Silk Mystery - Sirirat Wilunpan - E-Book

Silk Mystery E-Book

Sirirat Wilunpan

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Beschreibung

In Bangkok wird der Silk- und Fashion-Unternehmer Bartholomeus Parker-Wilson vermisst. Der ehemalige FBI-Agent William LaRouche geht auf die Suche. Die dunkle Vergangenheit des Vermissten, eine Serie mysteriöser Todesfälle und Bangkoks schräger Polizeichef sorgen dabei für gehörige Verwirrung. Und was ist von der Wahrsagerin Thi Thi zu halten, die in der vierten Dimension nach der Wahrheit sucht? Und welche Rolle spielt der vor fünf Jahrzehnten vom Dschungel verschluckte Jim Thompson – Thailands legendärer Seidenkönig? Thomas Einsingbachs vierter Teil der Asian-Crime-Reihe ist eine augenzwinkernde Begegnung mit den Sitten und Gebräuchen Thailands und der Welt des Okkulten. Gewürzt mit einer Prise Geopolitik und dem Beginn einer Beziehung des New Yorker Detektivs zu einer ehemaligen Schönheitskönigin aus Kansas, liefert Thailand-Profi Einsingbach einen nervenzerreißenden Bangkok-Thriller, der unter die Haut geht.

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1. Auflage

© 2023 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: shutterstock.com – Aedka Studio

ISBN 978-3-96311-876-0

LOVE IS THE SWEETEST THING

Love is the sweetest thing

What else on earth could ever bring

Such happiness to everything

As love’s old story?

Love is the strongest thing

The oldest, yet, the latest thing

I only hope that fate may bring

Love’s story to you

Ray Noble, 1932

CONTENTS

PROLOG

NEW YORK TIMES

1

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5

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73 ½

PROLOG

Bangkok, September 1945

Es wird keinen normalen Menschen unberührt gelassen haben, was Hiroshima am 6. August 1945 zu erleiden hatte. Aber eine Sache ist seither glasklar: Wer Amerika herausfordert, spielt mit der eigenen Vernichtung. In jenen heißen Sommertagen war es die trotzige Weigerung der japanischen Eliten, sich in die nicht mehr abzuwendende Niederlage zu fügen. Darüber war Washington derart erbost, dass man im Oval Office entschied, dem Spuk durch den Abwurf einer Atombombe ein Ende zu bereiten – ein Ende, wie es die Menschheit bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Gleichzeitig liegt halb Europa in Schutt und Asche und Millionen menschliche Opfer sind zu beklagen. Wobei – das muss ausdrücklich gesagt werden – Amerika für die Katastrophen auf dem europäischen Kontinent keine Schuld anzulasten ist.

Die gute Nachricht dieser Zeit ist, dass die Waffen nach einem irrsinnigen Weltkrieg vorerst einmal niedergelegt sind, was dann doch ein Grund zum Durchatmen ist. Ganz sicher nicht für jedermann und auch nicht an jedem Ort, aber zumindest in Bangkok ist man in Feierlaune. Fröhliches Geplauder, Gelächter und das Klirren der Champagner- und Cocktailgläser vermischt sich mit den Rhythmen von Benny Goodmans Stompin at the Savoy, und die ausgelassene Stimmung schwebt durch die geöffneten Terrassentüren einer hell erleuchteten Villa hinaus in die feuchtwarme tropische Nacht.

In dem repräsentativen Anwesen ist eine Niederlassung der Nachrichtenabteilung des amerikanischen Kriegsministeriums untergebracht, deren formeller Name Office of Strategic Services, abgekürzt OSS, lautet. Jim Thompson, der regionale Chef, hat zu seiner beliebten Freitagsparty eingeladen, zu der man üblicherweise zur Happy Hour erscheint und sich dann bis in den frühen Samstagmorgen vergnügt. Die anwesenden Herren stecken entweder in Uniform oder in tropentauglichen Büroanzügen, haben die Krawatten gelockert oder schon abgelegt. Die Damen führen ihre taillierten Cocktailkleider mit Schmetterlingsärmeln aus und stellen, trotz der klebrigen Schwüle, todschicke Nylonstrümpfe zur Schau, die auch im Kriegsgewinnerland Amerika noch Mangelware sind, und über der ausgelassenen Szenerie liegt die Duftmelange gegrillter Schweinerippchen, ägyptischer Zigaretten, texanischer Rindersteaks und kubanischer Zigarren.

Nach der Devise Frage dich, was du für dein Land tun kannst, war der 39-jährige Jim Thompson mit Amerikas Kriegseintritt dem OSS beigetreten, wo man seine Qualitäten schnell erkannte. Wenn er zu vorgerückter Stunde die Geheimniskrämerei seiner derzeitigen Beschäftigung einmal beiseiteschiebt, gibt er allerdings gerne zu, dass seine wahre Liebe den schönen Künsten und hübschen Frauen gehört und er, selbst wenn man ihn in den Rang eines Generals erhoben hätte, nicht von seinem ehrenamtlichen Vorstandsposten der Ballets Russes de Monte Carlo zurückgetreten wäre. Eine kluge Entscheidung, wie Thompson in diesem Moment wieder einmal feststellt, denn sein Blick streift eine Abordnung der berühmten Ballett-Kompanie, die er nach Bangkok eingeladen hatte – herrlich gewachsene Weiblichkeit, die mit unüberbietbarer Eleganz den Tanzsaal der Villa durchmisst. Auch modemäßig sind die Damen auf der Höhe der Zeit – einheitlich gekleidet in weiße Hosenanzüge, mit farbigen Einstecktüchern, silbernen Krawatten und Pageboy-Frisuren, was der fröhlichen Geselligkeit Mondänität und eine Prise Marlene Dietrich verleiht. Die Sechsmannkapelle schafft routiniert den Übergang von Louis Jordans Caldonia zu einem Boogie-Woogie-Medley der Andrew Sisters, was die ersten Tanzpaare aufs Parkett lockt.

Thompson ist mit sich und der Welt zufrieden. Ganz oben – gemeint ist hier Präsident Harry S. Truman – ist man auf ihn aufmerksam geworden. Die Folge war, dass Thompson in den vertraulichen Kreis der wenigen berufen wurde, deren Aufgabe es ist, den Nachrichtendienst OSS nach Kriegsende abzuwickeln und stattdessen einen Auslandsgeheimdienst aufzubauen, der den Anforderungen einer neuen Zeit gewachsen ist. Keine einfache Aufgabe, aber immerhin war schon mal ein Name für die neue Organisation gefunden: Central Intelligence Agency oder kurz und einprägsam CIA.

Diesen Erfolg kann Thompson verständlicherweise nicht öffentlich herausposaunen. Aber auch für diesen Abend ist ihm wieder eine dieser Überraschungen gelungen, mit denen er seine verwöhnten Gäste bei der Stange hält, nachdem vor einer Woche der Auftritt einer stadtbekannten Wahrsagerin, ein buckliges Medium mit einem dreibeinigen Hund, tagelang für Gesprächsstoff gesorgt hatte. Sein heutiger Stargast hat keinen Hund als Unterstützung nötig. Sein Name ist Paul W. Tibbets und wird in diesem Moment vom Gastgeber begrüßt und an die Bar begleitet.

„Colonel Tibbets! Ein Drink vor Ihrem Auftritt sollte kein Verbrechen sein.“

„Ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen anzustoßen“, antwortet Tibbets. „Hab schon jede Menge Gutes über Sie gehört.“

Der Barkeeper schiebt zwei Kupfertassen Moscow Mule über die Theke – Bangkoks Cocktail der Saison, dessen Bestandteile im wesentlichen Wodka und Ingwerbier sind.

„Auf den Frieden und auf Amerika!“ Thompson und Tibbets heben die Tassen in die Höhe. „Paul, was Sie geleistet haben, wird die Welt verändern!“

„Ich habe getan, was getan werden musste. Hätte ich’s nicht gemacht, hätte sich ein anderer gefunden. Aber ganz ehrlich, ich bin verdammt noch mal stolz, dass mein Baby die Erwartungen erfüllt hat. Ich muss schon sagen, das war ein verrücktes Gefühl, zu beobachten wie eine ganze Stadt, die eben noch im Licht der aufgehenden Sonne einen neuen Tag erwartet, Minuten später nur noch ein hässlicher, grauer Haufen Dreck und Schutt ist. Das war bewegend. Einfach überwältigend. In diesen Momenten habe ich mich gefühlt wie … Jim, sind Sie religiös? Glauben Sie an die Allmacht Gottes? Und sind wir Amerikaner nicht die Diener des Herrn?“

„Die Allmacht Gottes? Die Diener des Herrn?“, wiederholt Thompson.

„Vergessen Sie’s. Ist wahrscheinlich kein Thema für eine Party … Und was die Japs angeht … Jim, Hand aufs Herz! Ich sag’s ungern, aber es ist, wie es ist. In jedem Krieg sterben Menschen. Mal mehr, mal weniger. Okay, diesmal waren es ziemlich viele. Und es waren ganz sicher auch ein paar gute darunter. Aber das ist Schicksal. Diese Leute waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Jim Thompson nickt und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Kupfertasse. Keine Frage, solange Amerika auf Burschen wie Paul zählen kann, sind die Herausforderungen jeder neuen Zeit zu meistern.

NEW YORK TIMES

Sonntag, 16. April 2017

Der Fall Jim Thompson – auch nach 50 Jahren ein ungelöstes Rätsel

Jim Thompson? Der Seidenkönig von Thailand! Wer entsinnt sich noch an diesen Mann und sein rätselhaftes Verschwinden vor genau fünf Jahrzehnten? Wir tun es und erinnern an eine schillernde Persönlichkeit, deren Vita reichlich Stoff für Romane und Filmproduktionen bereithält. James Harrison W. Thompson, geboren 1906 in Greenville, Delaware, studierte zunächst Architektur und entwarf Privatvillen für die Upperclass der Ostküste. 1941 schloss er sich dem Office of Strategic Services (OSS) an, dem Vorläufer der heutigen CIA. Sein Versuch, später in der Hotellerie Fuß zu fassen und dem ehrwürdigen Bangkok-Oriental wieder den gebührenden Glanz einzuhauchen, schlug fehl. Schon immer von Ästhetik und Design begeistert, fand Thompson schließlich seine Berufung in der Herstellung von hochwertigen Seidenstoffen und exquisiter Seidenmode und entwickelte seine 1948 gegründete Siam Silk Company zu einer geschätzten Luxusmarke. Das aufregende Leben des zu seiner Zeit prominentesten Amerikaners in Südostasien fand jedoch am Ostersonntag 1967 ein abruptes Ende. Mit seiner Lebenspartnerin und Freunden in den malaysischen Cameron Highlands unterwegs, verschwand Jim Thompson spurlos, nachdem er nach dem Lunch unbegleitet zu einem Spaziergang in die Umgebung des abgeschieden gelegenen Moonlight Cottage aufgebrochen war. Seitdem ranken sich um diesen Fall die verrücktesten Vermutungen. Hatte Thompson, der das Abenteuer und – so sagt man es ihm nach – das Ausgeliefertsein im Dschungel liebte, sich schlicht und einfach in den Bergwäldern Malaysias verirrt? Wurde er von kommunistischen Rebellen, von Auftragskillern der konkurrierenden thailändischen Textilindustrie oder etwa von einem der Ehemänner seiner zahlreichen Affären entführt und ermordet? Zu guter Letzt fanden sich auch noch malaysische Bergbauern, die beobachtet haben wollen, wie ein Tiger Thompson angegriffen und gefressen hat. Für jede dieser Spekulationen gibt es mehr oder minder seriöse Indizien und die gleiche Anzahl von Gegenargumenten. Die wochenlange Suche, es wurde sogar ein Hubschrauber der US-Marines aus Vietnam herbeigeschafft, blieb erfolglos. Und als wären das noch nicht genug Fragwürdigkeiten, schwören amerikanische Touristen, Thompson acht Monate nach seinem Verschwinden auf der Südseeinsel Tahiti gesehen zu haben, quicklebendig mit einem Cocktail in der Hand und einer attraktiven Dame an seiner Seite. Ungeachtet dessen wurde Jim Thompson schließlich, sieben Jahre nachdem ihn der Dschungel verschluckt hatte, von einem Bangkoker Gericht für tot erklärt.

1

Seit dem Jim-Thompson-Jubiläumsbeitrag in der New York Times sind zwei weitere Jahre ins Land gegangen. An einem gewöhnlichen Dienstag Ende März betritt in Bangkok ein langaufgeschossener, älterer Mann kurz vor Mitternacht eine Bar und steuert mit gesenktem Blick einen Hocker an der Theke an. Die Zahl der Gäste des Etablissements ist überschaubar und nur das Personal ist asiatisch. Zu wummernden Disco-Rhythmen mühen sich drei halb nackte Tänzerinnen unbeachtet auf der kleinen Bühne ab.

In einer dunklen Ecke sitzt ein Gast, den man bei vernünftiger Beleuchtung auf Mitte zwanzig schätzen und für ein männliches Fotomodel halten könnte. Sein Name ist Carl und vor ihm steht ein noch unberührtes Heineken im Neopren-Flaschenkühler, auf dem ein Hinweis zum verantwortungsvollen Trinken ermahnt. Carl war dem Mann an der Theke schon den ganzen Abend gefolgt, hatte dessen Physiognomie studiert und die Rastlosigkeit registriert, mit der er sich durch die verruchten Ecken Bangkoks hatte treiben lassen, ehe man schließlich in dieser Spelunke im Rotlichtviertel Nana Plaza gelandet war. Carl beobachtet, wie der Mann mit leerem Blick auf ein ebenfalls leeres Highball-Glas starrt. Nach einer Weile zieht der Mann den Ananasschnitz vom Rand des Glases und beißt das süßsaure Fruchtfleisch heraus. Carl hat genug gesehen, verlässt die Deckung und wendet sich, sein Bier in der Hand, der Theke zu.

„Nicht viel los hier. Darf ich?“

Carl deutet auf einen Barhocker.

„Wenn’s sein muss.“

Der Blick des Mannes wandert von Carls Haarspitzen hinunter zu dessen Schuhwerk – stabile Schnür-Halbschuhe mit profilierter Sohle.

„Solche Schuhe sieht man in Bangkok nicht oft.“

„Eine Spezialanfertigung. Sie sind Amerikaner?“, fragt Carl.

„Möchtest du meine Lebensgeschichte hören?“

„Ist sie interessant?“

„Nein.“

„Schade. Mein Name ist Carl. Ich bin zum ersten Mal in Bangkok und hab mir Nana Plaza irgendwie anders vorgestellt.“

„Komm am Wochenende wieder. Dienstags sitzen hier nur Leute, die Charles Bukowski lesen.“

„Charles Bukowski?“ Carl schüttelt den Kopf. „Was war in Ihrem Glas?“

„Singapore Sling.“

Carl gibt dem Barkeeper ein Zeichen und kurz darauf werden zwei Singapore Sling serviert, einer mit Cocktailkirsche, der andere mit Ananasschnitz dekoriert.

„Sie mögen keine Cocktailkirschen?“

„Ananas hat mehr Vitamine. Damit lebt man länger“, antwortet der Mann und beide prosten sich zu. „Du kannst mich Leroy nennen. Hätte nicht gedacht, dass mich in meinem Leben mal jemand zum Drink einlädt.“

„Leroy, darf ich aufrichtig zu Ihnen sein?“

„Hast du mal ’ne Zigarette?“

„Ich rauche nicht.“

„Zum Teufel! Ein aufrichtiger Nichtraucher. Na ja, wenigstens trinkst du Alkohol.“

Carl zieht eine Visitenkarte aus dem Geldbeutel. „Ich bin Ihnen gefolgt, weil Sie genau der Typ sind, nach dem wir gesucht haben.“

Leroy wirft einen Blick auf die Visitenkarte. „Santa Monica Enterprises? Vergiss es! Ich mach keine illegalen Sachen mehr …“

„Santa Monica Enterprises ist eine Filmproduktionsfirma. Mein Boss sucht ein Gesicht, wie Sie es haben. Sie sind die Stecknadel im Heuhaufen, nach der wir schon seit Wochen Ausschau halten.“

Mit unbeteiligter Miene hört Leroy sich Carls Erläuterungen zu einem geplanten Filmprojekt an, für das nur noch der Hauptdarsteller fehlt, und als Carl ein Päckchen Marlboro und eine Flasche Whisky bestellt, ist das Eis gebrochen.

„Hey, man! Carl, ob du’s glaubst oder nicht, ich hab mir vor ein paar Tagen die Karten legen lassen. War ein Sonderangebot in ’nem Supermarkt. Wollte einfach mal wissen, ob’s nicht vielleicht besser wäre, wenn ich in Saigon noch mal ganz von vorne anfange … vielleicht mit ’ner Bar wie dieser hier.“ Leroy steckt sich eine Zigarette an.

„Und was haben die Karten gesagt?“, fragt Carl und verzichtet auf den Hinweis, dass Saigon seit dem Ende des Vietnamkriegs nicht mehr Saigon heißt und auch nicht mehr wie Saigon tickt.

„Also ich hab nicht alles verstanden. Aber so wie die Karten lagen, sollte ich besser in Bangkok bleiben, weil mein Leben sich hier irgendwie verändern wird … So hat’s mir die Lady wenigstens erklärt. Und jetzt kommst du mit einem Filmangebot …“

„Wer sagt, dass Kartenlegen Humbug ist, hat keine Ahnung vom richtigen Leben“, unterbricht Carl. „Es gibt da noch eine Sache …“

„Genau! Wie viel ist euch mein Gesicht wert? Und wann kriege ich das Drehbuch mit meinem Text?“

„Mit Text müssen Sie sich keinen Stress machen. Sie spielen einen taubstummen Barkeeper. Und das Tageshonorar liegt bei tausend Dollar. Rechnen Sie mit ungefähr fünf Drehtagen. Bezahlt wird immer am Feierabend. Ist das okay für Sie?“

„Ich hatte schon schlechtere Jobs!“

„Leroy, Sie müssten sich allerdings tätowieren lassen. Mein Boss will es authentisch …“

„Also Tattoos sind nicht so mein Ding. Aber bei einem Tausender pro Tag … Die Rechnung für das Tattoo geht auf deine Firma, oder?“

„Selbstverständlich. Wir übernehmen auch die Kosten, sollte dabei etwas schiefgehen.“

„Was soll da schiefgehen?“, fragt Leroy. „Wir sind in Bangkok. Was für ein Tattoo habt ihr euch vorgestellt?“

„Haben Sie Bedenken, sich einen Engel auf den Penis tätowieren zu lassen?“

„Einen Engel? Du willst, dass ich mir einen verfickten Engel auf meinen Dick stechen lasse?“ Leroy leert sein Whiskyglas mit einem Zug und schenkt sich sofort nach.

Als Leroy mit der noch halb vollen Whiskyflasche und den Zigaretten die Bar verlassen hat, zieht Carl sein Telefon heraus. Es ist inzwischen halb zwei morgens. Er wählt eine Nummer und nach dem zweiten Klingelton meldet sich eine weibliche Stimme.

„Wie ist’s gelaufen?“

„Die Katze ist im Sack.“

„Gute Arbeit“, lobt die Frau. „Wann ist der Mann bereit?“

„Ich werde ihn morgen zum Tätowieren begleiten. Ende nächster Woche ist der Mann verfügbar“, erklärt Carl.

„Okay. Ich werde dem Chef berichten. Du erhältst dann weitere Anweisungen.“

2

Ungefähr zur gleichen Zeit und vierzehntausend Kilometer weiter östlich – genauer gesagt in New York City – verlässt William LaRouche wie üblich zur Mittagszeit seine Agentur für private Ermittlungen. Der Himmel über Manhattan ist regengrau verhangen und vom East River fegen feuchte Böen durch die Häuserschluchten der Lower East Side. Die nasskalte Witterung stört William nicht die Bohne, obwohl er an Tagen wie heute Thailand vermisst, wo er vor sieben Monaten bei tropisch schwüler Witterung ein Familiendrama miterleben musste, das für immer in seinem Gedächtnis verhaftet bleiben wird.

Zurück in New York, löste diese Tragödie bei William merkwürdigerweise nicht die erwartete Niedergeschlagenheit aus. Stattdessen spürte er eine Erleichterung, diesem schrecklichen Erlebnis nur als Augenzeuge und nicht als Opfer beigewohnt zu haben, was dann Erstaunliches zur Folge hatte. Nach dem feierlichen Genuss einer allerletzten Lucky Strike gab er dieses Laster nach etlichen erfolglosen Anläufen endgültig auf – ein großartiger persönlicher Erfolg, den vielleicht nur die gelungene Sanierung der Beziehung zu seiner Mutter Doris übertrifft. Hätte irgendwer vorhergesagt, William würde sich eines Tages mit Doris und ihrer katholischen Gemeindegruppe „Kuchenbacken im Namen des Herrn“ auf einer Karibik-Kreuzfahrt wiederfinden, hätte er das für Mumpitz erklärt. Inzwischen ist diese Reise Geschichte und William kämpft mit einem Diätprogramm gegen die dadurch verursachte Gewichtszunahme von zehn Pfund an.

Auch sein Verhältnis zu seinem Ersatzvater Jonathan Robson hat sich nach einer Phase der Entfremdung wieder normalisiert. Über diese Wendung ist der praktisch vaterlos aufgewachsene William besonders glücklich, denn Jon ist nach wie vor der einzige Mensch, vor dem er sein Innerstes nach außen zu kehren wagt.

William lächelt. Es ist ein gutes Gefühl, wieder Freude am Leben und Lust auf die Zukunft zu spüren. Er stellt den Kragen seiner Windjacke auf und weiß natürlich, dass weder der Nikotinverzicht noch Doris oder Jonathan für seine gute Laune verantwortlich sind. Der wahre Grund ist ein ganz anderer. William hat sich nämlich verliebt! Jetzt könnte man fragen: So what? Aber was die Liebe betrifft, ist William schon immer ein spezieller Fall gewesen. Seine Ehe mit Ann-Louise war ein drei Jahre währender Irrtum. Auf die Scheidung folgte eine nicht enden wollende Dürreperiode, bis es einer Juristin namens Penelope gelang, ihn kurzfristig aus seinem Schneckenhaus zu locken, und seither ist auch schon wieder ein halbes Jahrzehnt ins Land gegangen. Inzwischen hat William seinen siebenundvierzigsten Geburtstag hinter sich und die Sache mit der aktuellen Liebe hat noch einen Haken: Izzie – so nennt sich die Lady – hat noch keinen Schimmer von Williams Gefühlen!

Izzie scheint eine gestandene Frau zu sein, der William die Patina eines nicht immer einfachen Lebens anzusehen glaubt, in ihr aber zugleich den Sonnenschein erkennt, nach dem sich die dunklen Ecken seiner Seele so lange gesehnt haben. Bis auf Weiteres sind das persönliche Einschätzungen ohne Gewähr, denn die gemeinsame Zeit mit Izzie beschränkt sich einstweilen auf Williams Mittagspause, und die dabei gewechselten Worte erreichen gerade einmal das Niveau von Small Talk.

Die East Houston Street ist erreicht und in der Entfernung von zwei Blocks lockt der rote Neonschriftzug von Katz’s Delicatessen. Minuten später sitzt William an der Theke für Stammgäste und greift nach einer Menükarte, was eigentlich Unsinn ist. Jedes Kind in der Gegend weiß, dass mittwochs im Katz’s Suppentag ist und wechselnde gehaltvolle, jüdische Eintöpfe im Angebot sind. William hat kein Verlangen nach Eintopf. Er hat Schmetterlinge im Bauch und sein Blick wandert im Lokal herum. Hat Izzie nicht montags ihren freien Tag? Sie wird doch nicht mit einer Kollegin getauscht haben?

„Welcome im Katz’s Deli“, grüßt eine Bedienung, die William noch nie aufgefallen ist. „Was darf’s sein? Heute gibt’s leckere Suppen im Angebot.“

Suppen im Angebot und Schmetterlinge im Bauch! Müsste man in seinem Alter einer solchen Kombination nicht souveräner begegnen?

„Sir! Ihre Bestellung bitte!“

William überlegt, ob er fragen soll, wo Izzie heute steckt, und sagt: „Eine Cola und ein Pastrami-Reuben-Sandwich.“

„Mit was soll das Reuben kommen?“

„Wie meinen Sie das?“

„Sind Sie das erste Mal hier? In der Karte können Sie’s lesen.“

„Sorry, hab gerade an etwas anderes gedacht. Mit Sauerkraut, Käse, Tomaten und Senf. Keine Zwiebeln! Ist Izzie heute nicht hier?“

„Sprechen Sie über unsere Miss Wichita?“

„Miss Wichita? Sie meinen Wichita in Kansas?“, fragt William überrascht.

„Gibt’s noch ein anderes Wichita? Izzie kommt gleich wieder.“

William nippt an der Cola. Er kann sich unmöglich die Backen mit Pastrami und Sauerkraut vollstopfen, wenn Izzie jeden Moment auftauchen kann. Er hatte ihr vor exakt vierundzwanzig Stunden ein gelegentliches Treffen angeboten. Man könnte sich zu einem Spaziergang im Central Park verabreden, aufs Empire State Building hinauffahren oder das Guggenheim-Museum besuchen. Sogar auf eine Zirkusveranstaltung würde William sich einlassen – Hauptsache, man wäre endlich einmal zusammen alleine und könnte ungestört plaudern und sich beschnuppern. Miss Wichita? Eine Beauty Queen aus irgendwo im Nirgendwo? William wird einmal mehr bewusst, dass er so gut wie nichts über Izzie weiß. Schon ihr Name wäre Anlass für Fragen. Wie steht es mit ihrer Familie? Wo hat sie gelebt, bevor es sie nach New York verschlagen hat? Mit Wichita in Kansas gäbe es immerhin schon mal einen Anhaltspunkt. Und wie alt ist sie? Williams Vermutung bewegt sich von Mitte dreißig bis Anfang vierzig.

Mittlerweile ist jeder Platz an der Bar besetzt. Es sind Männer in Williams Alter. Hingegossen auf gepolsterte Metallhocker. Lebendige Dekorationen einer New Yorker Institution. Man kennt sich in dieser Galerie und die Gespräche kreisen heute zwischen Erbsensuppe, Corned-Beef-Sandwichs, Root Beer und dünnem Kaffee um die spekulative Restlebenszeit von Warren Buffet und die grauenvolle Performance der New York Knicks in dieser Saison. Izzie hatte für jeden dieser Herren eine Variante ihrer Vornamen gefunden. Nun gibt es einen Rob und einen Al, zwei Hocker weiter thront Stu, der berühmte Börsenspekulant, der eigentlich lieber Zahnarzt geworden wäre, und aus William ist ein Billywilly geworden.

„Howdy, Billywilly! Was läuft?“ Izzie nimmt ihren Platz an der Theke wieder ein, strafft das Haargummi am Pferdeschwanz und mustert Williams noch nicht angerührtes Sandwich. „Is’ was mit dem Reuben?“

„Alles gut. Du kannst es mir einpacken. Für später.“ William kann seine Nervosität schlecht verstecken.

„Was ist los mit dir? Du siehst aus wie Jimmy Levenstein!“

„Jimmy wer?“

„Jimmy Levenstein aus American Pie. Den Film hat doch jeder schon mal gesehen!“

William erinnert sich dunkel an die High-School-Klamotte. Jimmy Levenstein! Welch ein blödsinniger Vergleich!

„Hast du über mein Angebot nachgedacht?“

„War das ein Angebot oder eine Einladung? Angebot und Einladung sind bei Gott nicht dasselbe.“

„Ich bin sicher, du hast verstanden, was ich meine.“

„Du hast Angebot gesagt! Heute ist die Erbsensuppe im Angebot. Man muss sie bezahlen. Sie kommt nicht umsonst.“

„Okay! Es war eine Einladung! Hast du darüber nachgedacht?“

„Zum Lunch oder Dinner?“

„Ich nehme, was kommt. Aber ein Abendessen wäre nett.“

„Mit Kerzenlicht und Stoffservietten?“

„Das wäre möglich. Wir kennen uns immerhin schon seit Monaten.“

„Wir kennen uns?“ Izzie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Du verdrückst deinen Lunch hier, bezahlst und gehst wieder. Wie alle Kerle an der Theke. Nennst du das Kennen?“

„Aber ich starre nicht auf deinen Hintern wie die anderen Kerle!“

„Das ist substanzielle Wahrnehmung!“

„Substanzielle Wahrnehmung?“, wiederholt William.

„Absolut substanziell! Es gibt Bücher, die davon handeln! Wir sollten da mal drüber reden!“

3

Bartholomeus Parker-Wilson, den alle Welt nur Bart nennt, ist der Teufel erschienen. Bart hat schon des Öfteren dem Tod ins Auge geblickt, weshalb ihm der Leibhaftige keine Angst einjagen kann. Dass der Teufel ausgerechnet in der Nacht vor Barts Geburtstag auftauchen muss, beweist allerdings seine Respektlosigkeit, die der Kerl mit Hörnern mit einem erstklassigen Champagner offenbar abzumildern versucht.

Als die Flasche entkorkt ist, entspannt sich die Situation. Man plaudert über dies und das und auch der körperliche Verfall im Alter ist ein Thema. Der Teufel trägt einiges dazu bei, was Bart wundert, da er bis jetzt angenommen hat, der Teufel sei ein altersloses Fabelwesen, dem menschliche Degenerationsprozesse erspart bleiben. Es scheint fast so, als wenn man sich auf Augenhöhe gegenübersitzt – bis der Teufel eine Partie Makruk vorschlägt, ein beliebtes thailändisches Brettspiel, das seine Verwandtschaft zum Schach nicht leugnen kann. Sollte Bart gewinnen, so will der Teufel dem Sieger einen Wunsch erfüllen. Auf Barts Frage, ob es dabei Grenzen gebe, erhält er die Auskunft, jeder Wunsch werde erfüllt, selbst wenn es die Unsterblichkeit wäre. Bart ist verblüfft. Genau das ist schon immer sein Wunsch gewesen. Der Teufel zwinkert Bart zu und warnt, dass ein ewiges Leben den Verzicht auf die Erlösung durch den Tod bedeutet und ins Unglück führen kann, was man bei Oscar Wilde nachlesen könne.

Natürlich wäre der Teufel kein Teufel, wenn er sich aufs Geschenkemachen beschränken würde. Nun kommt er mit seiner Forderung um die Ecke. Sollte Bart verlieren, müsse er – na, was wohl? – dem Teufel seine Seele übereignen. Bart, ein mit allen Wassern gewaschener Makruk-Spieler, willigt ein, möchte aber noch wissen, wann für den Fall einer Niederlage die Übergabe seiner Seele vollzogen werde. Daraufhin entgegnet der Teufel: Wenn Bart genügend Obst und Gemüse esse, sein ausschweifendes Nachtleben aufgebe und bei der Krebsvorsorge nicht schludere, könne das noch ein Weilchen dauern. Bart ist überrascht, denn das sind exakt die Worte, die seine Hausärztin ihm erst vor wenigen Tagen mit auf den Weg gegeben hat.

Als das Spiel beginnt, ist Bart ganz bei sich, kalkuliert erfolgreich jeden seiner Züge und der Teufel verliert Stein um Stein. Als diesem auch noch die beiden Boote und der Wesir verlustig gehen, ist Barts Sieg so gut wie in trockenen Tüchern. Barts Freude währt allerdings nur Momente, denn ein schmerzhafter Hieb trifft seine Flanke. Es ist der spitze Ellenbogen seiner Lebensgefährtin, die ihn zur Rede stellt: „Mit wem sprichst du da mitten in der Nacht? Hast du von einer anderen Frau geträumt?“

Bart verneint und für den Rest der Nacht geht ihm die Begegnung mit dem Teufel nicht mehr aus dem Kopf – eine verwirrende Sache, die er nicht einmal seinem Psychoanalytiker erzählen würde.

4

Am nächsten Vormittag lässt sich Bart die Enttäuschung über das abgebrochene Traum-Duell nicht anmerken und erscheint tadellos gekleidet und angenehm duftend zu seinem ersten geschäftlichen Termin. Sein Blick wandert über ein Dutzend erwartungsvolle Gesichter. Sie gehören überwiegend Amerikanern und Amerikanerinnen, dazu einem französischen Ehepaar und zwei geschmackvoll gekleideten Italienerinnen.

Bart ist es gewohnt, dass sein Publikum ihn neugierig mustert, schließlich war er es gewesen, der die thailändische Seidenherstellung nach langem Dornröschenschlaf wieder ins Interesse der Modewelt gerückt hatte. Nicht wenige hatten ihn vor der Übernahme der Siam Silk Company gewarnt, nachdem ihr Gründer Jim Thompson vor mehr als fünfzig Jahren im Dschungel Malaysias verloren gegangen war. Aber Bart hatte mutig seine Chance ergriffen und in den vergangenen Jahrzehnten ein Fundament geschaffen, auf dem seine Kreativität erblühen konnte. Der Dank dafür war eine kürzlich erschienene Titelreportage in der amerikanischen Vogue, die ihn für sein Lebenswerk geadelt und zum zweiten Seidenkönig Thailands ausgerufen hatte.

Obwohl Bart die siebzig überschritten hat, wirkt er im Vergleich zu seinen mittleren Jahren äußerlich kaum verändert. Tatsächlich ist sein faltenfreies Gesicht ein Meisterwerk der plastischen Chirurgie, für die Bangkok bekanntermaßen ein Mekka ist. Und doch, Bart ist Realist und muss sich eingestehen, dass des Teufels Angebot utopisch war, so begehrenswert das ewige Leben auch ist. Das Dasein auf Erden ist nun einmal endlich! Ein Hexenschuss und die Nachwirkungen einer Hüftverletzung hatten ihn erst kürzlich an diese Tatsache erinnert. Bart verdrängt lächelnd die unerfreulichen Gedanken. Die Gäste, die ihn erwartungsvoll umringen, haben einen Rundgang gebucht, bei dem ausnahmsweise der Direktor höchstpersönlich durch den Siam-Silk-Flagship-Store, das angeschlossene Seidenmuseum und die historische Werkstatt zur Seidenverarbeitung führen wird.

„Ladies and Gentlemen! Mesdames, Messieurs! Freunde des erlesenen Geschmacks! Seide ist die Königin aller Stoffe. Das schönste, weiblichste und bezauberndste Material überhaupt. Das sind die Worte des unvergleichlichen Christian Dior, derer ich mich ohne Scham bediene.“

Bart streichelt über einen Ballen königsgelben Seidenstoff. „Und noch etwas hat Monsieur Christian uns wissen lassen: Eleganz hat nichts mit Geld zu tun! Wer stets der Qualität statt der Quantität den Vorrang gibt, wer gelernt hat, wo man nicht sparen sollte und wo man sparen kann, wird auch mit einem schmalen Budget eine Bella Figura machen.“ Bart greift nach einer dunkelgrün schillernden Seidenstola. „Nehmen wir diese Stola. Entscheidend ist doch nicht ihr Preis. Es ist die Art und Weise, wie frau sie trägt und damit ihre Persönlichkeit offenbart!“

Die Italienerinnen nicken zustimmend. Das französische Paar tuschelt. Von den Amerikanern kommen freundlich neutrale Blicke; aber die Erfahrung hat Bart gelehrt, dass seine Landsleute stets die besten Kunden sind, auch wenn ihre augenblickliche Aufmachung es nicht vermuten lässt und ein exquisites Seidentuch in Verbindung mit den brikettförmigen Joggingschuhen, den Shorts und Polos in Übergröße und den fest verzurrten Gürteltaschen wie verirrt wirken würde. Eine Assistentin reicht Bart einen nachtblauen Seidenschal.

„Romantic Memories!“ Bart lässt den Satinstoff durch die Finger fließen. Er hebt den Schal in die Vormittagssonne, die durch die halb geöffneten Jalousien in den Ausstellungsraum fällt und das Naturmaterial glitzern lässt.

„Seide! Ein Stoff der Kaiser und Könige! Zuerst in China. Dann folgten die europäischen Adelshäuser. Und schließlich wurde Hollywood erobert. Wer erinnert sich nicht an Der König und ich, die Verfilmung der wahren Romanze einer englischen Hauslehrerin mit dem siamesischen König Mongkut. Ein Filmmonument, welches das Auge mit historischen Kostümen, mit prachtvollen Gewändern und edlen Accessoires verwöhnt – alles aus feinster thailändischer Seide, entworfen und hergestellt in der Manufaktur von Jim Thompson, in deren Tradition das inzwischen von mir geführte Unternehmen steht.“ Bart deutet auf einen Goldrahmen mit einem lebensgroßen Schwarz-Weiß-Porträt.

„Die unvergessliche Irene Sharaff! Hier eine Fotografie aus den Neunzehnhundertsechzigerjahren. Madame Irene erhielt für Der König und ich einen Oscar fürs beste Kostümdesign, was in den Ateliers der Haute Couture zu einer Renaissance der Seidenverarbeitung geführt hat.“ Bart reicht den Schal an seine Mitarbeiterin zurück.

„Satinseide. Brokatseide. Chiffon und Taft. Für die Herstellung dieser Varianten verwendet Siam Silkausschließlich Rohseide aus eigener Produktion. Auch das Färben und das Design unserer Kreationen liegen in unserer Hand. So wird aus jedem Stück ein Unikat, ein unverwechselbares Meisterstück.“

„Wie kann ich mir da sicher sein? Wir haben auf Nachtmärkten Waren entdeckt, die angeblich aus Ihrem Haus stammen … die Verkäufer erzählten uns etwas von zweiter Wahl, die zu Schnäppchenpreisen verkauft wird“, wirft ein amerikanischer Tourist ein.

„Solche Geschichten sind mir bekannt“, nickt Bart. „Ich versichere Ihnen: Mein Unternehmen beliefert keine Nachtmärkte.“

„Und gibt es da nicht auch einen Test?“, fragt eine der Italienerinnen. „Also ich meine den Test mit dem Feuerzeug. Ist da was dran?“

Bart lächelt. „Der Feuertest funktioniert tatsächlich. Vielleicht wenden Sie ihn bei Gelegenheit auf einem Nachtmarkt an. Sie werden sich damit viele Freunde machen. Aber im Ernst: Natürlich entzündet sich auch authentische Seide über offenem Feuer. Aber dann … zack!“ Bart deutet das Ersticken einer Flamme an. „Sobald es erlischt, hört auch die Seide zu brennen auf. Synthetische Stoffe und Seidenstoffe mit einem Zusatz von Kunstfasern brennen dagegen weiter und es riecht nach versengtem Plastik.“

„Gibt es keine andere Möglichkeit, um die Echtheit zu prüfen?“, will eine Amerikanerin wissen und Bart tritt an das französische Paar heran.

„Madame und Monsieur. Sie strahlen eine innere Zufriedenheit aus. Das zeigt mir, dass Sie glücklich verheiratet sind.“

Das Paar nickt verlegen und Bart hält zwei identische Halstücher in die Höhe. Eines davon übergibt er dem Mann, das andere erhält seine Frau.

„Das ist Satinseide. Sind Sie so nett und prüfen das Qualitätssiegel. Halten Sie den Stoff ins Licht. Das Charakteristische an Satinseide ist die glatte Oberseite und die mattschimmernde Unterseite.“

„Beide Tücher tragen das Emblem mit dem goldenen Pfau“, sagt die Frau.

„So ist es“, bestätigt Bart. „Es sollte sich also um Premium Royal Thai Silk handeln, gewonnen von einheimischen Seidenraupen und in Handarbeit hergestellt. Bedauerlicherweise trägt eines der Halstücher dieses Siegel zu Unrecht. Darf ich Sie nun bitten, für einen Moment die Eheringe abzustreifen und den Seidenstoff durch den Ring zu ziehen?“

„Oh là là!“ Der Franzose schaut auf.

„Haben Sie es gesehen? Sie können es gerne noch einmal wiederholen!“, fordert Bart auf. „Das Tuch Ihrer Frau gleitet elegant und widerstandslos hindurch. Ihres dagegen bündelt sich und lässt sich nur mit Mühe durch den Ring zwingen – und das, obwohl Ihr Ehering ein wenig größer sein dürfte als der Ihrer Gattin. Excusez-moi, Monsieur! Sie halten ein mit synthetischen Fasern versetztes Seidenprodukt in den Händen. Ihre Gattin hat das Original, was ich ihr gerne als Erinnerung überlassen möchte. Meine Herrschaften, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch eine schöne Zeit in Thailand, dem Königreich der Seide und der Überraschungen!“

Die Führung ist damit beendet und Bart ist sich sicher, dass die beiden Franzosen nicht nur mit dem geschenkten Halstuch als Souvenir den Laden verlassen werden. Es ist inzwischen elf Uhr vormittags und sein Mobiltelefon meldet einen Anruf. Bart erkennt die Nummer. Das Gespräch dauert nur Sekunden und wird mit einem knappen „Bis gleich“ beendet.

„Kanita, mein Schätzchen!“ Bart wendet sich seiner Assistentin zu. „Sag bitte dem Fahrer Bescheid. Ich habe noch einen Termin außer Haus.“

„Aber Bart, heute ist dein Geburtstag. Wir wollten doch …“

„Meine Liebe.“ Bart haucht der jungen Frau einen Kuss auf das Haar. „Ich bin rechtzeitig zurück!“

5

Im Hauptquartier der Metropolitan Police sind die Außenjalousien längst herabgelassen, obwohl es erst früher Vormittag ist. Aber schon bald wird die noch schläfrige Sonne für die flirrende Hitze sorgen, die in dieser Jahreszeit den Menschen in Bangkok nicht nur den Atem, sondern gelegentlich auch die Contenance raubt. Lieutenant General Vitikorn, der Direktor der Polizeibehörde, liegt in seinem Bürosessel und zieht die Stirn in Falten.

„Mr. Steiner. Verehrteste Miss Sombat. Ihren Chef, den guten Bart Parker-Wilson, kenne ich seit Jahren. Nun lerne ich endlich auch einmal seinen Privatsekretär und seine – “

„Sagen Sie einfach Kanita zu mir“, unterbricht die junge Frau, den Tränen nahe. „Wie können Sie Bart meinen Chef nennen? Bart liebt mich. Wir wollten demnächst heiraten.“

„Das ist ja ein Ding! Sie wollen heiraten? Warum hat Bart mir nichts davon erzählt?“, fragt Vitikorn.

„Ha!“ Kanitas Augen blitzen angriffslustig. „Und Sie wollen meinen Bart kennen? Wissen Sie nicht, dass er in privaten Angelegenheiten immer sehr diskret ist … Und dann muss so etwas passieren …“

Kanita findet schnell in den Leidensmodus zurück und schickt eine erste Träne über ihre Wange.

„Aber, aber! Wer wird denn gleich weinen! Ich ertrage es nicht, wenn hübsche Mädchen leiden.“

„Das sagt Bart auch immer! Und jetzt ist er verschwunden! An seinem Geburtstag! Wenn das kein Grund für Tränen ist!“

„Er wird sich wieder anfinden!“, macht Vitikorn Mut und richtet seinen Blick auf den Privatsekretär von Bart Parker-Wilson.

„Mr. Steiner …“

„Jawohl, Dixon Steiner ist mein Name. Dixon ist eine kleine Gemeinde östlich von Vancouver, meinem Geburtsort. Meine Eltern waren der Meinung, dass der Name gut zu mir passt.“

„Vancouver? Das kenne ich. Das liegt in Mexiko.“

„Ganz in der Nähe. Nur ein paar Meilen weiter nördlich. Das Land, aus dem ich stamme, nennt man Kanada“, erklärt Dixon, ohne die Miene zu verziehen.

„Kanada! Hab ich auch schon mal gehört. Da gibt’s Bären, Eskimos und solche Dinge!“, nickt Vitikorn. „Sie und Miss Kanita behaupten also, dass Mr. Parker-Wilson verschwunden ist?“

„Jawohl. Spurlos“, bestätigt Dixon.

„Seit vier Tagen warten wir auf ein Lebenszeichen von ihm“, ergänzt Kanita mit dünnem Stimmchen. „Nach einer Touristenführung durch unser Unternehmen hatte er noch einen Termin außer Haus und bat mich, den Chauffeur zu benachrichtigen.“

„Wann ist das genau gewesen?“, schaltet sich Lieutenant Panusa ein, Vitikorns Adjutantin, die bis jetzt stumm auf einem Klappstuhl an seiner Seite gesessen hat. Vitikorn zieht eine Nam-Wa-Banane aus einem Obstkorb. Mit liebevoller Hingabe entfernt er die dünne Schale der Frucht, die nur wenig länger und dicker als sein Daumen ist und reich an organischem Kalzium sein soll.

„An Barts Geburtstag. Am ersten April. Es muss gegen halb zwölf am Vormittag gewesen sein“, antwortet Kanita.

Vitikorn schiebt die Banane zwischen die Zähne und fragt mit vollem Mund: „Hat Bart Ihnen verraten, wohin die Reise geht und mit wem er verabredet ist?“

„Nein. Aber der Chauffeur berichtete uns, er habe Bart zunächst zur amerikanischen Botschaft gefahren. Anschließend ging es weiter zur Nana Plaza, wo Bart den Wagen an der BTS-Station verlassen und seinen Weg zu Fuß fortgesetzt hat.“

„Wie lange hat sich Mr. Parker-Wilson in der Botschaft aufgehalten?“, fragt Lieutenant Panusa.

„Der Fahrer meint, es wäre ungefähr eine Dreiviertelstunde gewesen.“

„Haben Sie sich schon mit der Botschaft in Verbindung gesetzt? Vielleicht hat es Bart an seinem Geburtstag dort so gut gefallen, dass er noch immer da ist.“

„Lieutenant General, diese Angelegenheit ist nicht witzig!“, sagt Steiner. „Außerdem geben amerikanische Auslandsvertretungen grundsätzlich keine telefonischen Auskünfte. Ich habe bereits um einen persönlichen Termin gebeten, aber noch keine Antwort erhalten.“

„Und was sollen wir, Ihrer Meinung nach, jetzt unternehmen?“ Vitikorn schaut auf seine Armbanduhr.

„Sie haben eine schöne Uhr“, sagt Kanita.

„Ein Geburtstagsgeschenk meiner Frau. Die funktioniert sogar auf dem Mond.“

„Hören Sie!“ Dixon kann seinen Unmut nur schwer zügeln. „Mr. Parker-Wilson ist verschwunden und Sie erzählen uns, wo Ihre Uhr funktioniert.“

„Nun, der Mond, das wäre schon was. Da war noch kein Thailänder. Ich wäre der erste.“

„Lieutenant General, Sie müssen etwas tun“, fleht Kanita.

„Sie möchten also, dass ich Bart suchen lasse?“

„Deshalb sind wir hier.“ Dixon hat sich wieder im Griff.

„Weshalb haben Sie sich nicht an das nächste Polizeirevier gewandt?“

„Na ja, die Beamten dort …“

„Was denn? Meine Beamten sind ausnahmslos zuvorkommende Diener des Volkes …“ Vitikorn fängt den Blick seiner Assistentin auf. „Und Sie sollten mal meine Beamtinnen kennenlernen!“

„Wahrscheinlich ist ohnehin alles schon zu spät und Bart ist …“, schluchzt Kanita in ein Kleenex, das Lieutenant Panusa ihr zugesteckt hat.

„Kanita! Kleine Lady! Bart wird wieder auftauchen.“ Noch einmal tröstet Vitikorn. „Bangkok verschluckt so manchen. Aber es sind selten Ausländer dabei.“

„Wissen Sie, in letzter Zeit plagen Bart Herzprobleme und er hatte vor ein paar Tagen einen Hexenschuss“, erklärt Kanita stockend. „Wir machen uns wirklich große Sorgen …“

„Kanita, darf ich nach Ihrem Alter fragen?“, will Vitikorn mit väterlicher Stimme wissen.

„Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt.“

„Gütiger Buddha!“, seufzt Vitikorn. „Genießen Sie diese Zeit, sie kommt nicht mehr zurück! Als ich in diesem Alter –“

„Lieutenant General“, fällt Dixon Vitikorn ins Wort, „wir bitten Sie inständig, die Suche nach Mr. Parker-Wilson unverzüglich einzuleiten.“

Vitikorn angelt sich eine weitere Banane, die er zunächst von allen Seiten begutachtet. „Bart ist eine Berühmtheit. Er hat Jim Thompson beerbt. Nun hat er Herzprobleme und einen Hexenschuss.“

„Bart ist erst dreiundsiebzig!“, sagt Kanita.

„Erst dreiundsiebzig? Das ändert natürlich alles! Sie sagen, er sei vor drei Tagen alleine zu Fuß in der Gegend um Nana Plaza unterwegs gewesen. Was mag er dort wohl zu tun gehabt haben?“

„Was wollen Sie damit andeuten?“, fragt Dixon. „Mr. Parker-Wilson ist ein Schöngeist, ein Ästhet, ein Gentleman. Er betrachtet weibliche Wesen als Kunstwerke …“ Dixon sieht, wie Lieutenant Panusa mit den Augen rollt. „Also ich wollte nur darauf hinweisen, dass Mr. Parker-Wilson sich in den dunklen Ecken von Nana Plaza niemals länger als unbedingt nötig aufhalten würde. Er wird zur Hochbahnstation hinaufgestiegen sein und von dort aus –“

„Dixon, mein bester kanadischer Freund!“ Vitikorn richtet sich in seinem Sessel auf. „Da haben Sie ja gerade noch mal die Kurve gekriegt. Für einen berühmten Gentleman wie Bart verbietet sich selbstverständlich ein Ausflug in diese Gegend der Sünde, mit oder ohne Rückenschmerzen. Zumal er mit Kanita eine Gefährtin an seiner Seite weiß, um die ihn so mancher Mann beneiden wird. Andererseits herrschen in Bangkok zurzeit eine Luftfeuchtigkeit und Temperaturen, die selbst Reisfeldbüffel in die Knie zwingen können. Dazu kommen noch der Smog, der Lärm und der Gestank – also das normale Bangkok. Das kann sogar dem robustesten Amerikaner die Orientierung rauben.“

„Bart würde niemals ein Bordell –“, protestierte nun auch Kanita, die zuvor mit dem verlaufenen Lidschatten beschäftigt war.

„Habe ich Bordell gehört? In Bangkok? Unvorstellbar!“ Vitikorn schüttelt entschieden sein Haupt. „Das halten wir fest. Lieutenant Panusa, Sie haben das notiert?“

„Ich dachte, wir führen ein informelles Gespräch ohne Protokoll“, antwortet Panusa.

„Meine Liebe, die Ermittlungen im Fall Parker-Wilson haben in diesem Moment begonnen. Veranlassen Sie die Überprüfung sämtlicher Überwachungskameras der BTS-Station Nana. Besorgen Sie sich ein anständiges Foto von Bart und lassen Sie die Männer vom Revier Nana Plaza ausschwärmen. Checken Sie die Krankenhäuser, ob Bart dort aufgetaucht ist. Möglicherweise verwirrt –“

„Sie meinen verirrt!“, unterbricht Dixon.

„Nein. Ich meine verwirrt von der Bangkoker Unerträglichkeit in Zeiten des Klimawandels“, entgegnet Vitikorn und beginnt endlich, die Schale seiner Banane zu entfernen. „Lieutenant Panusa, ich erwarte einen ersten Bericht morgen Nachmittag.“

Nachdem Kanita und Dixon gegangen sind und auch Lieutenant Panusa ihn verlassen hat, verdrückt Vitikorn noch drei weitere seiner Lieblingsbananen und wandert dabei in seinem Büro auf und ab. Bartholomeus Parker-Wilson ist verschwunden! Thailands zweiter Seidenkönig! Ein Amerikaner, der regelmäßigen Kontakt mit Mitgliedern der königlichen Familie pflegt! Ein Modeschöpfer, dem die Damen der High Society zu Füßen liegen! Sollten die Medien davon Wind bekommen, wäre die Hölle los. Vitikorns bequemes Leben als Polizeichef würde durcheinandergewirbelt werden. Und an den Worst Case wollte Vitikorn gar nicht denken. Obwohl er beim Verschwinden von Jim Thompson vor über fünfzig Jahren gerade einmal fünf Jahre alt gewesen ist, weiß er von dem Schicksal des damals leitenden Ermittlers der Royal Thai Police. Der Mann wurde nach dem Misserfolg der wochenlangen malaysisch-thailändischen Suchaktionen an einen trostlosen Grenzübergang im staubigen Nordosten Thailands strafversetzt! Vitikorn kehrt an seinen Schreibtisch zurück und kramt in einer Schublade herum, bis er findet, was er gesucht hat.

6

Izzie hatte das Comme la Mamma vorgeschlagen, ein italienisches Restaurant im Herzen von Little Italy – eine Gegend, die man nur noch aus Gewohnheit so nennt, obwohl hier längst die Chinesen aus der benachbarten Chinatown den Ton angeben. William ist auf die Minute pünktlich, wartet vor dem Lokal und bemüht sich, die Schmetterlinge im Bauch in Schach zu halten. Izzie hatte ihm verraten, dass sie sich mit einer Freundin, nur einen Block vom Comme la Mamma entfernt, ein Zimmer über einem chinesischen Familienbetrieb teilt, der Glückskekse herstellt. Hat sie die Verabredung etwa vergessen?

Mit elf Minuten Verspätung biegt Izzie kurzatmig und mit einem Sonnenschein-Lächeln um die Ecke. Sie trägt das blonde Haar offen und William findet, dass ihre Sommersprossen so noch besser zur Geltung kommen. Und mit ihrem grasgrünen Glockenkleid erzielt sie einen weiteren Wirkungstreffer bei William, der sie bis jetzt nur in der blau-weißen Schürzenuniform des Katz’s Deli kannte. Die optischen Eindrücke helfen William jedoch nicht nachhaltig, seine Nervosität zu besänftigen. Noch nie war er ihr so nah gewesen. Nur wenige Handbreit trennen die beiden – sie, erhitzt vom schnellen Laufen, er, stumm seine Unsicherheit verfluchend.

„Die Katzen. Ich musste noch die Katzen versorgen. Die eine will nur Trockenfutter. Die andere nur Fisch. Und die dritte verträgt nur Vegetarisches. Aber was soll ich machen, sie sind meine Babys. Du wartest doch noch nicht lange auf mich?“

Als sie am reservierten Tisch Platz nehmen, lässt der Schein der frisch aufgesteckten Kerze Izzies blaue Augen leuchten. „Ich liebe es, wenn’s romantisch ist! Hört sich kitschig an, oder?“

„Eigentlich nicht“, antwortet William, der Izzie zunächst einmal still genießt.

„Ist schon verdammt lange her, dass ich in einem so schicken Restaurant gewesen bin. Eine Rose auf dem Tisch! Ist die echt?“

„Ich denke schon“, vermutet William.

„Wow! Kerzenlicht und Stoffservietten! Bei meiner Hochzeit hatten wir’s so ähnlich gehabt. Ist schon komisch, dass ich gerade jetzt daran denken muss.“

William zuckt zusammen. „Du bist geschieden?“

„Und wie ich geschieden bin!“ Izzie wischt sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Weißt du, ich finde, zwischen Mann und Frau ist’s ganz am Anfang immer am schönsten. Ein Jammer, dass es nicht immer Anfang bleiben kann!“

„Da ist was dran“, antwortet William, überrollt von Izzies Eröffnung.

„Dann kommt der Alltag. Und das wirkliche Leben geht los! Es gibt ’ne Menge geschiedener Leute, die meinen, ihre Ehe war ein Irrtum. Nein, so war’s bei mir nicht. Da gab’s schon Liebe, soweit man mit sechszehn kapiert, was Liebe ist. Und Hoffnung! Also zuerst war da die Liebe und dann die Hoffnung, dass sich alles doch noch zusammenschüttelt.“

„Du hast mit sechszehn geheiratet?“, fragt William, der einer dieser Leute ist, die ihre gescheiterte Ehe als Irrtum betrachten.

„Genau genommen war ich erst fünfzehn. Bronco und ich sind durchgebrannt und haben uns mit gefälschten Dokumenten von einem betrunkenen Reverend trauen lassen. Das war in Biloxi. Unten in Mississippi, wenn du ’ne Vorstellung hast, wo das ist. Mein Gott, war das ein irrer Trip! Wir haben schon am ersten Abend unser ganzes Geld am Spielautomaten verloren.“

„Ich kenne Biloxi. Da haben Fünfzehnjährige eigentlich nichts verloren.“

„Kann sein. Aber ich war schon immer anders als die anderen. Weißt du, ich bin in Heimen und bei Adoptiveltern aufgewachsen. Und wenn man dann einen Kerl gefunden hat, der einen nicht ständig herumkommandiert … Ich wollte einfach nur mein eigenes Leben haben, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Verstehe ich absolut!“

„Meine Ehe ist eigentlich eine kurze Geschichte. So ungefähr, wie wenn du mit dem Boot an den Niagarafällen herumfährst. Das dauert keine halbe Stunde, aber du vergisst es dein ganzes Leben nicht mehr. “

„Wie lange warst du verheiratet?“

„Sechs Monate, zwölf Tage und vier Stunden.“

„Du hast die Stunden gezählt?“

„Absolut. Zuerst, weil mir jede Stunde mächtig bedeutend vorkam. Später dann, weil ich wollte, dass es endlich vorbei ist.“

„Wenn man fünfzehn ist, können sechs Monate eine lange Zeit sein“, stellt William fest.

„Wie man’s nimmt. Lang oder kurz. Die Zeit mit Bronco war auf jeden Fall brutal intensiv. Du hast doch bestimmt von dem Fall gehört?“

„Von welchem Fall?“

„Die Kansas Jayhawks! College-Basketball! Bronco Big Boy Garcia! Sogar das Fernsehen hat davon berichtet.“

„Du warst mit Big Boy Garcia von den Kansas Jayhawks verheiratet?“, staunt William. „Warte mal, da gab’s doch … Wann war das noch gleich?“

„Saison zweiundneunzig, dreiundneunzig. Die Chicago Bulls schlagen im Endspiel die Phoenix Suns. Bronco ist achtzehn und der absolute Star der Jayhawks. Die Bulls wollen ihn unbedingt. Da ging’s um Millionen. Mir ist heute noch schwindelig, wenn ich daran denke. Aber Bronco wollte nicht unterschreiben. Er dachte, er ist so gut wie Michael Jordan und müsste auch so bezahlt werden. Was hab ich auf ihn eingeredet! Aber der Junge blieb stur wie ein mexikanisches Maultier. Das war’s dann für mich. Die Scheidung in Wichita hat keine zehn Minuten gedauert. Kurz danach hat man Bronco mit zwei Kilo Heroin erwischt und die Bulls haben das Angebot zurückgezogen. Drei Jahre war er im Bau. Als er wieder rauskam, ist er komplett abgestürzt. Und mit zweiundzwanzig schießt er sich eine Kugel in den Kopf.“

William schiebt den Kerzenleuchter zur Seite, um Izzies Blick nicht zu verpassen, wenn sie die Untersuchung der Rose abgeschlossen hat. „Wollen wir bestellen?“

„Keine schlechte Idee. Außer einer Scheibe Toast hatte ich heute noch nichts zwischen den Zähnen.“ Izzie zieht die Nase kraus, was ihr das mädchenhaft Unschuldige zurückgibt. William und Izzie vertiefen sich in die Menükarten. Als die Speisenfolge gewählt ist, steht ein blutjunger Kellner mit Block und Stift bereit.

„Per favore, cosa vorresti!“

„Also, da hätten wir zuerst einmal … Die Dame würde gerne …“, setzt William an.

„Billywilly, lass mich das mal machen. Der Junge ist erst heute Morgen in New York angekommen.“

„Sorry! Il mio inglese non è buono. Molto sorry!“

„Tutto bene!“, beruhigt Izzie. „Così, uno antipasto Freddo speciale poi capellini piselli e prosciutto di Parma per il mio amico.“

„Okay! Si nota!“ Der Kellner ist erleichtert.

„Per me uno antipasto schiacciata di salsicce e carciofi. E come piatto principale rigatoni alla diavola con vodka. Hai tutto?“

Izzie beendet die Bestellung mit ein paar gelächelten Worten und steckt dem Jungen unauffällig einen gefalteten Geldschein zu.

„Ein süßer kleiner Mann!“ Izzie zwinkert William zu. „Er hat gefragt, was wir zum Essen trinken wollen. Suchst du was aus? Du kennst dich doch bestimmt mit Wein aus.“

William atmet tief durch. Izzie spricht Italienisch und verteilt Trinkgeld routinierter als die Edelprostituierte Ginger im Mafiafilm Casino. Und nun soll er den Wein aussuchen! William hat seit einer gefühlten Ewigkeit keinen Alkohol angerührt. Aus gutem Grund, der aber hoffentlich kein Thema des heutigen Abends wird. Oder soll er auch die Karten auf den Tisch legen? Izzie ist schließlich ziemlich steil in den Abend gestartet. „Ich trinke selten Wein. Am besten wählst du aus, was dir schmeckt. Ich trinke dann ein Gläschen mit.“