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Die mitreißende Geschichte einer Beziehung, die verdeutlicht, dass Liebe auch Arbeit sein kann.Das Pärchen Anna und Marie leben bereits seit einigen Jahren in einer gemeinsamen Wohnung. Doch die Verliebtheitsphase haben sie bereits hinter sich gelassen. Als Anna aus beruflichen Gründen für einen Monat nach Griechenland reist und sie gemeinsam mit Marie beschließt, diese Zeit als Beziehungspause zu nutzen, wird den beiden bewusst, was das Problem an der Beziehung ist...-
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Eva Lejonsommar
Übersezt von Regine Elsässer
Saga
Sie zu lieben
Übersezt von Regine Elsässer
Titel der Originalausgabe: Att älska henne
Originalsprache: Schwedischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1998, 2021 Eva Lejonsommar und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726921915
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Marie schob den Sitz zurück, streifte die Schuhe ab und stützte die Füße an das Handschuhfach.
Sie drehte eine helle Haarsträhne um den Zeigefinger. Sie drehte immer weiter, bis sie die Strähne von der Schulter bis zum Haaransatz aufgewickelt hatte. Dann ließ sie sie los und nahm eine neue.
»Was ist denn, Marie? Hat dir das Haus nicht gefallen?«
Anna nahm die Hand vom Steuer und legte sie auf Maries Schenkel. Sie schaute in Zweisekundenintervallen zwischen Marie und der Straße hin und her, um nicht in den Graben zu fahren.
»Doch, es war schön, aber ich muß erst noch ein bißchen darüber nachdenken.«
Anna schaute sie weiter mit diesen schnellen Kopfbewegungen an und strich dabei mit der Hand über Maries Schenkel.
»Konzentrier dich aufs Fahren«, sagte Marie und legte Annas Hand wieder aufs Steuer.
Marie machte das Handschuhfach auf und wühlte in den Kassetten, bis sie die mit Tina Turner fand. Sie schob die Kassette in den Recorder und drehte die Lautstärke auf. Dann setzte sie sich wieder zurecht, die Füße am Handschuhfach, und starrte in die vorbeiziehende Landschaft.
Sie hatte es schon immer gemocht, wenn es Herbst wurde; die sakrale Stille, wenn das All sich weitete, und das ruhige Atmen der Erde kurz vor dem Einschlafen.
Es war eine Jahreszeit, in der sie normalerweise mit sich und ihrem Leben im reinen war. Aber jetzt pochte die Unruhe wie ein eingesperrter Zugvogel in der Brust.
Das Haus, das sie angesehen hatten, war sehr reizvoll, vielleicht ein wenig heruntergekommen, aber es hatte die richtige Größe und war so nahe an der Stadt, daß sie dort die Wochenenden verbringen konnten. Sie hatte nur Schwierigkeiten, den Gedanken zu Ende zu denken, jetzt, wo er Wirklichkeit werden sollte. Anna sprach seit fünf Jahren davon. Aber es war, wie so vieles andere, über das sie geredet hatten, ein Traum in einer fernen Zukunft, nichts Konkretes, das eine Entscheidung verlangte.
»Sie ist über fünfzig, das sollte man nicht glauben.«
»Wer?«
»Tina Turner«, sagte Anna und trommelte mit den Händen aufs Steuer. »I don’t wanna lose you ... true love«, sang sie den Refrain mit.
Sie fuhren an Arboga vorbei und näherten sich der Raststätte, an der sie auf dem Weg zu Annas Eltern immer eine Pause machten.
»Hast du die Milch vergessen?« fragte Anna, als sie die Becher und die Thermoskanne aus der Picknicktasche holte.
»Du hast gepackt.«
Anna fand das Glas mit der Milch in einer der Außentaschen.
»Warum packe eigentlich immer ich?« fragte sie und goß Milch in den Kaffee.
»Ich weiß nicht. Es gefällt dir vielleicht.«
»Nein, das stimmt nicht. Aber außer mir macht es ja niemand.«
»Und außerdem können wir dann sicher sein, daß es ordentlich gemacht wird, nicht?« sagte Marie und ließ zwei Zuckerstücke in ihren Becher fallen.
Sie fuhren schweigend weiter. Es waren fast noch hundert Kilometer, aber Marie war in Gedanken schon mehrmals angekommen. Es gab ein bestimmtes Geräusch, beziehungsweise eine Sequenz von Geräuschen, die sie sehr mochte.
Es war das Geräusch, wenn vier schwer belastete Gummireifen über eine dicke Schicht Kies fuhren und die Steine gegeneinanderdrückten. Es war das Geräusch, wenn ein neuer Automotor mit niedriger Drehzahl im zweiten Gang durchs Tor und den Kiesweg zum Haus hinauffuhr und dann auf dem Kies nach links abbog und stehenblieb, der Motor abgestellt und die Handbremse mit einem leisen, ratschenden Geräusch wie bei einem Reißverschluß angezogen wurde. Und genau dann, in der Sekunde von Stille, vor dem Ausatmen, vor dem »Wir sind da«, bevor die Haustür geöffnet wurde und Karin heraustrat, bevor die Hunde zu bellen anfingen, bevor alles wieder konkret wurde – da war dieses wohlige Gefühl.
Marie bekam Gänsehaut, wenn sie sich nur vorstellte, wie es sich anhörte.
Sie bogen in die lange Allee ein, in der die Kronen der Ulmen ineinanderwuchsen. Auf der Kuppe eines langgestreckten Hügels, der sich wie eine Welle in der Landschaft erhob, wie eine Welle aus Kies und Lehm, lag der Hof. Von weitem konnte man rotbraune Dachziegel und Teile der gelben Fassade durch Laubwerk und Gebüsch sehen. Auf der rechten Alleeseite weideten Bengtssons Jungkühe. Einige hoben die Köpfe und schauten dem vorbeifahrenden Auto lange nach. Auf der linken Seite war Bengtsson mit Pflügen beschäftigt. Er saß auf einem Traktor, den Oberkörper hatte er halb nach hinten gedreht, damit er sehen konnte, ob der neue sechsschärige Pflug die Schollen wendete, wie er sollte. Am Ende der Allee teilte die Straße sich in drei Wege. Links war das Pächterhäuschen. Da wohnten Bengtsson und seine Frau Signe. Rechts waren die Scheune und alle Nebengebäude, und geradeaus lag das Wohnhaus. Das gelbe, zweistöckige Haus war fast völlig von Hopfen überwachsen und von einem Garten umgeben, in dessen Mitte ein Kiesplatz mit einem Herz aus Gras und Rosen lag.
Marie schloß die Augen, als sie an den Torpfosten vorbeifuhren. Sie lauschte andächtig auf das Geräusch.
Wartete.
Dann machte Anna den Motor aus und zog die Handbremse an. »So, wir sind da«, sagte sie mit einem Seufzer und lehnte sich im Sitz zurück.
Dann bellten die Hunde, die Haustür ging auf, und Karin stand auf der Treppe.
Marie machte die Augen wieder auf und lächelte Karin durch die Autoscheibe an.
Die gleichen dicken schwarzen Haare wie Anna. Die gleichen haselnußbraunen Augen und der neugierige Blick. Die gleiche Nase und auch ein Mund, in dem die Zähne nicht in gleichmäßigen Reihen Platz gefunden hatten und sich deshalb ein bißchen hintereinander stellen mußten.
Sie glichen sich auch im Körperbau, Anna war jedoch mit den Jahren runder geworden und Karin schlanker, seit sie wieder angefangen hatte zu reiten.
Marie und Anna stiegen aus. Die zwei Rauhhaardackel schafften es vor Karin, die beiden Frauen zu begrüßen. Sie bellten laut, wedelten mit dem Schwanz und sprangen an ihnen hoch, als wollten sie die beiden langbeinigen Gäste umwerfen.
»Schluß, habe ich gesagt!« schrie Karin und machte einen Schritt zur Seite, damit die zwei Dackel ihr nicht die Strümpfe zerrissen. »Sie gehorchen mir überhaupt nicht mehr, die beiden Biester«, jammerte sie, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Roy in die Augen, was zur Folge hatte, daß er nur noch hysterischer bellte.
Anna nahm Roy und Roger, unter jeden Arm einen, und trug sie zum Hundezwinger.
Karin machte ein paar Schritte auf Marie zu, beugte den Oberkörper vor, legte ihre Hände auf Maries Schultern und zog sie schnell zu sich.
»Marie! Wie schön, daß du da bist«, rief sie aus und schob Marie dann wieder von sich.
Marie holte das Gepäck aus dem Kofferraum und trug es ins Haus. Die Treppen knarrten unter ihrem Gewicht. Durch das kleine Fenster im Zwischenstock sah sie, wie Anna den Zwinger verriegelte und sich dann zum Haus wandte.
Marie stieg weiter die Treppe zu Annas altem Zimmer hinauf, das jetzt ein Gästezimmer mit Doppelbett und neuen Schränken war. Das Zimmer erinnerte an ein Hotelzimmer, es fehlte bloß der Fernseher und das Telefon. Es hing sogar ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!« an der Türklinke.
Sie hatten sich bisher nicht getraut, das Schild zu verwenden, auch wenn das Bedürfnis nach Ungestörtsein manchmal heftig war. Es wurde irgendwie stillschweigend vorausgesetzt, daß dieses Recht nur den heterosexuellen Gästen und den heterosexuellen Familienmitgliedern wie Niklas und seiner Exfrau Susanne zustand.
Sie und Anna waren immer herzlich willkommen in der Familiengemeinschaft, solange sie ihr Liebesleben in Stockholm ließen.
Marie öffnete die eine Tasche und holte ein eingepacktes Buch heraus, das sie Karin mitgebracht hatte. Sie machten sich hin und wieder kleine Geschenke. Wie eine Art Bestätigung für das Band, das es zwischen ihnen gab, das aber keinen Namen hatte.
Karin hatte im Wohnzimmer den Kaffeetisch gedeckt. Die Sonne schien durch die gemusterten Tüllgardinen. Die Katze hatte sich auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen ausgestreckt. Das Buch lag ausgepackt auf dem Tisch.
»Greif nur zu, Marie«, drängte Karin und reichte ihr zum drittenmal den Kuchenteller. Marie nahm ein Nußstückchen und reichte dann den Teller weiter an Ulf.
Er inspizierte den Kuchenteller eingehend und stellte ihn dann auf den Tisch.
»Da heißt es Charakter zeigen«, sagte er und schaute Anna vielsagend an.
»Hör nicht auf ihn«, sagte Karin und reichte Anna den Teller.
»Das hat sie doch noch nie getan, warum sollte sie das jetzt tun?«
Ulf legte ein Bein übers andere und rümpfte mißbilligend die Nase angesichts des Schokoladentörtchens, das Anna demonstrativ auf ihren Teller schob.
»Fangt jetzt bitte nicht an zu streiten. Erzählt lieber von dem Haus, das ihr euch angeschaut habt.«
»Es ist ein Wahnsinn, eine halbe Million für eine alte baufällige Holzhütte auszugeben, in der ihr nur am Wochenende sein wollt«, unterbrach Ulf. »Wird man so verrückt, wenn man in Stockholm wohnt?«
»Aber Ulf!« rief Karin aus. »Diese alte Holzhütte ist, soweit ich es verstanden habe, ein richtiges Schnäppchen, nicht wahr, Marie?«
Marie nickte mechanisch. Sie wollte sich am liebsten aus den Familienstreitigkeiten heraushalten.
»Woher weißt du das? Nur weil die Dachziegel ganz sind, heißt das nicht, daß auch die Dachpappe dicht ist und die Lattung noch in Ordnung ist. Wart ihr auf dem Dachboden?«
»Ja, waren wir.«
»Und ihr hattet natürlich auch Gelegenheit, nach Feuchtigkeit und Ungeziefer zu schauen.«
»Selbstverständlich.«
»Was war das denn für ein verdammter Makler?«
»Das war kein Makler, sondern Bekannte von uns ...«
»Das ist ja merkwürdig. Warum wendet er sich nicht an einen Makler?«
»Es war auch kein Er, sondern eine Sie. Und sie möchte das Haus an Leute verkaufen, die sie kennt und mit denen sie sympathisiert.«
Ulf schaute Anna lange an. Dann zuckte es in seinen Mundwinkeln. Es kostete ihn Mühe, das Kinn und die Unterlippe an ihrem Platz zu halten, und er wandte den Blick nach unten und ließ ihn auf seinen sich drehenden Daumen ruhen. Sein Bauch bewegte sich, und schließlich brach das Lachen aus ihm hervor.
»Du und deine Freundinnen«, prustete er. »Ich kann mir nicht helfen ... an Leute, mit denen sie sympathisiert ... mein Gott ... und das wart ihr beide ...«
Er lachte jetzt laut. Seine ganze schlaksige Gestalt hüpfte auf dem Stuhl. Seine Schultern zuckten, und die Arme fielen auf die Oberschenkel.
»Entschuldige«, grinste er und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus dem Gesicht. Er fischte ein großkariertes Taschentuch aus der Tasche und schneuzte sich. Es klang wie Trompetenstöße. Er steckte das Taschentuch wieder ein und strich sich verlegen durch den Bart. Dann bewegte sich wieder der Bauch, er stand auf und verließ das Zimmer, sein Lachen explodierte erst draußen in der Halle.
Marie streckte die Hand aus und berührte Annas Oberschenkel mit den Fingerspitzen. Sie hatte gewußt, daß es Krach geben würde, sobald sie Ulf begrüßt hatten. Er hatte sofort angefangen, auf Anna herumzuhacken.
»Das ist die Scheidung«, verkündete Karin. »Ich glaube manchmal, es ist schlimmer für ihn als für Niklas.«
Sie schaute sie ein bißchen ängstlich an, um zu sehen, ob sie einer Meinung mit ihr waren oder Einwände hatten. Als keine etwas sagte, fuhr sie fort:
»Morgen ist es ein Jahr her, daß Niklas erzählt hat, er wolle sich scheiden lassen. Ich habe in diesen Tagen daran gedacht, daß dieses Jahr so schlimm ist wie noch nie. Findest du nicht auch, Anna? Alles scheint auf dem Kopf zu stehen. Denk doch nur mal an Weihnachten, als Susanna die Kinder bringen sollte und nicht kam. Und wie wütend Niklas wurde, als Papa selbst zum Hörer griff und sie anrief.«
»Es war nicht seine Sache, sie anzurufen«, sagte Anna und starrte weiter blind die Wand an. »Ich verstehe gut, daß Niklas wütend wurde.«
»Sie haben schon immer ein schwieriges Verhältnis gehabt, Papa und Niklas.«
Karin streckte den Arm nach der Thermoskanne aus, hatte jedoch Probleme, sie zu erreichen.
»Niklas kann einem leid tun«, sagte sie dann entschieden und schraubte den Deckel ab.
»Ja, Niklas kann einem leid tun«, wiederholte Anna mechanisch.
»Du sollst mich nicht nachäffen.«
»Ich äffe dich überhaupt nicht nach.«
»Natürlich tust du das. Und überhaupt, wie willst du denn wissen, wie es Niklas nach der Scheidung gegangen ist?«
»Er hat mich darüber auf dem laufenden gehalten. Besonders nachts.«
Karin wandte sich an Marie.
»Tut mir leid, daß du das mit anhören mußt.«
»Ich verstehe, daß ihr darüber reden müßt. Ich gehe raus und begrüße die Hunde.«
Marie stand vom Sofa auf und nahm die leere Kaffeetasse mit in die Küche.
Es war schon dunkel, als sie zum Stall gingen. Der Himmel war voller Sterne, und alle Geräusche wurden groß und deutlich; die Schritte unter ihren Füßen, das Rascheln von Stoff um ihre Körper. Sie flüsterten, als ob der Oktoberabend Ohren hätte, und sie hielten sich an der Hand wie zwei kleine Mädchen. Der Stall leuchtete von weitem mit seinen Reihen gelber Augen.
»Es ist lange her, daß ich mit dir hier war«, flüsterte Marie.
»Du wolltest ja nie mitkommen.«
»Ich bin froh, daß ich es jetzt getan habe.«
»Obwohl bei uns so viel gestritten wird?«
»Ihr prügelt euch wenigstens nicht.«
Sie waren fast beim Stall. Noch ein paar Meter, und sie standen im Lichtschein der Fenster. Marie hielt Anna am Arm fest, und die blieb stehen.
Der Anorakstoff raschelte, als sie Anna an sich zog. Die Lippen waren weich und warm und der Mund halb geöffnet. Marie drückte ihre Nase an Annas Hals und sog ihren Duft ein. Ihre Blicke konnten sich nicht treffen, dazu war es zu dunkel. Sie schob ihre Hände unter Annas Anorak und den Rücken hinauf.
Dieser vertraute Körper, Annas Körper. Sie kannte ihn so gut. Sie kannte all seine Eigenheiten und Geheimnisse, die Schutzmauern und Hintereingänge. Sie wußte, wie die Brüste sich in die Handfläche wölbten, wie die Haare in der Achselhöhle kitzelten, wie der Schlaf im Nacken roch. Sie wußte, wie stark die Beine waren, wie die Hüften sich rundeten, wie ihr Schoß schmeckte, wie die Schamlippen aussahen, wenn sie sich geliebt hatten.
Sie kannte Annas Körper besser als ihren eigenen. Ein vertrauter, wohlbekannter Körper, der im Lauf der Jahre ein bißchen schwerer und schlaffer geworden war, der sie aber immer noch mit Wärme und Liebe erfüllte. Es war schade, daß sie nicht mehr so elektrisiert wurde, nicht mehr naß wurde und erregt von diesem Körper, von dem sie einmal gar nicht genug bekommen konnte.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie Anna ins Ohr und spürte sofort die Antwort in der schweigenden Umarmung und der Wärme, die hell von Annas Herz zu ihrem strömte.
Eine gefleckte Katze schlüpfte durch die Stalltür, als sie sie öffneten. Marie bückte sich, um sie zu streicheln, aber sie huschte scheu davon.
»Sie hat gerade Junge bekommen«, sagte Anna. »Sie hat sie natürlich versteckt. Sie traut niemandem.«
»Das kann man verstehen«, brummte Marie und schaute der Katze nach, die mit einem Sprung über den Futtertrog und die Absperrungen auf einem Balken auf gleicher Höhe mit den Milchund Vakuumröhren war. Sie wußte, Bengtsson erschlug die Katzenjungen, sobald er sie fand, und es half nichts, wie sehr sie auch für ihr Leben bat und bettelte.
Im Stall war das Melken in vollem Gang. Die Vakuumpumpe gab wie ein Metronom den Takt an. Die Milch gluckste weiß in den Schläuchen, die in die Milchkammer und von da in den Tank liefen. Die Kühe waren angebunden, die großen Köpfe bewegten sich über den Futtertrögen, die großen Hinterteile über der Urinrinne. Die mächtigen Körper dampften vor Wärme. Es roch nach Ammoniak und Silage. Marie schaute gerne die Kühe an. Sie hatte ein bißchen Angst vor ihnen, auch wenn sie angebunden waren, sie hielt deshalb Abstand und beobachtete sie nur. Sie fand, daß sie so eine eigenartige Ruhe ausstrahlten. Als ob sie sich in der Mitte einer Achse befänden, ruhig und unberührt, wie sehr es auch an der Peripherie schaukeln mochte.
Die Schiefertafeln, die über jeder Kuh hingen, waren eine Art Personalausweis mit Namen, Nummer, Geburtsdatum, Milchleistung, Fettgehalt der Milch, Inseminationsdatum, Datum des Kalbens und anderen Informationen, die aufgezeichnet werden mußten. Bengtsson taufte die Kühe. Es gab keine Blenda oder Blondie oder Stern. Aber es gab eine Kuh, die Anna, und eine, die Marie hieß.
Bengtssons Frau Signe lief zwischen drei Melkmaschinen hin und her und prüfte, ob eine Kuh fertiggemolken war. Sie strich über ein Euter, das schlaff und mit leeren Zitzen herabhing. Sie wog es in der Hand und drückte dann mit einer raschen Bewegung auf einen Knopf an der Unterseite der Melkmaschine, wodurch die Vakuumleitung gefüllt wurde und die vier Melkbecher wie eine welke Blume in ihre Hand fielen. Dann machte sie die Schläuche von den Leitungen an der Decke ab und ging zur nächsten Kuh.
Anna ging zu ihr und sprach ein paar Worte mit ihr. Nach einer Weile streckte sie ihren Kopf hinter einer Kuh hervor, und ein paar blinzelnde Augen lächelten Marie freundlich zu.
Marie lächelte zurück und vermutete, daß Anna gefragt hatte, ob sie die Kälber füttern durften.
Sie gingen in die Milchkammer und holten zwei grüne Eimer und einen großen Schneebesen von der Spüle und rührten die Milchersatznahrung an. Dann gingen sie mit den Eimern zu den Kälberboxen.
»Nein, ist das süß!« Das Kalb, das noch keinen Namen hatte, schaute Marie mit runden, braunen Augen unter langen Wimpern an. Es hatte einen weißen Stern auf der Stirn.
»Da mußt du reingehen und ihm ein bißchen helfen«, sagte Anna und stellte die Eimer in die Halterung der Kälberbox.
Marie kletterte über die Boxenwand zu dem Kalb, das gefüttert werden sollte. Erst bekam es Angst, wich aus und stieß mit dem Hinterteil gegen die Wand. Marie ging in die Knie und streckte die Hand aus. Sie sah, wie die Augen größer wurden und die Nasenlöcher sich weiteten. Es dauerte nicht lange, und das Kalb nukkelte an zwei Fingern und drückte sie gegen den Gaumen. Es saugte und schmatzte, aber es kam keine Milch. Marie versuchte, den Kopf in den Eimer zu lenken, es bekam auch ein paar Schlucke in den Mund, dann machte es eine zuckende Bewegung. Es schaute Marie an und muhte jämmerlich, und die Milch tropfte ihm vom Maul.
»Am Anfang ist es immer schwer, später geht es leichter«, versuchte Marie zu trösten. »Du mußt lernen, von unten statt von oben zu trinken und die Milch nicht durch die Nase einzusaugen und den Eimer nicht umzuwerfen, weil die Milch sonst ausläuft.«
»Ich möcht mal wissen, ob Bengtsson wohl noch auftaucht oder ob er die ganze Nacht auf seinem Traktor sitzen will.«
Anna hatte kaum ihren Satz zu Ende gesprochen, da hörten sie, wie Bengtsson seine Stiefel auf dem Zementboden vor der Milchkammer sauberstampfte.
Er war ein großgewachsener Mann um die Sechzig in einem grünen Overall. Er nahm die Schirmmütze mit Werbeaufdruck vom Kopf und strich sich über die Haare, mit einer Faust, so groß wie ein Vorschlaghammer.
»Feiner Besuch aus Stockholm!« grinste er, und jede Falte in seinem wettergegerbten Gesicht war zu sehen. Er kam zu ihnen und begrüßte zuerst Marie. Ihre Hand verschwand in der seinen wie in einem Baseballhandschuh, und es sah aus, als würde er einen dünnen Zweig schütteln, als er ihr die Hand gab.
»Du warst lange nicht da. Ich dachte schon, ich würde dich hier überhaupt nie mehr sehen, aber da habe ich mich geirrt.«
Er sprach in kurzen Sätzen. Als ob er Anlauf nähme, um eine schwere Tonne einen Abhang hinaufzurollen und über den Rand, wo sie dann mit einem schweren Poltern hinunterfiele. Bei Anna verschwand seine Unbeholfenheit ein wenig. Zwar strömten die Worte nicht gerade aus ihm heraus, aber sie kamen leichter und landeten weicher.
Auch Anna veränderte sich in Bengtssons Gegenwart. Sie verwandelte sich von einer sechsunddreißigjährigen Frau in eine viel jüngere und wechselte außerdem irgendwo im Teenageralter das Geschlecht. Wenn sie mit Bengtsson zusammen war, wurde sie ein zehnjähriger Junge. Sie steckte die Hände in die Gesäßtaschen und schaute ihn unter dem Pony hervor an, stieß mit der Stiefelspitze ins Stroh und erzählte von dem Haus, das sie angeschaut hatten, und fragte ihn vorsichtig, was er dazu meinte.
»Es ist viel Geld«, sagte er und kratzte sich im Nacken. »Aber wenn ihr es euch leisten könnt und das Haus euch gefällt, dann müßt ihr zuschlagen. Ihr müßt es als Investition in die Zukunft sehen.«
Marie zog das Fahrstuhlgitter zu und drückte auf den Knopf. Der Fahrstuhl brachte sie mit quietschenden Seilen ins Erdgeschoß. Sobald sie draußen war, füllte sie die Lungen mit Luft. Es war unerwartet kühl, und sie schlug den Mantelkragen hoch und ging mit großen, schnellen Schritten Richtung Stadt.
Gelbe und rote Blätter wurden über den Fußpfad unten am Wasser gewirbelt, als ob jemand sie an einer Schnur befestigt hätte, um mit ihnen zu spielen. Sie dachte an die Laubhaufen, die sie unter den Apfelbäumen bei Annas Eltern zusammengekehrt hatten, und fragte sich, ob Karin sie wohl weggeräumt hatte, nachdem sie gefahren waren, oder ob der Wind schneller gewesen war.
Marie machte einen Schritt zur Seite und zog die Füße nach wie ein Schlittschuhfahrer. Sie pflügte durch Berge von Laub, die aufgewirbelt wurden und über das Wasser davonflatterten. Sie lachte laut über ihr Benehmen und war beinahe glücklich.
Als sie zur St. Eriksgatan mit dem morgendlichen Berufsverkehr kam, war auch das Unbehagen wieder da. Helen Källberg würde im Lauf des Tages vorbeikommen und ein persönliches Gespräch mit allen Angestellten im Reisebüro führen. Offiziell hieß es, sie wolle ihre Mitarbeiter kennenlernen und umgekehrt. Aber es bestand der Verdacht, es sei nur ein Scheinmanöver, ein pfiffiger Schachzug aus dem Hauptquartier.
Der Branche ging es insgesamt nicht gut, und viele machten sich Sorgen um ihren Job, auch die freiesten Vögel, weil die unbesetzten Zweige, auf die man sich flüchten konnte, knapp wurden. Wenn es gelang, die Solidarität unter den Angestellten aufzubrechen, sie glauben zu machen, daß sie die eigene Haut retten konnten, wenn sie der neuen Chefin nach dem Mund redeten, würde es am Ende leichter sein, einzelne Leute herauszupicken. Wenn man die Gewerkschaft draußen halten konnte, versteht sich. Aber der Organisierungsgrad war schlecht. Sie selbst war auch nicht Mitglied, weil sie sich nicht mit ihrem Beruf identifizierte. Es war als vorübergehende Lösung gedacht gewesen, die jetzt permanent geworden war.
Obwohl sie von Anfang an mit dem Gedanken gespielt hatte zu kündigen, spürte sie jetzt doch, wie sich alles in ihrem Bauch zusammenzog, wenn sie daran dachte, daß sie vielleicht eine von denen war, die gehen mußten. Sie ließ sich oft krankschreiben. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrem Job – weder mit den Kollegen noch mit den Aufgaben. Sie ließ gerne andere zuerst das Telefon abnehmen und die Kunden oft wieder gehen, anstatt sie festzunageln, um zu einem schnellen Abschluß zu kommen.
Sie war eigentlich eine miserable Verkäuferin, und das wußte sie auch. Manchmal riß sie sich zusammen, wenn sie eine höhere Provision brauchte und es nicht über sich brachte, am Monatsende Anna um Geld anzubetteln. Aber sie schaffte es nie, sich über einen längeren Zeitraum zu motivieren. Sie konnte, wenn sie wollte.
Aber sie wollte meistens nicht.
Irgendwie sehnte sie sich danach, daß jemand zu ihr sagte: »Dieser Job liegt dir nicht. Er hat dir noch nie gelegen und wird dir nie liegen. Es ist also am besten, du hörst gleich auf damit.«
Sie widerspräche nicht, wenn jemand das zu ihr sagte. Die Frage war, was sie statt dessen machen sollte.
Wenn sie doch nur eine Berufung hätte, einen Sinn in ihrem Leben gesehen hätte. Aber nichts trieb sie voran. Sie kam sich vor wie der kleine Japaner, der bei ihr seine Reisen buchte; er reiste nicht mehr, weil er neugierig war, sondern weil es das einzige war, was noch blieb, wenn alles andere ihn mit Leere füllte.
Es fing an zu regnen, als Marie auf der Centralbron war. Erst ein paar Tropfen, die ihr nichts ausmachten, aber kurz darauf folgte ein richtiger Wolkenbruch, und sie mußte das letzte Stück laufen.
Als sie zum Reisebüro kam, ging sie naß und tropfend in die Toilette und schloß sich ein. Der Brustkorb hob und senkte sich heftig nach dem Dauerlauf. Die blonden Haare klebten am Kopf, und nasse Strähnen hingen ihr über die Schultern, als ob ihr jemand einen Mop auf den Kopf gesetzt hätte. Die Wimperntusche löste sich auf und lief ihr über die Wangen.
»Du siehst aus wie eine Hure«, tönte es aus einem dunklen Korridor in ihrem Hinterkopf.
Sie senkte den Blick, ohne zu widersprechen, und wünschte, der Tag wäre schon vorbei.
Marie hatte ihre neue Chefin erst einmal getroffen. Das war vor ungefähr einem Jahr bei einem Katalogkurs. Sie hatte Helen Källberg als sehr elegante Frau in Erinnerung, sie hatte sie gerne angeschaut und ihr gerne zugehört, aber sie hatte sich auch davor gehütet, in ihre Nähe zu kommen.
Sie wußte, daß Helen ursprünglich aus Griechenland kam, obwohl sie einen schwedischen Nachnamen hatte und akzentfrei Schwedisch sprach. Aber das Wissen um Helens Vergangenheit machte Marie nervös.
Rosmarie kam aus der Personalküche und klapperte auf Stahlabsätzen zu Maries Platz.
»Helen möchte jetzt mit dir sprechen«, sagte sie, und es gelang ihr fast, ein gemeines Grinsen zu unterdrücken.
Helen stand an der Spüle und wusch die Kanne der Kaffeemaschine mit heißem Wasser aus und versuchte gleichzeitig, einen Schrank aufzumachen, zu dem sie nicht ganz hochreichte. Sie sah aus wie eine Seiltänzerin, die zwischen zwei entgegengesetzten Bewegungen balancierte, der Schwerpunkt lag ungefähr da, wo der pepitagemusterte Rock um Hüften und Oberschenkel spannte. Marie blieb in der Tür stehen und wartete darauf, daß Helen sich umdrehte.
Sie dachte, Helen suche vermutlich den Kaffee, der in einer Dose neben der Kaffeemaschine stand, weil sie eine Schranktür nach der anderen aufmachte.
Marie ging zur Kaffeemaschine und hob die Dose hoch.
»Hier.«
Helen zuckte zusammen und drehte sich um. Sie starrte Marie an wie ein Gespenst.
»Hast du mich erschreckt!«
»Entschuldige. Ich dachte, du hättest mich kommen gehört.«
»Schleichst du dich immer so an die Leute ran?«
Die dunkelbraunen Augen waren wieder ein wachsamer Scheinwerfer und kein offenes Fenster.
»Ich wollte dich überhaupt nicht erschrecken«, antwortete Marie und setzte sich an den Küchentisch.
Helen drehte sich um und beendete, was sie angefangen hatte.
»Das Gebräu, das in der Kanne war, ist viel zu schwach für meinen Geschmack. Ich hoffe, du hast ihn nicht gemacht. Wenn doch, mußt du mich entschuldigen.«
Marie verzog den Mund. Bestimmt hatte Rosmarie den Kaffee aufgesetzt.
»Ich bin dabei, mir ein Bild zu machen – nimmst du Zucker in den Kaffee? –, wer in der Region arbeitet«, sagte Helen und setzte sich, um gleich wieder aufzustehen.
»Nein, ich nehme Milch, aber ich kann sie selbst holen.«