Sigina - Susanne Lauer - E-Book

Sigina E-Book

Susanne Lauer

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Beschreibung

Die Bonner Autorin Susanne Lauer mäandert in ihrem neuen Roman entlang der Sieg, im Dreiklang von Beobachtung, Reflexion und Erzählung. Der Strom ist keine statische Kulisse im Rheinland. Die Sieg ist Schauplatz, Historie und Zeitgeschehen, Handelnde und Spiegel der Protagonistin zugleich. «Sigina» ist nicht nur äußerlich betrachtet ein Reiseroman, der auf der Erinnerungsebene Tod und Verlust behandelt und auf der Erzählebene Themen wie Aufbruch, Zusammenhalt, Individualität und das gewollte Anderssein mitlaufen lässt. Die schillernden Persönlichkeiten sorgen für Spannung und reichlich Situationskomik. Ein literarisches Muss für Naturfreunde, Wanderer, Lokalpatrioten, Individualisten und Liebhaber des humorigen Gefechtes.

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Seitenzahl: 250

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Von der Autorin sind bei BOD bereits folgende Titel erschienen:

Generation Smartphone in der Pubertät, Band I u. II (2022), Goodbye NRW-Moin Schleswig Holstein (2023), Haben Sie auch Seniorenteller? (2024), Ferne Zeit Dichter Raum (2024).

Susanne Lauer hat Englisch, Pädagogik, DaZ DaF und Italianistik studiert, zwei kaufmännische Ausbildungen absolviert und war mehr als drei Jahrzehnte lang in Verwaltung, Marketing und Vertrieb, auch in Führungspositionen, in Deutschland und in Italien tätig.

Sitzt die Autorin nicht an ihrem Schreibtisch, wandert sie, begleitet Wasserläufe von der Quelle bis zur Mündung. Susanne Lauer lebt in Bonn.

Für sie.

Die Unvergleichliche!

3

TEIL I

1. Avon

2. S

3. E

4. C

5. U

6. N

7. D

8. U

9. M

10. F

11. L

12. U

13. M

14. E

15. N

TEIL II

16. Outsourced

17. Ihr letztes Kapitel

18. Ben

19. Verzögerung ist Verlust!

20. Die Fremde

21. Bananen sind aus!

22. Freiheit

23. Fragen fragen

24. Dschinni

25. Old tribes good vibes

26. Wenn der Nebel sich lichtet

27. «Maamaaaa!, Mr. Letter ist tot!»

28. Wo bist du?

29. Der Mai geht

30. Wenn die Pflicht ruft, sag’ ich ruf zurück!

31. Die Macht der Sprache

32. Alles fließt! – Asche auch

33. Care gibt!

34. Karma

35. Stromberg

36. Samsara

37. Zucker im Kaffee?

38. Life itself! So ist das Leben!

39. Party-time!

Anhang:

Fotogalerie

Quellennachweise

Noch eins!

TEIL I

1. Avon

Er legt seinen Kopf weit nach hinten, schleudert ihn dann kräftig nach vorne und sofort wieder zurück. So wie ein nasser Hund nach einem Regenspaziergang, um das Fell von Wasser zu befreien. Die Zentrifugalkraft, die durch seine Kopfbewegung entsteht, katapultiert die Wassermoleküle in die Erdatmosphäre. Die kleinen Atome reisen auf ihrer Flugbahn, glitzernd und fröhlich spritzend, unmittelbar an seinem Gesicht vorbei.

Als er seinen Kopf hebt, sieht er, dass sie wieder da ist.

Ihre drahtige Silhouette wirft einen schmächtigen Schatten auf die Brombeersträucher am gegenüberliegenden Flussufer. Sie aber senkt ihren Blick sofort nach unten auf den vermatschten Trampelpfad. Sie wird es auch spüren, dass er wieder da ist, um sie zu beobachten.

Es wird mittlerweile ein gutes Jahr her sein, dass die beiden sich hier am Fluss zum ersten Mal begegneten. Er rudert, sie läuft. Sie haben noch nie ein Wort miteinander gesprochen. Bereits bei ihrer allerersten Begegnung am Fluss wird er instinktiv gespürt haben, dass sie ihn als Störenfried empfinden muss, als einen lästigen Fremdkörper in ihrer Natur. Sie möchte ihn schnell abschütteln, einfach nur loswerden, diesen unerwünschten Störer ihrer Abgeschiedenheit. Ihr Verhalten wirkte auf ihn von Anfang an alles andere als gewöhnlich. Oft flieht sie bei seinem Anblick wie ein plötzlich von einem Fressfeind in der Muße aufgescheuchtes Reh verschreckt davon. Das stets so lautlos, wie sie aufgetaucht ist. Sobald er sich die Augen reibt und sie dann wieder öffnet, ist sie spurlos verschwunden, so wie eine Fata Morgana.

Es wird noch gut einen Monat dauern, bis die Zugvögel zurückkehren, um den Frühling hier im Naturschutzgebiet einzuläuten. Er liebt die kalten Temperaturen, die frische Luft und die Morgenstille.

Für ihn gibt es kein unwirtliches Wetter. Die Wassertemperatur beträgt vier Komma acht Grad. Sie checkt er vorm Rudern immer geflissentlich in seiner App. Bei einer solchen Wassertemperatur sollte man allerdings nur für wenige Minuten ins Wasser gehen. Selbst für abgehärtete und trainierte Personen kann die Kälte schnell gefährlich werden. Aber er geht ja nicht ins Wasser. Jedenfalls nie willentlich. Es sei denn, sein Boot kippt an einer Schnelle um. So wie heute. Er ist nicht der Typ, der in einem Neoprenanzug unbeweglich im Boot sitzt.

Auf der einhundert-fünf-und-fünfzig Kilometer langen Flussreise gibt es sehr viele Stromschnellen. Gut kennt er ihn, seinen Fluss. Ihren Fluss. Der rund dreißig Kilometer entfernte Wasserfall in Schladern, der zwischen 1857 und 1858 im Zuge des Eisenbahnbaus entstand, ist mit seinem Einer nicht passierbar. Dort ist er gern bei Hochwasser. Dann bietet sich dem Besucher ein wahres Naturschauspiel, denn der Wasserfall ergießt sich auf einer Breite über vierundachtzig Metern in mehreren Stufen über vier Meter hinab.

Er zieht sein Boot ans rechte Ufer. Er hat genug für heute. Hinter seinem Rücken erhebt sich das gelbe Johannistürmchen der Abtei Michaelsberg. Oberhalb der ehemaligen Wehrmauer schwebt es vierzig Meter über der Stadt so wie ein mahnender Zeigefinger, auf dem ein metallener Fingerhut sitzt. Er kann es kaum glauben, dass da zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zweihundert «heilbare Irre» untergebracht gewesen sein sollen. Er holt seinen SUV von dem Parkplatz in Meindorf, hievt das vierzehn Kilogramm schwere Boot geübt auf das Autodach, steigt ein, lässt den Motor an und fährt los.

Sollte es reiner Zufall sein, dass sie sich hier am Fluss seit mehr als einem Jahr immer wieder begegnen?

Dass ihrer beider Leben aufeinandertreffen, ohne sich zu berühren?

Wer ist sie wirklich?

Fragen, auf die sie ihm scheinbar keine Antworten geben möchte. Er ist fasziniert. Von ihrer Art und ihrem untypischen Gebaren. Er scheint, gefangen in ihrem Bann, auf Grund gelaufen zu sein.

Er hofft, dass sich die Bänder ihrer beider Leben irgendwann berühren werden, dass sie aus ihnen eine gemeinsame Schleife binden. Keinen festen Knoten, der einem die Luft zum Atmen nimmt, sondern eine leicht lösbare Verbindung aus Schlaufen, die zusammengehören und sich dennoch frei bewegen.

So wie auch ihr Fluss seine ganz eigenen Schleifen bindet, durch die er mal schnell, mal langsam mäandert, genauso wie es ihm seine eigene Natur vorgibt.

2. S

Wie seicht und klar das Wasser ist, in dem sie badet. Die bunten Kieselsteine auf dem Grund des Flusses sind mit dem bloßen Auge deutlich erkennbar. In ihren anmutigen Bewegungen wirkt sie ausgelassen, beinahe so wie ein Kind. Welch’ Privileg, sie beide beobachten zu dürfen: den Fluss, und auch sie.

Am heutigen Sonntagmorgen ist der kleine Fähranleger in Troisdorf-Bergheim unser Schauplatz

Achtung! Die Badende dreht sich plötzlich um, sodass er sich schnell hinter Sieglinde verschanzen muss. Schon seit einigen Jahren fristet die alte Dame ihr Rentnerdasein am rechten Flussufer, auf der kleinen Wiese vor dem Ausflugslokal Zur Siegfähre. Die grüne Stählerne, die ihrem Fährmann hier am Fluss stets treu ergeben, ganze siebenundfünfzig Jahre lang, so geflissentlich ihren Dienst verrichtete. Auf ihre alten Tage macht sich Sieglinde nun als dekorativer Pflanzenkübel nützlich, kultiviert gemeinsam mit den Besuchern dieses idyllischen Ortes liebevoll die Erinnerung an längst verschwundene Tage.

Das Ausflugslokal bleibt noch bis zum ersten April geschlossen. Das Januar-Hochwasser setzt ihm zu. Der Speiseraum ist der Menschen beraubt, das Inventar irgendwo zwischengelagert.

Wenigstens zweimal im Jahr flutet sie. Auch hier. Dann stehen die Flussauen und das Ausflugslokal komplett unter Wasser. Die Gastwirte kennen ihr Spiel. Nur sehr ungern spielen sie mit ihr mit, denn sie ist es, die die Regeln festlegt. Sie selbst betrachtet ihr Verhalten als völlig natürlich. Sie hat schon immer den Weg des geringsten Widerstandes gesucht und gefunden. Für die Menschen ist das Leben mit ihr ein ständiges Hoffen und Bangen, für die Gastronomen ein nervenaufreibendes Kräftemessen.

Neckisch beobachtet unser Fluss, ganz entspannt aus der Horizontalen, wie menschliche Räume nach dem Frühjahr, dank ihres ungestümen Wesens, Jahr für Jahr immer wieder aufs Neue renoviert werden müssen. Sie beobachtet von ihrem Flussbett aus, wie die Handwerker nach getaner Arbeit zuversichtlich auf das

Holz der Tische im Restaurant klopfen. Sie können jetzt in die neue Saison starten. Die Menschen können nicht sehen, dass sie bereits gleich hinter der nächsten Schleife ihre Flussfinger kreuzt. Sie ist nun mal ein wildes und freies Wesen! Sie will sich nicht gängeln lassen. Wie alle Bergflüsse, ist auch sie unbändig und wild. Sie spottet der Menschen, sie kennt keine Angst und sie wird immer ihren Weg finden. Bereits seit dem achten Jahrhundert malträtiert sie der Mensch, greift in ihr genuines, unschuldiges Wesen ein, verändert ihren natürlichen Lauf mit Gewalt, beschmutzt, verschmutzt, vergiftet sie. Einige Male hat er sie schon fast getötet und immer wieder aufs Neue ausgebeutet. Der Mensch versucht es immer wieder, sie, die Unbändige, für seine Zwecke gefügig zu machen. Doch sie lässt sie nicht verbiegen. Sie ist die Natur! Sie war schon lange vor euch allen da und sie wird auch noch da sein, wenn ihr es einmal nicht mehr sein solltet.

Nicht weit von hier verliert sich die Tochter der Berge, links im Strome des Rheins, nach ihrer langen, turbulenten Reise, die auf sechshundert-drei Metern im Gebirge ihren stürmischen Anfang nahm.

Dann wird sie gemeinsam mit ihrem großen Bruder in Richtung Nordsee weiter stromern.

Sei gewiss, wenn man sie nur respektiert, dann ist sie doch gern eure anmutige Naturschönheit, der Magnet für Ausflügler und Badegäste, die glitzernde Goldgrube für die am Ufer angesiedelten Gastronomen.

Er, der in seinem Versteck hinter Sieglinde noch ausharrt, möchte sie nicht verscheuchen, möchte nur beobachten dürfen. Ihre natürliche Eigenart. Ihr ungewöhnliches Tun. Ihr totales Versinken in idyllische Ungestörtheit. Bloß nicht bewegen und kein Geräusch machen!, ermahnt er sich selbst. Nach dem Sonnenaufgang hüllen sich die gefiederten Freunde bereits wieder in Schweigen, sie haben ihre zwitschernde Sonntagsmesse für beendet erklärt. 240 verschiedene Vogelarten leben hier im Naturschutzgebiet, darunter auch einige sehr seltene, zugewanderte.

Auch er ist irgendwie in ihr Leben zugewandert.

Die anmutig im Fluss Badende ist vollständig bekleidet. Sie trägt Schwarz, eine Jeans, ein langärmliges Shirt und einen Kapuzenpullover.

Sie taucht. Dafür ist es doch noch viel zu kalt! Kommt zurück an die Wasseroberfläche, balanciert ein paar Kieselsteine auf ihrer Handoberfläche. Sie klemmt sich einen der Steine zwischen zwei Finger ihrer rechten Hand und lässt ihn gekonnt über die flache Wasseroberfläche flitschen. Ihn, der beobachtet, überkommt ein wenig Neid. Wie gern würde er das auch können! Seine Söhne verzweifeln seit Jahren an ihm, so wie er Steine hüpfen lässt, ist mit ihm überhaupt kein Blumentopf zu gewinnen.1 Jetzt steht sie im Wasser. An dieser Stelle kann jedes Kind stehen. Der Fluss ist höchstens eine Handbreit hoch. Wie alt mag sie sein? Schwer zu schätzen! Sie ist nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt.

Sie liegt auf dem Rücken, lässt sich mit der starken Strömung flussabwärts treiben. Er muss nun geduldig hinter Sieglinde warten. Er kann ja schlecht einfach aus seinem Versteck hervorspringen, um am rechten Flussufer neben ihr herzulaufen.

In der Ferne verlässt sie seitlich das Wasser. Sie spaziert auf dem Kiesbett am linken Ufer zum Anleger zurück.

«Was machen Sie da?!»

Er ist hinter Sieglinde tief versunken, auch in seinen Gedanken und Beobachtungen, sodass er überhaupt nicht bemerkt, dass sich jemand von hinten nähert.

Es ist der Fährmann. Warum schon so früh? Sonntags beginnt er seinen Dienst normalerweise um neun Uhr morgens, aber eigentlich nie unabhängig vom laufenden Saisonbetrieb des Ausflugslokals.

Seit 1777 ist die Gierfähre genau an dieser Stelle. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde sie von Fischern der Fischereibruderschaft betrieben.

Sie ist eine der letzten Einmannfähren Deutschlands. Bedauerlich, dass Matthias Mertens kürzlich verstorben ist. Über vierzig Jahre lang war er der Fährmann, der früher auch die Handwerker ans andere Flussufer brachte und das von halb sechs morgens bis abends um halb elf.

Während er, der beobachtet, über die Historie der Fähre sinniert und sich innerlich ein wenig über den morgendlichen Störenfried ärgert, sieht er, wie sie plötzlich abrupt ihren Kopf hebt, sich aufgeschreckt nach allen Seiten umschaut. Ihr irritierter Blick streift den seinen nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann verlässt sie umgehend diesen idyllischen Ort und verschwindet in den Auen am linken Ufer.

Na, super!, denkt er.

«Nichts!» ruft er dem Fährmann zu und lässt <Sieglinde> wieder allein.

1 Der Weltrekord im Steineflitschen liegt bei 122 Metern.

3. E

Er lässt seinen Einer zu Wasser. Heute kurz nach der Furt in Meindorf. Der Abschnitt davor, ab der Kreisstadt flussabwärts, reizt ihn weniger zum Rudern. Wegen der Buhnen, der künstlich aufgeschütteten Dämme aus Gründen des Ufer- und Hochwasserschutzes. Sie erhöhen durch die Vertiefung der Fahrrillen die Fließgeschwindigkeit des Gewässers, was das Rudern jedes Mal zum Abenteuer macht. Sie verengen aber auch das Flussbett als solches. Dann wird ein Durchkommen schwieriger. Die Autobahnen 560 und 59 flankieren die Wasserader. Auch die dichte Bebauung in den angrenzenden Ortsteilen missfällt ihm, während das Quellgebiet in den Bergen und die obere Sieg, auch wegen der geringen Bevölkerung, paradiesisch sind. Am Unterlauf bevorzugt er die heutige Etappe, von Meindorf bis zur Mündung in Niederkassel-Mondorf. Sechs Kilometer flussabwärts ist ein Kinderspiel bei dieser starken Strömung.

Flussaufwärts braucht er dann schon ein- bis anderthalb Stunden. Der Widerstand der Tochter der Berge sollte nicht unterschätzt werden. Dem kann man dann nur eigene Muskelkraft, viel Erfahrung und eine große Ausdauer entgegensetzen.

Konzentriert schaut er sich um. Er hofft, dass sie wie immer irgendwo rechts oder links in der Uferböschung auftauchen wird.

Zweimal rudert er flussabwärts. Zweimal kämpft er sich flussaufwärts wieder zurück. Trotz der Kälte schwitzt er.

Dann beendet er seine Tour. Der sportliche Genuss wird heute von der Erkenntnis, dass er sie zum allerersten Mal in einem ganzen Jahr nirgendwo in den Flussauen entdecken kann, ein wenig getrübt. Sein so lieb gewonnenes Ritual bekommt einen kleinen schmerzenden Riss.

Vielleicht ist sie krank? Vielleicht ist heute ihr Geburtstag und sie hat etwas anderes vor? Vielleicht hat sie einfach damit aufgehört, ihren Fluss aufzusuchen.

Vielleicht, vielleicht, vielleicht.

Er hofft, ihr ist nichts geschehen. Er packt seine Sachen zusammen und wünscht sich, dass am nächsten Wochenende zwischen ihnen wieder alles beim Alten sein wird.

4. C

Mechanisch schnürt er seine Nikes ein wenig fester. Es muss ewig her sein, dass er wandern war. Es lässt ihm keine Ruhe. Sie lässt ihm keine Ruhe. Ihr Fehlen. Er wird sie suchen. Und hoffentlich finden.

Wie immer parkt er neben dem Sportplatz in Meindorf. In der Straße Am Weiher. Von da aus marschiert er am rechten Ufer flussaufwärts. Er wandert nicht so stramm wie sie. Sie eilt wie die Zeit. Er schätzt, dass sie sechs oder sieben Kilometer in einer Stunde zurücklegt. Er hingegen drosselt sein Tempo. Sein Adlerblick schwenkt vom rechten Flussufer zum linken und wieder zurück. Nichts. Gut, dass es noch Winter ist. So kann er auf Sicht suchen. Ab dem späten Frühjahr säumen gigantische lilafarbene Flussorchideen das Ufer. Sie sind auch aus der Ferne riechbar. Das Laufen entlang des Stromes ist ein einziger olfaktorischer Rausch, der Wanderer durchschreitet den intensiven und sinnlich betörenden Pflanzenduft.

In der Ferne bohrt sich die weiße Kirchturmspitze Sieglars in den Horizont. Er passiert die Autobahn 59, läuft unter ihr hindurch und unterquert die alte Eisenbahnbrücke. Die Melan-Bogen-Brücke, ein bedeutendes Denkmal deutscher Ingenieurbaukunst aus den Jahren 1928/29. Ihr Name geht auf ihren Erfinder zurück. Sie soll dem Hochwasserschutz dienen und eine steife Bewehrung aufweisen. Man hatte sie bis zum Jahr 2020 abreißen und durch einen Neubau ersetzen wollen. Inzwischen schreiben wir das Jahr 2025 und die Eisenbahnbrücke trotzt allen theoretischen Verheißungen. Laut Internetrecherche rechnet man nicht vor 2028 mit dem Bau einer neuen Brücke. Der ganze Spaß soll dann neun Millionen Euro kosten.

Auf der Landstraße, in Höhe des Ortsteiles Friedrich-Wilhelms-Hütte wechselt er die Uferseite. Der Fluss misst an dieser Stelle eine Breite von fünfzig Metern. Er begleitet ihn. Er ist seit gut einer Stunde unterwegs und müsste in etwa fünf Kilometer zurückgelegt haben.

Er wird weiter laufen, bis er sie schließlich findet. Und wenn er sich dafür Urlaub nehmen muss.

Rechts zweigt ein künstlicher Altarm von der Wasserader ab. Er kommt an das Delta, wo die Agger von oben, von Nordosten, in den Fluss einmündet. Sie steuert ihr ein Drittel Flusswasser bei. Eine ganze Menge. Dann erreicht er das Wehr. Der Fluss tost. In seiner Mitte haben sich riesige Baumstämme angesiedelt. Als er näher hinschaut, erkennt er schwarze Kleidung. Ist das etwa ihr Kapuzenpullover? Er ist es! Sie liegt längs auf einem großen Baumstamm. Was macht sie da? Schlafen?

Flink streift er sich Schuhe und Socken von seinen Füßen und watet durch das eiskalte Wasser hindurch, über die Kieselsteine bis zur Mitte des Wehrs.

«Hey, was machst du da? Du bist ja pitschnass!» Sie antwortet nicht, rührt sich auch nicht. Er geht noch näher heran. Und dann noch näher. Die Kapuze ihres Hoodie ist karminrot. Er zieht sie ganz vorsichtig ein wenig zur Seite.

Dann sieht er die Platzwunde an ihrem Hinterkopf, tröpfchenweise sickert das Blut in den klaren Fluss. Er hetzt zurück zum Ufer, um seine Socken zu holen. Sie sollen ihm als Druckverband dienen. Er muss den Blutfluss unbedingt stoppen! Als er sich umdreht, hebt sie plötzlich ihren Kopf:

«Oh, Mann, was machst du denn hier?! Lass mich bloß in Ruhe, hau sofort ab, dalli dalli!»

In der letzten Nacht lag die Lufttemperatur über null Grad, aber so nass, wie sie ist, und dann auch noch das eiskalte Wasser, von all den Bakterien im Fluss ganz zu schweigen. Solch’ eine Naturfreundin ist wahrscheinlich nicht gegen Wundstarrkrampf geimpft. Aber zäh wie Leder wird sie sein und einen eisernen Überlebenswillen haben.

«Ich habe mir Sorgen gemacht! Ich wollte nach Dir schauen. Du musst zum Arzt, die Wunde muss versorgt werden!»

«Hau ab, Mann! Lass mich in Ruhe! Das soll nicht dein Problem sein! Ihr habt uns schon einmal vertrieben!» «Wer, ihr?»

«Na, damals in der Eisenzeit. Wir sind hier ins Tal gekommen, um Euch mit dem Erzabbau zu helfen. Wir haben so viel gebaut, hier in den Flussauen. Und was habt ihr gemacht?! Ihr habt uns vertrieben! Wir waren ein gleichberechtigter Stamm!»

Wovon um Himmels willen redet sie bloß? Sie macht einen wirren Eindruck auf ihn. Ihre Worte. Ohne Hand und Fuß. Völlig zusammenhanglos. Es muss mit ihrer Verletzung zu tun haben. Anders kann er sich das nicht erklären. Vielleicht steht sie auch unter Schock. Sie muss ausgerutscht und dann gestürzt sein. Vielleicht hat sie sogar eine Gehirnerschütterung. Oder ist doch unterkühlt.

Er tupft vorsichtig mit seiner Socke auf ihrem Hinterkopf herum. Abrupt dreht sie ihn weg, sodass er nicht mehr an die Wunde herankommt.

«Hallo, spinnst du?! Sieh’ zu, dass du endlich Land gewinnst!»

Er hört ein Jaulen. Es ist sein eigenes. Sie hat ihn in seine rechte Hand gebissen. So wie ein tollwütiger Hund. Sie ist nicht nur wütend, sondern aggressiv.

Sie windet sich und sie wehrt sich, so wie das Flusswasser hier im Wehr. Als hege er irgendwelche unlauteren Absichten. Sie gebärdet sich wie ein wildes Tier.

Plötzlich wird er geblendet. Von einer scharfen Messerklinge, die im Sonnenlicht glitzert, und die nur ganz knapp an seinem rechten Auge vorbeizieht.

«Wenn du nicht sofort verschwindest, dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass du es tust! Das hier ist kein Spiel. Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten. Ich brauche keinen Samariter. Ich regele das hier ganz allein. Dampf ab, Mann! Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?!»

Ihre Augen blitzen genauso gleißend wie die Messerklinge. Sie stiert ihn drohend an, als wäre er ihr Fressfeind und sie seine Beute.

Er schwankt nur einen kurzen Augenblick zwischen seinem Bedürfnis, ihr helfen und sie versorgen zu wollen und der latenten Furcht um sein eigenes Leben. Sie ist bestimmt nicht der Typ, der lange fackelt. Er traut ihr eine ganze Menge zu.

Sie würde wahrscheinlich alles tun, um sich selbst und ihr Dasein mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Wer weiß, was sie in der Vergangenheit schon alles erlebt hat. Sie wird für ihr Verhalten Gründe haben.

Also weicht er langsam zurück zum Ufer. Geschlagen, rückwärts, stets umsichtig. Lässt sie dabei nicht einen Moment aus den Augen. Er lässt sie einfach da, wo sie ist. In dem Zustand, in dem sie sich gerade befindet. Unterlassene Hilfeleistung.

Dann dreht er sich um und verlässt das Wehr über die linke Uferseite. Hinter einem Baum auf dem Uferweg verständigt er telefonisch einen Notarzt.

Sie kann ihn nicht mehr sehen.

Hofft er zumindest.

5. U

Als er mit seinem Einer den Fähranleger in Troisdorf-Bergheim passiert, sitzt sie auf auf einer Bank am linken Flussufer.

«Na, alles verheilt, geht es dir wieder besser?», ruft er freundlich über den Fluss hinweg.

«Meinst du eigentlich, ich wäre blöd? Das warst du doch mit dem Notarzt! Wag’ es nicht noch einmal! Ich musste bis zum nächsten Tag in diesem verdammten Krankenhaus bleiben und völlig bescheuerte Untersuchungen über mich ergehen lassen!», zetert sie.

Dann springt sie jäh auf und verlässt die Flussauen über den Trampelpfad nach rechts in Richtung Meindorf.

6. N

Am Sonntag nach dieser Begegnung kann er sie nirgends entdecken. Auch am nächsten nicht. Sogar eine Woche später ist er immer noch am Fluss allein.

Er unterquert den Schnellzubringer bei Troisdorf-Bergheim und mäandert mit dem Bergfluss in dessen Tempo gemächlich unter den Ästen alter Bäume in Richtung Mündung.

Seine gefiederten Freunde zwitschern fröhlich. Die Sonne sendet von oben erste wärmende Strahlen. In diesem natürlichen Habitat brüten sechzig verschiedene Vogelarten. Die Flussauen sind ein wahres Dschungel-Paradies. Besonders im Frühling bieten sie dem menschlichen Auge eine romantische Farbenpracht. Im Wasser tummeln sich munter einige Stockenten und ein paar Haubentaucher. Einige Eltern ziehen wie Perlen an einer Kette flauschige, noch unsicher paddelnde Sprösslinge hinter sich her. Bunte, leichtgewichtige Schmetterlinge flattern durch die flirrende Luft. Die kobaltblauen Libellen sind ein Augenschmaus.

Wasserläufer gleiten gekonnt wie auf Schlittschuhen über den Fluss. Zwischen den Kieselsteinen spielen Miniaturfischchen aufgeregt miteinander Verstecken. Der Fluss ist so sauber und flach, dass sich die Wunder der Natur mit bloßem Auge bewundern lassen. Das Mündungsgebiet ist eines der wenigen naturbelassenen Wassergebiete in diesem Bundesland. Graureiher überfliegen es, stumm wie Segelflugzeuge, um ihre Horste in schwindelerregenden Höhen in den Pappeln anzusteuern. Nur all zu gern haben sie sich hier angesiedelt, da der Fluss wieder so fischreich ist. 331 Pflanzenarten fühlen sich hier inzwischen heimisch.

Das tut er seit drei Wochen nicht mehr. Sich hier am Fluss wirklich heimisch fühlen. Seit sie nicht mehr da ist. Wie vom Erdboden verschluckt. Daran ist er wahrscheinlich nicht ganz unschuldig. Er wird sie aus ihrem natürlichen Habitat vertrieben haben, durch sein ständiges, rituelles Erscheinen und seinem ewigen Durchrudern ihres Daseins.

Unbeantwortete Fragen drängen sich ihm auf, so wie ein penetranter Bettler in der Innenstadt.

Wo ist sie jetzt?

Wo hält sie sich überhaupt regelmäßig auf?

Wo schläft sie?

Hat sie ein Zelt in ihrem Rucksack?

Wo schlägt sie es auf?

Und was treibt sie im unwirtlichen Winter?

Läuft sie den kompletten Fluss zu Fuß ab?

Und seine allerwichtigste Frage:

Was kann er jetzt bloß tun, dass sie zurück kommt?

Er rudert immer abwechselnd mal durchs obere, mal durchs untere Flusstal. Diese Wasserader ist so abwechslungsreich, die Landschaft so phantastisch.

Mit seinen Freunden legte er im letzten Sommer die siebzig Kilometer Flussstrecke von Wissen bis Siegburg in drei Tagen zurück.

Im Laufe des letzten Jahres begegnete sie ihm an verschiedenen Stellen des Stromes. Mal hier, mal dort. Je länger er darüber nachdenkt, um so überzeugter ist er von dem Gedanken, dass sie eine Flussläuferin sein muss. Dass dieser Strom exakt ihr Weg, ihre Route durch die Natur, ihr Kompass durchs Leben und ihr ZUHAUSE ist.

Er wird das Schicksal nicht einfach so mäandern lassen und sich ihm tatenlos ergeben, einfach auf dem Fluss weiter herum rudern, als sei nie etwas geschehen. Er möchte nicht in seichten Gewässern passiv warten, auf etwas, dass ohne seinen Einfluss vielleicht niemals wieder eintreten wird:

Ihre HEIMKEHR in diese Idylle.

Er schmiedet einen Plan.

7. D

Er parkt am Ortseingang Buisdorf in Sankt Augustin, im Süden der Kreisstadt, und nimmt die Wahnbachtalstraße. Linker Hand erhebt sich der 55 Meter hohe Turm Tower Power der Rheinischen Zell-Wolle AG. Auf dem gelben Ziffernblatt der Turmuhr kann er erkennen, dass es exakt zehn ist. Er passiert das pastellblaue Gebäude des Siegburger Rudervereins. Die Sonne steht bereits am blauen Himmel, dessen Farbintensität nicht ein Wölkchen trübt. Auf der Wiese parkt, zwischen den Bäumen, unweit des Flusses, ein blauer Hänger mit Siegburger Kennzeichen, der zwei zitronengelbe Ruderboote aufgeladen hat. Er biegt nach links ab, steigt die Böschung hinab. Er blickt in einen tiefen Schacht, auf dessen Grund Wasser umgewälzt wird. Im Hintergrund erheben sich die Berge des Siebengebirges. Die Bäume spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Unzählige, massive Felsbrocken stapeln sich am Ufer.

Die Lachszählstation befindet sich genau gegenüber, auf der anderen Flussseite. Da kommt er aber von hier aus nicht hin. Er nähert sich weiter dem Wehr. Was für ein Anblick! Die Sonne gebärt, aufgrund der künstlich erzeugten, schnellen Fließgeschwindigkeit der Sieg an diesem Wehr unzählige hell glitzernde Sterne im Wasser, die in einem atemberaubenden Tempo wild durcheinander tanzen. Er dreht sich einmal um seine eigene Achse. Was für ein beeindruckender Panoramablick, was für eine tolle Landschaft! Am Ufer sitzen ein paar Menschen entspannt in der Sonne. Urlaubsatmosphäre. Er kraxelt über die Felsen, die ihn unmittelbar an Strände auf der Insel Elba erinnern. Er beobachtet die Wasserfälle, die im Wehr in die Sieg stürzen.

Es ist Sonntag. In etwa zwei Stunden wird hier dank des lieblichen Wetters ein ziemlicher Andrang herrschen. Der Verein ermöglicht Interessierten an einigen Tagen im Jahr die Besichtigung der Lachs-Kontroll- und Fangstation am Wehr in Buisdorf.

Eigentlich möchte er nur prüfen, wie die Lage zum Rudern ist. An dieser Stelle ist es möglich, mittels einer Bootsrutsche elegant vom Unter- in den Oberfluss zu wechseln.

Das regionale Naturschutzprojekt rund um den Lachs gefällt ihm. Lange war diese Fischart im Rhein und seinen Nebenflüssen ausgestorben. Früher wanderten Lachse zu Hunderttausenden zum Laichen die Flüsse hinauf. Aber dann nahmen Überfischung, Uferbefestigungen und Wehre ihnen den Lebensraum. Dank der Errichtung von Flusstreppen und dem Gewässerschutz konnte der Lachs hier wieder angesiedelt werden. In Skandinavien erwirbt man Lachseier, um diese in Buisdorf auszubrüten (Die Eier reifen unabhängig von der Wassertemperatur!). Im Frühjahr werden dann die fünfzehn Millimeter großen Fischchen im Strom wieder ausgesetzt. Sie wandern über Flusstreppen durch den Rhein in die Nordsee bis hin zum Nordatlantik vor Island, aber vor allem nach Grönland, wo sie viele Krebse und Kleintiere als Nahrung vorfinden.

Der atlantische Lachs frisst sogar seine Artgenossen im Meer. Im Fluss gehören Junglachse, die im Süßwasser das Licht der Welt erblicken, zu seiner Beute. Der atlantische Lachs ist ein Wanderfisch: Er laicht im Süßwasser (Das Weibchen legt bis zu 10.000 Eier!), wächst (70 bis 75 Zentimeter in zwei Jahren) und frisst im Meer. Zum Laichen kehrt so mancher Lachs in die Heimat zurück. Man schätzt, dass es so um die fünfzig Prozent der künstlich gezüchteten Fische sind. Nicht selten schwimmen sie eintausend Kilometer und mehr.

Das grelle Licht blendet ihn. Er kramt seine Sonnenbrille aus dem Rucksack und setzt sie auf. Als er zum anderen Ufer hinüber blickt, kann er sie sehen! Sie kniet, mit dem Rücken zu ihm, auf einer Metallbrücke, an der Stufen hinunter ins Wasser führen. Sie greift in eine große, grüne Kiste, in der ein mächtiger Lachs so heftig mit den Flossen um sich schlägt, dass das Wasser wie eine Fontäne hoch spritzt und die Umstehenden nass macht. Er hört spitze Schreie und Kinderlachen. Jetzt, da er genauer hinüber schaut, sieht er eine kleine

Gruppe, die sich am anderen Ufer vor einem Baum versammelt hat. Es muss sich um eine der geführten Besichtigungen handeln.

Er ist ebenso irritiert wie erfreut. Er ist etwas verunsichert, weiß nicht, was er jetzt tun soll. Bleiben oder lieber schnell verschwinden? Er möchte sie auf keinen Fall ein weiteres Mal von der Sieg vertreiben. Ist aber eigentlich auch unwahrscheinlich, da sie ja eine offizielle Verpflichtung zu haben scheint. Er ist beruhigt, dass sie lebt, dass es ihr scheinbar gut geht. Im Grunde möchte er sie nur ein wenig beobachten, was sie da so tut. Möchte herausfinden, wer sie tatsächlich ist.

«Wo lasst Ihr die kleinen Fischchen denn frei?», hört er einen Jungen mit rötlichem Wuschelkopf fragen.

Da es noch relativ früh ist, noch kein Verkehr auf der Wahnbachtalstraße lärmt, kann er die zarten Stimmen der jungen Menschen gegenüber sehr gut hören.

«In Kaldauen», antwortet sie, »ungefähr fünf Kilometer von hier, immer am Fluss entlang, Richtung Hennef. «Und wie macht ihr das dann?

Werft ihr sie einfach ins Wasser? Tut ihnen das nicht weh? Bluten sie dann nicht?»

Ihm gefällt die natürliche Wissbegierde des Knaben. Die kindliche Art, ohne Umschweife nach Wesentlichem zu fragen. Wie bedauerlich, dass viele von uns Großen diese Fähigkeit unterwegs auf der Reise ins Erwachsenenleben verlieren.

«Nein, so etwas machen wir nicht! Die sind doch noch ganz winzig! Wir schützen sie doch. Ihnen soll auf ihrer Reise bloß nichts geschehen!» Sie lächelt verschmitzt. Das erste Mal, dass er sie überhaupt eine Miene verziehen sieht. Abgesehen von ihren wütend blitzenden Augen, sobald sie ihn unterwegs entdeckt. Es gefällt ihm, was er da drüben sieht und hört.

«Wir transportieren sie in Kannen und lassen sie mittels eines Schlauches zu Wasser. Dort, wo viele Kieselsteine sind, damit sie sich verstecken können und Nahrung finden. Das hat man am Anfang des 20. Jahrhunderts auch schon so gemacht, also vor mehr als zweihundert Jahren!»

Er folgt, auf seiner Uferseite, auf einem Felsbrocken sitzend, ein wenig abseits vom Wasser, ihrem leidenschaftlichen Vortrag über die regionale Fauna.

Sie engagiert sich für die Natur. Eine völlig neue Facette an ihr. Neben den bereits bekannten, die der ewig Flüchtigen, Unnahbaren, sich Wehrenden.

«Nimmst du mich mal mit, wenn du mit deiner Kanne am Fluss nach Klauen läufst? Meine Mama ist bestimmt einverstanden!», meldet sich ein anderer etwa Neunjähriger enthusiastisch.

«Kaldauen», korrigiert sie das Kind amüsiert. «Beim Aussetzen kannst du mich leider nicht begleiten, vielleicht ein anderes Mal, wenn ich am Strom laufe.»

Bevor die Veranstaltung sich dem Ende neigt, die Zuschauermenge sich auflöst, er womöglich noch von ihr entdeckt werden wird, verlässt er das Wehr. Er läuft zurück zum Wagen, lässt den Motor an und verlässt Buisdorf auf demselben Weg, auf dem er kam.

Die Wanderung von Hennef nach Siegburg über die Lachs-Zählstelle erfolgte am 04.04.2025; eine weitere von Buisdorf/Zählstelle nach Meindorf am 07.04.2025 (Vgl. das Komootprofil der Autorin)

8. U

Donnerstag, 27. Februar. Er schnürt seine Laufschuhe, packt den Rucksack, fährt mit dem Bus nach Hennef