne.“, versuchte Oliver ihr die Situation zu erläutern.
„Und wie konnte das passieren? Wie kommt das?“, hakte Julia nach.
„Das weiß ich auch nicht“, gestand Oliver, und fuhr fort „aber meine Eltern sagen immer, dass diese Leute ignoriert werden, weil sie anders sind. Und deshalb bekommen die kein Geld, weshalb sie keine gute