Silberschwingen 1: Silberschwingen - Emily Bold - E-Book
SONDERANGEBOT

Silberschwingen 1: Silberschwingen E-Book

Emily Bold

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Magie, Liebe, Spannung: brandneue Romantasy der Bestseller-Selfpublisherin Emily Bold!

Thorn kann kaum atmen, ihr Körper schmerzt, ihr Rücken glüht – etwas Unerklärliches geht mit ihr vor. Und schon bald erfährt sie: Sie ist halb Mensch, halb Silberschwinge und schwebt plötzlich in höchster Gefahr. Denn als Halbwesen hätte sie bereits nach ihrer Geburt getötet werden sollen. Als Lucien, der Sohn des mächtigen Clanoberhaupts der Silberschwingen, von ihrer Existenz erfährt, macht er Jagd auf sie. Thorn ist fasziniert von Lucien, denn er ist das schönste Wesen, dem Thorn jemals begegnet ist – und zugleich ihr schlimmster Feind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

»Du dürftest überhaupt nicht existieren, Thorn.« Rileys Worte hallten in meinem Kopf wie in einer Kathedrale. Irgendwann in der letzten Stunde hatte ich angefangen, den Wahnsinn, den Riley mir als Wahrheit verkaufen wollte, zumindest in Betracht zu ziehen. Und da ich das tat, ließ mich dieser Satz nicht mehr los. Was sollte das bedeuten? Ich durfte nicht existieren?

Der Kampf um das Erbe der Silberschwingen beginnt!

Die Autorin

© Guido Karp

Emily Bold wurde 1980 in Mittelfranken geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern lebt. Sie schreibt Romane für Erwachsene und Jugendliche und blickt mittlerweile auf fünfundzwanzig deutschsprachige sowie acht englischsprachige Bücher und Novellen zurück, die den Lesern viele schöne Stunden und Emily Bold eine begeisterte Leserschaft beschert haben.

Mehr über Emily Bold: www.emilybold.de

Emily Bold auf Facebook: www.facebook.com/emilybold.de/

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.planet-verlag.de

Planet! auf Facebook: www.facebook.com/thienemann.esslinger

Viel Spaß beim Lesen!

Prolog

London

Wie nachtschwarzer Samt schillerte die Oberfläche des Seerosenteichs vor mir. Die Sterne spiegelten sich in den sanften Wogen wie flüssiges Gold. Es war eine Nacht gemacht für Magie, doch der Schmerz, der mich zu zerreißen drohte, hatte nichts Magisches an sich. Er war real. So real, dass es fast schon wieder unwirklich war. Es kam mir vor, als wären Stunden vergangen, seit ich in dem verwunschenen Pavillon Zuflucht gesucht hatte. Marmorne Säulen, verziert mit engelsgleichen Wesen, deren mächtige Schwingen sich über mir erstreckten, deren Augen mir folgten.

Ich krallte meine Finger in das von Tauperlen benetzte Gras. Und wieder löste sich ein Schrei wie der eines verwundeten Tieres aus meiner Kehle. Ich kauerte mich zitternd auf den Boden, zu schwach, um zu stehen, zu schwach, um zu gehen. Der Duft der Erde umgab mich, als würde ich aus ihr geboren. Und irgendwie war es auch so. Ich spürte das Blut, das mir warm über den Rücken lief, spürte den Druck, der mein Rückgrat zu brechen drohte, und die Todesangst, die mein Herz wie eine eisige Klaue zusammenpresste und mir den Atem nahm.

Ich hatte geglaubt, hier in Sicherheit zu sein, doch ich sah den Schatten über mir, noch ehe sich die Atmosphäre veränderte.

Ich war nicht länger allein.

Ein quälend heißer Blitz zuckte durch meinen Körper. Ich bäumte mich auf, wollte fliehen, nur fort von dem, was mir bevorstand, doch ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper.

»Hab keine Angst, Thorn.« Die geflüsterten Worte drangen kaum in meinen schmerzumnebelten Verstand. »Ich bin bei dir.«

Die Stimme, entschlossen, doch sanft für eine Männerstimme, umhüllte mich wärmend wie eine Decke. Der Schmerz war noch immer der Gleiche, und doch beruhigte mich seine Nähe auf unerklärliche Weise. Ich wusste, wie trügerisch das war, doch ich war zu schwach, um zu kämpfen. Ich war verloren.

»Ich bin hier, wenn du mich brauchst, Thorn«, wisperte es nah an meinem Ohr. Sein Atem strich über meine Wange, und seine Wärme übertrug sich auf mich.

Der silbergraue Glanz in seinen Augen lud mich ein, ihm zu vertrauen, doch wie sollte ich das? Er war mein Feind.

Kapitel 1

London, ein Monat zuvor

Der Regen hatte sich verzogen, und tatsächlich schaffte es die Sonne, stellenweise durch die graue Wolkendecke zu brechen. Die Aschebahn dampfte, und die Schritte der Staffelläufer platschten auf dem nassen Belag.

Ich musste wirklich aufpassen, nicht auszurutschen, wenn ich gleich den Staffelstab übernehmen und meinen Lauf beginnen würde. Konzentriert suchte ich mit den Füßen den besten Halt auf der Bahn. Der Blick über meine Schulter zeigte, dass es gleich so weit war. Ich atmete tief ein, spreizte meine Finger, um fest zugreifen zu können, und ging leicht in die Knie, damit ich mehr Kraft in den ersten Schritt legen konnte. Ich hörte Anhs Atem, als sie näher kam. Unsere Blicke trafen sich, und ich schenkte ihr ein kurzes Lächeln, als ich anlief, um im Schwung den Staffelstab zu übernehmen.

Wie ein Zauberstab verlieh mir schon die erste Berührung mit dem Stab zusätzliche Kräfte. Anh war schnell gewesen, trotzdem war unser Vorsprung noch nicht weit genug ausgebaut, als dass wir schon gewonnen hätten. Meine Muskeln brannten, als ich aus der Kurve auf die Gerade sprintete. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen in meiner Stafette mochte ich die Langstaffeln mit vierhundert Metern recht gerne. Ich war zwar auch im kurzen Sprint eine der Schnellsten, aber erst auf der Langstrecke konnte ich mich deutlich von meinen Mitschülerinnen abheben. Manchmal hatte ich das Gefühl, je weiter ich rennen würde, umso schneller könnte ich werden. Mein Atem pumpte in meine Lunge, das Herz hämmerte mir wie Donnerschläge in der Brust, und der Schweiß auf meiner Haut wirkte im Luftzug beinahe kalt. Ich fühlte mich lebendig und voll in meinem Element. Ich bog in die letzte Kurve und mobilisierte für den Endspurt noch einmal meine Kräfte. Immer schneller schritt ich aus, sah den Jubel meiner Mannschaft, als ich auf die Zielgerade zurannte. Und auch ohne einen Blick nach hinten zu werfen, wusste ich, dass die Konkurrenz abgeschlagen hinter uns lag.

»Thorn! Thorn! Thorn!«, feuerten sie mich an, und ich riss lachend die Arme in die Höhe, als ich als Erste die Ziellinie überquerte.

»Was für ein Rennen!«, jubelte auch unser Lehrer Mr Wright und kam mir in der Bahn entgegen, noch ehe ich meinen Schwung ausgelaufen hatte. Ich stützte die Hände in die Seiten, um zu Atem zu kommen, und massierte mir die pulsierenden Oberschenkelmuskeln. Weil mir die Luft fehlte, ihm zu antworten, nickte ich schlicht, während er winkend die Mannschaft um uns herum versammelte. »Guter Lauf!« Er klopfte uns lobend der Reihe nach auf die Schulter. »Wenn wir diese Qualität halten, können wir den Meisterschaftslauf gewinnen!«

Anh neben mir grinste mich breit an, löste ihre blau gefärbten Haare aus dem strengen Zopf und stupste mich in die Seite.

»Mit dir als Joker können wir nicht verlieren.«

»Das ist doch Unsinn! Das war ein Mannschaftssieg. Wir sind alle top in Form«, flüsterte ich verlegen. Ich mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.

»Na schön, Mädels. Das war’s für heute. Ab in die Umkleide mit euch und nicht vergessen: außerplanmäßiges Training am Freitag, damit wir unser Level bis zur Meisterschaft halten.«

»Na toll!«, murrte Cassie neben mir und rümpfte die Nase, sodass ihre Sommersprossen tanzten. »Am Freitag wollten wir doch ins Kino.«

»Das holen wir nach«, vertröstete ich sie. »Aber stell dir nur mal vor, wie cool es wäre, zum Schuljahresende die Meisterschaft zu gewinnen. Mich stört das Zusatztraining nicht so sehr.«

Auch Anh grinste unter ihren blauen Haarsträhnen hervor. »Wir sind einfach nicht so ehrgeizig wie du, Thorn. Und der neue Film mit Jennifer Lawrence läuft ja nur noch diese Woche.«

Wir machten uns auf den Weg von der Sportanlage zu den Umkleiden in der Schulturnhalle. Mein Blick glitt über die Tribüne, wo wie so oft die Underdogs der Jahrgangsstufe herumlungerten.

»Die Shades haben wohl auch nichts Besseres zu tun, als uns beim Training zuzuschauen!«, brummte Anh und neigte den Kopf in Richtung Tribüne.

Selbst in ihrer Schuluniform schafften die vier Jungs, die sich selbst die Shades nannten, es noch, irgendwie draufgängerisch auszusehen. Es war die Art, wie sie ihr Haar länger, als es gerade modern war, trugen, oder wie sie die Ärmel ihrer Schuluniform hochkrempelten, sobald der Unterricht vorüber war. Obwohl jeder von ihnen eine dunkle Sonnenbrille aufhatte, spürte ich, wie mir der Anführer aus dem Schutz seiner Kumpels heraus mit den Augen folgte.

»Ist doch klar, wenn Riley zum Sportplatz geht, folgen ihm die anderen wie Schatten.«

»Und was soll das überhaupt mit ihrem komischen Namen. Shades! Als wäre das irgendwie geheimnisvoll!«

Anh war selbstbewusst genug, den zwielichtigen Jungs die Zunge herauszustrecken, ehe wir an ihnen vorbei waren. Das lag vermutlich an ihrer asiatischen Abstammung – und dem Kampfsport, den sie seit ihrer frühesten Kindheit betrieb. Wenn ihr einer blöd kam, konnte sie ihn mit Leichtigkeit durch die Luft schleudern. Nicht dass sie das je tun würde!

»Na, so richtig geheuer sind mir die vier nicht. Überleg mal, wir sind seit fast zwei Jahren mit denen in der gleichen Jahrgangsstufe, haben aber noch nie groß mit ihnen geredet.« Ich zuckte mit den Schultern und löste meinen Haargummi. »Ich finde das schon etwas unheimlich.«

Anh rollte mit den mandelförmigen Augen.

»Wenn du mich fragst, sind sie einfach langweilig und haben in der ganzen Zeit nie irgendetwas gemacht, über das es sich zu reden gelohnt hätte.«

Kichernd spähte ich noch mal zu ihnen, um Anhs Vermutung zu überprüfen. Langweilig sahen die vier eigentlich nicht aus. Riley wirkte meistens sehr ernst. Seine ihm ständig folgenden Schatten, Conrad, Sam und Garret, wirkten dagegen einfach nur unnahbar, besonders wenn sie wie jetzt auf ihren Skateboards das Weite suchten.

»Sie gehen«, stellte ich fest und öffnete Anh die Tür zur Turnhalle.

»Vermutlich kriechen sie jetzt zurück in die dunklen Löcher, aus denen sie stammen.«

»Du bist heute aber auch wieder böse«, foppte ich Anh und trat in die Umkleide. Wie immer war die Luft hier drinnen muffig, und es roch nach verschwitzten Socken. Vor der rostroten Spindwand standen meine Teamkolleginnen und Mitschülerinnen zusammen und wechselten ihre verschwitzten Schultrikots gegen ihre Freizeitkleidung.

»Was planst du denn zu deinem Geburtstag?«, fragte mich Cassie und kämmte sich dabei ihre rotblonden Locken aus.

Ich hatte befürchtet, dass diese Frage kommen würde. Um einer Antwort auszuweichen, öffnete ich erst mal meinen Spind und streifte mir das Laufshirt über den Kopf.

»Hmm«, brummte ich durch den Stoff hindurch. »Keine Ahnung. Ich wollte eigentlich keine große Sache daraus machen.«

Cassie zog wie immer, wenn ihr etwas nicht gefiel, die Nase kraus. Sie betrachtete besorgt ihre geröteten Wangen im Spiegel. Obwohl es noch nicht mal richtig Sommer war, hatte sie schon einen leichten Sonnenbrand abgekriegt.

»Na komm schon, Thorn! Man wird nur einmal sechzehn!«, mischte sich Anh ins Gespräch ein.

Ich kniff die Lippen zusammen. Dass gerade sie in dieser Sache eine andere Meinung vertrat, störte mich. Schließlich kannte Ahn mich seit dem Kindergarten und wusste ganz genau, dass ich nicht der Typ für so was war. Ich war nicht gerade schüchtern, aber doch weit von einem Partylöwen entfernt.

»Planst du keine Party?« Auch Cassie sah ungläubig aus.

Ich schlüpfte in mein graues Lieblingsshirt und stopfte die weiße Bluse meiner Schuluniform, die ich vor dem Training im Unterricht noch getragen hatte, achtlos in meinen Rucksack.

»Ich weiß noch nicht. Meine Eltern sind ja nicht so die Partyfans.« Ich zog eine Grimasse, die Anh zum Lachen brachte. »Ich glaube, mehr als drei Freundinnen waren noch nie zur gleichen Zeit bei mir zu Hause.«

»Du wirst sechzehn, Thorn! Da muss man auch mal rebellieren!« Eine weitere Mitschülerin schloss sich Anhs und Cassies Meinung an, und ich fühlte mich so langsam etwas bedrängt.

Mit weniger Sorgfalt als normalerweise flocht ich meine schulterlangen Haare zu einem losen Zopf und schlüpfte in den dunkelblauen Schulblazer.

»Ich werde schon irgendwas machen, aber ich hab darüber echt noch nicht nachgedacht. Ist ja noch ein bisschen hin.«

»Es sind kaum noch drei Wochen!«, widersprach Anh. »Ich finde ja, wir sollten was richtig Großes planen. Dein Geburtstag fällt schließlich genau auf den ersten Ferientag. Dann haben wir das Schuljahr geschafft, die Meisterschaft gewonnen und …«

»Na, du bist ja zuversichtlich. Gerade wolltest du nicht mal zum Zusatztraining gehen und jetzt feierst du schon unseren Sieg?«, erinnerte ich sie und hoffte, damit zugleich das Thema zu wechseln.

Dieser Geburtstag nervte mich jetzt schon.

»Wir sind die Favoriten. Da müsste schon echt was schieflaufen, damit wir diesen Sieg noch verspielen.« Cassie war optimistisch und band ihren Schuh. Dann stand sie auf und griff sich ihre Tasche. »Ich muss los, aber wenn du Hilfe bei der Partyplanung brauchst, Thorn, dann sag Bescheid.«

Ich brauchte keine Hilfe! Und schon gar keine Party! Nur wollte das offenbar niemand wahrhaben.

»Klar, Cassie«, murmelte ich deshalb ergeben. »Danke für das Angebot.«

»Und du musst unbedingt ein paar coole Jungs einladen!«

Auf dem Nachhauseweg überlegte ich, ob mit mir vielleicht etwas nicht stimmte. Schließlich stand jeder auf Partys. Nur ich nicht. Und so toll würde die Party ohne coole Jungs auch sicher nicht werden. Ich kannte nämlich nicht gerade viele von ihnen. Ich wusste auch gar nicht, wann ich dafür noch Zeit finden sollte. Meine Tage waren vollkommen durchgeplant. Schule, dann die Staffel, und gelegentlich gab ich dem Nachbarskind noch Nachhilfeunterricht in Mathe. Wenn ich dazwischen irgendwann mal nichts zu tun hatte, wollte ich eigentlich nur ein schönes Buch lesen oder mit Anh und Cassie um die Häuser ziehen. Eine Party klang dagegen richtig stressig. Auch wenn es mich natürlich freute, dass ich offenbar so beliebt war, dass alle mit mir feiern wollten.

Ich bog um die Ecke und schlenderte die von hübschen Reihenhäusern gesäumte Straße entlang. Die Wolken hatten sich inzwischen verzogen, und der Himmel zeigte sich in sommerlichem Blau. Trotzdem war es kühl für Mitte Juni, und obwohl mein Shirt langärmlig war, fröstelte ich. Ich rieb mir die Arme und beschleunigte meinen Schritt. Mir war seit Tagen kalt, und ich fragte mich langsam, ob ich nicht eine Erkältung ausbrütete.

»Ich darf vor dem Wettkampf echt nicht noch krank werden!«, brummte ich vor mich hin und wechselte die Straßenseite.

»Shit!«

Ein harter Stoß traf mich an der Seite, sodass ich zu Boden stürzte. Mein Rucksack rutschte mir von der Schulter, und ich schlug hart mit dem Knie auf den Teer.

»Pass doch auf!«, wurde ich angestänkert, noch ehe ich verstand, was überhaupt los war.

»Was …?«, murmelte ich und fasste mir an den Kopf. Das Bild verschwamm vor meinen Augen, und ich blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit. Ein grauer Schatten kam auf mich zu. Ein Schatten, die Kontur eines Wesens, von einem silbernen Schimmer umgeben.

Mein Keuchen vertrieb dieses Trugbild, und ich kniff fest die Augen zusammen, um meine Sinne wieder zu schärfen.

»Bist du okay?«

Ich wagte es kaum, die Augen zu öffnen. War ich okay? Vielleicht sollte ich wirklich eine Bestandsaufnahme machen. Mir tat auf jeden Fall alles weh. Mühsam kam ich auf die Knie und sah mich, nun wo die Welt sich nicht mehr wie ein Karussell um mich drehte, Riley Scott gegenüber, der lässig eine Kaugummiblase zwischen seinen Lippen hervorpresste.

»Du?« Der silberne Schein, der ihn eben noch umgeben hatte, war verschwunden. Er hatte die Schuluniform gegen einen dunklen, fast wadenlangen Ledermantel getauscht. Das passende Outfit für einen Gangleader, wie ich fand.

»Geht es dir gut, Thorn?«, wiederholte er und reichte mir die Hand. Als ich danach griff, zuckte ich zurück. Seine Haut fühlte sich ungewohnt heiß an.

»Ich helf dir auf«, sagte er, offenbar ohne mein Zögern zu bemerken. Er fasste mich am Arm und zog mich auf die Beine.

»Verdammt! Das tut echt weh!«, jammerte ich und stützte mich auf seine Schulter, woraufhin sich seine Augen zu Schlitzen verengten.

»Du bist einfach auf die Fahrbahn gelaufen!«, brummte er und versuchte Distanz zwischen uns zu schaffen, indem er mich vor sich herschob.

»Bin ich nicht! Du hast mich eiskalt umgefahren!« Ich drehte mich zu ihm und funkelte ihn böse an. Wenn er glaubte, er käme damit einfach so davon, dann täuschte er sich. Es ärgerte mich, dass ich durch seine Sonnenbrille seine Augen nicht sehen konnte. Ich hätte zu gerne gewusst, was er dachte.

»Kann ja mal passieren!« Der Anführer der Shades war nicht gerade für sein sanftes Wesen bekannt. Mit einer Entschuldigung brauchte ich deshalb wohl nicht zu rechnen. »Wenn du okay bist, fahr ich jetzt weiter.« Er ging einfach zurück auf die Fahrbahn und tippte mit dem Fuß sein Skateboard an, sodass es ihm in die Hand sprang. »Bis morgen in der Schule.«

»Du lässt mich jetzt einfach hier so stehen?«, rief ich ungläubig und humpelte ihm nach, weil mein Rucksack ja auch noch auf der Straße lag.

»Du lebst. Du wirst schon klarkommen, oder?« Eine Kaugummiblase beendete offenbar unser Gespräch.

»Und wenn nicht?« Ich angelte mir meinen Rucksack, ohne dabei mein lädiertes Knie zu sehr zu belasten. »Ich lauf in zwei Wochen einen Wettkampf – und jetzt ist mein Knie kaputt! Wie kommst du darauf, ich würde damit klarkommen?«

Rileys mangelndes Einfühlungsvermögen machte mich wütend. Schließlich war das alles seine Schuld. Doch entgegen meiner Erwartung schien ihn das noch zu erheitern, denn ein freches Grinsen tauchte auf seinem ansonsten immer so unnahbar wirkenden Gesicht auf.

»Ehrlich gesagt siehst du nicht so aus, als würde dich ein kaputtes Knie davon abhalten, diesen Wettkampf zu gewinnen. Ich hab dich heute gesehen. Du könntest auch rückwärts laufen und zwischendrin noch im Supermarkt haltmachen und würdest trotzdem mit großem Vorsprung durchs Ziel gehen.«

Dieses unerwartete Kompliment ließ mir das Blut in die Wangen steigen. Ich hoffte, dass er das nicht bemerkte, als er auf mich zukam und mir den Rucksack abnahm.

Schnell blickte ich auf meine Füße, um ihn nicht ansehen zu müssen. Obwohl ich ja gerade noch gewollt hatte, dass er sich nach unserem Zusammenstoß besorgter zeigte, wollte ich ihn nun so schnell wie möglich wieder loswerden. Ich war nicht vorbereitet auf Gespräche mit Jungs. Schon gar nicht auf Jungs, die sich für besonders cool hielten.

»Was wird das?«, fragte ich deshalb schroffer als nötig und deutete auf meinen Rucksack.

Riley grinste immer noch. »Ich betreibe Schadensbegrenzung. Weil ich eh in die Richtung muss, bring ich dich heim.« Ohne auf mich zu warten, stieg er auf sein Skateboard, ließ erneut eine Kaugummiblase platzen und rollte los.

»Das ist nicht nötig!«, wehrte ich ab, eilte aber hinter ihm her.

»Ich weiß.«

Dieser Idiot! Ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu fluchen. »Dann bleib stehen und gib mir meinen Rucksack.« Es ärgerte mich, dass ich schneller als normal gehen musste, um mit ihm auf dem Board mitzuhalten. Ich wollte auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken, als würde ich hinter ihm herrennen.

»Ich bin nur höflich.«

»Du bist nicht höflich! Du bist nervig! Gib mir jetzt meine Tasche!«

Er lachte, blieb aber stehen und wandte sich zu mir um.

»Sieht nicht so aus, als würde deinem Knie was fehlen«, bemerkte er und reichte mir meinen Rucksack. »Ich hab gehört, du machst ’ne Party?«, redete er weiter, obwohl ich schon nicht mehr neben ihm stand und davonmarschierte.

»Da hast du dich verhört!«, stellte ich klar und fragte mich, wer von meinen Freunden sich dieser dämlichen Party schon so sicher war, dass schon mal rein vorsorglich die ganze Schule informiert werden musste.

Und Riley Scott erwartete ja wohl nicht im Ernst, dass ich ihn einladen würde.

Ich spähte möglichst unauffällig über die Schulter, um aus seinen stoischen Zügen zu lesen, was er dachte.

Seine schmalen Lippen waren noch immer zu einem amüsierten Grinsen verzogen, und seine markanten Wangenknochen wirkten zusammen mit den dunklen Gläsern der Sonnenbrille sehr geheimnisvoll. Das dunkelblonde, fast schulterlange Haar brauchte dringend einen Schnitt und verlieh ihm zusätzlich etwas Verwegenes. Doch was in seinem Kopf vorging, konnte man ihm nicht ansehen.

»Dann also keine Party?«, hakte er nach und rollte lässig neben mir her.

»Was interessiert dich das? Ich kenn dich doch kaum. Dich und deine Shades!«

Er lachte, und für einen kurzen Moment löste das einen unerklärlichen Schwindel in mir aus. Seine Antwort dröhnte wie ein Echo in meinem Ohr, wobei ich kein Wort verstand. Ich blinzelte, denn ich hatte wieder das Gefühl, als umgäbe ihn ein silbriges Schillern. Ich fasste mir an die Stirn, aber der Moment war so schnell vorüber, wie er gekommen war.

»Was hast du gesagt?«, hakte ich nach.

»Ich habe gesagt, dass wir das ändern können.« Er grinste und stieß sein Skateboard an.

Ehe ich etwas erwidern oder mir auch nur überlegen konnte, was er damit meinte, bog er eine Straße weiter um die Ecke.

Vergessen waren der Schmerz in meinem Knie, der Wettkampf und die Matheprobe, die morgen in der Schule anstand. Ich hatte nur noch eine Sache im Kopf: meine Party – und die Frage, ob meine Freundinnen wohl ausgerechnet die Shades im Sinn gehabt hatten, als sie von coolen Jungs gesprochen hatten. Irgendwie bezweifelte ich das.

Kapitel 2

Am nächsten Tag wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Meine Augen waren lichtempfindlich, und ich schlurfte ins Bad wie ein Zombie. Der anstehende Mathetest hämmerte mir drohend im Hinterkopf. Ich fragte mich, wie ich in meinem Zustand auch nur eine einzige der Aufgaben lösen sollte. Vor dem Spiegel streckte ich mir wie beim Arzt die Zunge heraus und versuchte zu erkennen, ob mein Hals entzündet war. Ich fühlte mich fiebrig.

»Ich seh scheiße aus!«, murmelte ich und griff zur Haarbürste, um wenigstens auf meinem Kopf zu retten, was zu retten war. Meine grüngrauen Augen waren rot unterlaufen, als hätte ich die Nacht durchgemacht. Es half alles nichts. Ohne eine erfrischende Dusche, die hoffentlich meine Lebensgeister wecken würde, konnte ich nicht aus dem Haus.

Als ich wenig später mit noch leicht feuchtem Haar in die Küche kam, hatte Mom mir bereits meine Lunchbox gepackt und einen Toast vorbereitet.

»Du bist heute spät dran, Thorn«, bemerkte sie, goss meinem Bruder Jake noch Milch in die Tasse und strubbelte liebevoll durch seine blonden kurzen Haare.

»Ich weiß. Ich glaube, ich bin krank. Vielleicht sollte ich daheimbleiben.«

Mom sah auf und kam um den Tisch herum zu mir. Sie legte mir die Hand an die Stirn und fühlte meine Temperatur.

»Du bist wirklich etwas warm. Könnte aber auch von der Dusche kommen.«

Sie trat näher und hob mein Gesicht an, um mir in die Augen sehen zu können. »Ist heute nicht dein Mathetest?«

»Ja. Aber deswegen geht es mir nicht schlecht. Ich bin gut in Mathe … wenn mir nicht gerade der Kopf platzt.«

Ich wich ihrer überfürsorglichen Musterung aus und strich Butter auf meinen Toast, obwohl ich überhaupt keinen Appetit verspürte.

»Vielleicht macht ihr der Junge Kopfweh, der sie gestern bis fast nach Hause gebracht hat?«, riet Jake und grinste mich verschmitzt an.

»Was …?« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.

»Ich hab gesehen, wie ein Junge auf ’nem Skateboard mit dir die Straße entlanggekommen ist. Ihr habt euch unterhalten«, berichtete er.

»Du kleine Ratte!«, fuhr ich ihn an. »Was geht es dich denn an, mit wem ich rede!«

Mom hob beschwichtigend die Hände. »Hey, ihr beiden. Ruhe jetzt.« Sie legte Jake die Hand auf den Rücken. »Und du spionierst deiner Schwester nicht nach, okay?«

»Hab ich gar nicht!«, verteidigte er sich gekränkt. »Ich hab nur mein neues Detektivset mit dem Megafernrohr ausprobiert. Und da hab ich Thorn mit dem Jungen gesehen! Er hat lange Haare!«

Mom hob verwundert die Augenbraue.

»Lange Haare?«, fragte sie misstrauisch, und ihr eben noch belustigter Ausdruck hatte sich in Besorgnis verwandelt.

Ich schüttelte genervt den Kopf.

»Echt jetzt! Riley hat überhaupt keine langen Haare. Sie gehen gerade mal bis zur Schulter! Und überhaupt … ich kenne ihn nicht mal. Er hat mich mit dem Skateboard umgefahren, und … ach, vergesst es! Das ist echt nichts, worüber wir reden müssen.«

»Werd doch nicht gleich so laut, Thorn«, bat Mom und schlang von hinten die Arme um mich. Ihre blonden Locken kitzelten meine Wange, und sie hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe. »Ich will mich ja gar nicht einmischen. Aber du lässt dich doch nicht mit irgendwelchen Halbstarken ein, oder?«

Ich rollte mit den Augen. Riley Scott und seine Shades waren nicht gerade die Art von Jungs, die man sich als Poster an die Wand hängte.

»Mach dir keine Sorgen, Mom. Ich hab überhaupt keine Zeit, mich auf irgendwen einzulassen«, versicherte ich ihr mit einem Blick in ihre strahlend blauen Augen, die meinen so unähnlich waren, dass vermutlich jeder erraten konnte, dass sie nicht meine leibliche Mutter war. Dennoch hatten weder sie noch Dad mir je das Gefühl gegeben, als Adoptivkind weniger geliebt zu werden als ihr leiblicher Sohn Jake.

»Ich sag ja nicht, dass du dich von Jungs fernhalten sollst. Mädchen in deinem Alter interessieren sich eben für das andere Geschlecht.«

Wie jeder Neunjährige kicherte Jake, als das Thema Liebe aufkam. Meine Kopfschmerzen verstärkten sich.

»Mom, bitte. Können wir das nicht ein andermal besprechen?« Ich klappte meinen Toast in der Mitte zusammen und packte die Lunchbox in meinen Rucksack. »Mein Kopf bringt mich um, und ich will nur diese doofe Matheklausur hinter mich bringen.«

»Wirst du den Jungen denn zu deinem Geburtstag einladen?«, hakte Mom nach, offenbar nicht bereit, meine Qualen zu beenden. Geburtstag, wie sie das schon betonte. Das klang nun wirklich nicht nach einer erinnerungswürdigen Party, sondern vielmehr nach Sandkuchen und Tee mit den Großeltern.

Genervt stand ich auf und fuhr mit dem Finger an den Halsausschnitt meiner Schuluniformbluse. Die kam mir heute ungewohnt eng vor. Beinahe als drohte der Stoff mit meiner fiebrig heißen Haut zu verschmelzen. Ich war definitiv nicht in der Lage, gerade jetzt über Sinn und Unsinn oder gar die Gästeliste einer Party zu diskutieren. Vor allem, da ich inzwischen selbst nicht mehr wusste, ob ich eine Feier zu meinem Geburtstag schmeißen wollte. Es wäre ja noch schöner, wenn ausgerechnet der dumme Zusammenstoß mit Riley Scott an meiner Meinung diesbezüglich etwas geändert haben sollte. Ein Typ, der sich für besonders cool hielt …

Ich atmete tief durch, drängte jeden Gedanken an ihn und die Shades beiseite und zwang mich zu einem Lächeln.

»Warum fragst du nicht Jake? Unser kleiner Sherlock Holmes wird vermutlich noch vor mir wissen, wen ich einladen werde und wen nicht.«

»Der Test war ja wohl mal oberscheiße!«, fluchte Anh und knallte ihre Tasche auf den Tisch in der Schulkantine. »Ich hab nicht mal die Hälfte gewusst. Dad flippt aus, wenn ich wieder ’ne schlechte Note anbringe. Das versaut mir mein ganzes Zeugnis!«

Da ich Anh seit dem Kindergarten kannte, wusste ich, dass sie keine Antwort erwartete, wenn sie wie jetzt einen Redeschwall hatte.

»Da hab ich mich in allen anderen Fächern so reingehängt, und nun vermasselt mir Mathe meinen ganzen Schnitt.« Sie setzte sich und holte ein Stück kaltes Hähnchen vom Vortag aus ihrer Lunchbox. Während sie mit spitzen Fingern die inzwischen durchgeweichte Haut vom Fleisch knabberte, nuschelte sie weiter: »Hast du die dritte Aufgabe lösen können? Ich bin sicher, das hast du. Mathe war ja schon immer deine Stärke. Warum …«, sie nahm einen größeren Bissen, »… warum gibscht du nischt mir Nachhilfe, sondern dieschem Drittkläschler?«

Ehe ich mir die Mühe einer Antwort machte, wartete ich lieber erst mal ab, ob sie die Frage nicht rein rhetorisch gestellt hatte.

»Und die fünfte Aufgabe war ja wohl auch unlösbar! Vollkommener Schwachsinn, so eine lange Gleichung aufzustellen, nur um uns eins reinzuwürgen!«

Ich verzichtete darauf, Anh zu sagen, dass ich den Test nicht besonders schwierig gefunden hatte. Mir ging es heute einfach nicht gut genug, um mich auf eine Diskussion einzulassen. Ich war erleichtert, als sich Cassie mit ihrem Tablett zu uns setzte. Während sie auf Anhs Gejammer einstieg, konnte ich meine Gedanken schweifen lassen. Ich blickte mich in der Kantine um, aber von den Shades war wie immer nichts zu sehen. In den Pausen hielten sie sich meistens auf dem Hof auf. Nicht dass ich mich je besonders dafür interessiert hätte. Auch heute suchte ich nicht speziell nach ihnen – oder nach Riley.

Ich streckte meinen Rücken durch, der mir sehr verspannt vorkam. Bereits den ganzen Tag fühlte ich mich eingeengt und hatte sogar schon den obersten Knopf meiner Bluse geöffnet, obwohl das vom Lehrergremium nicht gewünscht war. Aber das Gremium hatte ja auch kein Fieber …

»Wisst ihr was …« Ich packte meine Lunchbox ungeöffnet zurück in meinen Rucksack. »Ich … ich brauche dringend frische Luft. Mir … ist heute so komisch.«

Anh sah mich besorgt an.

»Mir ist schon aufgefallen, dass du schlecht drauf bist. Miss Shepherd hat dich ja schon verwarnt, weil du so unaufmerksam bist. Was ist denn los?«

Ich rollte die Augen, als Anh mich an Miss Shepherds Ermahnung erinnerte. Schließlich hatte ich nur kurz nicht aufgepasst, weil mir ein unerklärlicher Schmerz durch die Wirbelsäule geschossen war. Ich kniff die Lippen zusammen. Vermutlich hatte ich mich beim Zusammenstoß mit Riley mehr verletzt als zuerst angenommen.

»Thorn?« Anh zog besorgt die Nase kraus. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Was?« Ich zwang mich, ihr zuzuhören, was nicht so einfach war, da der Raum anfing, sich um mich zu drehen. Ich stützte mich so lässig wie möglich auf der Tischplatte ab, um nicht zu fallen. Eine ohnmächtige Schülerin in der Kantine wäre vermutlich die Sensation des Tages.

»Ich sagte, du siehst blass aus. Sollen wir mitkommen?«

Cassie sah mich ebenfalls neugierig an und kratzte hastig den letzten Rest Hackfleischsoße von ihrem Teller, wohl um mir zur Not beistehen zu können.

»Nein, ich …« Der Boden unter meinen Füßen schien sich in Gelee zu verwandeln, und ich drückte fest die Knie durch. »Mir geht’s gut. Ich muss nur kurz durchatmen.«

»Okay, wir sind hier, falls du was brauchst.« Cassie lächelte mich aufmunternd an, aber Anh war noch nicht überzeugt.

»Bist du sicher, Thorn?«, hakte sie nach und packte ebenfalls ihre Box weg.

»Ja. Alles bestens, Anh. Wirklich. Ich … will mal kurz allein sein.«

Das war keine Lüge. Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber der kalte Schweiß, der mir den Rücken hinablief, machte mir Angst. Ich rannte beinahe aus der Kantine, vorbei an Mitschülern, die mir verwundert nachblickten. Als ich den Hof erreichte, lehnte ich mich mit wackeligen Beinen gegen die Wand, nicht in der Lage, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Die Welt verschwamm vor meinen Augen, und ich blinzelte gegen das Licht, das aus dem Nichts zu kommen schien. Meine Brust war zu eng für meinen Atem, mein Puls nur ein schwaches Zittern.

Ich ließ mich mit dem Rücken an der Wand hinabgleiten, bis ich am Boden saß und meine Finger sich Halt suchend ins feuchte Gras bohrten. Mein Rücken brannte wie Feuer, und ich spürte, wie sich Schweißperlen auf meiner Oberlippe bildeten. Ich hörte den Glockenschlag, der das Pausenende ankündigte, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war gefangen in dieser allmächtigen Hilflosigkeit. Nicht einmal die Hand konnte ich heben. Aufzustehen und weiterzumachen, kam mir unmöglich vor. Ich akzeptierte die Schwäche und lehnte matt den Kopf gegen die kühle Steinmauer.

Was war nur mit mir los?

»Ich hätte zu Hause bleiben sollen«, brummte ich durch blutleere Lippen und wischte mir mit zitternden Fingern den Schweiß aus dem Gesicht. Wie lange ich schon hier saß, wusste ich nicht, aber obwohl sich meine Haut heiß anfühlte, fror ich. Ich hatte garantiert Fieber. Als ich wieder aufsah, hatte sich der Pausenhof längst geleert. Trotzdem spürte ich Blicke auf mir.

Oder bildete ich mir das nur ein? Verlor ich etwa den Verstand?

»Scheiße!«, fluchte ich und versuchte trotz meiner Schmerzen, tief Luft zu holen. Ich musste zurück in die Klasse. Ich musste zurück in die Realität. Diesen Schwindel hinter mir lassen.

Mühsam rappelte ich mich hoch, kam langsam auf die Beine und stützte mich gegen die Wand, sonst wäre ich gefallen. Ich streckte die Hand nach der Tür aus, als etwas leuchtend Rotes am Rand des Schulgeländes meine Aufmerksamkeit erregte. Ein Wesen, groß und dunkel, mit brennenden Flügeln stand dort, starr und reglos wie aus Stein. Es hob sich vom Grau des typisch englischen Himmels ab wie eine Fackel in der Nacht. Ein Beben durchfuhr mich, und Panik ließ meinen Herzschlag aussetzen, denn trotz der Distanz durchbohrte mich der glühende Blick dieser Gestalt wie eine brennende Lanze. Dieses Wesen war ein Hirngespinst, das wusste ich, dennoch beschleunigte sich mein Puls, als würde ich rennen. Das Blut rauschte mir in den Ohren, wie wenn ich beim Staffellauf in die erste Kurve ging. Ich hielt den Atem an.

Ich fantasierte. Fieberwahn – das war die einzig logische Erklärung. Ich blinzelte und rieb mir übers Gesicht, um meinen Verstand zur Vernunft zu bringen. Spürte meine Hände fest und sicher auf meinen Wangen, spürte meine Wimpern an meinen Fingern und nahm den Geruch des Grases wahr, der meinen Händen anhaftete.

Das war real. Nicht dieses Wesen.

Ich spürte den Wind, der mir unter den Rock meiner Schuluniform wehte, spürte die feuchte Kühle der Luft an meinen Beinen und hörte die Vögel, die in den Büschen ganz in der Nähe nisteten.

Das war real.

Mit der Gewissheit, dass alles andere nur meiner vom Fieber gepeitschten Fantasie entsprang, öffnete ich die Augen. Doch ich wagte es nicht, noch einmal dorthin zu sehen, wo die Gestalt gestanden hatte. Natürlich würde dort nun nichts mehr sein. Dort war nie etwas gewesen, versicherte ich mir, während ich durch die Tür zurück ins Schulhaus taumelte und mich, so schnell es meine butterweichen Knie zuließen, den Gang entlangschleppte. Die Schmerzen in meinen Gliedern hatten etwas nachgelassen, und auch mein Herzschlag beruhigte sich, jetzt wo die schützenden Mauern der Schule mich wieder umgaben. Ich würde diesen Schultag irgendwie überstehen und dann Mom bitten, mich zum Arzt zu bringen. Das Zusatztraining am Freitag konnte ich vergessen, das war klar.

»Nachsitzen?« Ich stand in der Tür zum Klassenzimmer und starrte meine Lehrerin Miss Shepherd ungläubig an. Sah die denn nicht, wie beschissen es mir ging?

»Sehr richtig, Thorn. Die Stunde ist fast um, ohne dass du uns mit deiner Anwesenheit beehrt hättest. Das wirst du nachholen.« Sie verschränkte streng die Arme vor der Brust und tippte ungeduldig mit dem Fuß auf. Dann richtete sie ihren Blick durch ihr goldenes Brillengestell auf etwas hinter mir im Flur und schaute gleich noch eine Spur finsterer drein. »Und dein lieber Freund hier kann dir dabei gerne Gesellschaft leisten.«

Mein lieber Freund? Verständnislos drehte ich mich um. Mein Blick traf auf Riley Scotts unbeeindrucktes Grinsen. Erst jetzt bemerkte ich, dass sein Platz im Klassenzimmer unbesetzt war.

»Wollt ihr noch länger in der Tür stehen oder vielleicht doch endlich hereinkommen?«

In Anhs Gesicht spiegelte sich Verwunderung, als ich zögernd durch die Stuhlreihe auf sie zusteuerte. Verwunderung, die ich teilte. Abgesehen davon, dass es mir beschissen ging, ich vermutlich meinen Verstand im Fieberwahn verlor und ich zum ersten Mal im Leben nachsitzen sollte, würden nun vermutlich alle hier in der Klasse denken, dass ich mich während der Stunde mit Riley Scott herumgedrückt hatte.

Selbst Anh schien das zu denken, denn sie sah mich mit großen fragenden Augen an, während ich mich auf den Stuhl hinter ihr sinken ließ.

»Was ist denn passiert?«, flüsterte sie und neigte den Kopf in Rileys Richtung. Dem war die Situation jedenfalls nicht peinlich, denn er fläzte sich achtlos auf seinen Platz neben dem Fenster und streckte die Beine von sich.

»Thorn!?« Anhs Raunen bekam etwas mehr Nachdruck.

»Ich …« Was sollte ich bloß sagen? Dass das wohl der schlimmste Tag meines Lebens war? »Es ist … keine Ahnung, Anh. Mir geht es echt beschissen!«, versuchte ich die Gesamtsituation in wenigen Worten zusammenzufassen, denn Miss Shepherd ließ mich nicht aus den Augen – und ich wollte mir wirklich nicht noch mehr Ärger einhandeln.

Mein Blick hing wie gebannt an den Zeigern der Uhr über der Klassenzimmertür. Noch vierunddreißig Minuten! Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und nahm den Bleistift aus dem Mund. Wie sollte ich noch weitere vierunddreißig Minuten durchstehen? Ich war schon jetzt am Ende meiner Kräfte. Konnte kaum atmen, geschweige denn schlucken. Mein Kopf dröhnte, und doch glaubte ich, das Ticken des Sekundenzeigers über das leise Murmeln der anderen Schüler im Raum hinweg zu hören. Es waren nicht viele, die das fragwürdige Vergnügen des Nachsitzens an diesem verregneten Nachmittag mit mir teilten. Wir sollten zur Strafe ein Kapitel aus Moby Dick abschreiben, aber ich schaffte es einfach nicht, die Zeilen auf dem Block vor mir zu füllen. Wann immer ich in das Buch sah, verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen, und das Hämmern in meinem Kopf wurde stärker. Das Mädchen vor mir packte ihr Mäppchen in ihren Rucksack, schlüpfte in ihren Schulblazer, nahm ihren Regenschirm und stand auf. Sie legte ihre beschriebenen Blätter wortlos auf Miss Shepherds Lehrerpult und ging.

»Verdammt!«, murrte ich, denn ein Blick über die Schulter zeigte mir, dass alle anderen fleißig am Arbeiten waren. Alle, außer Riley und mir. Riley hatte seine schwarzen Boots, die so gar nicht zu der geleckten blauen Schuluniform passten, lässig gegen den Heizkörper gestemmt und kippelte auf seinem Stuhl, die kritische Miene der Lehrerin vollkommen ignorierend. Das Blatt vor ihm war unbeschrieben und Moby Dick nicht einmal aufgeschlagen. Er grinste mich an und presste eine Kaugummiblase zwischen seinen Lippen hervor.

Das leise Ploppen, mit dem diese platzte, dröhnte wie eine Explosion in meinem Schädel. Ich fuhr mir gepeinigt mit den Händen unter die zu einem ordentlichen Zopf geflochtenen Haare und massierte meine Kopfhaut. Das Prasseln des Regens zerrte an meinen Nerven.

Das musste die schlimmste Form der Sommergrippe sein, von der ich je gehört hatte. Und dabei war das Schuljahresende zum Greifen nahe. Ich musste nur noch ein paar Tage durchhalten. Das sollte doch zu schaffen sein …

Wie zum Beweis, dass ich mich irrte, schoss mir ein stechender Schmerz vom Nacken bis in die Hüfte und riss mich beinahe vom Stuhl. Keuchend beugte ich mich über mein Pult und drückte den Rücken durch, doch das Brennen ließ nicht nach.

»Thorn? Was machst du da?« Miss Shepherd erhob sich von ihrem Stuhl und sah mich über den Rand ihrer goldenen Brille hinweg streng an. War ja klar, dass sie mich kritisierte, Riley aber weiterhin tun und lassen konnte, was er wollte. Vermutlich hatten selbst die Lehrer bei ihm und seiner Truppe schon aufgegeben.

»Thorn?«, wiederholte sie ihre Frage diesmal deutlich schroffer. »Setz dich hin und schreib den Text ab!«

Die war gut! Meine Wirbelsäule fühlte sich an, als hätte mir die Mitschülerin hinter mir ihren ungespitzten Bleistift hineingerammt. Ich schnappte panisch nach Luft, doch der Druck in mir wurde immer größer. Es war schlimmer als zuvor in der Pause. Um etliches schlimmer. Ich wollte schreien, mir die Haut vom Rücken reißen und mich irgendwo verkriechen.

Die nächste Schmerzwelle packte mich, und ich stieß unabsichtlich meinen Stuhl um.

»Dieses Verhalten dulde ich hier nicht!«, rief Miss Shepherd und hob drohend den Finger. »Stell sofort den Stuhl wieder auf!«

Ich hätte gelacht, wenn der Schmerz mir nicht den Atem geraubt hätte. Merkte die nicht, dass ich kurz davorstand, in Ohnmacht zu fallen? Warum rief eigentlich niemand einen Krankenwagen?

Ich weitete den Kragen meiner Bluse, aber das half nichts. Die Welt begann sich zu drehen, und ich krallte mich an mein Pult. Meine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest packte ich zu. Ich bog meinen Rücken durch, presste die Augen zusammen und japste nach Luft.

»Thorn?« Der besorgte Ton in Rileys rauer Stimme drang leise in mein schmerzgepeinigtes Bewusstsein vor, und ich drehte mich wie ferngesteuert zu ihm um. Er war der Letzte, der mir helfen konnte, und doch schien er in diesem Moment mit seinen dunklen Augen bis auf den Grund meiner Seele zu blicken. Der Moment kam mir endlos vor, und zum ersten Mal an diesem verfluchten Tag fühlte ich einen Anflug von Sicherheit. Doch das Wort, das ich von seinen Lippen las, nicht wissend, ob er es wirklich sagte, riss mich aus meiner Trance.

Lauf, hallte es in meinem Kopf wider.

Lauf! Ein Befehl, der jede Zelle in meinem Körper in Brand setzte.

Lauf! Es war das Einzige, das Sinn machte.

Ich sog gierig den Atem in meine plötzlich viel zu kleine Lunge und sah hektisch von Riley zu Miss Shepherd und zurück. Alle starrten mich entsetzt an, als ein hartes Keuchen meiner Kehle entwich. Ich blickte in Rileys Gesicht. Suchte nach einer Bestätigung. Nach irgendetwas, das mir helfen würde zu verstehen. Seine Lippen formten wieder dieses eine Wort, und mein Verstand erfasste es.

Lauf!, schrillte es in meinem Kopf – und ich tat es.

Ich flog förmlich an Miss Shepherd vorbei, ihr überraschtes Quieken im Ohr, als ich auch schon die Klassenzimmertür aufriss und in den um diese Zeit leer gefegten Korridor stolperte. Ich krachte gegen einen Spind und hastete weiter, den Hall meiner Schritte im Ohr.

»Thorn!«, kreischte Miss Shepherd irgendwo hinter mir, was mich nur noch weiter hetzte. Ich musste hier raus! Sofort!

Mit aller Kraft, die ich sonst nur beim Staffellauf aufwandte, stieß ich die Eingangstür auf und floh zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Schulhof. Dunkle Wolken hingen über London, und der Regen wusch der Welt die Farben aus. Um mich herum verschmolz alles zu einem nebeligen Grau. Das Herz hämmerte mir in der Brust, und ich sah mich hektisch um, während mir der Regen ins Gesicht schlug. Was nun? Wohin? Der Schmerz trieb mich an, verlangte nach Sicherheit.

Auf der Wiese unter einem Baum suchten Conrad, Garret und Sam, die Jungs aus Rileys Gang, Schutz vor dem Regen. Offenbar warteten sie auf ihren Leader. Ansonsten waren nur wenige Leute mit ihren Regenschirmen unterwegs, doch alle drehten sich verwundert zu mir um, als Miss Shepherd brüllend hinter mir aus der Schule hastete, dicht gefolgt von einigen meiner Mitschüler.

Ich musste weiter. Fort von alledem, einfach nur weg. Ich hatte keine Ahnung, was mich antrieb, aber mir blieb auch keine Zeit, das zu hinterfragen. Mein Innerstes schien zu wissen, was gut für mich war, und so rannte ich weiter. Über die rutschige Wiese, den leichten Hügel hinauf und auf die Baumgruppe zu, die den Schulhof vom angrenzenden Park trennte.

Ich rannte, bis meine Lunge brannte, so schnell, als ginge es um die Meisterschaft. Trotzdem verlor sich Miss Shepherds Geschrei nicht in der Ferne. Wieder packte mich der Schmerz, und ich stolperte blind über eine Wurzel. Mit voller Wucht schlug ich auf meinem ohnehin schon lädierten Knie auf und landete hart auf dem Boden. Meine Zähne prallten aufeinander, und der Schock trieb mir die Tränen in die Augen. Ich sah die Lehrerin, eine Hand zum Schutz vor dem Regen über sich haltend, näherkommen und schloss gequält die Lider.

Was würde sie denken? Wie sollte ich das nur erklären?

Noch ehe ich Antworten auf diese Fragen fand, riss mich etwas auf die Beine. Ich spürte den Boden nicht länger unter meinen Füßen, und eine Hand presste sich hart auf meinen Mund, dämpfte meinen erschrockenen Schrei, als ich mit dem Rücken grob gegen einen Baumstamm gedrückt wurde.

»Schhhht! Sei leise!«, warnte mich eine raue Stimme. Als ich aufsah, blickte ich in Rileys dunkle Augen. Sein Körper lehnte sich an meinen, hielt mich eng zwischen sich und dem Stamm gefangen, umgeben von mächtigen dunkelgrauen Schwingen.

Schwingen? Ich blinzelte. Hatte ich etwa schon wieder eine Halluzination? Als ich die Augen wieder öffnete, waren die aus glänzenden Federn bestehenden Schwingen immer noch da. Sie bewegten sich, als Riley den Arm fester um mich legte. Seine Haut war unnatürlich heiß.

Verlor ich den Verstand?

Meine Gedanken fuhren Achterbahn ohne Sicherheitsbügel, und mir wurde übel. Ich wollte schreien, aber seine Finger lagen noch immer auf meinen Lippen.

»Halt still!«, beschwor er mich leise und neigte den Flügel etwas nach unten, sodass wir beide durch die nahen Büsche hindurch freie Sicht auf Miss Shepherd hatten, die suchend genau in unsere Richtung blickte. Ich zuckte zusammen, denn ich konnte ihre Schimpftriade schon ahnen.

Ich wusste nicht, was hier los war, aber mir war klar: Das würde Ärger geben! Doch warum hörte ich nichts? Ich blinzelte und konnte gerade noch sehen, wie sich Miss Shepherd schließlich schulterzuckend abwandte und vom Regen durchnässt den Weg zurückeilte, den sie gekommen war.

Was zur Hölle ging hier eigentlich vor? Warum hatte sie mich nicht gesehen, obwohl sie genau in unsere Richtung geschaut hatte? Und was die noch viel wichtigere Frage war: Warum hatte sie diese gigantischen silbergrauen Flügel nicht gesehen, die mich und Riley wie ein Schutzschild umgaben?

Als hätte mein Gedanke an die Flügel dafür gesorgt, dass sich die Welt weiterdrehte, hob Riley den fedrigen Flügel an und schirmte uns damit vor den Tropfen ab, die vom Laub der Bäume dick und satt auf uns herabfielen.

Ich schüttelte den Kopf. Dieser Fieberwahn machte mir Angst. Ich sollte wirklich schnellstens zum Arzt. Mein Mund war trocken, und ich bekam keine Luft. Diese ganze Sache war verrückt, in meiner Panik klammerte ich mich an die einzige Person, die Teil dieses Wahnsinns zu sein schien. Den unnahbaren Underdog Riley Scott. Den Jungen – und ich wusste, das war Wahnsinn – mit den Flügeln!

In seinen Augen funkelte es, als er zerknirscht das Gesicht verzog.

»Du kannst sie sehen, richtig?«, fragte er und blies seinen Atem sacht gegen die Federn, die uns umgaben.

Sehen? Fragte er mich allen Ernstes, ob ich diese riesigen grauen Federbüschel, die aus seinem Rücken kamen, sehen konnte? Sah er sie etwa auch? Teilten wir uns eine Halluzination? Wie wahrscheinlich war das denn? Aber wie wahrscheinlich war es erst, dass dies keine Halluzination war?

Ich nickte schwach und hob zögernd die Hände. Meine Finger zitterten. Es war verrückt! Verrückt anzunehmen, dass irgendetwas, das an diesem Tag geschehen war, wirklich passierte. Verrückt und doch die einzige Möglichkeit.

Neugierig und zugleich ungläubig berührte ich die samtweichen Federn. Ich hatte mich geirrt, sie waren nicht einfach nur grau. Sie schillerten feucht in allen Regenbogenfarben. Kurz war es, als könnte ich durch sie hindurchsehen wie durch flirrende Luft. Meine Fingerspitzen kribbelten, und ich blickte Riley ängstlich an.

»Ich lass dich los, wenn du versprichst, nicht zu schreien«, bot er an und sah mich abwartend an. Obwohl mir durchaus nach schreien zumute war, nickte ich. Mir fehlte ohnehin die Luft, denn mein Körper war offenbar vollauf damit beschäftigt, nicht bewusstlos umzukippen. Und verdammt, das Letzte, was ich wollte, war, in Ohnmacht zu fallen, während ein mysteriöser Raben-Typ mich in seiner Gewalt hatte.

Du meine Güte, wie das klang! Vielleicht wäre eine Ohnmacht doch nicht so schlecht? Ein hysterisches Lachen bahnte sich den Weg ins Freie, und ich schloss in einem letzten Versuch, dies alles als Hirngespinst abzutun, die Augen.

»Thorn, hörst du mich?«, fragte Riley und löste leicht den Druck auf meine Lippen. Seine Hände waren unnatürlich warm. Er zwang mich, ihn anzusehen, und lächelte mir ermutigend zu. Langsam löste er seine Hand ganz von meinem Mund, als erwartete er, dass ich doch anfangen würde zu schreien. Vielleicht sollte ich das auch. Stattdessen leckte ich mir die Lippen und versuchte zu begreifen, was hier geschah.

»Ich kann sie sehen«, flüsterte ich ungläubig.

»Das solltest du eigentlich nicht«, erklärte Riley mit einem schiefen Grinsen und blies eine Kaugummiblase. »Das macht die Sache kompliziert!«

Kapitel 3

Lucien York sah auf die Skyline von London. Von seinem Platz auf der Dachterrasse eines umgebauten ehemaligen Wasserturms aus überblickte er die ganze Stadt. Die Themse wand sich wie eine silberglänzende Schlange vor ihm durch das Herz Londons, das Riesenrad drehte sich langsam an ihrem Ufer, und der Big Ben auf der anderen Seite des Wassers überragte die Hafenkräne bei Weitem. Lucien liebte die Stadt, wenn sie wie jetzt aus dem Dampf des eben gefallenen Regens emporstieg und die Dächer und Fassaden in der aufkommenden Sonne nass glänzten.

»Gib mir eine Antwort, Lucien«, verlangte sein Vater Kane und trat neben ihn an die Brüstung. »Bist du bereit, dich deinen Pflichten als mein Nachfolger zu stellen?« Er fuhr sich durch die leicht angegrauten Schläfen seines ansonsten noch recht dunklen Haares und musterte ihn.

Kurz begegnete sich ihr Blick, ehe Lucien wieder die Stadt betrachtete.

»Du verlangst, dass ich bereit bin, Vater. Wozu dann die Frage? Es ist kein Geheimnis, dass du mich drängst. Jeder auf Darlighten Hall weiß das.« Seine Stimme blieb ruhig, auch wenn er innerlich aufbegehrte. Er wusste, mit seinem Vater zu streiten, würde nichts ändern. Kane York war das Oberhaupt des Clans. Er traf die Entscheidungen.

»Niemand drängt dich, Lucien«, gab Kane zurück, ohne die Milde der Worte auch in seiner Stimme mitklingen zu lassen. »Unsere Herrschaft hier in England steht auf wackeligen Beinen. Unser Clan – er braucht eine starke Hand. Unser Volk – braucht dich.«

Nun drehte Lucien sich doch zu seinem Vater um. Die Entschlossenheit in dessen Gesicht machte klar, dass Luciens Zustimmung reine Formsache war. Kanes schwarze Augen und der verkniffene Mund unter dem gepflegten Vollbart ließen keinen Raum für Widerspruch.

»Dann weiß ich nicht, warum du fragst. Dein Entschluss steht fest. Und ich habe mich zu beugen, ist es nicht so?«

Kane schwieg. Einen kurzen Moment huschte Bedauern über seine Züge. Er blinzelte, und die unnachgiebige Strenge kehrte zurück. »Denk nicht, dass mir deine Meinung nicht wichtig wäre, Sohn. Aber wenn wir unsere Eigenständigkeit in England behalten möchten, uns nicht der Herrschaft der Oberen unterordnen wollen, dann müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Gesetze unseres Volkes gewahrt werden.«

Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und eine steile Falte über seiner Nasenwurzel zeigte seine Anspannung. »Die Rebellen gewinnen an Zulauf, und die Oberen werden das nicht länger dulden. Wir müssen Ordnung schaffen. Dazu brauche ich dich an meiner Seite, egal ob du glaubst, bereit dafür zu sein oder nicht.« Er fing an, auf der Dachterrasse auf und ab zu gehen. »Bedenke: Als ich neunzehn war, habe ich unter Aric Chromes Führung den Clan hier in London etabliert.« Er blieb stehen und sah seinen Sohn streng an. »Du bist jetzt fast in dem Alter, in dem ich damals war. Und du wirst mir nun helfen, das, was wir uns damals geschaffen haben, zu erhalten. Ich will dich in Darlighten Hall neben mir haben. Dringende Angelegenheiten verlangen deine Anwesenheit in der großen Halle und vor dem Rat.«

Lucien kannte diese Rede nur zu gut. Nichts davon war ihm neu. Er wusste, diese Verpflichtung war ihm in die Wiege gelegt worden. Wusste, dass die Zeiten für den Clan nicht leicht waren.

»Die Probleme mit den Rebellen haben doch nicht nur wir hier in London«, wagte Lucien einen letzten Versuch, Kane umzustimmen. »Überall rotten sie sich zusammen und fordern neue Gesetze, Vater. Die Oberen können nicht allen Clans die Eigenständigkeit entziehen, nur weil einige der Clanmitglieder sich nach einem Wandel sehnen.«

»Ein Wandel …«, donnerte Kane zornig, »… der unsere Existenz bedroht!« Er stapfte auf Lucien zu und baute sich drohend vor ihm auf. »Wage es nicht, Sohn, dieses Unheil kleinzureden! Die Bedrohung ist heute größer als je zuvor. Und wir werden hart gegen all jene durchgreifen, die unsere Gesetze nicht respektieren. Wir wären heute nicht da, wo wir sind, wenn wir hier Schwäche zeigen würden.«

Lucien kniff die Lippen zusammen und schluckte seine Antwort hinunter. Sein Vater schätzte ihn falsch ein. Er verachtete die Rebellen ebenso. Doch er dachte auch an Aric und seinen Vater. Die beiden privilegiert geborenen jungen Männer, die als Freunde hier in London geherrscht hatten. Die dem Clan hier mitten im Herzen der Metropole an der Themse Sicherheit verschafft hatten. Und die nun genau wegen dieser Sicherheit auf unterschiedlichen Seiten standen. Zumindest würden sie das, sollte Aric wider Erwarten noch am Leben sein, ergänzte Lucien seine Grübelei stumm und verdrängte dabei den Gedanken an seine eigenen Freunde, die er aus ebendiesem Grund verloren hatte. Sie waren Verräter an ihrem Volk.

Er sah seinem Vater in die Augen und wusste, kein Gespräch würde etwas ändern. Sein Weg war ihm vorherbestimmt.

»Ich frage dich ein letztes Mal, Sohn. Bist du bereit, deine Pflicht mir gegenüber zu erfüllen?«, brummte Kane leise, sodass der Wind die Worte fast mit sich nahm.

Lucien atmete tief durch.

Er trat beiseite, um der unangenehmen Nähe seines Vaters zu entkommen.

Wieder blickte er über die Stadt. Es dämmerte bereits, und leichter Nebel entstieg den dunklen Wassern der Themse. Es war die Tageszeit, die er am meisten liebte. Die Zeit zwischen Tag und Nacht, die, wie er fand, gut zu ihm passte.

Mit einem sportlichen Satz schwang er sich auf die Brüstung der Dachterrasse und sah seinen Vater an.

»Lass uns aufhören, so zu tun, als hätte ich eine Wahl, Vater. Du brauchst mein Einverständnis nicht. Ich bin dein Sohn.« Er schaute in die Tiefe zu seinen Füßen und strich sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Ich kenne meine Pflicht, auch wenn sie mir nicht gefällt.«

Ein leichter Windhauch umspielte seinen Körper, als er sich ohne weitere Worte in die Tiefe stürzte.

Kapitel 4

»Das macht die Sache kompliziert!«

Kompliziert kam mir in Anbetracht meiner Lage als Untertreibung des Jahrhunderts vor. Was ging hier eigentlich vor? Und … was … war … Riley?

»Das ist alles etwas viel für dich, aber ich kann … und werde dir alles erklären. Später.« Er rückte langsam von mir ab, gab mich frei und öffnete seine Schwingen. Er schüttelte sich, und Millionen Regentropfen perlten funkelnd von ihm ab. »Doch dafür ist jetzt keine Zeit. Wir müssen hier weg, bevor sie bemerken, dass du kleines Halbwesen anfängst, dich zu verwandeln.« In einer einzigen fließenden Bewegung faltete er die Flügel auf seinen Rücken. Sie überragten ihn um gute zwanzig Zentimeter, trotzdem schmiegten sie sich beinahe elegant an seinen Körper.

»Halbwesen? Verwandeln? Was …?« Ich begriff den Sinn seiner Worte nicht, denn ich starrte nur ungläubig auf die riesigen Schwingen. Die Frage war nicht länger, ob ich den Verstand verlieren würde – nein, ich hatte ihn offenbar längst verloren.

»Verdammt, Riley!«, scholl ein Ruf vom Schulhof und riss mich aus meiner Starre. Ich wandte mich um, suchte nach der Person, hoffte auf Hilfe. Auf Rettung, denn ich fühlte mich vollkommen verloren. Ich taumelte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, aber Riley hielt mich zurück. Er griff meine Hand und beugte sich zu mir. »Bitte flipp jetzt nicht aus«, flüsterte er, ehe sich direkt vor uns, wie aus dem Nichts, weitere schwarze Schwingen ausbreiteten.

Ich stieß einen Schrei aus und duckte mich, als diese unnatürlichen Wesen auf mich zukamen.