Sieh doch die Harlekine! - Vladimir Nabokov - E-Book

Sieh doch die Harlekine! E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

DNabokovs vierzehnter Roman – der erste aus der Zeit nach «Lolita» – gibt sich als die kommentierte Ausgabe eines 999 Zeilen langen Gedichts mit dem Titel «Sieh doch die Harlekine!», verfasst von John Shade, einem bedächtigen neuenglischen Lyriker und Professor, der von einem Mörder erschossen wurde, ehe er die letzte, die tausendste Zeile zu Papier bringen konnte. Der Herausgeber ist sein Kollege, Nachbar und angeblicher Freund Charles Kinbote. Dessen Kommentar verfehlt jedoch Shades ernstes Poem, in dem es um den Selbstmord der schwierigen und hässlichen Tochter, um den Tod und die Wahrscheinlichkeit eines Lebens danach geht, auf eine so dreiste wie groteske Weise. Kinbote gibt sich nämlich als der exilierte König von Zembla zu erkennen, Carl der Vielgeliebte, der Shade nicht dazu bringen konnte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, und der es nun in Form von Anmerkungen zu «Sieh doch die Harlekine!» selber tut. Ihm galt, so meint er, auch die Kugel, die Shade tötete. Freilich ist zweifelhaft, ob es sich so verhält. Nabokov lockt den Leser auf Rätselgänge, Licht des fahlen Feuers flackert von Spiegel zu Spiegel, Echos erklingen: ein Virtuosenstück, «eine Amalgamierung von Ernst und Spiel, einer anrührenden menschlichen Geschichte mit dem kühlen Kalkül einer Problemschachaufgabe». Dieter E. Zimmer

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Seitenzahl: 405

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Vladimir Nabokov

Sieh doch die Harlekine!

Roman

Deutsch von Uwe Friesel und Dieter E. Zimmer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nabokovs vierzehnter Roman – der erste aus der Zeit nach «Lolita» – gibt sich als die kommentierte Ausgabe eines 999 Zeilen langen Gedichts mit dem Titel «Sieh doch die Harlekine!», verfasst von John Shade, einem bedächtigen neuenglischen Lyriker und Professor, der von einem Mörder erschossen wurde, ehe er die letzte, die tausendste Zeile zu Papier bringen konnte. Der Herausgeber ist sein Kollege, Nachbar und angeblicher Freund Charles Kinbote. Dessen Kommentar verfehlt jedoch Shades ernstes Poem, in dem es um den Selbstmord der schwierigen und hässlichen Tochter, um den Tod und die Wahrscheinlichkeit eines Lebens danach geht, auf eine so dreiste wie groteske Weise.

 

Kinbote gibt sich nämlich als der exilierte König von Zembla zu erkennen, Carl der Vielgeliebte, der Shade nicht dazu bringen konnte, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, und der es nun in Form von Anmerkungen zu «Sieh doch die Harlekine!» selber tut. Ihm galt, so meint er, auch die Kugel, die Shade tötete. Freilich ist zweifelhaft, ob es sich so verhält. Nabokov lockt den Leser auf Rätselgänge, Licht des fahlen Feuers flackert von Spiegel zu Spiegel, Echos erklingen: ein Virtuosenstück, «eine Amalgamierung von Ernst und Spiel, einer anrührenden menschlichen Geschichte mit dem kühlen Kalkül einer Problemschachaufgabe». Dieter E. Zimmer

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Inhaltsübersicht

WidmungWeitere Bücher des ErzählersErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. KapitelZweiter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelDritter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelVierter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelFünfter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelSechster Teil1. Kapitel2. KapitelSiebter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelAnhangNachwort des HerausgebersLiteraturhinweiseChronologie des RomansHinweis zu den Anmerkungen

Für Véra

I. Weitere Bücher des Erzählers

RUSSISCH

Tamara 1925

Bauer schlägt Dame 1927

Plenilunium 1929

Camera lucida (Der Schlächter im Licht) 1931

Der rote Zylinderhut 1934

Gabe an das Vaterland (Das Wagnis) 1950

ENGLISCH

Siehe unter Wahr 1939

Esmeralda und ihr Parandrus[1] 1941

Dr. Olga Repnin 1946

Verbannung aus Maida 1947

Ein Königreich am Meer 1962

Ardis 1970

Erster Teil

1

Der ersten meiner drei oder vier aufeinanderfolgenden Frauen begegnete ich unter etwas merkwürdigen Umständen, deren Fortgang einer unbeholfenen Verschwörung glich, voller sinnloser Details und mit einem Drahtzieher, der nicht nur nichts von ihren wahren Zielen ahnte, sondern auch noch darauf bestand, abwegige Züge zu machen, die auch die leiseste Chance eines Erfolgs auszuschließen schienen. Trotzdem knüpfte er aus ebendiesen Fehlern unwissentlich ein Netz, in das ich mich nach einer Serie reziproker Schnitzer meinerseits verwickelte und dadurch jenes Schicksal erfüllte, das der einzige Zweck des Komplotts war.

Irgendwann im Laufe des Ostertrimesters meines letzten Jahres in Cambridge (1922) wurde ich, «als Russe», zufällig wegen gewisser Nuancen der Maske in der englischen Version von Gogols Revisor konsultiert, den die Glühwurm-Truppe unter der Leitung von Ivor Black, einem trefflichen Amateurschauspieler, in Szene zu setzen gedachte. Wir beide hatten im Trinity College[1] denselben Tutor, und er machte mich wahnsinnig mit seiner langweiligen Nachahmung des gezierten Gehabes des alten Herrn – eine Darbietung, die er im Pitt[2] fast den ganzen Lunch über durchhielt. Der kurze geschäftliche Teil erwies sich als noch unerfreulicher. Ivor Black wollte, dass Gogols Bürgermeister einen Morgenrock trug, denn «war das Ganze nicht bloß der Albtraum des alten Schlawiners, und kam nicht Revisor eigentlich von dem französischen Wort für ‹Traum›, rêve?». Ich sagte, ich hielte das für einen grässlichen Einfall.

Falls es je zu Proben kam, so fanden sie ohne mich statt. Tatsächlich wird mir jetzt klar, dass ich gar nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sein Projekt je das Rampenlicht erblickte.

Kurz darauf traf ich Ivor Black ein zweites Mal – bei irgendeiner Party, in deren Verlauf er mich und fünf andere Männer einlud, den Sommer in einer Villa an der Côte d’Azur zu verbringen, die er gerade von einer alten Tante geerbt hatte, wie er sagte. Zu diesem Zeitpunkt war er schon sehr betrunken und schien äußerst überrascht, als ich ihn etwa eine Woche später, am Vorabend seiner Abreise, an seine überschwängliche Einladung erinnerte, die ich, wie sich erwies, als Einziger angenommen hatte. Wir seien beide ungeliebte Waisen und sollten deshalb zusammenhalten, bemerkte ich.

Krankheit hielt mich einen weiteren Monat in England fest, und erst Anfang Juli sandte ich Ivor Black eine höfliche Postkarte, auf der ich meine mögliche Ankunft in Cannes oder Nizza irgendwann in der kommenden Woche avisierte. Ich bin ziemlich sicher, dass ich als wahrscheinlichsten Termin den Samstagnachmittag erwähnte.

Versuche, vom Bahnhof aus zu telephonieren, schlugen fehl: Der Anschluss war unentwegt besetzt, und ich bin kein Mensch, der sich lange mit falschen räumlichen Abstraktionen herumschlägt. Aber mein Nachmittag war vergiftet, und der Nachmittag ist mir die liebste Tageszeit. Zu Beginn meiner langen Reise hatte ich mir eingeredet, es ginge mir einigermaßen gut; nun jedoch ging es mir miserabel. Der Tag war unzeitig flau und feucht. Palmen sind nur in Fata Morganen angebracht. Aus irgendeinem Grund gab es wie in einem bösen Traum kein Taxi. Schließlich bestieg ich einen kleinen, stinkenden Bus aus blauem Blech. Auf einer sich emporwindenden Straße mit ebenso vielen Kehren wie «Bedarfshaltestellen» erreichte das Vehikel mein Reiseziel in zwanzig Minuten – so lange hätte ich ungefähr auch gebraucht, um zu Fuß vom Strand hinaufzugelangen, über eine Abkürzung, die ich während jenes magischen Sommers noch auswendig lernen sollte, Stein für Stein, Ginster für Ginster. Der Sommer erschien mir bei dieser trüben Fahrt alles andere als magisch! Der Hauptgrund, weshalb ich eingewilligt hatte zu kommen, war die Hoffnung, in der ‹solaren Sole› (Bennett? Barbellion?) ein nervöses Leiden kurieren zu können, das an Wahnsinn grenzte. Meine linke Kopfseite war jetzt eine Kegelbahn des Schmerzes. Von der anderen Seite starrte mich ein albernes Baby an, über die Schulter seiner Mutter und die Rückenlehne meines Vordersitzes hinweg. Ich saß neben einer warzigen Frau in Pechschwarz und wappnete mich mit Übelkeit gegen das Getorkel zwischen grünem Meer und grauem Gemäuer. Bis wir es endlich zu dem Flecken Carnavaux geschafft hatten (gesprenkelte Platanenstämme, malerische Hütten, ein Postamt, eine Kirche), hatten sich all meine Sinne auf eine goldene Imago fokussiert: der Flasche Whisky, die ich Ivor in meinem Handkoffer mitbrachte und entschlossen war zu probieren, noch ehe er auch nur einen Blick darauf geworfen hatte. Der Fahrer ignorierte meine Frage, aber ein schildkrötenartiger kleiner Priester mit enormen Füßen, der vor mir ausstieg, wies, ohne mich anzublicken, auf eine quer laufende Allee. Bis zur Villa Iris, sagte er, seien es drei Minuten. Als ich mich anschickte, meine zwei Koffer jene Allee hinaufzutragen, einem plötzlichen Lichtdreieck entgegen, tauchte mein mutmaßlicher Gastgeber auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf. Ich erinnere mich – nach einem halben Jahrhundert! –, dass ich flüchtig darüber nachsann, ob ich die richtigen Kleidungsstücke eingepackt hatte. Er trug eine weite Kniehose und Wanderschuhe, doch unpassenderweise keine Strümpfe, und die drei Zentimeter zur Schau gestelltes Schienbein waren von einem schmerzhaften Rosa. Er war gerade auf dem Weg zur Post, oder tat so, als sei er’s, um ein Telegramm an mich aufzugeben, worin er mir vorschlug, meinen Besuch bis August aufzuschieben, weil dann ein Job, dem er zur Zeit in Cannice nachging, uns nicht mehr den Spaß zu verderben drohte. Außerdem hoffte er, dass Sebastian – wer immer das war – noch zur Weinlese oder zum Lavendelfest käme. Derart vor sich hin murmelnd, nahm er mir das kleinere Gepäckstück ab – das mit den Toilettensachen, der Hausapotheke und einem fast vollendeten Kranz von Sonetten (die dereinst an eine russische Emigrantenzeitschrift nach Paris geschickt werden sollten). Dann griff er sich auch noch meinen Handkoffer, den ich abgestellt hatte, um mir die Pfeife zu stopfen. Solcher Reichtum im Registrieren von Nebensächlichkeiten rührt meiner Vermutung nach daher, dass diese zufällig von dem Licht erfasst werden, das schon im voraus von einem großen Ereignis ausgeht. Ivor brach das Schweigen, indem er stirnrunzelnd hinzufügte, dass er entzückt sei, mich als Gast des Hauses willkommen heißen zu dürfen, dass er mich aber vor etwas warnen sollte, wovon er mir eigentlich schon in Cambridge hätte berichten müssen. Es könnte mir nach Ablauf von einer Woche oder so durch einen traurigen Umstand fürchterlich langweilig werden. Miss Grunt, seine ehemalige Gouvernante, eine herzlose, aber schlaue Person, wiederhole gern, dass seine kleine Schwester nie gegen die Regel «Kinder sollten nicht zu hören sein» verstoße, ja, dass sie diese Regel nicht einmal zu hören bekäme. Die traurige Wahrheit sei die, dass seine Schwester … aber vielleicht sollte er die Erklärung ihres Falles lieber verschieben, bis wir mitsamt dem Gepäck mehr oder minder einquartiert wären.

2

«Was für eine Kindheit hattest du denn, McNab?» (wie Ivor mich zu nennen beliebte, weil ich seiner Meinung nach jenem hageren, aber gutaussehenden jungen Schauspieler glich, der diesen Namen in den letzten Jahren seines Lebens oder zumindest seines Ruhmes annahm.)

Grässlich, unausstehlich. Es sollte ein natürliches, internatürliches Gesetz gegen solche inhumanen Eröffnungen geben. Wären nicht meine krankhaften Schrecken im Alter von neun oder zehn durch abstraktere, plattere Ängste (Probleme der Unendlichkeit, Ewigkeit, Identität und so fort) ersetzt worden, hätte ich schon den Verstand verloren, noch ehe ich meine Verse fand. Es ging nicht um dunkle Räume oder qualvolle einflüglige Engel oder lange Korridore oder Albtraumspiegel, deren Reflexionen in unordentlichen Pfützen auf den Fußboden überliefen – die Art Horrorschlafzimmer war es nicht, sondern einfach, und bei weitem schrecklicher, eine gewisse hinterhältige und unnachgiebige Verbindung mit anderen Seinszuständen, nicht eigentlich «vergangenen» oder «zukünftigen», sondern entschieden verbotenen, sterblich gesprochen. Erst etliche Jahrzehnte später sollte ich mehr, viel mehr über jene schmerzlichen Bande lernen, also «lasst uns nichts vorwegnehmen», wie der Verurteilte sprach, als er die schmutzige alte Augenbinde von sich wies.

Die Wonnen der Pubertät verschafften mir zeitweise Erleichterung. Mir blieb die grämliche Phase der Selbstinitiation erspart. Gesegnet sei meine erste süße Liebe, ein Kind in einem Obstgarten, forschende Spiele – und ihre gespreizten fünf Finger, von denen Perlen der Überraschung tropften. Ein Hauslehrer ließ mich an der Naiven in meines Großonkels Privattheater teilhaben. Einmal putzten mich zwei liederliche junge Damen mit einem Spitzenhemd und einer Loreleiperücke heraus und legten mich zwischen sich schlafen, als «schüchternes Cousinchen» wie in einem Heftchenroman, während ihre Ehemänner nach der Bärenjagd im Nebenzimmer schnarchten. Die weiträumigen Häuser verschiedenster Verwandter, bei denen ich in meiner frühen Jugend unter den fahlen Sommerhimmeln dieser oder jener Provinz des alten Russland dann und wann wohnte, boten mir ebenso viele willfährige Mägde und feine Flirts, wie ich sie zwei Jahrhunderte früher in Kleiderkammern und Lauben vorgefunden hätte. Mit einem Wort, wenn die Jahre meiner Kindheit ein Thema für jene Art gelehrter Doktorarbeit hätten abgeben können, auf die ein Pädopsychologe lebenslangen Ruhm gründet, so hätten andererseits meine Jugendjahre eine hübsche Anzahl erotischer Passagen liefern können – und lieferten sie ja auch tatsächlich, verstreut wie rottende Pflaumen und braune Birnen überall in den Büchern eines alternden Romanciers. Zweifellos beziehen die vorliegenden Erinnerungen einen Großteil ihres Wertes aus der Tatsache, dass sie einen catalogue raisonné[1] der Wurzeln und Ursprünge und amüsanten Geburtskanäle vieler Bilder in meinen russischen und vor allem meinen englischen Romanen darstellen.

Meine Eltern sah ich selten. Sie ließen sich scheiden und heirateten wieder und ließen sich von neuem mit einem derartigen Tempo scheiden, dass ich bei weniger Wachsamkeit meiner Schicksalshüter schließlich durchaus von einem Paar Fremdlingen schwedischer oder schottischer Herkunft hätte ersteigert werden können, mit traurigen Säcken unter hungrigen Augen. Eine außerordentliche Großtante, die Baronin Bredow, geborene Tolstoj, bot reichlichen Ersatz für engere Blutsbande. Als sieben- oder achtjähriges Kind, das längst die Geheimnisse eines ausgewachsenen Wahnsinnigen barg, kam ich sogar ihr (die gleichfalls weit von der Normalität entfernt war) ungebührlich launisch und träge vor; in Wirklichkeit habe ich natürlich auf die zügelloseste Art und Weise taggeträumt.

«Hör auf, Trübsal zu blasen!», rief sie dann. «Sieh doch die Harlekine!»[2]

«Was für Harlekine? Wo?»

«Na überall. Rings um dich herum. Bäume sind Harlekine, Wörter sind Harlekine. Situationen und Summen sind’s. Zähl zwei Sachen zusammen – Späße, Bilder –, und du hast einen Dreifachharlekin. Los doch! Spiel! Erfinde die Welt! Erfinde die Wirklichkeit!»

Das tat ich. Bei Gott, ich tat’s. Ich erfand meine Großtante zu Ehren meiner ersten Tagträume, und jetzt steigt sie langsam die Marmorstufen des Portals der Erinnerung herab, seitwärts, seitwärts, die arme lahme Lady, jeden Stufenrand mit dem Gummipfropf ihres schwarzen Spazierstocks ertastend.

(Wenn sie diese vier Wörter rief, kamen sie mit flinkem lispelndem Schwung hervor, fast wie eine Verszeile, die daktylisch mit ‹Siegespreis› anhebt – zärtliche, einschmeichelnde Introduktion jener ‹Harlekine›, die mit festlichem Nachdruck auftraten, das ‹Har› in einem Ausbruch beseelter Überzeugungskraft kräftig betont und mit einem fließenden Fallen zechinensilbriger Silben im Gefolge.)

Ich war achtzehn, als die Revolution der Bolschewiki zuschlug – ein starkes und unregelmäßiges Verb, zugegeben, das hier einzig des Erzählrhythmus wegen benutzt wird. Das erneute Auftreten meiner Kindheitsverwirrung hielt mich fast den ganzen nächsten Winter und Frühling im Kaiserlichen Sanatorium von Zarskoje fest. Im Juli 1918 fand ich mich als Rekonvaleszent im Schloss eines polnischen Grundbesitzers wieder, eines entfernten Verwandten, Mstislaw Czarniecki (1880–1919?). An einem Herbstabend zeigte mir die jugendliche Mätresse des armen Mstislaw einen Märchenpfad, der sich durch einen riesigen Wald wand, wo vom ersten Czarniecki unter Johann III. (Sobieski) der letzte Auerochse mit dem Speer erlegt worden war. Mit einem Ränzel auf dem Rücken folgte ich diesem Pfad, auch – warum es nicht eingestehen? – mit einem Zittern der Reue und der Furcht in meinem jungen Herzen. Tat ich recht, meinen Cousin in der schwärzesten Stunde von Russlands schwarzer Geschichte im Stich zu lassen? Wusste ich, wie man allein in fremden Ländern überlebt? War das Diplom, das ich nach der Examinierung durch eine Sonderkommission (Vorsitzender: Mstislaws Vater, ein ehrwürdiger und korrupter Mathematiker) in Empfang genommen hatte – ein Zeugnis über alle Fächer eines Idealgymnasiums, in das ich körperlich nie gegangen war –, ausreichend für Cambridge, ohne irgendeine höllische Aufnahmeprüfung? Ich stiefelte die ganze Nacht durch ein Mondlichtlabyrinth und vernahm in meiner Einbildung das Rascheln ausgestorbener Tiere. Schließlich illuminierte das Morgengrauen meine veraltete Karte. Ich dachte schon, ich hätte die Grenze überquert, da rief mich ein barhäuptiger Soldat der Roten Armee an, einer mit einem Mongolengesicht, der am Wegrand Preiselbeeren pflückte: «Und wohin», fragte er und langte sein Käppi von einem Baumstumpf, «rollst denn du [katischsja], Äpfelchen [jablotschko]?[3] Pokasywaj-ka dokumentiki [Zeig mal deine Papiere].»

Ich kramte in meinen Taschen, fischte heraus, was ich brauchte, und schoss ihn tot, als er sich auf mich stürzte; er fiel auf sein Gesicht, als hätte ihn auf dem Paradeplatz zu Füßen seines Königs ein Sonnenstich ereilt. Doch keiner der aufgereihten Baumstämme blickte zu ihm hin, und ich floh, während meine Hand noch immer Dagmaras reizenden kleinen Revolver umspannte. Erst eine halbe Stunde später, als ich endlich in einem anderen Teil des Waldes eine mehr oder minder konventionelle Republik erreicht hatte, erst da hörten meine Waden auf zu zittern.

Nach einer Phase des Umherbummelns in vergessenen deutschen und holländischen Städten fuhr ich hinüber nach England. Das ‹Rembrandt›, ein kleines Hotel in London, war meine nächste Adresse. Die zwei oder drei kleinen Diamanten, die ich in einem Beutel aus Sämischleder aufbewahrte, schmolzen rascher dahin als Hagelkörner. Am grauen Vorabend der Armut entdeckte der Autor, damals ein aus freien Stücken exilierter Jüngling (ich transkribiere aus einem alten Tagebuch), einen unverhofften Gönner in der Person des Grafen Starov, eines ernsten, altmodischen Freimaurers, der während einer stattlichen Spanne internationaler Beziehungen etliche große Botschaften geziert hatte und seit 1913 in London residierte.[4] Er sprach seine Muttersprache mit pedantischer Präzision, verachtete indes keineswegs die prallen Ausdrücke des Volksmunds. Er hatte absolut keinen Sinn für irgendeine Art von Humor. Sein Diener war ein junger Malteser (ich verabscheue Tee, wagte aber nicht, einen Schnaps zu bestellen). Es hieß, Nikifor Nikodimowitsch, um seinen zungenbrecherischen Vor- mitsamt dem Vatersnamen zu gebrauchen, sei über Jahre hinweg ein Bewunderer meiner schönen, bizarren Mutter gewesen, die ich hauptsächlich aus dem Phrasenrepertoire eines anonymen Memoirenwerkes kannte. Eine grande passion kann eine bequeme Maske sein, doch andererseits vermag einzig die hingebende Erinnerung eines Gentleman an sie zu erklären, warum er mir das Studium in England bezahlte und nach seinem Tode 1927 ein bescheidenes Subsidium hinterließ (der Coup der Bolschewiki hatte ihn genauso ruiniert wie unsere gesamte Familie). Ich muss allerdings zugeben, dass mich die plötzlichen lebhaften Blicke aus seinen sonst toten Augen verwirrten – Augen, die in einem breiten, breiigen, würdevollen Gesicht standen, einem Gesicht jenes Typs, der von russischen Autoren gemeinhin als «sorgfältig rasiert» (tstschatelno wybritoje) beschrieben wurde, zweifellos weil die Geister patriarchalischer Bärte in der vermuteten Phantasie von (heute längst verstorbenen) Lesern gebannt werden mussten. Ich versuchte nach Kräften, diese fragenden Schlaglichter auf die Suche nach irgendwelchen Charakterzügen der feinen Dame zurückzuführen, der er vor langer, langer Zeit in eine calèche geholfen hatte und zu der er, nachdem er abgewartet hatte, bis sie mit geöffnetem Sonnenschirm auf ihrem Platz saß, schwergewichtig in das federnde Vehikel gestiegen war; doch gleichzeitig musste ich mich fragen, ob mein alter Grande einer Perversion entronnen war, die sich in so genannten Kreisen der hohen Diplomatie weiter Verbreitung erfreute. Wie in einem voluminösen Roman saß N.N. in seinem Lehnstuhl, die eine fleischige Hand auf dem Armlehnengreif, die andere, siegelberingte auf einem türkischen Beistelltischchen beim Ertasten einer silbernen Schnupftabakdose – jedenfalls sah sie so aus, enthielt aber einen kleinen Vorrat perlenartiger Hustendrops, oder vielmehr Dröpschen in den Farben Lila, Grün und ich glaube Korallenrot. Ich sollte hinzufügen, dass gewisse mir später zugängliche Informationen mir zeigten, wie abscheulich schief ich lag, wenn ich bei ihm irgendetwas anderes mutmaßte als eine quasiväterliche Zuneigung zu mir wie auch zu einem anderen Jüngling, dem Sohn einer berüchtigten Petersburger Kurtisane, der einen elektrischen Zweisitzer einer calèche vorzog; doch genug von diesen essbaren Perlen.

3

Doch kehren wir nach Carnavaux zurück, zu meinem Gepäck, zu Ivor Black, der es mit groß zur Schau gestellter Anstrengung trug, während er Komödiensätze aus irgendeiner rudimentären Rolle murmelte.

Die Sonne hatte wieder alles unter Kontrolle, als wir in einen Garten eintraten, der von der Straße durch eine Mauer aus Naturstein und eine Zeile Zypressen geschieden war. Emblematische Iris umsäumte ein grünes Tümpelchen mit einem Bronzefrosch als Vorsitzendem. Unter einer lockigen Steineiche hervorkommend, verlief ein Kiesweg zwischen zwei Orangenbäumen. An einem Ende des Rasens warf ein Eukalyptusbaum seinen gerieften Schatten über das Leinen eines Liegestuhls. Dies ist nicht die Arroganz eines perfekten Gedächtnisses, sondern der Versuch einer zärtlichen Rekonstruktion, basierend auf alten Schnappschüssen in einer alten Bonbondose mit einer Lilie auf dem Deckel. Zwecklos, die drei Stufen zum Vordereingang zu erklimmen, «unter der Last von zwei Tonnen Steinen», sagte Ivor Black: Er hatte den Ersatzschlüssel vergessen, hatte keine Bediensteten, die am Samstagnachmittag auf Türklingeln reagierten, und konnte sich, so hatte er mich vorgewarnt, nicht auf normale Weise mit seiner Schwester verständigen, obgleich sie irgendwo im Hause stecken musste; höchstwahrscheinlich saß sie weinend in ihrem Schlafzimmer, wie gewöhnlich beim Eintreffen von Gästen, vor allem Wochenendgästen, die rund um die Uhr zugegen wären, bis in den späten Dienstag hinein. So gingen wir um das Haus herum, Feigendisteln streifend, die sich an dem Regenmantel über meinem Arm verfingen. Plötzlich hörte ich einen fürchterlichen subhumanen Laut und warf einen Blick auf Ivor, aber der Schuft grinste nur.

Es war ein großer indigoblauer Ara mit zitronengelber Brust und streifigen weißen Backen, der in Abständen von seiner kahlen Sitzstange aus dem Hintergrund der Veranda herüberkreischte. Ivor hatte ihn Mata Hari getauft, zum Teil wegen seines Akzents, doch in der Hauptsache wegen seiner politischen Vergangenheit. Seine verstorbene Tante, Lady Wimberg, war um neunzehnvierzehn, -fünfzehn herum, als sie schon ein wenig senil war, nett zu dem tragischen alten Vogel gewesen, von dem es hieß, er sei von einem finsteren Fremdling mit Narbengesicht und einem Monokel ausgesetzt worden. Er konnte «allô» sagen, «Otto» und «Pa-pa», ein bescheidenes Vokabular, das irgendwie an eine kleine, ängstliche Familie in einem heißen Land fern der Heimat denken ließ. Manchmal, wenn ich zu lange arbeite und die Spione des Denkens das Übermitteln von Nachrichten einstellen, fühlt sich ein falsches Wort in Bewegung etwa so an wie ein trockenes Biskuit in der großen, langsamen Kralle eines Papageien.

Ich kann mich nicht erinnern, Iris vor dem Abendessen zu Gesicht bekommen zu haben (oder vielleicht sah ich sie an einem farbigen Fenster auf der Treppe stehen, mit dem Rücken zu mir, als ich aus der salle d’eau und ihren Unschlüssigkeiten zurück in mein asketisches Gelass auf der anderen Seite des Treppenabsatzes schlüpfte). Ivor hatte mich ausführlich belehrt, dass sie taubstumm war und darüber hinaus so scheu, dass sie sich noch heute, mit einundzwanzig, nicht dazu vermochte, männliche Lippen zu lesen. Das klang verquer. Ich hatte immer gemeint, das fragliche Gebrechen hielte den Patienten in einer absolut sicheren Muschel von der Durchsichtigkeit und Stärke bruchsicheren Glases verschlossen, wo es weder Scham noch Schein geben konnte. Bruder und Schwester unterhielten sich in Zeichensprache und benutzten dabei ein Alphabet, das von ihnen in der Kindheit erfunden worden war und seither mehrere revidierte Fassungen durchlaufen hatte. Die gegenwärtige bestand aus lächerlich ausgefeilten Gestikulationen im Flachrelief einer Pantomime, die die Dinge nachahmte, anstatt sie zu symbolisieren. Ich mischte mich mit irgendeinem grotesken Beitrag meinerseits ein, aber Ivor bat mich streng, nicht den Narren zu spielen, sie sei leicht verletzbar. Das Ganze (mit einer verdrossenen Bediensteten, einer alten Frau aus Cannice, die am Rande der Szene Teller hinknallte) gehörte zu einem anderen Leben, einem anderen Buch, einer Welt vage inzestuöser Spiele, die ich noch nicht bewusst erfunden hatte.

Die beiden jungen Leute waren klein, aber wohlgestalt, und die Familienähnlichkeit konnte einem nicht entgehen, wenn auch Ivor mit seinem sandfarbenen Haar und den Sommersprossen recht unscheinbar aussah, wogegen sie eine sonnengebräunte Schönheit war mit schwarzem Schopf und Augen wie klarer Honig. Ich erinnere mich nicht an das Kleid, das sie bei unserer ersten Begegnung trug, doch ich weiß, dass ihre dünnen Arme unbedeckt waren und meine Sinne bei jeder Palmengrotte, jedem medusengeplagten Eiland peinigten, die sie in der Luft umschrieb, während ihr Bruder mir ihre Muster in idiotischen Apartes übersetzte. Nach dem Essen bekam ich meine Revanche. Ivor war hinausgegangen, um meinen Whisky zu holen. Iris und ich standen auf der Terrasse in frommem Halbdunkel. Ich steckte mir meine Pfeife an, während Iris heimlich mit der Hüfte die Balustrade berührte und mit Meerjungfraugesten, die Wellen ähneln sollten, auf den Schimmer von Strandlichtern in einem Einschnitt des tintenblauen Küstengebirges hinwies. In diesem Augenblick läutete das Telephon im Salon hinter uns, und sogleich wandte sie sich um, verwandelte aber ihren Laufschritt mit bewundernswerter Geistesgegenwart in einen unverfänglichen Schaltanz. Inzwischen war Ivor schon quer über das Parkett in Richtung Telephon geschlittert, um sich anzuhören, was Nina Lecerf[1] oder irgendeine andere Nachbarin wollte. In unserer Vertrautheit, später, riefen Iris und ich uns mit Vorliebe jene Enthüllungsszene ins Gedächtnis – wie Ivor Getränke herbeischleppte, um auf ihre märchenhafte Genesung anzustoßen, und sie, ohne sich durch seine Gegenwart stören zu lassen, ihre leichte Hand auf meine Knöchel legte: Ich aber umklammerte in übertriebener Verstimmung die Balustrade und war nicht rasch genug, armer Gimpel, ihre Entschuldigung mit einem kontinentalen Handkuss anzunehmen.

4

Ein vertrautes Symptom meines Leidens, nicht das gravierendste, jedoch dasjenige, das ich nach jedem Rückfall am schwersten wieder los wurde, gehört zum «Numerischen Nimbus»-Syndrom, wie es Moody, der Londoner Spezialist, als Erster genannt hat. Sein Bericht über meinen Fall ist kürzlich in seinen gesammelten Werken von neuem gedruckt erschienen. Er wimmelt von lächerlichen Ungenauigkeiten. Jener «Nimbus» bedeutet gar nichts. «Mr. N., ein russischer Adliger», zeigte keinerlei «Anzeichen von Degeneration». Er war nicht «32», sondern 22, als er jene törichte Berühmtheit konsultierte. Am schlimmsten: Moody wirft mich mit einem Mr. V.S.[1] in einen Topf, der weniger ein Postscriptum zur Kurzfassung meines «Nimbus» als vielmehr ein Eindringling ist, dessen Gefühlswelt das ganze gelehrte Traktat hindurch mit der meinen vermengt wird. Es stimmt, das besagte Symptom ist nicht leicht zu beschreiben, doch ich glaube, es wird mir besser gelingen als Professor Moody oder meinem vulgären und zungenfertigen Mitdulder.

Schlimmstenfalls lief es folgendermaßen ab: Etwa eine Stunde nach dem Einschlafen (gewöhnlich lange nach Mitternacht und mit der bescheidenen Unterstützung von ein wenig Old Mead oder Chartreuse) pflegte ich auf- (oder vielmehr hinein-)zuwachen in einen Zustand momentanen Irrsinns. Der scheußliche Schmerz im Gehirn wurde durch eine schwache Lichtspur in meiner Blickrichtung ausgelöst, denn egal, wie sorgfältig ich die wohlgemeinten Bemühungen des Dieners durch eigene Kämpfe mit Blenden und Blindheiten übertroffen haben mochte, stets blieb da irgendein verdammter Schlitz, irgendein Atom oder Schummer künstlicher Straßenbeleuchtung oder natürlichen Mondlichts, die unaussprechliche Gefahren signalisierten, sobald ich den Kopf keuchend über den Rand eines erstickenden Traums emporriss. Den verdammten Schlitz entlang wanderten in schrecklich bedeutungsvollen Abständen hellere Punkte. Jene Flecken korrespondierten womöglich mit meinem rasenden Herzschlag oder verbanden sich optisch mit dem Plinkern nasser Augenwimpern, aber das Rationale daran ist unwesentlich; das Schreckliche war, dass ich in hilfloser Panik erkennen musste: Das Ereignis, wenngleich mit Notwendigkeit eingetreten, war von mir, dumm genug, nicht vorhergesehen worden. Es war die Verkörperung eines schicksalhaften Problems, das unbedingt gelöst werden musste, wollte ich nicht zugrunde gehen, und das in der Tat jetzt hätte gelöst werden können, wenn ich es vorausbedacht hätte oder in diesem alles entscheidenden Augenblick weniger schläfrig und schwachköpfig gewesen wäre. Das Problem selbst war kalkulatorischer Natur: Bestimmte Relationen zwischen den Glitzerpunkten mussten gemessen oder, in meinem Fall, geschätzt werden, da meine Erstarrung mich davon abhielt, sie genau zu zählen oder gar mich zu erinnern, wie die sichere Zahl hätte lauten müssen. Jeder Irrtum zog unmittelbare Vergeltung nach sich – von einem Riesen geköpft zu werden oder Schlimmeres; die richtige Schätzung indes würde mir die Flucht in eine bezaubernde Gegend jenseits der Kluft eröffnen, durch die ich mich in diesem dornigen Rätsel hindurchwinden musste, eine Gegend, die in ihrer idyllischen Abstraktion jenen kleinen Landschaften ähnelte, wie man sie als eindringliche Vignetten – ein See, eine Serpentine – neben Initialen von sonderbarer, wilder Gestalt eingraviert findet, etwa einem Fraktur-S, mit dem ein Kapitel in alten Büchern für leicht zu ängstigende Kinder beginnt. Doch wie konnte ich in meiner Erstarrung und Panik wissen, dass dies die simple Lösung war, dass der See und die Sonne und das Strahlen der Sterne alle mit dem Initial des Seins begannen?

Natürlich gab es Nächte, in denen mein Verstand sofort zurückkehrte und ich die Vorhänge zurechtzupfte und auf der Stelle einschlief. Aber unter anderen, kritischeren Umständen, wenn ich noch weit vom Wohlsein entfernt war und den Nimbus jenes Adligen zu durchleiden hatte, bedurfte es oft mehrerer Stunden, bis ich den optischen Krampf überwunden hatte, den selbst das Tageslicht nicht auszulöschen vermochte. Meine erste Nacht an jedem neuen Ort ist mit Sicherheit scheußlich, und ein elender Tag folgt ihr. Ich wurde von Neuralgie zermartert, ich war sprunghaft und picklig und unrasiert, und ich weigerte mich, die Blacks zu einer Strandparty zu begleiten, zu der ich tatsächlich oder angeblich gleichfalls eingeladen war. In der Tat sind jene ersten Tage in der Villa Iris in meinem Tagebuch so schlimm entstellt und in meiner Erinnerung so verschwommen, dass ich nicht sicher bin, ob nicht Iris und Ivor vielleicht bis zur Mitte der Woche abwesend waren. Jedoch erinnere ich mich, dass sie die Freundlichkeit hatten, für mich einen Termin bei einem Arzt in Cannice zu vereinbaren. Dies erwies sich als glänzende Gelegenheit, die Inkompetenz meiner Londoner Leuchte mit der einer hiesigen zu vergleichen.

Die Verabredung galt einem Professor Junker, einer Doppelpersönlichkeit, bestehend aus Ehemann und -frau. Seit dreißig Jahren führten sie ihre Praxis im Team, und jeden Sonntag, an einer abgeschiedenen und daher ziemlich schmutzigen Stelle des Strandes, analysierten die beiden einander. Montags hielten ihre Patienten sie für besonders munter, doch ich war’s nicht, nachdem ich mich in ein oder zwei Kneipen fürchterlich hatte volllaufen lassen, ehe ich das heruntergekommene Viertel erreichte, wo die Junkers und andere Ärzte wohnten, wie ich mitbekommen zu haben glaubte. Der Vordereingang, zwischen den Blumen und Birnen eines Wochenmarktes gelegen, war in Ordnung, aber warten wir die Rückseite ab. Ich wurde vom weiblichen Partner empfangen, einer untersetzten alten Schachtel in Hosen, was 1922 ein köstliches Wagnis war. Dieses Thema wurde sogleich draußen vor dem Fenster des WC (wo ich eine absurde Phiole zu füllen hatte, deren Größe zwar dem Bedürfnis eines Arztes entsprach, nicht aber dem meinen) mit der Darbietung eines Windstoßes über einer Straße fortgeführt, die so eng war, dass drei Paar lange Unterhosen an einer Leine sie in ebenso vielen Schritten oder Sprüngen überqueren konnten. Hierzu wie auch zu einem bunten Glasfenster im Sprechzimmer, das eine malvenfarbene Dame ähnlich der auf dem Treppenabsatz der Villa Iris zeigte, machte ich dann ein paar Bemerkungen. Frau Junker fragte mich, ob ich Jungen oder Mädchen lieber hätte, und ich blickte mich um und sagte vorsichtig, dass ich nicht wüsste, was sie zu bieten habe. Sie lachte nicht. Die Konsultation war kein Erfolg. Ehe sie eine Kieferneuralgie diagnostizierte, legte sie mir nahe, einen Zahnarzt aufzusuchen, sobald ich nüchtern sei. Genau gegenüber, sagte sie. Ich weiß, sie rief ihn an, um meinen Besuch zu vereinbaren, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich noch am selben Nachmittag hinging oder erst am nächsten. Sein Name war Molnar[2], mit jenem ‹n› wie ein Körnchen in einem Zahnloch; ich benutzte ihn etwa vierzig Jahre später in Ein Königreich am Meer[3].

Ein Mädchen, das ich für die Assistentin des Zahnarztes hielt (wofür sie jedoch viel zu ferienhaft gekleidet war), saß mit übergeschlagenen Beinen im Flur und telephonierte; ohne sich im geringsten unterbrechen zu lassen, wies sie nur mit der Zigarette, die sie rauchte, auf eine Tür. Schon befand ich mich in einem banalen, schweigenden Zimmer. Die besten Plätze waren besetzt. Ein großes, konventionelles Ölgemälde über einem vollgestopften Bücherbord stellte einen alpinen Sturzbach dar, über dem ein entwurzelter Baum lag. Von dem Bord waren in einer früheren Sprechstunde bereits einige Zeitschriften zu einem ovalen Tisch hinübergewandert, der sein eigenes bescheidenes Arrangement von Gegenständen trug, wie eine leere Blumenvase und ein taschenuhrgroßes casse-tête[4]. Dieses war ein rundes Winzlingslabyrinth mit fünf silbrigen Erbsen im Innern, die durch geschickte Drehungen des Handgelenks ins Zentrum der Schnecke bugsiert werden mussten. Für wartende Kinder.

Es war kein einziges da. Ein Armstuhl in der Ecke enthielt einen dicken Burschen mit einem Strauß Nelken auf dem Schoß. Zwei ältliche Damen saßen auf einem braunen Sofa – einander fremd, wenn man den höflichen Abstand zwischen ihnen berücksichtigte. Meilen von ihnen entfernt saß auf einem Polsterstuhl ein kultiviert aussehender junger Mann, vielleicht ein Romancier, ein kleines Notizbuch in der Hand, in das er fortwährend die unterschiedlichsten Sachen eintrug – womöglich die Beschreibung dessen, was seine Augen zwischen den Notizen streiften –, die Decke, die Tapete, das Bild und den behaarten Nacken eines Mannes, der, die Hände hinter sich verschränkt, am Fenster stand und müßig, über flatterndes Unterzeug und das malvenfarbene WC-Fenster der Junkers, über Dächer und Vorberge hinweg, auf eine ferne Bergkette starrte, wo, dachte ich träge, immer noch jene verwitterte Föhre existieren mochte, die den gemalten Sturzbach überbrückte.

Da flog am Ende des Zimmers unter Gelächter eine Tür auf, und der Zahnarzt trat ein, rotgesichtig, beschlipst, in einem schlecht sitzenden, festlich grauen Anzug mit einer ziemlich kecken schwarzen Armbinde. Händedrücken, Gratulationen. Ich wollte ihn an unseren Termin erinnern, wurde aber von einer würdigen alten Dame, in der ich Frau Junker wiedererkannte, zurückgehalten, die erklärte, es sei ihr Fehler. Inzwischen zwängte Miranda, die Tochter des Hauses, die ich kurz zuvor gesehen hatte, die langen, bleichen Stängel der Nelken ihres Onkels in eine enge Vase auf dem nunmehr wie durch ein Wunder drapierten Tisch. Eine Soubrette stellte unter viel Applaus eine große Torte in Sonnenuntergangsrosa darauf, mit einer «50» aus kalligraphischer Creme. «Wie charmant und aufmerksam!», rief der Witwer. Tee wurde gereicht, und etliche Gruppen nahmen Platz, andere blieben stehen, Gläser in den Händen. Ich hörte, wie mich Iris mit warmem Wispern warnte, dass es gewürzter Apfelsaft sei, kein Alkohol, und so schrak ich mit erhobenen Händen vor dem Tablett zurück, das mir Mirandas Verlobter darbot, jener Mensch, den ich dabei erwischt hatte, wie er in einem Moment der Muße gewisse Details der Mitgift überprüfte. «Wir hatten dich gar nicht hier erwartet», sagte Iris und deckte damit den ganzen Schwindel auf, denn dies konnte unmöglich jene partie de plaisir[5] sein, zu der ich eingeladen worden war («Sie haben ein wunderschönes Anwesen auf einem Felsvorsprung»). Nein, ich glaube, viele der konfusen Eindrücke, die hier im Zusammenhang mit Doktoren und Dentisten aufgeführt sind, müssen als Traumerlebnis während einer trunkenen Siesta eingestuft werden. Dies ist handschriftlich belegt. Wenn ich meine frühesten Notizen in Taschennotizbüchern durchsehe, wo sich Telephonnummern und Namen mühsam ihren Weg durch Berichte von tatsächlichen oder mehr oder minder erfundenen Ereignissen bahnen, merke ich, dass Träume oder andere Verzerrungen der «Wirklichkeit» in einer besonderen linksgeneigten Handschrift aufgezeichnet sind – wenigstens in den früheren Eintragungen, ehe ich es aufgab, mich nach allgemein anerkannten Unterscheidungen zu richten. Eine Menge von meinen Sachen aus Prä-Cambridge-Tagen weist jene Handschrift auf (doch der Soldat brach wirklich auf dem Fluchtweg des Königs zusammen).

5

Ich weiß, man hat mich einen gravitätischen Sauertopf genannt, aber ich verabscheue nun einmal schlechte Späße und empfinde nichts als bohrende Langeweile («Nur humorlose Menschen gebrauchen so eine Redewendung», laut Ivor) bei einem Dauergeplätscher von witzigen Beleidigungen und vulgären Wortspielen («Ein harter Bohrer ist besser als ein weicher» – wieder Ivor). Jedoch, er war ein netter Kerl, und es war in Wahrheit nicht die Erholung von seinen Spötteleien, was es mir lieb machte, dass er werktags nicht da war. Er arbeitete in einem Reisebüro, das von dem ehemaligen homme d’affaires seiner Tante Betty betrieben wurde, auch er ein Exzentriker par excellence, der Ivor einen Bonus in Gestalt eines Ikarus Phaeton versprochen hatte, wenn er tüchtig sei.

Meine Gesundheit und Handschrift kehrten alsbald zur Normalität zurück, und ich fing an, den Süden zu genießen. Iris und ich faulenzten stundenlang (sie im schwarzen Badeanzug, ich in Flanellhose und Blazer) im Garten, den ich zunächst, vor der unausweichlichen Verführung zum Baden im Meer, dem Fleisch der plage vorzog. Ich übersetzte ihr etliche kurze Gedichte von Puschkin und Lermontow, und um der größeren Wirkung willen paraphrasierte und retuschierte ich sie. Ich erzählte ihr in dramatischen Details von der Flucht aus meinem Land. Ich erwähnte große Exilierte von einst. Sie hörte mir zu wie Desdemona.[1]

«Ich würde zu gern Russisch lernen», sagte sie mit der höflichen Versonnenheit, die ein solches Geständnis zu begleiten pflegt. «Meine Tante ist praktisch in Kiew geboren und hatte noch mit fünfundsiebzig ein paar russische und rumänische Wörter im Kopf, aber ich bin eine erbärmliche Linguistin. Wie heißt ‹Eukalyptus› in Ihrer Sprache?»

«Ewkalipt.»

«Oh, das wäre ein hübscher Name für einen Mann in einer Kurzgeschichte. ‹F. Clipton›. Bei Wells gibt es einen ‹Mr. Snooks›, der sich von ‹Seven Oaks› herleitet[2]. Ich mag Wells, Sie auch?»

Ich sagte, er sei der größte Romancier und Magier unserer Tage, aber sein soziologisches Zeugs könne ich nicht verknusen.

Konnte sie auch nicht. Und ob ich mich an Stephens Worte in Die große Leidenschaft erinnerte, als er das Zimmer verließ – das neutrale Zimmer –, wo er seine Geliebte zum allerletzten Mal sehen durfte?

«Kann ich, kann ich. Die Möbel dort waren mit Schonbezügen versehen, und er sagte: ‹Es ist wegen der Fliegen.›»[3]

«Ja! Ist das nicht wunderbar? Einfach mit irgendetwas herauszuplatzen, bloß um nicht weinen zu müssen? Man denkt gleich an die Hausfliege, die ein alter Meister seinem Modell auf die Hand malte, wenn er andeuten wollte, dass der Betreffende inzwischen gestorben war.»

Ich sagte, dass ich die wortwörtliche Bedeutung einer Beschreibung immer der symbolischen, die dahinter steckte, vorzöge. Sie nickte gedankenverloren, schien aber nicht überzeugt.

Und wer war unser Lieblingsdichter unter den Modernen? Wie wär’s mit Housman?

Ich hatte ihn oft aus der Ferne gesehen, einmal sogar in voller Größe. In der Trinity-Bibliothek. Er stand, ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, sah aber an die Decke, als versuche er, sich etwas ins Gedächtnis zurückzurufen – vielleicht wie ein anderer Autor jene Zeile übersetzt hatte.

Sie sagte, das hätte sie «schrecklich aufgeregt». Sie äußerte dies, indem sie ihr ernstes kleines Gesicht emporwarf und es schüttelte, das Gesicht mit seinen glatten Ponysträhnen, aufs heftigste.

«Sie sollten jetzt aufgeregt sein! Schließlich bin ich hier, dies ist der Sommer des Jahres 1922, dies ist das Haus Ihres Bruders …»

«Ist es nicht», sagte sie, dem Problem ausweichend (und beim Abdrehen ihres Satzes spürte ich eine plötzliche Überschneidung im Gewebe der Zeit, als sei dies schon früher passiert oder werde von neuem passieren), «es ist mein Haus, Tante Betty hat es mir hinterlassen, mitsamt einem bisschen Geld, aber Ivor ist zu dumm oder zu stolz, mich seine fürchterlichen Schulden bezahlen zu lassen.»

Der Schatten meiner Zurechtweisung war mehr als ein Schatten. Denn selbst damals schon, in meinen frühen Zwanzigern, glaubte ich wirklich und wahrhaftig, dass ich um die Mitte des Jahrhunderts ein berühmter und freier Autor sein würde, der in einem freien, weltweit respektierten Russland, etwa am Englischen Kai der Newa oder auf einem meiner prächtigen Güter lebte und dort Prosa und Poesie in der grenzenlosen plastischen Sprache meiner Vorfahren schrieb: Zu ihnen durfte ich eine von Tolstojs Großtanten und zwei von Puschkins Zechkumpanen rechnen. Das Vorgefühl des Ruhms war so schwer wie die alten Weine der Nostalgie. Es war Erinnerung in der Umkehr, eine riesige Eiche am Seeufer, so malerisch in solch klaren Wassern gespiegelt, dass ihre reflektierten Zweige wie verklärte Wurzeln wirkten. Ich spürte diesen künftigen Ruhm in den Zehen, in den Fingerspitzen, im Haar meines Kopfes, wie man den Schauder spürt, der von einem Gewitter, von der sterbenden Schönheit der dunklen Stimme eines Sängers kurz vor dem Donner ausgeht oder auch von einer Zeile in König Lear. Warum trüben Tränen meine Brille, wenn ich jene Ruhmesphantasie heraufbeschwöre, wie sie mich damals versuchte und quälte, vor fünf Jahrzehnten? Ihr Bild war unschuldig, ihr Bild war echt, der Unterschied zu dem, was dann tatsächlich sein sollte, bricht mir das Herz wie Abschiedsschmerz.

Kein Ehrgeiz, keine Ehrungen trübten die phantastische Zukunft. Der Präsident der Russischen Akademie trat unter den Klängen getragener Musik auf mich zu mit einem Kranz auf dem Kissen, das er vor sich her trug – und musste sich brummelnd zurückziehen, da ich mein ergrauendes Haupt schüttelte. Ich sah mich die Druckfahnen eines neuen Romans korrigieren, der dem russischen literarischen Stil eine neue Richtung geben sollte, meine Richtung (ohne Eigenliebe, ohne Selbstzufriedenheit, ohne Überrumpelung meinerseits), sah mich so viel davon auf dem Rand – dort, wo die Inspiration ihre süßesten Weidegründe findet – neu ausarbeiten, dass das Ganze noch einmal gesetzt werden musste. Wenn endlich das Buch mit Verspätung erschiene, während ich mählich alterte, würde ich mir einen Spaß daraus machen, ein paar speichelleckerische Freunde im Hain meines Lieblingsbesitzes zu empfangen, in Marewo[4] mit seiner Springbrunnenallee und seinem schimmernden Blick auf ein jungfräuliches Stück Wolga-Steppe (wo ich zuerst die «Harlekine gesehen» hatte). So musste es kommen.

Von meinem kalten Bett in Cambridge aus überblickte ich eine ganze Epoche neuer russischer Literatur. Ich freute mich auf die erfrischende Gegenwart feindlicher, aber höflicher Kritiker, die mich in den St. Petersburger Literaturzeitschriften wegen meines pathologischen Desinteresses an Politik, an bedeutenden Ideen in unbedeutenden Köpfen und an so schwerwiegenden Problemen wie der Übervölkerung in Ballungszentren schmähen würden. Nicht weniger amüsant war es, sich das unausweichliche Pack von Gaunern und Hohlköpfen vorzustellen, die den lächelnden Marmor beschimpften und krank vor Neid, verrückt gemacht vom eigenen Mittelmaß, in trippelnden Horden in ihr Lemmingsverderben stürzten, sogleich jedoch von der anderen Seite der Bühne zurückgerannt kamen, weil sie nicht nur die Pointe meines Buches, sondern auch ihr eigenes Nager-Gadara[5] verpasst hatten.

Die Gedichte, die ich zu schreiben begann, nachdem ich Iris begegnet war, sollten sich eigentlich mit ihren wirklichen, einzigartigen Zügen befassen – mit der Art, wie ihre Stirn Falten warf, wenn sie die Brauen hochzog und darauf wartete, dass ich ihren Witz kapierte, oder mit der Art, wie sie einen völlig anderen Satz weicher Fältelungen hervorbrachte, wenn sie die Stirn runzelte über dem Tauchnitz-Band, worin sie nach der Passage fahndete, die sie mit mir teilen wollte. Doch mein Instrument war noch zu stumpf und unreif; es konnte dem göttlichen Detail keinen Ausdruck geben, und ihre Augen, ihr Haar fanden sich in meinen sonst wohlgeformten Strophen hoffnungslos verallgemeinert wieder.

Nicht eines jener beschreibenden und – seien wir offen – banalen Gedichte war gut genug (vor allem nicht in nackter Anglisierung ohne Reim oder Verrat), um Iris präsentiert zu werden; und darüber hinaus hielt eine fremde Scheu – die ich nie zuvor empfunden hatte, wenn ich bei den forschen Präliminarien meiner fleischlichen Jugend einem Mädchen den Hof machte – mich davon ab, Iris eine Aufstellung ihrer Reize zu unterbreiten. In der Nacht zum 20. Juli schrieb ich indes ein etwas verdeckteres, etwas metaphysischeres kleines Gedicht, das ich ihr beim Frühstück zu zeigen beschloss – in einer wörtlichen Übersetzung, die mich mehr Zeit kostete als das Original. Der Titel, unter dem es in einer Emigrantenzeitung in Paris erschien (am 8. Oktober 1922, nach zahlreichen Nachfragen und einer Bitte-zurück-Forderung meinerseits), lautete und lautet in den verschiedenen Anthologien und Sammlungen, die es im Laufe der nächsten fünfzig Jahre nachdrucken sollten, Wljubljonnost (Verliebt sein), was in einer einzigen goldenen Nussschale zusammenfasst, wozu das Englische drei und das Deutsche zwei ganze Wörter nötig hat.

My sabywájem schto wljubljónnost

Ne prósto poworót lizá,

A pod kupáwami besdónnost,

Notschnája pánika plowzá.

 

Pokúda snítsja, snís, wljubljónnost,

No probushdénijem nje mútsch,

I lútschsche nedogoworjónnost

Tschem éta stschél i étot lútsch.

 

Napomináju schto wljubljónnost

Ne jáw, schto métiny ne té,

Schto móshet-byt potustorónnost

Priotworílas w temnoté.

«Entzückend», sagte Iris. «Klingt wie eine Beschwörung. Was bedeutet es?»

«Ich hab’s hier auf der Rückseite. Es geht so. Wir vergessen – oder vielmehr neigen dazu, zu vergessen – dass Verliebtsein (wljubljonnost) nicht von einer Kopfwendung der Geliebten abhängt, sondern ein bodenloser Fleck unter den Teichrosen ist, des Schwimmers Panik in der Nacht (hier ist der jambische Tetrameter zufällig wiedergegeben – letzte Zeile der ersten Strophe, notschnája pánika plowzá). Nächste Stanze: Während das Träumen vorankommt – im Sinne von ‹während die Dinge vorankommen› – erschein uns doch weiter in unseren Träumen, wljubljonnost, aber quäl uns nicht, indem du uns aufweckst oder zu viel erzählst: Verschwiegenheit ist besser als dieser Spalt oder jener Strahl Mondlicht. Nun kommt die letzte Strophe dieses philosophischen Liebesgedichts.»

«Dieses was?»

«Philosophischen Liebesgedichts. Napomináju, ich rufe Ihnen in Erinnerung, dass wljubljónnost keine hellwache Wirklichkeit ist, dass die Muster nicht dieselben sind (eine mondgestreifte Zimmerdecke, polossatyj ot luny potolok, ist zum Beispiel nicht dieselbe Art Realität wie eine Zimmerdecke bei Tage) und dass womöglich das Jenseits im Dunkel einen Spaltbreit offen steht. Voilà.»

«Ihr Mädchen», meinte Iris, «muss es in Ihrer Gesellschaft sehr gut haben. Ah, hier kommt unser Ernährer. Bonjour, Ives. Der Toast ist alle, fürchte ich. Wir dachten, du wärst schon seit Stunden fort.»

Sie legte einen Moment lang ihre Handfläche an die Wange der Teekanne. Und es ging in Ardis ein, dies alles ging in Ardis ein, meine arme tote Liebe.

6

Nach fünfzig Sommern (oder zehntausend Stunden) Sonnenbaden in verschiedensten Ländern, auf Stränden, Bänken, Dächern, Felsen, Simsen, Rasen, Bohlen und Balkonen hätte ich vielleicht unfähig sein können, mein Noviziat in sinnlicher Detailliertheit wieder wachzurufen, hätte es nicht jene alten Notizen von mir gegeben, die einem pedantischen Memoirenschreiber, wenn er über seine Krankheiten, Ehen und literarischen Taten berichtet, solch ein Trost sind. Enorme Mengen von Shaker’s Cold Cream wurden mir von der knienden, girrenden Iris in den Rücken gerieben, während ich ausgestreckt auf einem Frotteetuch in der Glut der plage lag. Unter meinen geschlossenen Augenlidern, die ich auf den Unterarm gepresst hielt, schwammen purpurne photomatische Umrisse: «Durch die Prosa der Sonnenpusteln drang die Poesie ihrer Berührung …», so in meinem Taschentagebuch, doch kann ich meine jugendliche Preziosität ein wenig verbessern. Durch das Jucken meiner Haut hindurch, und in der Tat von diesem Jucken bis zu einem exquisiten Grad ziemlich lächerlichen Genusses gewürzt, glich das Gleiten ihrer Hand auf meinen Schulterblättern und entlang meiner Wirbelsäule zu sehr einer absichtlichen Liebkosung, um keine absichtliche Mimikry zu sein, und ich konnte eine versteckte Reaktion auf jene gelenkigen Finger nicht unterdrücken, als sie mit einem letzten unbegründeten Flattern bis ganz zu meinem Steißbein hinabfuhren, bevor sie erstarben.

«Das war’s», sagte Iris mit genau der gleichen Betonung wie, am Ende einer spezielleren Behandlung, Violet McD., eine erfahrene und mitleidige Jungfrau, eines meiner Liebchen in Cambridge.

Sie, Iris, hatte zahlreiche Liebhaber gehabt, und als ich die Augen öffnete und mich zu ihr hindrehte und sie sah, und die tanzenden Diamanten im blaugrünen Innern einer jeden herannahenden und brechenden Woge, und die nassen Kiesel auf dem glatten Vorstrand, wo toter Schaum auf lebendigen wartete – und, oh, da kommt er, der Wellenkamm, kommt wieder dahergetrottet wie eine Zeile weißer Zirkusponys –, da verstand ich, während ich sie vor jenem Hintergrund wahrnahm, wie viel Schmeichelei, wie viele Liebhaber geholfen hatten, meine Iris zu formen und zu vervollkommnen, mit ihrem makellosen Teint, jenem Mangel an irgendeiner Ungewissheit im Profil ihres hohen Wangenknochens, der Eleganz der Höhlung darunter, dem accroche-cœur[1] einer schicken kleinen Schäkerin.

«Übrigens», sagte Iris, indem sie aus der knienden in eine halbaufgerichtete Position wechselte, die Beine unter sich verschränkt, «übrigens habe ich mich noch nicht für meine grässliche Bemerkung über das Gedicht entschuldigt. Ich habe jetzt Ihre «Valley Blondies» (wljubljonnost) wohl noch hundertmal gelesen, beide Fassungen, die englische Fassung wegen des Stoffs und die russische wegen der Musik. Ich finde, es ist ein absolut göttliches Stück Literatur. Vergeben Sie mir?»

Ich spitzte die Lippen, um das braune, irisierende Knie in meiner Nähe zu küssen, aber ihre Hand umfasste meine Stirn, als wollte sie bei einem Kind Fieber messen, und stoppte die Annäherung.

«Wir werden beobachtet», sagte sie, «von diversen Augen, die scheinbar überall hinschweifen, nur nicht in unsere Richtung. Die beiden netten englischen Lehrerinnen zu meiner Rechten – sagen wir zwanzig Schritt weg – haben mir bereits erzählt, dass Ihre Ähnlichkeit mit dem nackthalsigen Photo von Rupert Brooke[2]a-huri-sang[3] sei – sie können ein bisschen Französisch. Sollten Sie je wieder versuchen, mich oder mein Bein zu küssen, werde ich Sie bitten zu gehen. Ich habe im Leben schon genug erlitten.»

Eine Pause. Das Irisieren ging von pulverisiertem Quarz aus. Wenn ein Mädchen anfängt, wie ein Groschenroman zu tönen, braucht man nur etwas Geduld.

Hatte ich das Gedicht jener Emigrantenzeitung geschickt? Noch nicht; zuerst musste mein Sonettenkranz eingesandt werden. Die beiden Leute zu meiner Linken (meine Stimme senkend) waren Mitexpatriierte, gewissen kleinen Indizien nach zu urteilen. «Stimmt», sagte Iris, «sie standen praktisch in Habtachtstellung, als Sie diese Sache von Puschkin zitierten, über die Wellen, die sich ihr anbetend zu Füßen legen[4]. Was gibt es sonst noch für Anzeichen?»

«Er strich sich dauernd ganz langsam von oben nach unten den Bart, während er den Horizont betrachtete, und sie rauchte eine Zigarette mit einem Pappmundstück.»

Es lief auch noch ein Mädchen von zehn oder so mit einem großen gelben Strandball herum, den es in seinen nackten Armen wiegte. Sie schien nichts weiter zu tragen als eine Art gefälteltes Zaumzeug und einen sehr kurzen Plisseerock, der ihre strammen Schenkel enthüllte. Sie war, was in einem späteren Zeitalter[5] von Amateuren eine «Nymphette» genannt werden sollte. Als sie meinen Blick auffing, schenkte sie mir, unter ihrem nussbraunen Pony hervor, über unseren durchsonnten Globus hinweg, ein süßes, lüsternes Lächeln.

«Mit elf oder zwölf», sagte Iris, «war ich genauso hübsch wie dieses französische Waisenkind. Das ist ihre Großmutter, die dort ganz in Schwarz auf dem ausgebreiteten Cannice-Matin[6]