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Mördersuche zwischen Dolci, Vino und Amore: »La Signora Commissaria« Giulia Ferrari löst ihren ersten Fall – perfekte Urlaubs-Lektüre für alle Toskana-Krimi- und Italien-Fans! Vor Jahren hat ein dunkles Geheimnis Commissaria Giulia Ferrari gezwungen, ihr Heimatdorf Santa Croce in der Toskana zu verlassen. Doch als mitten auf der Ponte Vecchio in Florenz ein Mord geschieht und anschließend unter mysteriösen Umständen die Leiche verschwindet, wird die Sonderermittlerin vom Innenminister persönlich auf den Fall angesetzt. Giulia merkt schnell, dass sie bei den Ermittlungen allein nicht weiterkommt. Unterstützung erhält sie ausgerechnet von einem alten Bekannten: Luigi Battista, ehemaliger Commissario von Florenz und mittlerweile Gastwirt in Santa Croce. Unter den aufmerksamen Augen des gesamten Dorfes findet das ungleiche Ermittler-Paar nicht nur einen Mörder … »La Signora Commissaria und die dunklen Geister« ist der erste Band der Toskana-Krimi-Reihe von Pietro Bellini. Zwischen malerischen Weingütern, trubeligen Piazzi und mittelalterlichen Städtchen ermittelt mit Giulia Ferrari eine Kommissarin, die man nie mehr vergessen wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
PIETRO BELLINI
SIGNORACOMMISSARIAund die dunklen Geister
EIN TOSKANA-KRIMI
Knaur e-books
Vor Jahren hat ein dunkles Geheimnis Commissaria Giulia Ferrari gezwungen, ihr Heimatdorf Santa Croce in der Toskana zu verlassen. Doch als mitten auf der Ponte Vecchio in Florenz ein Mord geschieht und anschließend unter mysteriösen Umständen die Leiche verschwindet, wird die Sonderermittlerin vom Innenminister persönlich auf den Fall angesetzt. Giulia merkt schnell, dass sie bei den Ermittlungen allein nicht weiterkommt. Unterstützung erhält sie ausgerechnet von einem alten Bekannten: Luigi Medici, ehemaliger Commissario von Florenz und mittlerweile Gastwirt in Santa Croce. Unter den aufmerksamen Augen des gesamten Dorfes findet das ungleiche Ermittler-Paar nicht nur einen Mörder …
»La Signora Commissaria und die dunklen Geister« ist der erste Band der Toskana-Krimi-Reihe von Pietro Bellini. Zwischen malerischen Weingütern, trubeligen Piazzi und mittelalterlichen Städtchen ermittelt mit Giulia Ferrari eine Kommissarin, die man nie mehr vergessen wird.
»Eine kleine Gasse herunter, dicht stehen Häuser neben Häusern,
doch dann auf einmal zur Rechten, gänzlich unerwartet,
wie ein Wunder.
Die Kuppel, die Fresken, die Türme, der Duomo.
Ein Anblick. Und keine Frage mehr:
Dass dies erschaffen wurde,
zeigt, dass es Gott geben muss, kein Zweifel, keiner.«
(A.H.)
»Un caffè, per favore, Luigi, e un bicchiere di vino rosso – und es macht nichts, wenn du es sehr voll gießt.«
»Ma certo, Claudio«, brummelte Luigi über den Tresen, wischte sich die wasserfeuchten Hände an der schwarzen Schürze ab und trat an die Cimbali-Kaffeemaschine, um einen perfekten Espresso zu zaubern.
Er liebte diesen Moment kurz vor elf, wenn die große silberne Maschine durch die vielen Bestellungen des späten Vormittags endlich die Wärme und den Druck erreicht hatte, die der caffè brauchte, um richtig delizioso zu sein.
Während der Espresso in die Tasse lief, öffnete er schnell die Flasche des Roten aus dem Chianti, um das Glas für Claudio einzuschenken. Der Müllfahrer war einer seiner ältesten Stammgäste. Sein Tag begann um halb sechs Uhr morgens – er verdiente wirklich einen guten Schluck.
»Alora, caffè e vino«, sagte Luigi und stellte beides vor den breiten Mann im blauen Overall ab, der an der Bar Platz genommen hatte.
»Grazie, dottore«, sagte Claudio, und Luigi verdrehte kurz die Augen. Sie konnten es nicht lassen, die Bewohner des Städtchens: Immer noch war er nicht einfach nur der Barista – so, wie er es gerne sein wollte. Die Insignien seiner Vergangenheit schwangen immer noch mit, jeden Tag.
Er betrachtete diesen Ort, der sein liebster Ort auf der ganzen weiten Welt war: Der Tresen, an dem jeder Zentimeter besetzt war – um diese Stunde kamen die Handwerker, die Müllfahrer, der Postbote Carlo und die Sekretärinnen aus dem Rathaus auf den letzten Cappuccino des Tages, bevor ab zwölf nur noch Espresso bestellt werden durfte.
Hinten im Raum standen die sieben kleinen runden Marmortische, an denen zu dieser Stunde nur wenige Gäste saßen: Ein Touristenpaar teilte sich ein Panino, ein Angestellter von den Stadtwerken, den Luigi nur vom Sehen kannte, hatte eine geschäftliche Besprechung mit einem Kunden und einem halben Liter Weißwein. Das Leben war schön in Santa Croce.
Santa Croce, das war in Italien ein Sammelbegriff, wie in Deutschland Neustadt oder in Frankreich Saint-Martin. Es gab noch ein Dorf namens Santa Croce nahe Pisa – und so viele Weiler dieses Namens auf Sizilien, auf Sardinien, in Kalabrien. Doch keines, wirklich kein anderes Santa Croce konnte für Luigi den gleichen Charme aufbieten wie dieses Dorf, das ihm hier zu Füßen lag.
In anderthalb Stunden würde jeder Tisch hier drinnen besetzt sein, genau wie die vier runden Tische, die vor dem Lokal standen. Carla stand schon seit zehn Uhr am Herd und bereitete das pranzo vor, das Fiona, die junge Kellnerin, und er heute servieren würden.
Luigi trat an die Tafel und schrieb darauf:
Primo: Tagliatelle al ragù
Secondo: Orata alla griglia
Er trat einen Schritt zurück, betrachtete seine Sauklaue und nickte. Auf die Dorade vom Grill freute er sich ganz besonders. Carla würde ihm eine aufheben, das war sicher. Tulipan strich um seine Beine, ein untrügliches Zeichen.
»Fiona, ich bin kurz draußen. Komm, andiamo.«
Der Golden Retriever rannte voraus, es war wohl wirklich dringend.
Luigi trat in die goldene Sonne vor der Bar und atmete tief durch, während Tulipan sich an seiner liebsten Platane auf der anderen Straßenseite erleichterte.
Er betrachtete erst seinen geliebten Hund, dann hob er den Blick und sah über das niedrige Mäuerchen hinunter ins Tal – was für ein Panorama. Wer, wenn nicht er, betrieb das schönste Bar-Ristorante Italiens?
Hier, hoch oben, genau unterhalb des Klostergartens, an der Via San Marco, standen nur vier weiße Tische mit je drei Stühlen unter einer kleinen Pergola, die mit wildem Wein bewachsen war.
Dann kamen die Straße und genau dahinter, umschirmt von drei rund geschnittenen Platanen, das niedrige Mäuerchen, über dem sich ein Bild eröffnete, das eines Da Vinci, Michelangelo und Botticelli würdig gewesen wäre: Erst der dichte Wald aus Zypressen und Pinien, und dann, nur ein kleines Stück dahinter, ergoss sich die Stadt wie ein Meer aus roten Dächern und cremefarbenen Häusern, dicht an dicht, ein wildes Auf und Ab, als hätte ein Tetrisspieler einen ganz besonders glücklichen Tag erwischt. Um dann, genau in der Mitte des Bildes, sein Meisterwerk zu vollenden:
Denn dort, im gleißenden Sonnenlicht, ragte wie eine göttliche Erscheinung die Kuppel des Duomo aus dem Häusermeer – majestätisch und anmutig in ihrem Rot und Weiß, mit ihren Streben und dem Campanile.
Von dort unten wehte die Melodie der Stadt hier herauf wie das Werk eines verrückten Dirigenten: Das Hupen der Busse, die Pfeifen der Verkehrspolizisten, das sonore Summen der Ringautobahn Richtung Bagno a Ripoli.
Luigi Battista hatte das Bild heute ganz früh am Morgen schon anders gesehen: Als die Nebelschwaden über die Stadt gezogen waren, wie es im April so oft vorkommt. Ganz früh war er aufgestanden, wie stets, Carla hatte noch geschlafen, doch er hatte sich einen Tee aufgesetzt, war ans geöffnete Badezimmerfenster getreten und hatte den Ausblick genossen.
Er hatte die Ironie nie verstanden, die den Architekten ihres Wohnhauses dazu veranlasst hatte, ausgerechnet das Fenster der Nasszelle nach Süden gehen zu lassen – als einziges Fenster in der ganzen Wohnung. Die anderen Fenster – Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer – gingen nach Norden und Osten, man sah sogar sehr gut die belebte Piazza Andreotti, nur eben nicht Florenz. Und was war Santa Croce ohne Florenz?
Er betrachtete noch einmal versonnen die Stadt, während Tulipan drüben an der Mauer nach den Spuren anderer Vierbeiner schnüffelte, er war ganz in seinem Element.
»Komm, Tulipan, gehen wir wieder rein«, sagte Luigi, doch in dem Moment zerriss ein Quietschen die Stille, so laut, dass der Golden Retriever augenblicklich den Schwanz einzog und ängstlich den Kopf hob, auf der Suche nach der Gefahrenquelle. Als er das Auto den Berg hinaufrasen sah, das eben in der letzten engen Kurve heftig gebremst haben musste, erkannte Tulipan wohl, dass keine akute Gefahr für sein Hundeleben bestand, und gähnte ausgiebig. Das Rasseln des Boxermotors ließ Luigi frühzeitig erkennen, welches alte Gefährt hier die Schikanen nahm, als sei es ein neumodischer Rennwagen. Er blieb an der Tür zur Bar stehen und betrachtete kopfschüttelnd die Lage: Jetzt bremste der gelbe VW Käfer, die Bremsscheiben des Wagens mussten geglüht haben, denn es drang wirklich ein wenig schwarzer Rauch aus den Radkästen.
Das Oldtimer-Cabriolet mit dem offenen Dach rollte aus und holperte ein Stück über den Bordstein, um dann halb auf dem noch engeren Gehweg zum Stehen zu kommen.
Die Tür ging auf und wurde dynamisch wieder zugeschlagen.
Eine Frau stieg aus und kam mit selbstbewusstem Schritt auf ihn zu, den Kopf ein wenig hochgereckt. Er war sich beinahe sicher, dass sie nicht ihn suchen konnte – er jedenfalls kannte sie nicht. Und doch spürte er, dass da etwas war: Ihr Blick war stet und ruhend, und er sah diese ausgebeulte Stelle an ihrer Taille unter dem dunkelblauen Blazer. Die dunkelbraunen Haare, die hinter ihr herwehten, als hätten sie Mühe, mit ihrer Besitzerin Schritt zu halten. Nein, es gab keinen Zweifel: Er hätte ohne Zögern seine Vespa darauf verwettet, dass diese Frau die gleiche Ausbildung genossen hatte wie einst er. Dass sie durch die hohen Weihen der Scuola Superiore di Polizia im römischen Stadtteil Flaminio gegangen und deshalb zweifellos eine Polizistin war.
Er pfiff Tulipan heran und schloss die Augen. Hörte ihre leichten Schritte auf dem Kopfsteinpflaster näher und näher kommen, dann ein letzter flammender Schritt, Stille.
»Buongiorno, Signor. Commissario Battista, nehme ich an?«, fragte sie. Obwohl: Eine Frage war es gar nicht, und wenn Luigi sie schon eine Weile gekannt hätte, hätte er gewusst, warum: Es war eine Feststellung, die ihr zuwider war, weil sie nur Zeit kostete.
Langsam öffnete er die Augen, sein Blick ruhte auf Tulipan, dem Treuen, der genau neben ihm Platz gemacht hatte, dann begannen Hund und Herrchen gleichermaßen, sie abzumessen, indem der Blick von unten nach oben entlangfuhr: Die Schuhe, von denen Luigi so wenig Ahnung hatte wie von Autos, waren schlichte, aber offenbar nicht ganz billige Ballerinas. Keine Strumpfhosen, nur nackte Knöchel. Die blauen Jeans an den schlanken Beinen, dann der Blazer, der, wie schon festgestellt, ausgebeult war, weil darunter die Beretta 92 steckte, die Standardpistole der Staatspolizei.
Die eigentliche Sensation war aber ihr Gesicht: Umrahmt von den dunklen Haaren war ihre Haut einen Tick zu hell für eine Italienerin, und in diesem heißen Juli hatten sich einige Sommersprossen eingenistet – die mediterrane Sonne war ohne Gnade.
Er versuchte, sich zu entscheiden, wie alt sie wohl war: Anfang dreißig? Ende dreißig? Es gelang ihm nicht, ihr Antlitz war zeitlos, entschied er.
Tulipan hatte genug gesehen, er legte seinen müden Kopf wieder ab und schloss die Augen.
Luigi aber wollte sich in den nächsten Jahren ohrfeigen, dass er diesem Moment nicht mehr Aufmerksamkeit beigemessen hatte – dass er keine Aufzeichnungen darüber angefertigt hatte – kein Gedankenprotokoll.
Denn das war der eine Augenblick, in dem er Giulia Ferrari kennenlernte.
Eine Begegnung, die sein Leben für immer verändern würde – nur wusste er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ebenso wenig wusste er, dass es eben doch nicht ihre erste Begegnung war – doch Giulia war sehr froh, dass sich der staunende Mann daran nicht erinnern konnte. Wie sollte er auch?
»Ich bitte Sie«, gab er knapp zurück. »Luigi, das genügt. Was wollen Sie, Signora? Dass Sie im absoluten Halteverbot parken, darauf brauche ich Sie wohl nicht hinzuweisen, oder? In zehn Minuten kommt die Müllabfuhr, wie jeden Donnerstag um halb zwölf, Sie sollten sich also beeilen.«
»Signor Battista, mein Name ist Commissaria Giulia Ferrari. Spezialeinheit Kapitalverbrechen im Innenministerium.«
Er nickte sie an und streckte seine Hände aus, um die Umgebung abzumessen.
»Na, da sollten Sie die Herrlichkeit der Landschaft genießen. Man ist sicher immer froh, wenn man mal den Viminale hinter sich lassen kann, oder?«, sagte er und fand seinen eigenen Scherz kläglich.
Doch die Trutzburg des Innenministers auf einem der sieben römischen Hügel sah nicht nur von außen aus wie ein Gefängnis – der Viminale war auch das Hassobjekt eines jeden italienischen Polizisten, weil die Entscheidungen, die von innen nach außen drangen, stets an Praxisferne und Irrsinn nicht zu übertreffen waren. Und auch die beinahe jährlich vollzogenen Wechsel an der Spitze – durch Kabinettsumbildungen, Neuwahlen oder anderen typisch italienischen Wahnwitz – änderten daran nichts.
»Wir können uns die Höflichkeiten sparen«, stellte sie klar, und Luigi fragte sich, an welcher Stelle das Gespräch bisher eine Höflichkeitsformel enthalten hatte. Obwohl: Etwas an ihr, der verbindliche Ton, die selbstsichere, aber freundliche Stimme, sagten ihm, dass sie sicher keine römische eingebildete Karrierefrau war, sondern ganz genau wusste, wie man mit Menschen umging.
Gerade trat Claudio, der Müllfahrer, aus der Tür, die Augen aufgerissen angesichts der hübschen Frau im Gespräch mit dem alten Barista.
»Mund zu, Claudio«, entfuhr es Luigi.
Der Müllfahrer grinste und sagte: »Ciao, caro.«
Sie lächelte sanft, als der Mann mit der orangefarbenen Weste verschwand, dann wandte sie sich wieder Luigi zu.
»Es ist ein Verbrechen geschehen. Dort unten«, sagte sie und wies hinunter auf die glühende Stadt, »ein sehr seltsames Verbrechen. Es duldet keinen Aufschub, und ich brauche Sie, damit Sie mir helfen.«
Ihr Blick ruhte auf ihm, keine Spur von Unsicherheit. Herrgott, jetzt suchten sie ihn schon in seinem neuen Refugium.
»Signora Commissaria, Sie müssten ja eigentlich bestens informiert sein, da wir uns noch nie im Leben gesehen haben und Sie es dennoch für angemessen halten, mich hier oben in meiner Bar aufzusuchen. Jedenfalls ist es an mir, Sie darauf hinzuweisen, dass ich kein Angehöriger der Polizia di Stato mehr bin, seit zwei Jahren nicht mehr. Mein oberster Dienstherr ist nicht mehr der Questore von Florenz, sondern es sind meine Gäste, ich bin der Herr über eine Küche, in der sich meine Frau nichts von mir sagen lässt, über eine Kellnerin, die nie zuhört, und über meinen Hund, er hört am besten, und das will schon was heißen. Ich mache den besten caffè von Santa Croce – aber nur, weil Mario seine Bar letztes Jahr geschlossen hat – und ändere einmal täglich das Menü auf der Karte. Basta. Ich führe hier oben ein sehr beschauliches Leben. Und ich gedenke nicht, daran jemals wieder etwas zu verändern.«
Sie hielt ihren Blick auf Luigi gerichtet, immer noch freundlich, nur einmal strich sie sich mit der Hand die dunklen Haare aus dem Gesicht, als der Wind allzu keck hindurchgefahren war.
»Ich habe einen Auftrag des Innenministers. Der lautet: Löse alle Fälle, die ich dir auftrage. Mit allen Mitteln. Such dir die besten Leute.« Ihre Stimme war kühl, keine Spur von Druck oder dickem Auftragen, wie ihn diese Leute aus Rom sonst anschlugen. »Signor Battista, ich mache keine halben Sachen. Sie sind der beste Mann in Florenz, weil Sie die Stadt da unten kennen wie kein anderer Polizist. Es ist mir ehrlich gesagt völlig wurst, ob Sie Ihren Dienst quittiert haben, weil Sie den Weißwein zu sehr lieben oder weil Sie die Fratze des eitlen Questore nicht ertragen konnten. Alles, was ich will, ist, dass Sie für diesen einen Fall zurückkommen und mir helfen. Danach können Sie sich hier oben wieder vor Ihre Bar stellen und so viel ins Tal schauen, wie Sie mögen.«
»Ich denke, Sie verstehen mich nicht. Ich bin kein Polizist mehr …«
»Sie sind wieder einer.« Sie reichte ihm das schmale Kärtchen, das einen Beamten der Polizia di Stato auswies, darauf sein Name, sein Foto und seine Dienstzeit. Von heute bis in einer Woche ging die. Sie hatte wirklich an alles gedacht. »Mein Chef hat Ihren ehemaligen Chef bereits angerufen, Signor Battista, Sie können gerne ins Präsidium gehen und dort nachfragen. Der Präfekt ist ebenfalls ganz und gar überzeugt davon, dass Sie für einige Tage abkömmlich sein sollten. Ach so, hier, nehmen Sie.«
Sie öffnete ihre Handtasche und reichte ihm, mitten auf der Gasse, im Eingang der Bar und völlig offensichtlich, eine schwarz glänzende Waffe.
»Sie ist aus dem Innenministerium, ich habe es vorher nicht in die Questura geschafft.«
Luigi winkte ab.
»Nein, auf keinen Fall. Ich trage keine Waffe mehr. Nie mehr. Sehen Sie mich an, ich werde niemanden mehr verfolgen, bei meiner Fülle. Also muss ich mich auch nicht verteidigen, und ich habe ja ohnehin nicht vor, wieder als Polizist zu …«
»Ich seh Sie unten in der Stadt«, sagte sie, ohne auf das Ende seines Satzes zu warten. Dabei steckte sie die Waffe schulterzuckend wieder weg. »Sagen wir, in anderthalb Stunden? Ponte Vecchio, ich werde dort auf Sie warten.«
Wieder wartete sie seine Antwort nicht ab, drehte auf den Ballerinas um und stieg in ihren Käfer, um mit quietschenden Reifen zu wenden und den Abhang hinunterzusausen. Das Stakkato des Motors blieb über der Straße hängen.
Luigi sah ihr lange nach.
»Tulipan, Tulipan, porca miseria«, brummelte er, doch der Golden Retriever hob nur kurz die Ohren, dann schlief er einfach weiter.
Luigi ließ ihn auf der Terrasse liegen und ging hinein. Fiona hatte einen roten Kopf, weil sie zwischen der Kasse und der alten Cimbali hin- und herhetzte.
»Lass mich das machen«, sagte Luigi und bezog Stellung an der Kaffeemaschine. Er drückte auf den Knopf des Mahlwerkes, nahm einen Siebträger und füllte das braune Pulver ein. Dann schraubte er es in die Maschine, stellte eine der kleinen warmen Tassen darunter und drückte den Knopf für einen caffè. Die Cimbali zischte und rauschte, Sekunden später ergoss sich der schwarze, starke Espresso in die Tasse. Als sie fertig war, reichte er ihn über den Tresen an eine Sekretärin aus dem Rathaus. »Grazie«, sagte die elegante Frau.
Er wandte sich wieder um. Er hatte sich entschieden, er würde nicht hinunterfahren. Was dachte die Signora Commissaria sich denn? Er war ja nicht ohne Grund aus dem Dienst ausgeschieden.
Andererseits: Ein sehr seltsames Verbrechen, hatte die Signora gesagt. Was konnte das sein, dass es noch nicht bis zu ihm auf den Berg gedrungen war? Genervt klopfte er das alte Kaffeepulver mit so viel Schwung aus, dass etwas davon auf den Boden fiel.
»Porca miseria«, wiederholte er. Dann rief er durch die offene Tür in die Küche:
»Carla, ma cuore, ich muss hinunter in die Stadt, schafft ihr den Mittag ohne mich?«
Uno
Die Nacht war so lieblich, als wäre der Sommer schon da. Nur die leichte Kühle, die vom Fluss heraufgetragen wurde, zeigte an, dass der Winter noch nicht lange Geschichte war.
Die Glocken der Kirche Santi Apostoli schlugen zehnmal.
Hätte sie gewusst, dass sie über die nun folgenden Minuten eine Aussage würde machen müssen, gar mehrfach in einem Verhör immer die gleichen Dinge wiederholen, sie hätte die einzelnen Glockenschläge mitgezählt.
Stattdessen nahm sie den Palazzo Girolami in den Blick, so gut es ging jedenfalls, um nicht ständig den Mann anzustarren, der neben ihr ging: Stefano, mit diesen weit ausladenden Schritten, die so typisch für ihn waren, das Geräusch seiner dunklen Stiefel hallte vom Asphalt wider, der weiße Pistolengurt schnitt diagonal über seine Brust. Während sie ihren Dreispitz in der Hand hielt, weil zu dieser Stunde niemand mehr unterwegs war, um die Uniformen der Beamten zu überprüfen, saß die schwarze Schirmmütze auf seinem Kopf so adrett, als hätte er sie wie im Lehrbuch ausgemessen.
Er roch gut, dunkel und herb, sie hatte am Vortag lange in einer Parfümerie draußen in Scandicci gestanden und nach dem Duft gesucht. Gefunden hatte sie ihn nicht.
»Ruhig heute«, durchbrach sie die Stille.
Die Arkadengänge vor dem Ponte Vecchio waren wie ausgestorben, im Sommer hätten sie Slalom um Wein trinkende amerikanische Studentinnen laufen müssen.
»Mittwoch eben«, gab er zurück.
»Si«, sagte sie und lächelte hinüber, doch er setzte gerade zu einem Bogen um den kleinen gelben Bagger an, der am Zugang zur Brücke stand.
»Wann werden diese Idioten endlich fertig sein? Wie lange bauen die schon daran? Seit den Medici?«, knurrte er, und sie betrachtete die Pflastersteine und Baugeräte, die auf dem Boden herumlagen. Die Stadt ließ das alte Pflaster erneuern. Sie mochte es, wie sorgfältig die Stadt darauf achtete, bei allen Modernisierungen das alte Herz der Stadt nicht zu zerstören. Zu Hause in Padua hätten sie längst alles betoniert, und gut.
Sie sah auf die Uhr. Noch eine Stunde.
»Wollen wir nachher noch auf ein Glas gehen?«, murmelte sie beinahe unhörbar und wollte sich selber ohrfeigen für dieses Rumgedruckse.
»Ich muss ins Bett«, sagte er, »morgen vielleicht.«
»Okay«, antwortete sie, in dem vergeblichen Versuch, ihrer Stimme einen lässigen Unterton zu geben.
»Noch hoch zur Piazza della Signoria, und dann sollte es reichen«, sagte er und wollte gerade seine Schritte vom Ponte Vecchio weglenken, als etwas seinen Blick fing.
»Dort«, sagte er, »siehst du das?«
»Was denn?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen.
Richtig. Da lag etwas auf der leeren Brücke. Schwarz und länglich. Ein Sack?
Stefano setzte seine Pfeife an den Mund und pfiff einmal. Dann ging er langsam auf die häuserumstandene Brücke, sie folgte ihm.
Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie sah, dass es kein Sack war. Sie nahm die Beine in die Hand, gewissermaßen, doch ihr Kollege war schon da, er pfiff noch einmal, bevor er sich hinkniete.
Sie war noch nicht ganz bei ihm, da sah sie schon seinen blutigen weißen Handschuh, den er in die Luft hielt, ganz bleich sah Stefano aus, das viele Blut an dem weißen Stoff, sie wandte schnell den Blick ab.
»Was nun?«, fragte sie.
»Du …«
Er stockte, seine Stimme klang gebrochen, sie wollte noch einmal hinsehen, aber sie konnte nicht.
Stattdessen sah sie sich um, die dunklen Schaufenster machten sie nervös, wer lauerte hier, hinter all dem Glitzer und Gefunkel der berühmtesten Juweliere und Goldhändler des Landes?
»Sichere dort hinten die Brücke ab, mit dem Absperrband«, sagte er drängend, heiser, »und dann renn in die Zentrale und hol Verstärkung. Schnell, Agata, mach schnell …«
Sie keuchte, sie war panisch, kein Gedanke mehr an die Ausbildung, an das Funkgerät, sie wollte bloß weg hier, griff sich mit einer fahrigen Bewegung das Absperrband aus seiner Hand, und dann rannte sie zurück zum Brückenzugang, weiterhin war nicht ein einziger Tourist in Sicht, sie wickelte das blau-weiße Band mit der Aufschrift Carabinieri um einen Poller und zog es einmal über den gesamten Zugang zum Ponte Vecchio.
Und dann rannte sie den Lungarno hinauf, es waren keine zweihundert Meter bis zu der hoch aufragenden gelben Kaserne, umgeben von der hohen Mauer mit dem Stacheldraht obenauf, sie riss ihren Beeper aus der Tasche und zog die Tür fast aus den Angeln, dann schrie sie die Wache an: »Alarmier alle Kollegen, auf dem Ponte Vecchio liegt ein Toter.«
Der Mann wollte gerade einschlafen, vor dem kleinen Fernseher, auf dem irgendein RAI-Schund lief, er wurde ganz fahrig, riss fast das Funkgerät vom Tisch, dann sprach er langsam hinein.
Herrje, warum kam es ihr so vor, als bewege der Typ sich in dieser Ausnahmesituation wie im Schneckentempo?
»Ich geh wieder raus zu Stefano«, rief sie, dann raste sie den Weg wieder hinunter, der Arno glitzerte zu ihrer Linken, der halbe Mond schien durch eine vorwitzige Wolke.
Sie wollte gerade um die Ecke auf die Brücke, da sah sie ihn, er lag vor dem zweiten Haus.
Sie spürte, wie sie zu zittern begann, und doch überraschte sie ihre Geistesgegenwart, sie brauchte nur Sekunden zu ihm.
»Stefano.«
Ein erstickter Schrei.
Er lag lang ausgestreckt, wie tot. Die Uniform sah auf einmal zu groß aus für ihn, wie er da lag, die schwarze Mütze neben ihm auf dem Boden.
Sie kniete neben ihm, berührte ihn sachte, zum ersten Mal, ja, sie hatte es sich immer gewünscht, einmal in seine dichten dunklen Haare zu fassen. Doch nicht so. Sie fühlte das Blut erst, warm und weich, dann sah sie es. Dann erblickte sie den Stein, einen der Pflastersteine, die die Bauarbeiter verwandten. Er lag neben ihm, rot vom Blut, so rot, wie es ihre Hand nun war.
Sie wimmerte, flüsterte: »Die Kollegen kommen gleich«, sie wiederholte es, »gleich, gleich«, und richtig, da war schon die erste Sirene zu hören, die die Nacht durchschnitt.
Er atmete schwer, immerhin, er atmete.
Sie hob den Blick wieder, als fiele es ihr jetzt erst ein. Schärfte den Blick, betrachtete suchend das Pflaster, zweifelte für einen Moment an ihrem Verstand.
Sie ließ seinen Kopf los, stand auf und raste los, zu der Stelle, wo sie vorhin gestanden hatte und er gekniet – neben der Person mit dem blutigen Kopf.
»Die Leiche«, flüsterte sie, »wo ist …?«
Sie kniete sich auf das Pflaster, dort war Blut zu erkennen, winzige Spuren, Tropfen, die dabei waren, zwischen den Pflastersteinen und im Sand der Bauarbeiten zu versickern, und sie blickte in den Himmel, dann zurück zu Stefano, wieder an die Stelle, wo eben noch die Leiche gelegen hatte – und zunehmend aufgewühlt sagte sie leise zu sich selbst: »Merda, das gibt Ärger.«
Due
Wäre Giulia Ferrari eine Frau gewesen, die gut und lange schlafen würde, dann hätte sie der Anruf des Innenministers um sechs Uhr an diesem Morgen aus dem Schlaf gerissen. Doch so hatte La Signora Commissaria wie jeden Morgen schon geduscht, sich angezogen, einen Moment am offenen Fenster gestanden und auf die ruhige Via della Cisterna geschaut. Tobten hier im Zentrum von Trastevere am Wochenende die Touristen lärmend durch die Straßen, war es nun, an einem Dienstagmorgen, viel ruhiger als in allen anderen Teilen Roms. Sie hatte sich ein Glas mit Zitrone und Ingwer mit heißem Wasser übergossen und kurz dem Nachrichtensprecher von Radio24 gelauscht. Um sechs Uhr und zwei Minuten, kurz nach Beginn der Nachrichten, hatte ihr Telefon geklingelt. Sie ging ins Bad, sie hatte es am Vorabend auf dem Rand des Waschbeckens liegen lassen.
»Pronto?«
»Signora Commissaria?«
Sie kannten sich nun schon seit mehreren Jahren – der Innenminister war außergewöhnlich lange im Amt für ein italienisches Regierungsmitglied –, dennoch siezte er sie und zeigte auch sonst keinerlei Vertraulichkeiten. Er schien aus einem anderen Land zu kommen – sie liebte ihn dafür.
»Si, Signor Ministro?«
»Tut mir leid, Sie so früh zu stören.«
Da sie nie privat sprachen, konnte er nicht wissen, dass ihre Nacht stets um fünf Uhr vorbei war. Seit genau achtzehn Jahren und elf Tagen war das so.
»Könnten Sie bitte direkt losfahren?«, fuhr er fort. »Ich weiß, es ist Ihr freier Tag, und Sie arbeiten ständig auch an Ihren freien Tagen. Aber dies hier ist etwas …«, er brach ab, und seine Stimme klang ein bisschen kratzig. Was war denn los?
»Was ist denn los?«, fragte sie.
»In Florenz …« Er stotterte das Wort, sie wusste nicht, ob sie ihn jemals schon so verwirrt gehört hatte, dabei sollte sie es sein, die bei dem Städtenamen erschrocken sein sollte. »… in Florenz, in der Toskana … Es gab heute Nacht einen Mord. Offenbar, muss ich sagen, denn wir wissen es nicht genau. Herrgott, ich muss mich erst einmal sammeln, verzeihen Sie, auch mich hat der Anruf vor einer halben Stunde völlig überrascht.«
»Signor Ministro. Soll ich ins Ministerium kommen, und Sie erzählen mir alles in Ruhe?«
»Nein«, sagte er entschieden, »dafür ist keine Zeit. Hören Sie: Es gab in der Nacht einen Mord. Mitten auf dem Ponte Vecchio, können Sie sich das vorstellen? Und jetzt halten Sie sich fest: Zwei Carabinieri haben das Opfer gefunden. Eine Soldatin ist in die Kaserne gelaufen. Als die junge Frau wiederkam, war ihr Kollege niedergeschlagen worden – und die Leiche war weg. Verschwunden.«
Giulia Ferrari war wirklich einen Moment sprachlos. Das war ein guter Grund für einen Anruf am sehr frühen Morgen.
»Und sie ist bis jetzt nicht wieder aufgetaucht?«
»Keine Spur«, sagte der Minister und klang der Lage entsprechend verzweifelt. »Die Kollegen in der Toskana haben alles draußen, was laufen kann. Aber stellen Sie sich das vor: Die Kollegen der Polizia di Stato, wie sie sich über die Carabinieri lustig machen. Der Verteidigungsminister geht gar nicht ans Telefon vor Scham. Es ist … Sie müssen … Können Sie sofort losfahren?«
»Aber Sie wissen doch, die Toskana …«, begann sie, »Sie wissen doch, Signor Ministro, dass ich dort …«
»Signora Ferrari, ich würde Sie nicht bitten, wenn es nicht absolut dringend wäre. Weil ich weiß, wie schwer es ist. Aber es gibt niemanden Ihres Kalibers. Und dieser Mord …« Er verstummte, und sie entschied sich augenblicklich.
»Ich fahre gleich los«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu geben.
»Sie haben absolute Vollmacht von mir. Wenn sich Ihnen jemand in den Weg stellt, rufen Sie mich direkt an. Der Questore in Florenz ist ein ziemliches Ärgernis. Aber mächtig ist er, mächtig …«
Sie kannte die Gerüchte über den Leiter der toskanischen Polizei. Medici hieß er, so hatte sie gelesen – auch das noch, ein Nachfahre der alten Familie, die die Toskana, ach was, das ganze Land aufgebaut hatte –, und er hielt sich nicht an die eiserne Regel der Questores im ganzen Land, möglichst viel Golf zu spielen und sich wenig in die Polizeiarbeit einzumischen.
»Vielen Dank, Signor Ministro.«
»Ich bin ehrlich besorgt, Signora Ferrari.«
»Wird schon werden«, sagte sie und hatte bereits aufgelegt.
Eine Stunde später bog sie bei Settebagni von der römischen Ringstraße auf die Autobahn 1 in Richtung Orvieto ab, die sie in zwei Stunden nach Florenz bringen würde.
Das Verdeck des alten Käfers war geöffnet – es war Gott sei Dank noch früh und damit nicht so heiß –, so röhrte der alte Motor fröhlich, das kleine Reisegepäck stand auf der Rückbank, und Giulia wühlte in ihrer Handtasche, um die Kopfhörer für die Freisprechanlage zu finden.
Ein Auge auf der leeren Straße, eines auf dem Display ihres Handys, suchte sie die Nummer des Mannes, den sie immer anrief in solchen Fällen. Sie musste es dreimal klingeln lassen, dann wurde abgehoben. Sie glaubte, förmlich hören zu können, wie der Mann den Hörer des alten Wählscheibentelefons ans Ohr hielt.
»Pronto?«
»Signor Agostino?«
»La Signora Commissaria«, sagte er mit seiner alten und rauchigen Stimme, »um diese Uhrzeit hätte es nur die Dottoressa sein können, um sich über mein schlechtes Blutbild aufzuregen – und um mich aufzufordern, weniger Rotwein zu trinken –, oder eben Sie.«
»Sie sollten weniger Rotwein trinken, Signor Agostino. Es wäre sehr gut zu wissen, dass Sie hundert Jahre alt werden.«
»Ach, Signora Ferrari, wenn ich hundert werden muss ohne Rotwein, dann werde ich lieber nur neunundneunzig mit Rotwein.«
Sie hörte ihn sein kehliges Lachen lachen.
»Ich bin auf dem Weg in die Toskana.«
An seinem Schweigen erkannte sie, dass er die Tragweite der Information sehr wohl aufgenommen hatte und sie nun in seinem weisen, alten Hirn erwog.
»Ich wusste immer, dass Sie der mutigste Mensch sind, den ich kenne.«
»Machen Sie es nicht größer, als es ist«, sagte sie und musste schlucken. »Es gibt einen wirklich schwierigen Fall, Sie werden davon in den Morgennachrichten hören, keine Ahnung, wie viel schon durchgesickert ist.«
»Was kann ich tun?«
»Ich habe in meiner Zeit beim Minister noch nie in der Toskana gearbeitet – ach was, ich habe noch nie dort gearbeitet. Ich brauche jemanden, der mir hilft.«
»Und Sie wollen nicht irgendeinen, habe ich recht?«
»Esato, Signor Agostino.«
»Ich hätte jedem, der mich fragen würde, ohnehin nur einen Namen genannt. Bei Ihnen aber …«
Er brach ab und schwieg am anderen Ende der Leitung.
»Was ist denn, Signor?«
»Es ist … Sie kennen ihn. Er ist ein Mann aus …«, er brachte die Worte nur mühsam hervor, »… aus Santa Croce.«
Für einen Augenblick war sie sprachlos, sie spürte, wie fest sie das Lenkrad umklammert hielt.
»Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist.«
»Ist er der Beste?«
»Das ist er zweifellos. Der Beste in der ganzen Toskana. Es gibt nur ein Problem: Er ist nicht mehr im Dienst.«
»Ich will ihn dabeihaben.«
»Sie müssen zu ihm gehen. Es wird nur persönlich gehen. Aber mit Ihrer Überzeugungskraft …«
»Wer ist es?«
»Der Mann heißt Luigi Battista.«
Sie bremste den Wagen rasch ab und hielt auf einem Seitenstreifen, fuhr ganz nach rechts an die Leitplanke, legte den Kopf an die Kopfstütze und schloss die Augen.
»Ich kenne ihn wirklich.«
»Ich weiß. Jeder kennt ihn in diesem Dorf.«
»Aber er war doch Commissario und Leiter der Mordkommission der Florentiner Polizei. Wieso ist er nicht mehr aktiv?«
»Es gab einen ungeklärten Mordfall, ein Serienmörder, der in der ganzen Toskana aktiv war. Luigi verfolgte eine Spur, und der Questore verbot es ihm. Der Commissario hat allein weiterermittelt, doch sein Verdächtiger konnte entkommen. Der Questore hat ein Disziplinarverfahren gegen Battista eröffnet. Daraufhin hat der hingeworfen, einfach so. Er ist aus seinem Büro ausgezogen, und das war es.«
»Was macht er jetzt?«
»Er hat eine kleine Bar. Oben in …«
Sie konnte die Worte ergänzen.
»… in Santa Croce?«
»So ist es. Unterhalb des Klosters, Sie kennen das Panorama über die Stadt?«
»Natürlich.«
»Viel Glück, Signora Commissaria.«
»Haben Sie vielen Dank, Signor Agostino.«
Sie wartete, bis er auflegte. Sie empfand enormen Respekt dem alten Mann gegenüber. Er war ihr Ausbilder an der Polizeischule in Rom gewesen. Nun war er seit über zehn Jahren pensioniert, aber er schien immer noch alles zu wissen, über jedes Revier im Lande. Er kannte die Kollegen, ihre Fähigkeiten und ihre Leichen im Keller. Er war unverzichtbar. Sie wusste, dass er nun den ersten caffè des Tages trinken würde, in seinem kleinen Haus mit Blick über die grünen Hügel vor Cagliari. Sie hatte ihn einmal dort besucht, aber es war zu schwer gewesen. Gerade einmal ein paar Kilometer von der Stelle entfernt … Sie hatte ihn nie wieder aufsuchen können.
Sie sah in den Rückspiegel, setzte den Blinker und bog wieder auf die Autobahn ein. Der Wind ließ ihre Haare fliegen, und langsam beruhigte sich ihr Atem.
Santa Croce, ausgerechnet.
Manchmal kam aber auch alles zusammen.
Tre
Er liebte die Via San Domenico mit ihren Haarnadelkurven, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wann er sie zum letzten Mal hinuntergerast war. Er war sicher einen ganzen Monat nicht mehr in Florenz gewesen.
Tulipans Ohren wehten im Wind, er saß zwischen Luigis Beinen auf der schmalen Fußabstellfläche und ging in den Kurven mit, wie es Carla früher immer auf dem Rücksitz getan hatte, er war ein geübter Rollerhund, trotz seiner Größe.
Der Verkehr wurde dichter rund um die Piazza della Libertà, doch Luigi schlug auf seiner Vespa wilde Haken, entging dem Rückspiegel eines blauen Busses nur um ein Haar und winkte freundlich einem wütenden Autofahrer, dem er gleich vor der Eisdiele Badiani den Weg abgeschnitten hatte.
Es war richtig warm geworden, natürlich trug er keinen Helm – irgendwie hatte sich die Erkenntnis, dass Helme Leben retten konnten, im ganzen Land noch nicht so wirklich durchgesetzt, anders als das Rauchverbot, das vom ersten Tag an strikt befolgt worden war, was Luigi noch heute verwunderte.
Hinter San Marco wurden die Gassen kleiner, einmal musste er eine Einbahnstraße falsch herum fahren, doch er nahm an, dass Giulia Ferrari keine Verspätung duldete.
Er fuhr Schlangenlinien durch die Menschenmassen auf der Via Por Santa Maria, die direkt zum Ponte Vecchio führte. Doch hundert Meter davor war es unmöglich, weiterzukommen, sodass er den Roller vor einer Modeboutique aufbockte.
»Komm, Tulipan, dai, dai.«
Der Hund sprang vom Roller und trottete ihm nach, den letzten Rest legten sie zu Fuß zurück. Luigi hörte unzählige Sprachen, sah Japaner, Chinesen, blasse Skandinavier, verhüllte Araberinnen. Sie standen dicht an dicht, stauten sich, es ging nicht vorwärts, sie mussten sich regelrecht durchdrängeln, Luigi zuerst, er murmelte scusi, scusi in einem fort, Tulipan folgte in seinem Schatten. Erst direkt an der Brücke begriff er, warum. Die Carabinieri hatten die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt abgeriegelt, mit Absperrband und schwer bewaffneten Beamten, die den Touristen den Weg wiesen, links und rechts den Lungarno entlang, doch die Urlauber wollten es nicht verstehen, nicht hinnehmen. Warum waren sie sonst nach Florenz gekommen? Und nun durften sie die breite Brücke nicht überqueren?
Eine deutsche Touristin diskutierte in fuchsteufelswildem Italienisch mit einem armen Carabinieri, der in zunehmender Verzweiflung und mit hochrotem Kopf fuchtelnd den Durchgang verwehrte.
»Scusate«, murmelte Luigi, der Carabiniere erkannte ihn sofort.
»Dottore, scusi.« Er riss das Absperrband hoch, damit Luigi drunter durchschlüpfen konnte, Tulipan folgte, er schien aufgeregt zu sein, als spüre er, dass es wieder losging, so wie früher, als sie stets zusammen ermittelt hatten.
Luigi erkannte Signorina Ferrari von Weitem. Ihre Größe und ihr langes braunes Haar ermöglichten kein Versteckspiel. Sie blickte in Richtung des Wirrwarrs auf dem Lungarno, ihr Blick war gleichmütig, doch auch sie erkannte ihn sofort, als habe sie auf ihn gewartet, nun schritt sie auf ihn zu. Die Blitzlichter der Pressefotografen arbeiteten unaufhörlich hinter der Absperrung.
»Commissario«, sagte sie, und er reichte ihr die Hand.
»Was haben wir?«
»Das ist es ja. Wir haben nichts.«
»Was?«
»Nun, nichts stimmt nicht ganz. Kommen Sie.«
Sie liefen ein kleines Stück über die alte Brücke, an ein paar Schaufenstern rechts und links vorbei, vor denen es sonst zu dieser Stunde vor Menschen wimmelte. Doch heute waren die Sonnenmarkisen der Juweliere nicht ausgefahren – niemand war am Morgen auf die Brücke gelangt, um sein Geschäft zu öffnen. Sie waren ganz allein, nur dort vorne sammelte sich eine kleine Traube von Männern und Frauen in weißen Anzügen.
Tulipan lief voraus und schnüffelte am Boden, dann bellte er einmal in deutlichem Abstand zu roten Flecken.
»Dort ist Blut«, sagte Luigi.
»Ja, das war der Kollateralschaden, um es mal so auszudrücken«, entgegnete Giulia. »Aber dort vorne …«
Es war noch ein Stück weiter, vielleicht vierzig Meter vor dem südlichen Brückenende.
Benvenuto Cellini starrte sie von seiner hohen Büste herab an, als sie an ihm vorübereilten, dann erreichten sie die Menschentraube, eine Frau fotografierte, doch als sie Hund und Herrchen sah, hob sie sofort den Blick und begann zu strahlen.
»Luigi, du bist wieder da. Du hast der Gastronomie endlich den Rücken gekehrt – war es dir dann doch zu fad, ständig caffè zu machen?«
Der Hund erkannte sie sofort und ging schwanzwedelnd auf sie zu, und sie zog die Handschuhe aus, um ihm über den Kopf zu streicheln.
»Und du bist auch wieder da, mein lieber Tulipan.«
»Das wäre zu schrecklich, um wahr zu sein, meine liebe Isabella, nein, nein, ich komme nur für diesen einen Fall zurück, auf besonderes Geheiß von einer Stelle, bei der selbst ich machtlos bin.«
»Ganz egal, Hauptsache, du bist wieder da.«
»Und?«
»Der uninteressanteste Tatort aller Zeiten«, sagte Isabella Begnini, die Gerichtsmedizinerin, mit der Luigi über Jahrzehnte hinweg zusammengearbeitet hatte. Sie stand sicher kurz vor der Pensionierung. »Weil es nur das hier gibt.«
Sie wies auf die Flecken am Boden, breite braune Spritzer, festgetrocknet auf dem alten Pflaster.
»Blut«, sagte Luigi.
»Ziemlich viel Blut sogar.«
»Und?«
»Dass es hier ist, macht den Tatort zugleich zum interessantesten aller Zeiten.«
»Was?«
»Es fehlt, woraus das Blut gelaufen ist.«
Luigi sah abwechselnd Isabella und Giulia an.
»Einen einfachen Mordfall hätten Ihre Kollegen auch alleine aufgeklärt«, sagte Giulia trocken, »aber ja, das ist das große Rätsel: Die Leiche fehlt.«
»Wie ist das passiert?«
Giulia Ferrari fasste kurz die Ereignisse der Nacht zusammen. Als sie geendet hatte, stand Luigi für einen Moment sprachlos da, dann wandte er sich an Isabella.
»Reicht das Blut?«
»Für einen DNA-Test? Ja, wir sind schon dran, die Proben sind bereits auf dem Weg ins Labor. Aber wir müssten das Opfer natürlich in der Datenbank haben, um ihn zu identifizieren.«
»Könnte er noch gelebt haben und einfach weggelaufen sein?«
»Unwahrscheinlich«, sagte Giulia. »Wir haben die Aussage des Carabiniere, der niedergeschlagen wurde. Er hat bestätigt, dass der Mann bei seinem Auffinden tot war – so viel wissen wir immerhin. Seine Kollegin bestätigt das. Er war allerdings noch warm, als sie ihn fanden, gestern Nacht zwei Minuten nach zwei. Er kann also noch nicht lange tot gewesen sein.«
»Wie schwer ist der Carabiniere verletzt?«