Sieh in mein Herz - Caitlin Daray - E-Book

Sieh in mein Herz E-Book

Caitlin Daray

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Beschreibung

Brayan führt ein geruhsames Leben in der Stadt, hat einen tollen Job in einem Café und verbringt seine freien Tage gerne bei seiner Familie auf dem Land. Als er durch seine Schwester von einer Prophezeiung erfährt, ist es jedoch vorbei mit Ruhe und Frieden, denn plötzlich machen Werwölfe Jagd auf ihn. Unerwartete Hilfe bei seiner Flucht erhält er von seinem Jugendfreund Tyron. Aber Tyron ist ebenfalls ein Werwolf und Brayan weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist. Denn ihn verbindet mehr mit Tyron als bloße Freundschaft und schon bald sieht sein Herz mehr als sein Verstand...

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Seitenzahl: 477

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Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2017

© 2017 by Caitlin Daray

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

ISBN-13: 978-3-95823-632-5

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Ihr Cursed-Team

Klappentext:

Brayan führt ein geruhsames Leben in der Stadt, hat einen tollen Job in einem Café und verbringt seine freien Tage gerne bei seiner Familie auf dem Land. Als er durch seine Schwester von einer Prophezeiung erfährt, ist es jedoch vorbei mit Ruhe und Frieden, denn plötzlich machen Werwölfe Jagd auf ihn. Unerwartete Hilfe bei seiner Flucht erhält er von seinem Jugendfreund Tyron. Aber Tyron ist ebenfalls ein Werwolf und Brayan weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist. Denn ihn verbindet mehr mit Tyron als bloße Freundschaft und schon bald sieht sein Herz mehr, als sein Verstand...

Für meinen Papa.

Der jeden neuen Blödsinn immer

tatkräftig unterstützt hat.

Eins

Unter dem Mantel der Trauerweide

Eine warme Sommerbrise wehte über das Weizenfeld und brachte die goldenen Halme dazu, in rhythmischen, wellenartigen Bewegungen zu tanzen. Der wunderbare Duft nach Blumen, würziger Erde und frisch gemähtem Gras stieg mir in die Nase.

Ich blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und ließ mich von diesem wundervollen Moment davontragen. Ein Augenblick der Vollkommenheit und des Friedens. Eine wohlige Gänsehaut jagte über meine Arme und schenkte mir den Augenblick der Vollkommenheit und des Friedens. Es gab nur mich, den strahlend blauen Himmel und das riesige Meer aus Weizenhalmen, das mich fast verschluckte. Es war bereits so hoch gewachsen, dass es mir bis zur Hüfte reichte.

Ohne die Augen zu öffnen, setzte ich mich wieder in Bewegung, konzentrierte meine Sinne auf mein Umfeld. Mit den Fingerspitzen berührte ich die Halme, die mir Platz machten und sich zu beiden Seiten bogen, um mich durchzulassen. Das pulsierende Leben drang durch meine Haut wie Millionen winziger elektrischer Schläge, die sich dem Rhythmus meines Herzens anpassten.

Vorsichtig schickte ich auf dieselbe Weise meine Energie zurück, stupste die Impulse an und zeigte ihnen, dass ich ihre Existenz bewusst wahrnahm.

Die Energie des gesamten Feldes fokussierte sich auf mich, begann auf mich einzuströmen und wurde größer, stärker. Es flüsterte meinen Namen.

»Brayan.«

»Ich bin hier, ich höre euch«, antwortete ich, ohne den Mund zu bewegen, und konnte nicht anders, als breit zu lächeln. Jeder Weizenhalm wollte mir Geschichten erzählen, alle auf einmal, so aufgeregt waren sie.

Jeden Tag im Sommer ging ich in das Feld und versuchte wirklich, jedem von ihnen zuzuhören. Ihre Lebenszeit war begrenzt, sie sehnten sich nach einem Zuhörer. Natürlich konnte ich nicht jedem Einzelnen folgen, sie sprachen jedes Mal wild durcheinander. So sehr ich mich auch bemühte, irgendwann bemerkte ich, dass es gar nicht wichtig war, jeder einzelnen Geschichte zu lauschen. Also ließ ich sie reden. Manchmal schlief ich sogar ein, denn es kostete mich eine Menge Kraft. Zu dem Zeitpunkt war ich erst elf Jahre alt.

Meine Eltern hatten nichts dagegen, wenn ich mich herumtrieb, solange ich mich in der Sichtweite des Hauses aufhielt. »Lauf weg!«

»Brayan!«

Ich stoppte mitten in der Bewegung und öffnete die Augen. Schwalben schossen kreischend über mich hinweg. Von hier oben konnte ich unser kleines, weißes Farmhaus erkennen, einen Katzensprung davon entfernt stand die Scheune. Meine Mutter sammelte gerade die Wäsche ein, aber sie machte keine Anstalten, nach mir zu rufen.

»Brayan!«

Die Weizenhalme peitschten nach mir. »Brayan, lauf!«

»Was ist los?«, fragte ich verwirrt.

Ein seltsamer Stich und ein Ziehen durchfuhren meine Glieder und meinen Bauch und ließen mich zusammenzucken. Es war anders als das Gefühl, das mich mit der Natur verband. Das hier fühlte sich viel intensiver und schmerzhafter an. Es zog und ziepte in meinem Bauch, als hätte ich etwas Schlechtes gegessen, doch ich dachte nicht daran wegzulaufen. Noch nie hatte ich etwas Derartiges empfunden und ich wollte diesem Gefühl auf den Grund gehen.

»Nein! Geh zurück! Geh zum Haus!«

Ohne ihre Warnung zu beachten, bewegte ich mich in meiner kindlichen Neugier weiter. Meine Füße trugen mich auf die andere Seite des Hügels, dorthin, wo die mächtige Trauerweide neben dem See aufragte. Unser Grundstück endete genau hier, hinter dem Hügel. Einen Zaun gab es nicht, hier und da steckten verwitterte Holzpfähle als Markierungen im Boden, die ich eigentlich nicht überschreiten durfte. Dort angekommen, erstreckte sich vor mir eine endlose grüne Landschaft, bewachsen mit hohen Gräsern, Sträuchern und unzähligen Bäumen. Kein Mensch weit und breit. Wir hatten keine Nachbarn, lebten in absoluter Isolation.

Die Äste der Trauerweide berührten beinahe den Boden, während andere mit den Spitzen in den See tauchten. Die Weide spendete im Sommer viel Schatten, aber ich traute mich nicht mehr an sie heran. Sie war alt und mürrisch, schlug nach mir, wenn ich in ihre Nähe kam, und schimpfte mich eine Baumratte, weil ich einmal auf sie drauf geklettert war. Da mochte ich die Linden, die in unserem Garten standen, viel lieber. Sie waren zwar auch alt, aber freundlicher.

Hier war doch gar nichts? Warum sollte ich wegrennen? Ich zuckte mit den Schultern und wollte mich gerade abwenden, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Verwirrt drehte ich mich in die Richtung und starrte gebannt auf jenen Punkt, an dem ich etwas gesehen hatte. Erst geschah nichts, aber dann drückte es die Weizenhalme auseinander. Die Schreie der Pflanzen wurden lauter, aber ich stand wie angewurzelt da und konnte meinen Blick nicht lösen. Das starke Ziehen in meinem Bauch wurde schlimmer, es jagte durch meine Fingerspitzen, nagte an meinen Haarwurzeln und machte mich bewegungsunfähig. Egal was es war, was da langsam auf mich zukam, es blockierte den Weg zwischen mir und unserem Haus.

Erst als ich ein Knurren hörte, schaffte ich es, einen Schritt rückwärts zu gehen. Ich spürte etwas Dunkles. Die Energie der Pflanzen schmeckte nach Sonnenlicht und Luft, aber das hier... das fühlte sich dunkel und gemein an.

Große, braun-schwarze Ohren richteten sich im Feld auf und zuckten in meine Richtung. Ich fing an zu zittern, gleichzeitig wurde mir richtig übel. Was war das? Ein Bär? Ein Monster?

Ein riesiger Kopf folgte, mit großen, goldenen Augen, die starr auf mich gerichtet waren. Hatte es sich gerade noch geduckt, so richtete es sich jetzt zu seiner vollen Größe auf. Kein Wunder, dass ich ihn nicht sofort gesehen hatte. Die Farbe des Fells versank im Feld. Es war ein eigenartiges Spiel aus Brauntönen, die mit schwarzen Schatten ineinanderliefen.

Der Schock schnürte mir die Kehle zu, ich wollte schreien, konnte aber nicht... also wirbelte ich herum und rannte den Hügel runter. Schnell, immer schneller, bis ich schmerzhaft umknickte. Ich stieß einen Schrei aus, fing mich mit meinen Händen ab, als ich nach vorne stürzte, und humpelte trotz Schmerzen weiter.

Heißer Atem streifte meinen Nacken, ich konnte ihn spüren, konnte ihn hören. Und ich wusste, gleich hatte er mich!

Mein Fuß tat weh, aber ich humpelte um mein Leben und eilte zu der alten Weide. Sofort richteten sich ihre Energieströme auf mich, ihre Äste bewegten sich in meine Richtung.

»Verschwinde!«, fuhr sie mich an.

»Bitte, bitte hilf mir!« Ich wich ihren Ästen aus und stolperte über ihre Wurzeln, robbte zu ihrem Stamm und klammerte mich an ihr fest.

Eben noch hatte sie nach mir geschlagen, wurde aber plötzlich still. Ihre Äste regten sich nicht mehr und ihr Zorn verblasste, als sie mich allein ließ.

»Nein, bitte! Bitte hilf mir!«

Was auch immer mich verfolgte, es kam näher. Das Gras pulsierte unter mir, kleine, aufeinanderfolgende Vibrationen rasten durch das Wasser und ließen es schwach erzittern. Ich brach so sehr in Panik aus, dass ich selbst das Wasser in Bewegung setzte, aber dann hielt das Leben um mich herum den Atem an. Eine schwarze Schnauze schob die langen Äste auseinander, reckte die Nase in die Luft und schnupperte, bevor der mächtige Wolfskopf auftauchte. Goldene Augen fixierten mich.

Meine Nackenhaare stellten sich auf, Tränen stiegen mir in die Augen. Ob es mir meine Mutter übel nehmen würde, wenn ich mir in die Hosen machte?

»Bitte geh weg...«, wimmerte ich und rollte mich am Fuße des Baumes zu einem Häufchen zusammen. »Geh weg, friss mich nicht!« Der Wolf würde mich auffressen und niemand würde davon erfahren, nicht einmal die Pflanzen halfen mir.

»Hey!«

***

Ich schreckte aus dem Schlaf hoch, sog scharf die Luft ein und sah mich reflexartig um, konnte aber niemanden entdecken.

Das Hey! war so laut gewesen, als hätte man mir ins Ohr gebrüllt. Wirklich, für den Bruchteil einer Sekunde war mir, als würde jemand direkt neben mir stehen.

Erst zwei, drei Atemzüge später wurde mir klar, dass ich geträumt hatte. »Mist«, murmelte ich und angelte nach meiner Uhr. Halb sechs...

Mit einem genervten Stöhnen warf ich mich zurück ins Kissen und rollte mich im Bett herum. Verdammter Mist, ich hätte noch eine Stunde schlafen können!

Obwohl ich nicht mehr daran denken wollte, holte mich der Wolf wieder ein. Das riesige Biest, dem ich vor vierzehn Jahren über den Weg gelaufen war. Ich hatte mir geschworen, nicht mehr an ihn zu denken, also wischte ich sämtliche Gedanken beiseite, rollte mich aus dem Bett und taumelte ins Bad. Als ich mich auszog und unter die Dusche stieg, stöhnte ich empfindlich auf und wäre fast wieder rausgesprungen. Mann, es war zu früh für eine Dusche, meine Augen brannten fürchterlich, aber anders würde ich nicht richtig wach werden.

Nachdem ich fertig und halbwegs trocken war, zog ich mich an und genehmigte mir in der Küche eine riesige Schüssel Cornflakes. Für andere mochte es unverständlich sein, wie ich da saß und knuspernd mein Frühstück verschlang, aber ob Radio oder Fernseher, ich brauchte keine Lärmquellen und begann meinen Tag lieber entspannt in aller Stille.

Wie ein alter Opa zog ich die Zeitung heran und begann, nebenbei das Kreuzworträtsel zu lösen, warf aber immer wieder einen Blick auf die Uhr und wurde unruhig.

Heute war der letzte Tag vor meinem Urlaub. Ich hatte mir ein paar Tage freigenommen und wollte zu meiner Familie aufs Land rausfahren. Keine Ahnung, wann ich zuletzt zu Hause gewesen war, vielleicht lag mein letzter Besuch vier oder fünf Monate zurück. Nun, es wurde langsam wieder Zeit, meine Energiereserven neigten sich dem Ende zu.

Meine Mutter hatte mir einen Brief geschrieben, obwohl sie mich auch problemlos hätte anrufen könnten. Früher war das anders gewesen, aber heute hatte ich meine Kräfte voll im Griff.

Dinge, die mir als Kind Probleme bereitet hatten, waren heute für mich ein Klacks. Früher wäre ich nie in der Lage gewesen, ein Telefon auch nur für fünf Minuten ans Ohr zu halten, geschweige denn hineinzusprechen. Mich vor einen PC zu setzen und E-Mails zu schreiben, erst recht nicht.

Jahrelanges Training und intensive Meditationsübungen hatten mich schließlich so weit gebracht, dass elektronische Geräte in meiner Gegenwart nicht mehr explodierten.

Damals hatten sämtliche Fernseher immer zu rauschen angefangen, das Bild war verschwunden, wie auch beim Computer. Telefone hatten endlos zu schrillen begonnen, wie in einem miesen Horrorstreifen. Sogar ein oder zwei große Stromausfälle gingen auf mein Konto.

Klar, wer so außerordentliche Fähigkeiten besaß, ließ es sich als Teenager nicht nehmen, damit zu prahlen und zu protzen, wenn sich die Möglichkeit ergab. Aber in der Regel hatten mir meine Kräfte nur Ärger bereitet, besonders außerhalb meiner Familie und der damit verbundenen Komfortzone.

Wäre nicht ein alter Bekannter meines Vaters gewesen, ein Schamane, würde ich heute vermutlich nicht in einer Großstadt leben. Er hatte mir geholfen, meine innere Balance zu finden und die Welt um mich herum sowie die mit ihr verbundenen Energien bewusster wahrzunehmen, um mich vor ihnen zu verschließen. Er hatte immer gesagt, dass ich dem Kern einer freigelegten, ungeschützten Knospe glich. Eine Knospe, die man beschützen musste. Es gab so viel, was mir schaden konnte, und ich musste lernen, einen schützenden Wall um mich herum zu errichten.

Mein erster Besuch in dieser Stadt, damals musste ich dreizehn oder vierzehn gewesen sein, hatte mich echt fertiggemacht. Dabei hatte ich meinen Vater eine Woche lang anbetteln müssen, bis er sich bereit erklärt hatte, mich mitzunehmen. Kowi, der Schamane, war eh dagegen gewesen. Im Gegensatz zu mir schienen sie zu wissen, was auf mich zukommen würde. Nur wissen Teenager immer alles besser und ich hatte darauf bestanden, mich so weit im Griff zu haben, dass ich mich vor allem abschirmen konnte. Ich als Indigo... für mich war keine Herausforderung zu schwierig, kein Hindernis zu groß.

Es war der mit Abstand süßeste Sieg gewesen und ich hatte mich als Sieger gefühlt, geglaubt, alles schaffen zu können, wenn ich nur wollte. Brayan, der große Indigo-Junge und totale Checker.

Ja, Scheiße.

Kaum war ich aus dem Auto gestiegen, waren sämtliche Ampeln durchgedreht und in rasendem Tempo von Grün auf Rot gesprungen, bevor sie in einem wilden Feuerwerk und mit wütend zischenden Funken ausgefallen waren. Telefonzellen hatten an jeder Ecke geschrillt und die Geschäfte, in denen Elektrogeräte verkauft wurden, waren buchstäblich in Flammen aufgegangen.

Mir war es vorgekommen, als wäre ich von einer riesigen Welle getroffen worden, die mich mit sich gerissen und wie beim Flipper gegen unsichtbare Hindernisse geschleudert hatte. Ich war so überfordert und erschlagen gewesen, dass mich mein Dad schnell wieder in den Wagen gepackt hatte und mit mir zurückgefahren war, ohne seine Geschäfte zu erledigen.

Aber mein Kampfgeist war geweckt, ich hatte die Herausforderung, war sie noch so unbezwingbar erschienen, angenommen. Vermutlich würden meine Eltern nie verstehen können, warum ich so heiß darauf war, wieder in die Stadt zu fahren, obwohl mich der erste Zusammenprall mit ihr umgehauen hatte. Aber dort war alles so anders als zu Hause. Gerüche, Energieströme, die Luft... einfach alles! Das Leben pulsierte an jeder Ecke, als hätte man es in Käfige gezwängt und übereinandergestapelt.

Die Energien, die mich lockten, hatte ich noch nie gespürt, ein Leben, wie ich es noch nicht gekannt hatte, zog mich magisch an. Wenn der Hof unserer Familie ein Schäfchen war, wirkte die Stadt wie ein arabischer Vollbluthengst. Und ich war echt scharf darauf, diesen Hengst zu zähmen.

Obwohl ich über die Jahre gelernt hatte, meine Kräfte zu zügeln, war ich so etwas wie eine alte Kuckucksuhr, die nach einer gewissen Zeit aufgezogen werden musste. Am besten gelang mir das, indem ich nach Hause fuhr. Das permanente Blocken der Energieströme war nicht alles, ich musste auch darauf achten, mich den Wandlern gegenüber nicht bemerkbar zu machen. Sie waren wirklich überall und die Großstadt schien sie genauso anzulocken wie mich. Der Großteil der komischen Vögel, die hier lebten, bestand aus tierischen Wandlern. Und meiner Wenigkeit.

Es kostete mich jede Menge Kraft, hier zu leben. Gegen Ende eines bestimmten Zeitraums, manchmal hielt ich vier oder fünf Wochen durch, manchmal auch etwas mehr, musste ich zurück in die Natur, dorthin, wo absolute Ruhe herrschte, um mich neu aufzutanken.

Aber so anstrengend es auch war, ich liebte mein neues Zuhause und ich liebte meine Arbeit in dem kleinen Vintage-Café, obwohl es manchmal ein echter Knochenjob sein konnte.

Umso mehr freute ich mich auf meine Familie. Heute Abend würde ich mir bei ihnen den Bauch vollschlagen, ohne mich darum kümmern zu müssen, meine Kräfte zu kontrollieren und mich abzuschirmen. Das war, wie nach einem beschissenen Arbeitstag nach Hause zu kommen und mit einem genüsslichen Seufzer die Hose auszuziehen.

Als ich auf dem Weg zur Arbeit an der von mir am meisten verhassten Fußgängerampel stehen blieb, sah ich mich verstohlen um. Ich hatte keine Lust, Ewigkeiten wie ein Idiot wartend herumzustehen. Im Moment war nicht viel los, also wagte ich es, Mademoiselle Fortuna ein bisschen herauszufordern. Hoffentlich würde sie mir dafür nicht eins über die Rübe ziehen.

Eigentlich hatte ich früh gelernt, mich nirgends mehr einzumischen, aber wer stand schon gerne eine geschlagene Minute in der Gegend herum? Eine kostbare Minute meines Lebens, vergeudet an einer Verkehrsampel...

Ich sah nach oben zur Ampel für die Autos, leckte mir über die trockenen Lippen und tastete mich mit meinen Sinnen über die Stromversorgung.

Eins, zwei... zack! Die Ampel sprang auf Rot, aber lange durfte ich die Verbindung nicht halten, sonst riskierte ich, Unfälle zu verursachen.

War mir damals oft passiert, wenn ich mich wieder mit meinem Vater in die Stadt gewagt hatte. Die Leute hatten uns immer doof angestarrt, wenn er gefaucht hatte: »Bray! Hör auf, mit der Ampel zu spielen!«

Die Leute, die mit mir gewartet hatten, setzten sich in Bewegung und eine Frau schrie erschrocken auf, als von der anderen Seite ein Taxi anrauschte und sie fast mit sich gerissen hätte.

Ups...

Nachdem ich die Verbindung getrennt hatte, eilte ich die Straße runter und erreichte meinen Arbeitsplatz.

Olivier, mein Chef, hatte das Rollgitter bereits hochgezogen. Nur das Geschlossen-Schild war noch nicht umgedreht, aber es saßen schon ein paar Gäste auf der alten Holzbank neben dem Laden. Ich begrüßte sie mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« und trat ein. Noch eine knappe Stunde, bis wir öffneten, und die Leute tummelten sich schon vor der Tür. Die gehörten bestimmt zur Ohrensessel-Fraktion.

Der Laden war nicht immer so beliebt gewesen. Unsere täglichen Gäste konnten wir an unseren Fingern abzählen, oft alles Stammkunden. Erst als alt nicht mehr als unbrauchbar und hässlich galt, strömten die Menschen zahlreich ins Geschäft. Warum auch immer. Vielleicht, weil wir in einer Zeit lebten, in der nichts futuristisch und steril genug sein konnte – Trends sollte man nie hinterfragen und einfach auf den fahrenden Zug aufspringen – und das alte Zeug einen ganz eigenen Charakter und Charme besaß. Angefangen bei unseren Kaffeetassen, die aus feinstem Porzellan bestanden, bis hin zu den Regalen und der Theke, alles war antik.

Sobald man den Laden betrat, erkannte man die Liebe zum Detail. Eine alte Schiefertafel diente als Menüboard, knapp darunter befand sich das Regal, an denen an unzähligen Haken Tassen hingen. Andere stapelten sich in den Fächern darüber, zusammen mit den Tellern für das Gebäck.

Am liebsten mochte ich die Blechschilder, die wir über die Jahre gesammelt hatten. Unsere regelmäßigen Besuche auf Trödelmärkten zahlten sich jedes Mal aus.

Links von der Theke befand sich das absolute Highlight. Die alte Backsteinmauer mit dem großen Bücherregal und den Ohrensesseln mit ihren Hockern. Der Platz war begrenzt, es gab nur vier Sessel in Weinrot und aus braunem Kunstleder. Dementsprechend waren sie auch heiß begehrt und wirklich zu jeder Tageszeit belegt.

Knapp unterhalb der Decke konnte man ein Netz aus Ästen erkennen, an denen unzählige Kristallflaschen in den unterschiedlichsten Formen hinunter hingen. So unglaublich schön diese Lampe auch aussah, wenn ich daran dachte, wie viel Zeit ich damit verbracht hatte, jede einzelne Flasche aufzuschneiden, damit die Birnen hineinpassten, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

»Guten Morgen, Sonnenschein!«, rief ich, als ich die Tür öffnete und in das mürrischste Gesicht der Welt blickte. Zwei tief liegende, olivfarbene Augen funkelten mich an.

Olivier war ein absoluter Morgenmuffel. Ein Grund mehr, ihn honigsüß anzulächeln. Die meisten Bisons waren echte Miesepeter, zumindest hatte ich hier in der Stadt noch keinen lachenden Bison gesehen und ich kannte eine ganze Menge von den Typen vom Sehen. Viele kamen zu uns in den Laden und ich bezweifelte, dass das am Kaffee oder dem fantastischen Käsekuchen lag. Bestimmt gehörten die zu seiner Herde.

Seit unserer ersten Begegnung wusste ich, was er war. Seine Aura pulsierte gewaltig, furchteinflößend, fast wie die eines Bären. Sie überschattete alle anderen Wandler wie ein gewaltiger Fels. Doch so erschreckend seine Aura sein konnte, er war so harmlos wie ein Chihuahua. Jedenfalls meistens. Wenn die Brunft losging, flippten Bisons total aus, hämmerten, im übertragenen Sinn, ihre Schädel gegeneinander und geizten nicht mit ihren männlichen Vorzügen. Ob auf der Straße oder in den Bars, überall gerieten sie aneinander und prügelten sich entweder grundlos oder um irgendeine Frau. Meiner Meinung nach völlig bescheuert, aber vermutlich konnte ich dieses Wild Thing einfach nicht nachvollziehen, dafür fehlten mir die nötigen Wandler-Gene. Oder es lag daran, dass ich schon einen unfreiwilligen Zusammenstoß mit einem wild gewordenen Bison gehabt hatte. Eine ganz üble Geschichte.

Zum Glück verschwand Olivier in dieser Zeit, genau wie mein zweiter Boss, Ace. Für mich und Ryker, meinen Kollegen, bedeutete das mehr Arbeit, aber dafür bekam ich meine paar Tage frei, wenn ich sie brauchte, und irgendwie lief es. Tat es immer.

»Bist früh dran.« Er polierte Tassen und Gläser, um sie in dem Regal hinter sich aufzutürmen.

Manchmal kam es mir ein bisschen unfair vor. Sie hatten keine Ahnung von meiner wahren Natur, während ich sie längst durchschaut hatte. Doch egal, wie lange wir befreundet waren, ich hatte mir geschworen, es nie wieder jemandem zu erzählen. So einen Fehler machte man nur einmal im Leben.

Ich zog meine Jacke aus, hing sie hinten auf und band mir meine schwarze Schürze um. »Andere beschweren sich darüber, dass Mitarbeiter zu spät kommen«, informierte ich ihn.

»Ich beschwere mich nicht«, brummte er und drückte mir das Tuch in die Hand. »Der Lieferant ist gleich da, muss kurz nach hinten.«

Ein Kerl wie er passte irgendwie gar nicht in so ein Café. Der gehörte auf die Reklametafel eines Fitnessclubs oder auf die Werbung für Protein-Shakes. Olivier, ein zu feiner Name übrigens für so einen Burschen, überragte mich um mindestens zwei Köpfe. Seine Gesichtszüge waren markant, die hohen Wangenknochen bedeckt von einem perfekt getrimmten Bart. Sein schwarzes Haar hatte immer die perfekte Länge von fünfzehn Millimetern, wobei ich fest davon überzeugt war, dass er eine Schablone besaß, mit der er jeden Tag seinen Haarwuchs kontrollierte.

Unter dem Ärmel seines T-Shirts konnte man auf der karamellfarbenen Haut die Spitzen eines Tribal-Tattoos erkennen. Das Sinnbild eines typischen Bad Boys eben.

Wenn ich nicht so einen großen Respekt vor seinen Hörnern besäße, hätte ich mich vielleicht an ihn rangewagt, wenn auch nur aus Neugier. Während andere einen großen Bogen um ihn machten, liebte ich es, ihn so lange anzugrinsen, bis seine Mundwinkel zuckten. Er machte bestimmt nur auf genervt, damit die Leute fernblieben, besaß im Grunde aber einen weichen Kern. Vielleicht geilte ich mich auch nur an dem Gedanken auf, einen Bison zu zähmen. Von meinen wilden Fantasien abgesehen, hatte ich allerdings noch nie etwas von einem schwulen Bison gesehen oder gehört. Nicht, dass das nicht möglich wäre, aber die Testosteron geladenen Jungs waren einfach dafür gemacht, Frauen zu imponieren und zu besteigen. Ob es einen gab, der sich in der Brunft um einen Mann prügelte, keine Ahnung. Ich war nicht lebensmüde und mein Job mir wichtiger.

Läden wie diesen gab es kaum. Rein optisch auf Vintage getrimmt, klar, aber wer benutzte noch den guten alten Espressokocher, die French Press oder überhaupt einen Gasherd, um Kaffee zu kochen? Und die Kasse war der Oberhammer. Eine alte, silberne, riesige Registrierkasse aus dem Jahr 1910, die vermutlich fünfzig oder sechzig Kilo wog. Anfangs hatte ich mir mit den vielen Knöpfen schwergetan und oft vergessen, den Drehgriff zu betätigen, damit sie sich öffnete. Aber einmal daran gewöhnt, lief es wie von selbst. Meine Sinne als Indigo wurden in diesem Laden am wenigsten strapaziert und bestimmt würde ich niemals einen geeigneteren Arbeitsplatz finden.

Ich übernahm das Polieren und als ich fertig war, ging ich in die Küche und holte den Käsekuchen, die Schokoladentarte und den Früchtekuchen nach vorne. Vorsichtig richtete ich sie auf den Böden der gläsernen Kuchenglocken an, bevor ich die schweren Deckel drauf setzte, damit sie nicht austrockneten.

»Was grinst du so dämlich?« Olivier kam mit zwei großen Kartons zurück. Schnell schob ich die Glastür der Auslage auf und holte die sauberen Tabletts für die Törtchen und das Plundergebäck hervor.

»Das nennt man Freude bei der Arbeit.« Ich verdrehte die Augen. »Du hast wohl noch nie ein fröhliches Gesicht gesehen, was?«

Als Antwort gab er ein tiefes Brummen von sich und schüttelte verständnislos den Kopf, bevor er mir half, die Auslage aufzufüllen.

Idiotischerweise machte mich dieses Brummen total an. Wie er sich wohl im Bett anhörte? Ob er eher schnaubte oder stöhnte? Vielleicht lief ihm dabei Schaum aus dem Mund? Ob seine Hörner rausguckten, wenn er kam?

Ich lachte über meine eigenen Gedanken, zuckte aber heftig zusammen, als mich seine Hand am Hinterkopf traf.

»Schön, dass du heute noch mehr Freude an deiner Arbeit hast als sonst, du Hobbit. Aber mach deinen verdammten Job, ohne vor dich hin zu gackern, und verschwinde in deinen gottverfluchten Urlaub, du Nervensäge.«

Wenn es eines gab, das noch sexyer war als ein brummender Bison, dann ein wütender Bison.

»Ist ja gut!«, erwiderte ich prustend und versuchte, mich zu konzentrieren, bevor er mich noch auf die Hörner nahm.

Zwei

Von Baseballschlägern und burschikosen Frauen

Zögerlich schloss ich die Tür zum Haus meiner Eltern auf und sah mich um. »Hallo? Jemand zu Hause?«

Der rote Ford Ranger stand nicht vor der Tür, also waren meine Eltern vielleicht zum Einkaufen gefahren. Jedenfalls bekam ich keine Antwort und meine Schwester schien auch nicht da zu sein, obwohl ihr Wagen in der Auffahrt parkte.

Es war später geworden als geplant. Obwohl wir den Laden gegen acht Uhr schlossen, hatte es noch einmal einen kleinen Ansturm gegeben. Danach wollte ich Olivier nicht allein lassen und war noch etwas länger geblieben, um ihm beim Aufräumen zu helfen.

Mittlerweile war es kurz vor elf, um diese Uhrzeit sollten meine Eltern eigentlich zu Hause sein, aber im Haus brannte kein einziges Licht. Ich schloss die Tür hinter mir und ließ meine Tasche zu Boden sinken.

Hier sah es aus wie immer und es duftete auch wie immer. Nach Zuhause, nach Behaglichkeit und gutem Essen.

An den Wänden hingen unzählige Fotos von uns als Kinder, dazwischen die Talismane, die unser Haus vor Wandlern schützen sollten, während an den Fenstern die alten Traumfänger noch immer ihren Platz hatten. Wer dieses Haus betrat, mochte glauben, dass hier Indianer-Fans lebten, doch in Wahrheit ruhte in jedem einzelnen Objekt ein Schutzzauber, den meine Eltern regelmäßig erneuern ließen.

Vom Flur aus betrat ich das erste Zimmer links, das in den Essbereich führte, von dort aus gelangte ich in die alte Küche. Sie stammte aus den Fünfzigern und meine Mutter hatte wegen ihrer zwei Indigo-Kinder bis heute nichts daran geändert. Eigentlich war sie ziemlich cool, aber eben sehr veraltet. Das war nicht mehr shabby chic, sondern nur noch shabby.

Ich hatte ihr vorgeschlagen, einiges zu verändern. Der alte Kühlschrank, der einem halben Cadillac glich, war der reinste Stromfresser und so schön die Kochstelle in der Mulde an der Wand auch war, sie war alt und abgenutzt. Man konnte den Vintage-Stil auch mit neuen Elektrogeräten beibehalten.

Eine Modernisierung würde ihr viel Arbeit abnehmen, nur weigerte sie sich, irgendetwas zu verändern.

Sabbernd schlich ich um die Töpfe herum. Meine wundervolle Mutter hatte mein Lieblingsessen zubereitet. Ich hatte die Lammkeule bereits gerochen, als ich aus dem Auto gestiegen war. Ich linste in die Töpfe und fand geschmortes Gemüse, Kartoffeln und Bohnen im Speckmantel.

Das Wasser lief mir im Mund zusammen, ich wollte schon zuschlagen und mich vollstopfen, aber das würden mir meine Mutter und Belana sicher übel nehmen.

Grummelnd schloss ich die Deckel wieder, klang dabei fast wie Olivier und suchte Zutaten für ein kleines Sandwich zusammen. Salat, Tomaten, Gewürzgurken und zwei Scheiben Roastbeef. Ein Klecks Honig-Senf-Soße und mein Magen würde die herrlichen Düfte im Haus vorerst ignorieren.

Ich legte mein kleines Meisterwerk auf einen Teller und machte mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Als ich den Flur durchquerte, wich ich plötzlich zurück. Ein Windstoß wehte knapp an meiner Nase vorbei. Der heransausende Baseballschläger verfehlte mich um Haaresbreite.

»Bei der Göttin, Bray!«, brüllte meine Schwester. Sie trug nur ein Handtuch, das Haar klebte ihr im Gesicht, statt in wilden Locken abzustehen wie sonst. Offenbar kam sie gerade aus der Dusche. »Ich dachte, du wärst ein Einbrecher! Mach dich das nächste Mal gefälligst bemerkbar, du Idiot!« Sie fasste sich erschrocken ans Herz und ließ den Schläger sinken.

Warum war sie denn so schockiert, ich war doch derjenige, dem sie fast den Schädel und das Sandwich gespalten hätte!

»Ich habe vorhin laut und deutlich gerufen«, verteidigte ich mich.

Eigentlich müsste man ein Bild von ihr draußen aufstellen. Jeder Einbrecher mit Verstand würde sich hüten, in dieses Haus einzubrechen. Vorsicht, durchgeknallte Schwester mit Baseballschläger. Betreten auf eigene Gefahr.

Als wäre nichts gewesen, fing sie an zu grinsen und streckte die Arme nach mir aus. »Komm her, lass dich drücken!« Das Handtuch schien locker zu sitzen, denn es rutschte ihr ein wenig vom Körper.

»Wenn du dich angezogen hast, vielleicht.« Den Teufel würde ich tun und riskieren, eine nackte Frau zu umarmen. Die Zeiten hatte ich längst hinter mir. Einmal und nie wieder.

Belana verdrehte die Augen, bekam mich am Arm zu fassen und zog mich ruckartig an sich.

Mir wäre fast der Teller aus der Hand gefallen, aber dank meiner langjährigen Erfahrung als Kellner schaffte ich es, die Balance zu halten.

Belana ignorierte meine Gegenwehr, das Privileg einer großen Schwester, und presste mich eng an ihren voluminösen Busen, der sich so weich und wabbelig anfühlte, dass mir ganz unwohl wurde.

»Schön, dich wiederzusehen, Bray!«

Belana war kein zierliches Persönchen, hatte eine kurvenreiche Figur und konnte anpacken wie ein Mann. Kein Wunder, immerhin arbeitete sie seit ihrer Kindheit auf dem Hof mit und erledigte sogar Arbeiten, vor denen die meisten Männer zurückschreckten. Sie war ein typisches, fröhliches Mädchen mit einer für Mädchen völlig untypischen Kraft, die sie genau wie ich seit frühester Kindheit besaß. Bis zu ihrem dritten Lebensjahr war noch alles in Ordnung gewesen, aber ab ihrem Geburtstag war alles den Bach runtergegangen. Ihre Sensibilität und die Fähigkeiten, die sie besaß, hatten meine Familie in den Wahnsinn getrieben. Nachts hatte sie schreiend und weinend in ihrem Bett gesessen und manchmal so lange nicht aufgehört zu heulen, bis ihr davon schwindelig geworden oder sie eingeschlafen war. Ich brauchte wohl nicht zu erwähnen, dass meine Mutter haltlos überfordert gewesen war, weshalb mein Dad seinen Job hatte hinschmeißen müssen.

Ihre einzige Tochter benahm sich mit zunehmendem Alter so eigenartig und ganz anders als alle anderen Kinder. Sie hatte von Menschen erzählt, die durch das Haus liefen oder sie verfolgten, hatte erzählt, wie sie ihre Hände nach ihr ausstreckten und sie nachts nicht schlafen ließen. Menschen, die meine Eltern nicht sehen konnten.

»Du siehst toll aus!« So schnell sie mich in ihre Umarmung gezogen hatte, so schnell drückte sie mich wieder von sich weg und musterte mich von oben bis unten. Dann grinste sie noch breiter und betatschte meine Oberarme. »Gut, dass du auf deine liebe Schwester gehört hast. Ich hab doch gesagt, dass dir Sport guttun wird, sieh dich an!«

»Du hast mir schließlich gedroht«, erinnerte ich sie. »Und gesagt, dass du mich verprügelst, wenn ich nicht zulege. Also mach jetzt bloß nicht auf fürsorgliche, große Schwester.«

Prustend schlug sie mir so hart gegen die Schulter, dass mir wieder fast mein Abendessen aus der Hand geflogen wäre.

»Wer will schon neben einem Mann herlaufen, neben dem man fett aussieht, weil er so dünn ist?«

Mir brannte eine Antwort auf der Zunge, für die sie mich über den halben Kontinent gejagt hätte. Also ließ ich es bleiben.

»Ich gehe mir schnell was anziehen. Mom und Dad sind noch mal einkaufen gefahren und wollten danach noch kurz bei den Wilsons vorbeischauen.« Zu meiner Erleichterung eilte sie die Treppe rauf und verschwand aus meinem Blickfeld.

So ein Schreck... Keine Ahnung, was mich mehr entsetzt hatte, der plötzliche Angriff oder der drohende Anblick ihrer blanken Brüste.

In der Hoffnung, nun in Ruhe essen zu können, betrat ich das Wohnzimmer und ließ mich auf die Couch fallen. Der Flachbildfernseher an der Wand war neu. In unserer Kindheit hatten wir aufgrund unserer Gabe – oder wohl eher unseres Fluchs – keinen Fernseher besessen.

Grinsend schaltete ich das Gerät an. Zu Hause besaß ich zwar ein kleines, tragbares mit einer langen Antenne dran, aber das hier war ein völlig anderes Kaliber. Fröhlich zappte ich mich durch das Programm und verspürte einen gewissen Stolz darüber, dass das Bild nicht einmal flackerte. Von der Flimmerkiste abgesehen war hier alles genauso unverändert wie in der Küche.

Bevor ich in mein Sandwich biss, dankte ich den Göttern, Mutter Erde und dem Tier, das sein Leben gelassen hatte.

Hungrig hatte ich die eine Hälfte schon verschlungen, als Belana zurückkam. Sie trug einen rosafarbenen Pyjama mit kleinen Kätzchen und Cupcakes drauf. Irgendwie lustig, dass eine so burschikose Frau wie sie so etwas anzog. Den Kontrast niedlich versus maskulin vereinte sie auf schräge, aber süße Weise, was sie harmloser erscheinen ließ, als sie war.

»Hau ab, Mann!«, fuhr sie mich an und fuchtelte wild mit der Hand. »Weg da, los! Das ist mein Platz!«

Ich war gerade dabei aufzustehen, als sie anfing zu lachen. »Dich meine ich doch nicht, Blödi!« Kurz darauf ließ sie sich auf den leeren Platz neben mir fallen.

Als ich begriff, wen sie damit gemeint haben könnte, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Da saß also jemand neben mir, ohne dass ich es gemerkt hatte... eine ruhelos umherirrende Seele...

»In letzter Zeit tummeln die sich hier überall«, sagte sie grummelig und sah sich im Raum um. Mir wurde wieder unwohl und zum Glück besaß ich ihre Gabe nicht. Allein beim Gedanken, tagtäglich herumschwirrende Geister zu sehen, schauderte ich.

»Mach dir nicht ins Hemd, du weißt genau, dass sie harmlos sind. Sie reden nur manchmal etwas viel.« Sie griff nach der anderen Hälfte meines Abendessens und biss herzhaft hinein.

Meine Schwester war genau wie ich ein Indigo, besaß aber eine völlig andere Gabe. Während ich Auren und Wandler erkennen konnte, war sie in der Lage, Geister zu sehen und mit ihnen zu kommunizieren. Im Zeitalter der kaum sichtbaren Headsets praktisch, da sich niemand daran störte, wenn sie lachend oder Selbstgespräche führend durch die Straßen lief. Das war auf abstruse Weise irgendwie cool. Damals war es anders, da wurde sie als verhaltensgestört eingestuft. Man empfahl unseren Eltern sogar, uns in psychiatrische Behandlung zu geben und hätten sie damals nicht Kowi, den Schamanen, getroffen, würden wir heute vermutlich irgendwo in einem Irrenhaus sitzen. Er hatte Belana und später auch mich den Umgang mit unseren Kräften gelehrt und uns beigebracht, wie wir unsere Gabe nutzen konnten.

»Dann sag ihnen, dass sie abhauen sollen. Übrigens, das war meins.«

Belana leckte sich die Finger ab. »Das habe ich schon versucht, aber irgendwas an diesem Ort zieht sie an, ob sie wollen oder nicht, und sie können sich nicht dagegen wehren. Ich tippe auf eine heilige Stätte oder eine Pforte ins Jenseits.« Sie zuckte mit den Schultern. »Du siehst sie doch ohnehin nicht, also denk nicht dran.« Sie grinste mich anzüglich von der Seite an, ohne auf die Sache mit meinem Sandwich einzugehen. »Und jetzt erzähl mal, was hast du die ganze Zeit getrieben? Hattest du noch mal ein Date mit diesem Ewans?«

Ich stellte den Teller auf den Tisch und verschränkte die Arme. Na wunderbar, jetzt herrschte noch jede Menge Platz in meinem Magen und die Duftwolken aus der Küche schlichen um mich herum und tippten mir wie im Zeichentrickfilm gegen die Nase. Fast hätte ich mich locken lassen.

»Du meinst Dorian? Da lief nicht viel, er war ein Arsch.« Eiskalt gelogen. Nach unserem ersten Date war mir klar geworden, dass er mich als Mensch nicht sonderlich ansprach. Sein Lachen war ein bisschen nervig, sein Sinn für Humor ließ zu wünschen übrig, aber darüber konnte ich eine Weile hinwegsehen, denn im Bett war er fantastisch. Na ja, nicht, dass ich nur Männer fürs Bett suchte, aber sich mit jemand halbwegs Vertrautem über die Matratze zu rollen, war hin und wieder ganz nett. Wenn nur nicht seine furchtbare Lache gewesen wäre und das Gesicht, das er beim Orgasmus machte, als würde man ihm die Eier abklemmen und ihm gleichzeitig einen Einlauf verpassen...

»Hmpf«, machte sie und tätschelte mich kameradschaftlich. »Mach dir nichts draus, es gibt leider einfach zu viele Idioten da draußen. Und für uns ist es noch schlimmer, jemanden zu finden. Immerhin scannen wir die Leute auf eine unheimliche Weise. Und wenn jemand nicht kompatibel erscheint, wird er direkt aussortiert.« Sie nahm mir die Fernbedienung aus der Hand. »Wir brauchen so etwas wie einen Seelenverwandten. Aber ob wir dem jemals über den Weg laufen, wissen allein die Götter.«

Das klang ja sehr optimistisch. Sie wusste genau, wie sie mich aufheitern konnte.

»Für dich ist es bestimmt noch anstrengender, einen Mann zu finden, der es mit dir aufnimmt. Wie läuft das eigentlich, forderst du deine Anwärter zum Zweikampf heraus?«

Belana hob die Augenbrauen, neigte leicht den Kopf und blickte von oben auf mich herab. »Was hast du gesagt?«

»Du bist brutal, frisst mir mein Sandwich weg und reißt mir die Fernbedienung aus der Hand. Das Einzige, was gerade niedlich an dir ist« – ich stand langsam auf, als sich ihr Blick veränderte und dunkler wurde – »ist dein Pyjama!« Wir bewegten uns gleichzeitig. Sie sprang mit einem Satz über die Couch und ich rannte los, aber sie bekam mich zu fassen und nahm mich in den Schwitzkasten. Egal wie sehr ich auch versuchte, mich zu befreien, sie war viel zu stark und drückte mich auf den Boden.

»Sag, dass ich süß bin!«, blaffte sie.

»Niemals!«

»Sag es!« Ihr Arm drückte noch fester zu, als sie mich zu würgen begann.

Die Tür ging auf und unsere Eltern standen vor uns, beladen mit Einkaufstaschen. Unsere Mutter blickte zu uns runter. Wir lagen im Flur und waren beide erstarrt. Sie verdrehte die Augen, stieg über uns hinweg und trug die Sachen in die Küche.

Nachdem sie weg war, blickte unser Vater mit gehobener Augenbraue zu uns runter. »Fertig? Dann steht auf und deckt den Tisch.«

***

Das Licht der aufgehenden Sonne drang gefiltert durch die Baumwollvorhänge und berührte sanft die alten, dunklen Holzdielen. Müde öffnete ich die Augen und konnte winzige Staubpartikel erkennen, die winzig und elfenhaft durch den Raum schwebten.

Meine Vermutung hatte sich bewahrheitet: Nicht einmal in den Kinderzimmern hatte sich etwas verändert. An den Wänden meines alten Zimmers hingen viele Tierposter, die Regale bogen sich unter der Last der Bücher. Der Boden war übersät mit Kuscheltieren, überwiegend Hunde und Wölfe, die für gewöhnlich auf meinem Bett hockten.

Ich angelte nach einem dicken, braun-schwarzen Wolf, setzte ihn auf meine nackte Brust und strich ihm mit dem Daumen über das weiche Fell. Der Alpha meines Kuscheltier-Rudels, der immer den besten Platz bekam, nämlich auf meinem Kissen. Und der Einzige, der ihm ähnlich sah. Sanft tippte ich ihm gegen die große, schwarze Nase und spürte die Sehnsucht, die langsam wieder aufkeimte. Dabei wollte ich doch nicht mehr an ihn denken.

Schnell schob ich sämtliche Gedanken beiseite, stand auf und machte mein Bett, bevor ich mein Wolfsrudel darauf setzte. Anschließend trat ich ans Fenster, schob die Vorhänge beiseite und öffnete es weit, um zu lüften.

Noch trunken vom Schlaf, wurde ich fast erschlagen. All die Energieströme der Bäume, Pflanzen und Tiere, der Natur strömten auf mich zu und umhüllten mich. Wie das Summen eines Bienenkorbs erhoben sich die Stimmen der Lebewesen dort draußen und wisperten meinen Namen. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und drängte sie sachte zurück, um meine Barrieren hochzufahren, bevor es mir zu viel wurde. Das Summen wurde leiser, die Energien, die sich bis eben nach mir ausgestreckt hatten, zogen sich zurück, bis ich nur noch den milden Singsang der Felder vernahm. Ein Gefühl der Ruhe und des Friedens überkam mich, als ich die Augen wieder öffnete und lächelte. Das sanfte Echo der Stimmen, die meinen Namen riefen, war mir sehr vertraut und weckte alte Erinnerungen. Gefühle und Emotionen, die ich in meinem Zwei-Zimmer-Apartment nicht kannte.

Ich schlüpfte in meine Jeans, zog mir ein Shirt über und verschwand kurz im Bad, ehe ich nach unten ging. Aus Reflex übersprang ich die dritte und die sechste Stufe, weil ich genau wusste, dass sie furchtbar laut knarrten.

Aus der Küche hörte ich Gelächter und das Klappern und Klirren von Besteck. Die Aussicht auf Frühstück ließ meinen Magen leise jubeln, obwohl ich gestern Abend noch gut gegessen hatte. Frisch schmeckte eben alles besser als aufgetaut und aufgewärmt.

»Na, ihr habt ja gute Laune«, sagte ich lächelnd, als ich unsere alte Küche betrat.

»Bray.« Meine Mutter lächelte sanft, ihre Augen strahlten, als sie mich sah. Himmel, bei Sonnenlicht war die Frau noch schöner und um ehrlich zu sein, fehlte mir der Anblick, wenn ich in meine Küche in der Stadt kam. Mir fehlte die Gesellschaft meiner Familie, wenn ich morgens wach wurde und einsam meinen Kaffee trank, nur mit dem Fernseher als einzigem, einseitigem Gesprächspartner.

Ihr nussbraunes Haar trug sie hochgesteckt, die hellbraunen Augen, die ich von ihr hatte, stachen deutlich hervor.

Sie trat auf mich zu, legte die Hand auf meine Schulter und zog mich zu sich hinunter, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie war kleiner als ich, trotzdem schenkten mir ihre Umarmungen Geborgenheit, als wäre ich wieder fünf Jahre alt. Ich konnte ihre Liebe zu mir fühlen. Es mochte vielleicht dämlich aussehen, wenn sich ein vierundzwanzigjähriger Mann von seiner Mutter knuddeln ließ, aber wir waren ja unter uns. Da machte auch der Schmatzer auf meiner Stirn nichts, für den ich mich gerne zu ihr hinunterbeugte.

»Wir haben über dich gelästert.« Belana saß am gedeckten Tisch und trank einen Schluck aus ihrer überdimensionalen Hello Kitty-Tasse.

»Komm, setz dich!« Meine Mutter ließ mich los und deutete auf einen Stuhl.

Im Gegensatz zu meiner Schwester sah ich unsere Mutter öfter. Manchmal besuchte sie mich in der Stadt, blieb ein paar Tage und ging erst, wenn meine Kühltruhe brechend voll war.

»Sag mal…« Nachdem sie mir Kaffee eingeschenkt und die Kanne weggestellt hatte, betrachtete sie meinen Schopf mit kritischem Blick. »Wann warst du das letzte Mal beim Friseur? Hat der sich verschnitten?«

»Das ist gerade ganz groß in Mode, Mom. Es ist cool, wenn das Haar asymmetrisch ins Gesicht fällt und... oh, guten Morgen, Tante Beth.«

Ich war gerade dabei, mich hinzusetzen, als Belana den letzten Satz in meine Richtung sprach und meinem Stuhl vergnügt zuwinkte. Sofort sprang ich auf und schüttelte mich.

Tante Beth. Eine, Gott sei ihrer Seele gnädig, unserer wenigen Verwandten, die vor einem halben Jahr verstorben war. Eine griesgrämige, alte Frau mit dem Gesicht einer Bulldogge.

Ehrlich, ich wusste nie, wann Belana sich mit mir einen Scherz erlaubte und wann wirklich ein verdammter Geist um mich herumwuselte. Früher hatte sie oft ihren Schabernack mit mir getrieben und mich geärgert. Als wir Kinder waren, hatte sie es sich nie nehmen lassen, so zu tun, als wäre mir jemand auf den Fersen. Beim Spielen, auf dem Klo, am Esstisch oder sogar im Bett, wenn ich schlafen wollte. Dann hatte sie so getan, als würde jemand neben mir liegen oder mich beobachten. Ihr boshaftes Gelächter konnte ich heute noch deutlich hören.

Im Auto war das nur ein Mal vorgekommen, nach der Tirade unserer Eltern allerdings nicht mehr. Ich hatte den Wagen zusammengeschrien und mich nicht mehr beruhigen lassen.

»Belana!«, mahnte meine Mutter im selben Ton wie vor zwanzig Jahren.

»Diesmal ist sie wirklich da, Mom!«, verteidigte sie sich. »Sie macht dir Platz, du sollst dich setzen.« Belanas Blick wanderte zum Kühlschrank. Sie legte den Kopf schief und konzentrierte sich auf diesen Punkt. Die sonst hellbraunen Augen verfärbten sich und nahmen ein intensives Blau an. Das geschah immer, wenn wir unsere Kraft nutzten.

Auch wenn ich ihr glauben wollte, wischte ich mit einer Hand über meinen Stuhl, als würde ich ein paar Krümel loswerden wollen, und ließ mich dann erst nieder.

»Sie sagt, sie macht sich Sorgen.«

»Wirklich?« Meine Mutter, für die das alles hier ganz normal war, blickte ebenfalls zum Kühlschrank. Sie hatte noch nie eine Warnung verstorbener Verwandte missachtet. Hatte uns als Kinder schon den Arsch gerettet, besonders, als ich mal in den Brunnen hinter dem alten Haus gefallen war.

Zu meinem großen Unbehagen sah Belana zu mir und musterte mich mit ihrem indigoblauen Blick. Das war kein gutes Zeichen...

Eine Gänsehaut erfasste meine Arme und ließ es in meinem Nacken unangenehm prickeln. Definitiv kein gutes Zeichen,

»Sie sagt, die Farbe deines Shirts sei ganz abscheulich.«

Meine Mutter starrte sie verwirrt an, fing aber an zu lachen und schüttelte den Kopf, bevor sie sich abwandte. Hoffentlich war das Pfannkuchenteig, der da neben dem Herd stand. »Wenn es sonst nichts ist?«

Belanas Energieströme breiteten sich in der Küche aus und tasteten nach mir. Sie verursachten summende Vibrationen in der Luft, die außer mir niemand wahrnahm.

Und auch wenn ich lachte und sagte, dass Tante Beth sich lieber um ihr hässliches Leichentuch sorgen sollte, wusste ich, dass Belana nicht die Wahrheit sagte. Irgendwas war da... Etwas, von dem sie nicht wollte, dass unsere Mutter es erfuhr, und von dem ich wusste, dass es mir ganz und gar nicht gefallen würde.

»Die Volksversammlung der Gespenster wird größer, was? Aber ich frage mich, welcher Idiot sie eingeladen hat. Muss ein Versehen gewesen sein«, scherzte ich und versuchte damit, meine aufkeimende, innere Unruhe zu unterdrücken.

»Sie zeigt dir den Mittelfinger«, klärte mich Belana ganz sachlich auf. »Und jetzt macht sie... uh, nein, warte. Das kann ich dir nicht beschreiben.« Sie runzelte die Stirn und blickte zu einem Punkt neben dem Kühlschrank.

Manchmal war die Frau gruseliger als die Tatsache, dass sie Geister sah und Small Talk mit ihnen hielt. Kein Wunder, dass die Männer vor ihr davonliefen. Tante Beth konnte mir gestohlen bleiben. Ich war zu Hause bei meiner Familie und durfte in wenigen Minuten die besten Pancakes der Welt genießen. Diese Idylle würde ich mir von niemandem kaputt machen lassen.

»Hey, Daddy!«, rief Belana. Ich zuckte heftiger zusammen, als ich vielleicht sollte. Mehr noch als bei Tante Beth.

Die Hintertür, die von der Küche in den Garten führte, öffnete sich. Unser Vater betrat mit schweren, stampfenden Schritten das Haus. Gut, es gab vielleicht doch jemanden, der mir das kaputt machen konnte. Meine Unruhe wuchs, als er sich neben mich setzte. Verdammt, nicht einmal zu Hause hatte man seine Ruhe.

Unser Verhältnis war nicht das beste, auch wenn ich ihn als kleiner Junge vergöttert und zu ihm aufgesehen hatte.

Seufzend streckte er die Beine aus und legte mit einem Klonk die Hand auf den Tisch. Die Hand, die nicht nur unnatürlich aussah, sondern es auch war. Ein fleischfarbenes, lebloses Ding, das man auf den zweiten Blick deutlich als Armprothese erkannte. Und ich war daran schuld.

Drei

Seelenheil

Nachdem sich unser Vater zu uns gesetzt hatte, versuchte ich, mich so unsichtbar wie möglich zu machen. Ohne einen Mucks von mir zu geben, aß ich mein Frühstück, trank noch einen Kaffee und erhob mich anschließend, weil ich das Gefühl hatte, zu ersticken. Meine alten Ketten schnürten sich enger zusammen, wenn ich zu lange neben ihm saß.

»Gehst du raus?«, wollte meine Mutter wissen.

Ich nickte. »Ein bisschen Kraft tanken«, erwiderte ich lächelnd, darauf bedacht, dem Blick meines Vaters nicht zu begegnen, und verließ mit einem »Bis später« das Haus.

Wenn mein Vater und ich uns grüßten, taten wir es mit einem Nicken. Wir sprachen nur das Nötigste miteinander. Hatte sich in den letzten Jahren einfach so eingependelt. Jeder Versuch von meiner Mutter und Belana, alles wieder hinzubiegen, scheiterte kläglich.

Da war plötzlich diese gewaltige Kluft zwischen uns, die nicht so einfach zu überwinden war. Er und ich, wir mussten daran arbeiten, eine stabile Brücke bauen, die jedoch nichts mit ihrer ursprünglichen Form gemein hatte. Dafür war der Vorwurf zu groß, den wir beide mir machten. Leider gaben wir uns nicht besonders große Mühe, daran zu arbeiten. Ich konnte mich nicht dazu überwinden und er offenbar auch nicht.

»Komm nicht zu spät zum Essen!«, rief meine Mutter mir hinterher.

Auf der Veranda wehte mir ein angenehmer, warmer Wind entgegen, liebkoste mein Gesicht, als wollte er mich trösten und mich von meinen trüben Gedanken befreien.

Auch wenn es seltsam klang, ich wusste nicht mehr, wie der Ort hieß, an dem wir früher gewohnt hatten. Dort, wo die riesigen Weizenfelder hinter dem Haus gelegen hatten, mit dem See hinter dem Hügel und der Trauerweide. Vielleicht hatte ich es auch nur verdrängt, weil ich damit Grausamkeit und Schmerz verband.

Meine Schritte trugen mich über den kleinen Trampelpfad in den Garten. Ich machte einen Bogen um das Gemüsebeet meiner Mutter, wäre fast im hüfthohen Gras versunken und kletterte über den alten Zaun, der darunter versteckt war. Auf der anderen Seite war alles abgegrast, denn auf der Koppel weideten die Babydoll-Schafe meiner Familie. Ein Dutzend dieser Tiere hoben ihre Köpfchen und musterten mich, als ich näher kam.

Ich fing an zu grinsen, mied ihren Blick und doch setzten sie sich in Bewegung. Sie kamen auf mich zu, wurden schneller. Als auch ich schneller wurde und losrannte, galoppierten sie mir hinterher.

Mit Schwung sprang ich über den Zaun und drehte mich zu ihnen um. Die Schafe waren vor der Barrikade stehen geblieben und sahen fasziniert zu mir auf.

»Hello, Dolly«, sagte ich und lachte, als sie mich so erwartungsvoll ansahen und sich um den Zaun versammelten, als würden sie vor einem Popstar stehen.

Mir war schon früh aufgefallen, dass ich einen ganz besonderen Bezug zu Tieren hatte. Egal wie groß oder klein, sie fokussierten sich sofort auf mich, sobald ich in ihrer Nähe war.

Ich streichelte ihnen über die Köpfe. Meine Eltern mussten sie im Frühjahr bereits geschoren haben. Die Wolle, die sich sonst so schön wuschelig anfühlte, war getrimmt, wuchs aber bereits nach.

Die Schafe fingen an, nach vorn zu drängen und sich gegenseitig zu schubsen, um meine Hand zu erreichen. In diesem Moment kam ich mir vor wie ein Prediger, ein Heiler, um den sich seine Jünger scharten.

Kaum berührte ich die Tiere, spürte ich ihre Lebensenergie, spürte sie heiß und intensiv, besonders bei den jungen und halb ausgewachsenen Lämmern. Eines der hinteren, älteren Schafe besaß nicht die Kraft, um sich nach vorn zu schieben. Im Gegensatz zu den anderen wirkte es etwas antriebslos.

Ich kletterte zurück über den Zaun und ging auf das Schaf zu. Eigentlich müsste man meinen, dass mich die anderen jetzt überrannten, aber das taten sie nicht. Sie blieben auf Distanz und ich war froh darum, als ich vor dem Tier in die Hocke ging. Langsam streckte ich die Hand aus, kraulte es am Kopf und lächelte, als das Schaf die Augen schloss.

Während die anderen Schafe vor Lebensenergie nur so strotzten, war diese dabei, allmählich zu erlöschen.

Ich nahm die andere Hand dazu und kraulte das alte Schaf sanft weiter.

»Na, altes Mädchen?«, flüsterte ich und schloss selbst kurz die Augen. Ohne meinen Wall zu lösen, verknüpfte ich meine Lebensenergie mit ihrer und schenkte ihr ein wenig davon. Es war nicht viel, aber mehr durfte ich ihr nicht geben. Kowi, der Freund der Familie und Schamane, hatte mir beigebracht, dass es wichtig war zu helfen, wo ich konnte, aber ich durfte dabei gewisse Grenzen nicht überschreiten. Meine und die von Mutter Natur.

Ich erinnerte mich immer mit einem breiten Lächeln an ihn, an den Mann mit den vielen Lachfalten, den sanftmütigen Augen und seinem langen, schwarzen Haar, das er immer zusammengebunden trug. Manchmal hingen Schmuckperlen, manchmal Federn darin.

Unsere Eltern und er waren sich damals zufällig beim Kinderarzt begegnet, als mein Vater ausgerastet war, weil der alte Doc meine Schwester in eine Klinik für verhaltensgestörte Kinder einweisen lassen wollte. Kowi, der damals mit seiner Tochter und seiner Enkelin dort war, hatte – wie die meisten in der Praxis –, den Streit mitbekommen und meine Eltern angesprochen.

Vermutlich war es einfacher, manche Dinge zu akzeptieren, wenn bereits alle Hoffnungen als verloren galten. Meine Mutter, die damals streng katholisch erzogen worden war, hatte nie an übersinnliche Dinge geglaubt, schon gar nicht an schamanistischen Hokuspokus. Bis der Schamane in ihr Leben getreten war und ihnen erklärt hatte, dass Belana kein Fluch, sondern der größte Segen dieser Welt war.

Er war ein wundervoller, geduldiger Lehrer und mein Herz zog sich heute noch zusammen, wenn ich an ihn dachte. Kurz vor meinem neunten Lebensjahr war er von uns gegangen. Ich hatte ihn noch auf dem Sterbebett besucht, weil Belana mir gesagt hatte, dass er mich sehen wollte. Woher sie das wusste, hatte sie mir nie gesagt.

Damals konnte ich seinen Tod nicht akzeptieren, aber heute wusste ich es besser. Denn heute ergaben seine Worte, die ich als Kind nicht verstanden hatte, einen Sinn.

Der Alterungs- und Sterbeprozess war so natürlich wie die Luft, die wir zum Atmen brauchten. Ich durfte mich nicht einmischen. Wenn ich zu viel von meiner Energie gab, würde es mich auslaugen, und wenn ich in das Werk von Mutter Natur pfuschte, brachte ich das empfindliche Gleichgewicht ins Wanken. Obwohl ich mir dessen bewusst war, empfand ich Mitleid für das Tier. Sicher, ich konnte nichts anderes tun, als ihm ein bisschen Kraft zu geben, die bald schon wieder aufgebraucht sein würde, aber es war immerhin etwas.

»Hab keine Angst«, wisperte ich, als könnte es mich verstehen. Ich spürte, wie sie sich entspannte und den Kopf gegen meine Hand drückte.

Mir war immer, als wüssten die Tiere ganz genau, wen sie da vor sich hatten. Zum Glück besaßen Gestaltwandler diese Feinfühligkeit nicht, zumindest hatte mich bisher keiner von ihnen enttarnt. Bis auf einen.

Die Energie des Schafs stabilisierte sich und auch wenn mein Handeln eher egoistischer Natur war, erleichterte es mich ungemein zu sehen, dass meine kleine, alte Dolly deutlich besser aussah.

Es war hart, mit einer besonderen Gabe auf die Welt zu kommen und trotzdem nicht in der Lage zu sein, jedem helfen zu können. Aber damit musste ich leben...

Die Schafe blökten mir im Chor hinterher, als ich mich von ihnen entfernte und das Haus hinter mir ließ. Hier gab es keine Weizenfelder, keine Hügel. Nur eine weite, unberührte Landschaft, die knapp vor einem kleinen Wald endete.

Der Duft nach Tannen umwehte und berauschte mich. Ich suchte mir ein schönes Plätzchen und ließ mich dort nieder. Müde legte ich mich auf den Rücken, schloss die Augen und versuchte, Bilder aus meiner Vergangenheit heraufzubeschwören, mich an das Weizenfeld und die Trauerweide zu erinnern.

***

»Hey.«

Ich zuckte so stark zusammen, dass ich mit dem Kopf gegen den Baum schlug. Erschrocken fuhr ich hoch.

Der Wolf war weg und vor mir stand ein nackter Junge mit pechschwarzem Haar, das ihm verzottelt vom Kopf abstand. Er war bestimmt nicht viel älter als meine große Schwester. Vielleicht dreizehn oder vierzehn.

Graue Augen blickten freundlich zu mir hinunter, sein Lächeln ließ mich erschauern. Um seinen Körper flimmerte ein Licht, wie ich es noch nie gesehen hatte. Rot, Blau, Grün und Gold vermischten sich ineinander und tanzten auf aufregende Weise. Sonst sah ich immer nur eine Aura, eine Hülle aus Licht, egal ob bei Menschen, Pflanzen oder Tieren. Aber das hier… das hier war anders und auf eine angsteinflößende Art sehr faszinierend und neu, denn es besaß die Gestalt eines Wolfs. Ich konnte die spitzen Ohren deutlich erkennen, die Form der Schnauze...

»Hast du dir wehgetan?«, fragte er, kam auf mich zu und streckte seine Hand nach mir aus. Kaum hatten seine Fingerspitzen mein Haar berührt, explodierte ein wildes Kribbeln in meinem Bauch, wurde stärker und ein verrücktes Glücksgefühl erfüllte mich. Mir wurde heiß und wieder kalt. Meine Fingerspitzen fühlten sich an, als würden darin winzige Ameisen im Kreis rennen. Ich verlor fast den Verstand... Meine Sinne drehten völlig durch und das, was ich gerade empfand, machte mir mehr Angst als der Wolf vorhin.

Erschrocken schlug ich die Hand weg, rutschte auf meinem Hintern rückwärts und prallte gegen den Baum.

Auch wenn der Junge vor mir sehr menschlich aussah, war er anders als ich. Er war ein Wolf. Vermutlich der Wolf, den ich vorhin gesehen hatte und vor dem ich weggelaufen war.

»Was... was bist du...?«

Seine Hand, die mich eben berührt hatte, hing noch in der Luft. Er senkte sie nur langsam. Sein stechender Blick ruhte noch einen Moment auf mir, bevor er weicher wurde. Er erhob sich, hob beide Hände als Zeichen, dass er mir nicht schaden wollte, und trat ein paar Schritte zurück. Erst als er mindestens drei Meter von mir entfernt war, ließ er sich im Schneidersitz auf den Boden sinken. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Seine Augen betrachteten mich so intensiv, dass mir wieder ganz komisch wurde. »Alles okay?« Er deutete auf meinen Kopf. »Du bist ziemlich hart gegen den Baum geknallt. Hat sich schmerzhaft angehört.«

Die Situation verwirrte und überforderte mich. Warum setzte er sich und warum unterhielt er sich einfach so mit mir? Wer zum Teufel war er und warum ging er nicht einfach, wenn er mir nichts tun wollte? Andererseits wollte das ein Teil von mir nicht... ich wollte mehr über ihn herausfinden, wissen, was er war.

»Geht schon...« Ich rieb über die Beule an meinem Schädel und musterte ihn vorsichtig. Kowi und mein Vater hatten mir schon von Menschen erzählt, die Tiergestalten annehmen konnten, aber in den Geschichten war nie von Jungs die Rede gewesen oder davon, dass sie freundlich waren... Der hier entsprach so gar nicht meinem Bild eines Wandlers, die vor den Menschen in Verborgenheit lebten. In Kowis Geschichten lebten die Wölfe in Rudeln und konnten brutal und blutrünstig sein. Aber der hier wirkte gar nicht so fies auf mich, ich war jedoch noch nie einem begegnet. Bis jetzt.

»Hab ich dich erschreckt?«