Sika - Bernt-Olov terFehn - E-Book

Sika E-Book

Bernt-Olov terFehn

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Beschreibung

Wie mag es gewesen sein, als der Wolf sich den Menschen anschloss und zum Hund wurde?Diese spannende Erzählung schildert die Begegnung und das Zusammenleben der Wöfin Sika mit dem Mädchen Sari und ihrer Familie. Als verlassener Welpe gefunden, wird Sika in die Höhle der Menschen aufgenommen. Fortan teilt sie den harten Kampf ums Überleben mit ihren Menschen.Ein spannender All Age Roman nach einer Begebenheit in der Steinzeit. Genau so könnte es gewesen sein.

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Seitenzahl: 185

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Bernt-Olov terFehn

Sika

Ein Wolf bei den Menschen

Titel

 

 

 

 

 

 

Sika

Ein Wolf bei den Menschen

 

 

 

 

 

 

Berndt-Olov terFehn

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Betts & Atterberry im vss-verlag

Jahr: 2021

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt

Covergestaltung: Chris Schilling

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Der Findling

 

Im Dämmer der Höhle hockte auf einem hohen Stapel verschiedener Felle ein kleines Mädchen so regungslos, als wäre es eine Puppe. Es war Sari, nun schon seit zwei Tagen und zwei Nächten die stolze Hüterin des Herdfeuers. Denn ebenso lange waren die Eltern mit dem Bruder fern, um zu jagen. Jagd, oh, Sari wusste genau, was dies bedeutete! Das verhieß reiche Beute, frisches Fleisch! Das hieß aber auch, dass nun bald der herrliche Sommer ins Land kommen würde, mit Sonne, Wärme und bunten Blumen. Wie freute sich Sari auf diese wunderbare Zeit!

Das Kind warf zwei kleine, trockene Kiefernzapfen in die Glut. Sogleich leckten ein paar Flämmchen an den harzigen Köstlichkeiten. Schon flackerte heller Schein, tanzten Lichtstreifen über die Wände der Wohnhöhle. Eben das hatte Sari gewollt. Den huschenden Lichtkringeln zuzusehen, war ihr liebstes Spiel, wenn sie allein in der Wohnhöhle war.

Bald verrann das Spiel der Lichter wieder um Sari und sie versank abermals in ihre sehnsüchtige Träumerei von Sommer, Sonne und Wärme. Sie würde Fische fangen; sicherlich konnte sie das jetzt schon viel besser als im verflossenen Sommer. Leise lachte Sari vor sich hin, als sie daran dachte, wie ungeschickt sie sich dabei angestellt hatte. Vom Erwachen der Sonne bis zur Zeit der kurzen Schatten hatte sie oft am Bachufer gelegen und mit ihrem kleinen, beinernen Fischstechhaken auf die flinke Beute gelauert. Und wie selten war es ihr geglückt, ein Fischlein aus der Tiefe zu spießen! Nun, jetzt würde das schon anders werden. Noch dazu, da sie Fische doch so gern aß.

Bei dem Gedanken an die schmackhaften Fische merkte Sari, dass sie eigentlich hungrig war. Hurtig sprang sie vom Fellstapel, um nach etwas Genießbarem zu suchen. Es war ja noch Wildpferdfleisch vorhanden; auch eine ganze Bisonkeule hing rauchschwarz und gewaltig von der Decke, doch Sari, das Naschkätzchen, suchte nach Besserem. So sehr sie sich aber auch anstrengte, so hell sie das Feuer auch schürte, um besser zu sehen, den Rest von Mutters getrockneten Beeren fand sie nicht. So musste sie denn ihren Hunger mit einem Brocken trockenen, zähen Fleisches stillen und schlenderte dann, noch kauend, vor die Höhle. Sie wollte Ausschau halten, ob sie vielleicht irgendwo die Eltern erspähen könnte.

Erst jetzt, im Licht der sinkenden Sonne, können wir das Kind genauer betrachten.

Sari mochte etwa sieben oder acht Jahre alt sein. Ihr braunrotes Haar war am Hinterkopf straff zusammengebunden, ihre hellen Augen blinzelten vergnügt in die Welt und ihre Stupsnase schnupperte lustig, wie bei einem Kaninchen. Der stämmige, kleine Körper stak in einem Kittel aus Luchsfellen, der mit einem festen Lederstreifen gegürtet war. Die Beine waren mit Fellgamaschen umwickelt. So konnte auch der beißende Nordwind Sari nichts anhaben.

Nein, Sari fürchtete den kalten Wind nicht. Sie fürchtete überhaupt nichts, solange sie in der Nähe der schützenden Höhle weilte. Denn dort war das Feuer, das jedes Tier so sehr scheute. Sie wusste genau, dass weder der gewaltige Höhlenbär noch der immer hungrige Wolf noch der furchtbare Höhlenlöwe es wagen würden, in den Kreis des Herdfeuers vorzudringen. Dort war man jederzeit sicher.

Erst in der vergangenen Nacht hatte Sari des Löwen Stimme nahe der Höhle vernommen. Aber sie hatte sich nicht gefürchtet, obwohl sie doch ganz allein war! Bloß etwas neugierig war sie gewesen und hatte aus ihrem sicheren Winkel hinter dem Feuer dem gewaltigen Brüllen gelauscht.

Auch jetzt lauschte Sari. Doch jene Geräusche, nach denen sie so angespannt horchte, konnte sie nicht vernehmen. Kein noch so leiser Ton kündete von der Heimkehr von Eltern und Bruder.

Aber etwas anderes drang plötzlich an Saris Ohr. Leises Weinen, als wimmere ein kleines Kind, ließ sie aufhorchen. Nein, das war kein Kinderweinen, es musste ein junges Tier sein, das da so kläglich winselte. Sicher war es ein Tier! Oder doch ein Kind? Aber woher sollte das gekommen sein? Sari wusste doch, dass es hier außer ihnen weit und breit kein menschliches Wesen gab.

Auf jeden Fall war Saris Neugierde geweckt; mit langen Sprüngen eilte sie den steinigen Hang hinab, in die Richtung, aus der das Wimmern gekommen war. Dabei stürzte sie fast über die Reste eines Rotwolfes, die sie in ihrem Eifer übersehen hatte. Aha, hier also lag die Ursache des nächtlichen Löwengebrülls! Dass der Löwe aber mit einem Rotwolf vorlieb nahm, da es doch größeres Wild genügend gab? Vermutlich hatte er bloß Appetit auf die Jungen gehabt, und die Rotwolfmutter hatte ihn wohl bei der Mahlzeit überrascht. Da hatte es dann natürlich Kampf gegeben — und das Ergebnis dieses ungleichen Kampfes lag nun vor Saris Füßen.

Wieder ließ sich das klagende Stimmchen vernehmen. Achtlos stieg Sari über den zerfetzten Tierkörper hinweg, um weiterzusuchen. Schon nach wenigen Schritten war sie am Ziel, das Gesuchte lag vor ihr.

War das aber lieb! Ein flaumiges Wollbündel krabbelte im Gestrüpp der niedrigen Birken, stieß immer neue Klagelaute aus und witterte aufgeregt suchend nach allen Richtungen.

Entzückt kniete Sari auf dem weichen Teppich des noch winterlich braunen Mooses nieder. So etwas Liebes hatte sie noch nie gesehen! Sie wollte gern ein wenig mit dem Flaumbündel spielen und griff vorsichtig nach dem Tierchen.

,,Au!" Schnell zog sie die Hand zurück. Ein kleiner Blutstropfen hing an ihrer Fingerspitze. Welch scharfe Zähne der kleine Wildling hatte! Doch statt sich dadurch entmutigen zu lassen, wollte Sari das hübsche Spielzeug nun erst recht besitzen. Mit raschem, sicherem Griff fasste sie das aufheulende, zappelnde, schnappende und fauchende Tier beim Nacken. So, jetzt mochte es beißen, wenn es konnte! überglücklich drückte Sari ihren Fund an die Brust. Durch ihr Fellkleid konnten weder die kleinen Zähne noch die winzigen Krallen dringen. Vergnügt quiekte Sari auf, als das drollige Rotwolfkind wütend um sich biss.

„Au, au, sisika", sang Sari lachend, während sie dem Wildfang scherzhaft drohte. „Sika" formten ihre Lippen aus dem Schmerzlaut der ersten Berührung und dem zärtlichen Neckton ersten Spieles. „Sika, meine Sika!“ sang und jauchzte Sari den Namen ihres neuen Spielzeuges, als sie mit ihm in die sichere Höhle zurückkehrte.

Fürsorglich bettete Sari den Findling im dunkelsten Winkel auf einem Restchen von altem Fell. Ein Stückchen Wildpferdfleisch legte sie in Reichweite. Wie freute sie sich, als das kleine Tier nach kurzer Zeit nutzlosen Gejammers gierig an dem Fleischstück zu saugen und zu knabbern begann.

Als Saris Eltern und der Bruder kurz darauf schwer schleppend von der Jagd zurückkamen, fanden sie das Kind selig mit einem quiekenden Fellknäuel spielend.

Kaum heimgekehrt, begann die Mutter eifrig das Feuer zu schüren. Hochauf loderten die Flammen, aber diesmal achtete Sari kaum auf den tanzenden, flackernden Schein. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Sika, dem Rotwolfkind, das nun ängstlich zu winseln begann. Es fürchtete sich wohl vor dem Feuer. Behutsam und zärtlich wiegte Sari das angstzitternde Fellbündel im Arm.

Nur mit einem einzigen Blick streifte die Mutter das Spielzeug ihres Kindes. Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Welch närrischer Einfall, ein Tierjunges in die Höhle zu schleppen! Doch ihr mochte es recht sein, Vater würde schon Ordnung schaffen!

Vorläufig aber war der Vater noch vor der Höhle beschäftigt, die erlegten Tiere in handliche Stücke zu teilen. Ruff, Saris Bruder, half ihm dabei. Hin und wieder betrat er die Höhle und schleppte ein Fleischstück herbei, das Mutter mit starken Tiersehnen an einer Stange festknüpfte, wo es hängen sollte, bis es vom vorbeistreichenden Rauch des Herdfeuers geräuchert und haltbar gemacht worden war.

Nun brachte Ruff die Leber eines der erlegten Tiere. Flink schob Mutter mit einem Prügel die prasselnden Holzstücke zu einem Stoß an der Wand zusammen und fegte mit frischem, feuchtem Reisig die Asche von dem heißen Herdstein. Andächtig sah Sari zu, wie Mutter nun die frische Leber auf dem erhitzten Stein zu knuspriger Bräune briet. Darüber vergaß Sari alles. Sika entglitt ihren Armen, sie merkte es nicht. Der Duft dieses köstlichen Leckerbissen stieg ihr verlockend in die Nase.

 

Herrlich war das Mahl! Um das Feuer geschart, saß die Familie kauend und schmatzend auf dem steinigen Boden.

Als Sari den letzten Bissen verschluckt hatte, fiel ihr plötzlich ihr kleiner Schützling ein. Sie sprang auf, suchte ihn und kehrte dann mit Sika im Arm in den Familienkreis zurück.

Wenn sie aber gedacht hatte, ihr Vater würde von ihrem Spielzeug entzückt sein, sah sie sich sehr getäuscht. Unmutig zogen sich die buschigen Brauen des Vaters zu einem bösen Strich zusammen, die Stirn runzelte sich unheilverkündend. Ängstlich wich Sari einen Schritt zurück und presste Sika fester an die Brust.

,,Was soll das Vieh in der Höhle?" grollte die väterliche Stimme.

„Es ist so lieb. Bitte, lass mir meine Sika!" bettelte Sari um Gnade für das Rotwolfkind.

„Hinaus mit dem Vieh!“ herrschte der Vater sein Töchterchen an und machte Miene, nach dem Tier zu greifen. Sofort suchte Sari hinter Mutters Rücken Schutz. Ruff, der gern seinen Gehorsam zur Schau stellen wollte, sprang hinzu, um Sari das Tierchen wegzunehmen. Da begann Sari jämmerlich zu schreien und zu weinen, so dass selbst Vaters Strenge nicht mehr standhalten konnte. Mutter, die zwischen den Geschwistern keinen Streit aufkommen lassen wollte, redete nun begütigend auf den Vater ein: „Lass doch dem Kind den Spaß, Tamu! In ein paar Tagen findet es ein anderes Spielzeug, dann kannst du das Rotwolfjunge aus der Höhle werfen. — Und du, Ruff, laß Sari in Ruhe!“

Vater brummte etwas Unverständliches, und Ruff kehrte auf seinen Platz zurück, um in einem unbewachten Augenblick rasch noch zu einem Leberstück zu gelangen.

So war der Friede wieder hergestellt und Sika durfte in der Höhle bleiben.

 

Ein Bär bedroht Sari

 

Mittagshitze brütete im engen Talkessel, kein Windhauch bewegte die Gräser. Die dünnen Halme bogen sich unter der Last ihrer reifen Samenkörner. Es war gerade die rechte Zeit, den Reichtum der Wiese zu sammeln, ehe der Wind die reifen Körner aus den Ähren schüttelte.

Dies zu verhindern, war Saris Arbeit, denn sonst wären sie für die Menschen verloren gewesen. Mit einer scharfen Feuersteinklinge schnitt sie die reifen Ähren von den feinen Stengeln der Wildgräser und sammelte sie unermüdlich in ihrem kurzen Röckchen. Von Zeit zu Zeit schüttete sie die geernteten Grassamen auf das ausgebreitete Fell eines Ur-stieres, auf dem sich bereits ein kleiner Hügel wölbte.

Ihr ganz nahe tollte spielselig Sika, Saris ständige treue Begleiterin. Sie war nun schon groß, weit größer und kräftiger als andere Rotwölfe ihres Alters. Glänzender und glatter im Fell, unterschied sie sich vorteilhaft von ihresgleichen. Man merkte ihr schon äußerlich an, dass sie niemals Hunger und Wetterunbill kennengelernt hatte. Dafür dankte sie Sari, ihrer kleinen Ziehmutter, mit rührender Anhänglichkeit. Sari und Sika waren unzertrennliche Freundinnen geworden. Sika wich nicht von Saris Seite. Aufmerksam verfolgten die gelblichen, schrägen Rotwolfaugen jede Bewegung des Kindes.

Doch was war nun? Wie erstarrt blieb Sika auf einem Fleck gebannt stehen. Sofort hielt auch Sari in ihrer Arbeit inne. Was Sika nur haben mochte? Sie konnte doch sonst keinen Augenblick still sein! Nun begann sie mit drollig hochgehobenen Läufen durch das Gras zu stelzen. Wieder stand sie still, um nach kurzem, witterndem Lauschen abermals einige Schritte vorwärtszugehen. Sonderbar sah das aus, Sari musste das Lachen verbeißen. Aber jetzt! Mit einem steilen Sprung schnellte Sika in die Höhe, plumpste wie ein lebloses Fellbündel knapp daneben ins raschelnde Gras und schon — quiekte eine Maus! Sari lachte auf. Sie freute sich über Sikas erste Beute ebenso sehr, wie sie auf ihr erstes Fischlein stolz gewesen war, das sie im vorigen Sommer selbst gefangen hatte. Irgendwie kam ihr die Spielgefährtin nun schon erwachsen vor, nach dieser ersten Probe beginnender Selbständigkeit. In leisem Singsang pries sie Sikas Geschicklichkeit, während sie wieder durch das rauschende Grasmeer schritt und Ähre um Ähre in ihrem Röckchen barg. Weiter ging die Arbeit, bewacht von Sikas aufmerksamen Blicken.

Unerbittlich brannte die Sonne auf den nackten Oberkörper des Mädchens, flammte golden und heiß im flaumigen Pelz des Tieres. Es war die Zeit der kurzen Schatten — Mittagszeit. Prüfend überblickte Sari ihr bisheriges Werk. Sie war fleißig gewesen und durfte nun wohl etwas ruhen. Sollte sie mit dem Ertrag ihrer Mühe zur Höhle heimkehren? Der Weg über den steinigen Hang war steil und schattenlos, das Urstierfell schwer. Ach was, sollte Ruff sich damit plagen und es nach Hause schleppen! Sie wollte sich lieber an das schattige Bachufer legen und nach Fischen Ausschau halten. Schade, dass sie ihren kleinen Fischstechhaken in der Höhle gelassen hatte! Nun musste sie eben versuchen, die Fische mit der Hand zu fangen. Die Mutter machte das so geschickt; auch Ruff war es schon hin und wieder gelungen, warum sollte sie selbst es nicht ebenfalls versuchen?

„Sika, komm! Komm, meine Sika!“ lockte Sari, indes sie in langen Sprüngen dem nahen Bach zueilte; und Sika trottete wie immer hinter dem Mädchen her.

Am Bach war es kühl. Die gefiederten Wedel der mannshohen Farnbüsche spendeten Schatten und deckten gegen Sicht. Wenn man sich ganz still verhielt, konnte man vielleicht eines der scheuen Waldtiere beobachten, das hier seinen Durst löschte. Und stille, ganz stille wollte Sari ohnehin sein, schon wegen der Fische, die sie zu fangen hoffte.

Nichts als das Summen der wilden Bienen war zu vernehmen. Selbst das Wasser schien in der Hitze eingeschlafen zu sein. Klar und wellenlos floss es dahin, nicht das kleinste Fischlein konnte man darin entdecken. Sari wartete.

Lange Zeit beobachtete sie mit gespanntester Aufmerksamkeit das Wasser. So lange, bis ihr Atem immer ruhiger ging, die Muskeln sich allmählich entspannten, die Lider schließlich über die Augen sanken. Sari war eingeschlafen. Aber wachsam, wenn auch anscheinend ebenfalls schlafend, lag Sika an ihrer Seite.

Plötzlich — obwohl für Menschenohren nicht das geringste Geräusch zu vernehmen war — hob Sika den Kopf. Witternd sog sie die Luft ein, das Nackenhaar sträubte sich, ihre Ohren spielten aufgeregt. Die Augen glühten grünlich vor Aufregung, ein kurzes, leises Winseln entrang sich ihrer Brust. Sari regte sich schlaftrunken. Noch erfasste sie nicht die Gefahr, da erscholl bereits Sikas belferndes Geheul. Im Nu war Sari auf den Beinen. Gefahr! Gefahr! gellte es warnend in langgezogenen hohen Tönen aus Sikas Kehle. Den Kopf emporgereckt, den scharfzahnigen Rachen weit aufgerissen, jedes Haar von Entsetzen gesträubt, so heulte Sika ihre Warnung vor dem noch unsichtbaren Räuber, der aus dem Dämmer des Waldes angeschlichen kam. Schritt für Schritt wich Sika zurück, Sari so die Richtung weisend, nach der sie zu flüchten hatte.

Mit einem einzigen Gedanken erfasste Sari die Lage. Ohne das geringste Staunen nahm sie Sikas Warnung hin. War es nicht selbstverständlich, dass das Tier an ihrer Seite die Gefahr rechtzeitig meldete? Kein Rotwolf hätte es unterlassen, dasselbe zu tun. Immer hielten sie zueinander, jeder einzelne stand für alle ein. Rudeltiere eben, die nur in der Gemeinsamkeit bestehen konnten. Sika aber gehörte keinem Rudel an, für sie waren die Menschen, was anderen Rotwölfen das Rudel bedeutete. Wer eine Gefahr witterte, kündete sie eben allen, die seinesgleichen waren und mit ihm in derselben Gemeinschaft lebten. Aber darüber dachte Sari nicht nach. Zu solchen Erwägungen hatte sie keine Zeit. So selbstverständlich wie sie Sikas Warngeheul auf genommen hatte, befolgte sie auch dessen Sinn. Schrittweise wich sie zurück.

Jenseits des Baches wurde es nun lebendig. Dürres Holz knackte, Schnauben ließ sich vernehmen, ein zottiges Ungeheuer tappte zornig brummend aus dem Gewirr des Waldrandes. Ein Bär! Wütend funkelten seine kleinen, tückischen Augen nach Sika, deren Geheul ihn sichtlich ärgerte.

Entsetzt schrie Sari auf. Noch um einen Ton greller heulte Sika. Dann flüchteten beide, hasteten über die sonnenheiße Wiese, hetzten den glühenden Hang empor zur Höhle. Dort war Sicherheit.

Und wie vorher Sika ihre Warnrufe ausgestoßen, tat nun Sari desgleichen. Mit gellenden Schreien rief sie nach den Eltern und dem Bruder. Drei Namen bloß, nichts sonst, doch im Ton ihrer Stimme lag dasselbe, was vorher aus Sikas Stimme geklungen hatte.

,,Tamu! Leana! Ruff!"

„Gefahr! Gefahr! Gefahr!"

Erschöpft langte Sari bei der Höhle an. Nochmals gellte ihr Warnungsruf über das Tal hin, denn die Eltern waren noch auswärts. Saris Angst, dass der Bär zur Höhle kommen könnte, war unbegründet; er hatte längst das Weite gesucht. So blieb nur noch die Sorge um die Eltern. Aber Sari durfte beruhigt sein, sie würden kaum mit dem Bären zusammentreffen; wären sie in der Nähe gewesen, dann hätte Sari auf ihre Warnungsrufe sicher Antwort erhalten. Langsam ebbte die Erregung ab, erst die Heimkehr der Eltern brachte das Erlebnis wieder in Erinnerung. Sari berichtete ihnen, was sich zugetragen hatte.

Vater Tamu tat, als hätte er Saris Worte gar nicht gehört. Auch Mutter Leana unterbrach ihre Arbeit am Herd nicht einen Augenblick, obwohl Sari ihre Begegnung mit dem Bären eindringlich genug schilderte. Bloß Ruff zeigte einige Aufmerksamkeit, doch schürzte er verächtlich die Lippen, als Sari erzählte, wie rasch sie gelaufen war.

„Schade, dass ich nicht in der Nähe war, ich hätte den Kerl erlegt!" Ruff prahlte gerne vor seiner kleinen Schwester; er fühlte sich schon erwachsen, seit er den Vater auf dessen Jagdzügen begleiten durfte.

„Du wärst auch gelaufen", widersprach Sari empört; sie wollte nicht immer als hilfloses Kind hingestellt werden.

Mit einem drohenden Seitenblick unterdrückte der Vater den aufkeimenden Streit der Geschwister. Das genügte. Ohne sich weiter um die beiden zu kümmern, zog er kunstgerecht einem erlegten Fuchs den Balg über den Kopf. Einen prüfenden Blick noch warf er auf sein Werk, dann klatschte das Fell neben der Mutter auf dem Boden auf. Nun, da diese Arbeit getan war, konnte er sich seinem Sohne widmen.

„Also, du möchtest den Bären erlegen? Schön, diesen Spaß kannst du haben. Es wird ohnehin Zeit, dass du dich einmal an einem großen Stück versuchst."

Freude und Schreck zugleich verhinderten Ruff, auf Vaters Rede zu antworten. Mutter, die gerade die blutige Seite des Fuchsfelles sorgfältig mit Asche bestrich, sandte einen beklommenen Blick nach Tamu, widersprach aber seiner Anordnung mit keinem Wort. Bloß Sari konnte ihr Vergnügen nicht unterdrücken, sondern sang neckend: „Ruff, der Bärentöter! Ruff, der große Jäger!"

„Ruhe!" herrschte der Vater sie an, schmunzelte aber doch heimlich über Ruffs betroffenes Gesicht, das allem eher als dem eines kühnen Bärentöters glich.

Sofort verstummte Sari. Lautlos zog sie sich in den Winkel zurück, in dem Sika zu liegen pflegte. Doch Sika war nicht dort. Sari begann zu suchen. Leise und lockend rief sie nach dem Tier, aber der Erfolg blieb aus. Erst als sie laut nach Sika rief, antwortete ein leises Winseln aus der Richtung, wo ihr Vater saß.

Wirklich, dort lag sie ja! Sie, die Tamu bisher immer scheu ausgewichen war, lag zu seinen Füßen und duckte sich unterwürfig.

Als der Vater Saris Staunen merkte, lachte er vergnügt: „Sika wächst eben etwas rascher als du! Sie ist jetzt in dem Alter, da sie der mütterlichen Obhut entweicht und nur noch dem Rudelführer folgt."

Ach ja, daran hatte Sari natürlich nicht gedacht, dass ihr hübsches Spielzeug, ihre liebe Spielgefährtin, einmal ihrer Fürsorge entwachsen könnte!

Vater fasste Sika im Nacken, hob sie hoch und schüttelte sie leicht. Es tat ihr gewiss nicht weh, dennoch heulte sie auf. Sari hielt den Atem an. Würde Vater Sika etwas zuleide tun? Sie hatte sich umsonst geängstigt. Mit fast vorsichtigem Schwung beförderte Vater das Tier vor die Höhle und warf dann den abgehäuteten Fuchskörper daneben hin. Eine ganze Weile zögerte Sika, ehe sie sich gierig auf die Mahlzeit stürzte. Es war das erste Stück Nahrung, das sie aus des Mannes Hand empfing.

„Hier drinnen ist kein Platz mehr für sie, vor der Höhle ist sie nützlicher", erklärte Vater Tamu zufrieden, als er das demütige Gehaben Sikas beobachtete, die nun dicht vor der Höhle hingestreckt lag.

 

Tollkühne Jagd

 

Schon nach wenigen Tagen kam Vater Tamu mit der Nachricht heim, dass er die Höhle des Bären entdeckt habe. Am jenseitigen Hang, an ziemlich unzugänglicher Stelle, lag sie, gar nicht weit von der eigenen Wohnhöhle entfernt. Das Tier selbst war ein bösartiger, alter Einzelgänger, der vermutlich erst vor kurzem hier seinen Standort bezogen hatte. Denn bisher war die Familie noch nie durch seine Nähe beunruhigt worden.

Dies war nun freilich keine besonders gute Nachricht in Mutter Leanas Augen. Man konnte sie gewiss nicht furchtsam nennen, doch das Gefühl, so nahe einer ständig drohenden Gefahr zu leben, war sicherlich nicht angenehm. Also mussten die Menschen sich entweder nach einem anderen Wohnort umsehen oder aber diese Gefahr beseitigen. Leana kannte Tamu gut genug, um zu wissen, dass für ihn nur die zweite Möglichkeit in Frage kam.

Den Bären zu erlegen, war aber kein einfaches Unterfangen. Ja, in der Gemeinschaft des ganzen Stammes war daran nichts Besonderes! Da glich eine solche Jagd eher einem fröhlichen Fest, an dem sich sogar Frauen und Kinder beteiligten. Doch von zwei erwachsenen Menschen und einem halben Kind war dasselbe Unternehmen Tollkühnheit. Kummervoll überlegte Leana, dass alles leichter wäre, wenn sie nicht so abgeschieden lebten.

Es hatte jedoch keinen Sinn, solchen Gedanken nachzuhängen. Da sie auf sich selbst angewiesen waren, mussten sie versuchen, mit der Gefahr irgendwie fertig zu werden. Die Jagd, die Tamu plante, war schwer, schrecklich schwer. Dessen war sich Tamu genau so bewusst wie Leana. Deshalb betrieb er auch alle Vorbereitungen zu diesem gefährlichen Unternehmen mit besonderer Sorgfalt.

Gab das Arbeit! Die längsten und besten Feuersteinklingen waren eben noch gut genug. In mühevoller Arbeit schlug Tamu Splitter um Splitter vom Stein, bis ihm die Schneide dünn und scharf genug schien. Aufmerksam sah Ruff bei dieser Arbeit zu. Sooft er aber dachte, eine Klinge wäre schon fertig, fand Vater immer noch da und dort ein Winziges abzuspalten, um die Waffe noch besser und noch schärfer zu gestalten. Wie gerne hätte Ruff dabei geholfen! Doch dazu reichte seine Geschicklichkeit noch nicht.

Dafür gab es anderes genug, womit er seinen Beitrag an den Vorbereitungen zur Jagd leisten konnte. Auf Vaters Weisung suchte Ruff nach den geradesten und zähesten jungen Stämmen, die er nur finden konnte, um daraus Wurfspeere zu verfertigen. Die Feuersteinspitzen daran zu befestigen, behielt sich allerdings Vater selbst vor. Diesmal konnte ja die kleinste Nachlässigkeit das Leben kosten.