Sils-Maria oder die heile Welt und das Geld - Herbert Rehbein - E-Book

Sils-Maria oder die heile Welt und das Geld E-Book

Herbert Rehbein

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Beschreibung

Inmitten der atemberaubenden Kulisse des Oberengadins entfaltet sich ein fesselnder Krimi um den einflussreichen Geschäftsmann Paul Reinhardt, der in Sils-Maria die Fäden zieht und vor nichts zurückschreckt – auch nicht vor Kapital-verbrechen. Doch als der hartnäckige Kommissar Battaglia auftaucht, drohen Reinhardts dunkle Machenschaften ans Licht zu kommen. Battaglia ist entschlossen die Abgründe hinter der glänzenden Fassade zu durchleuchten. Ein packendes Spiel aus Macht, Versuchung und einem düsteren Verbrechen, das die Leser nicht mehr loslässt.

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Seitenzahl: 206

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über den Autor

Herbert Rehbein liebt Krimis, nicht Kriminalität. Bücher und Filme eignen sich bestens zum Ausleben moralisch nicht ganz einwandfreier Fantasien.

Der Autor sieht Netflix als seine persönliche Bibliothek, doch auch ein Kosmopolit wie Friedrich Dürrenmatt mit seiner unverwechselbaren schwarzhumorigen Weltsicht hat sich, trotz Schulzeitpflichtlektüre, tief in sein Gedächtnis gebrannt.  

Das Oberengadin fasziniert ihn besonders: Hier prallen Schönheit und Ursprünglichkeit der Region auf glamouröse Noblesse und Dekadenz. Diese kontrastreiche Welt inspiriert den Autor und liefert ihm den perfekten Schauplatz für seinen Krimi.

Prolog

Liebe Leserinnen und Leser,

Nach zahlreichen erholsamen und inspirierenden Ferien im Oberengadin kam mir die Idee, ein Buch über diese beeindruckende Region zu schreiben. Die klare Bergluft, die majestätischen Berggipfel und die stille Schönheit der Seen lässt einen nicht mehr los. Da ich und meine Freundin eine besondere Vorliebe für Krimis haben, war schnell klar, dass es ein Kriminalroman werden muss. Denn wie könnte man die dramatische Kulisse des Oberengadins besser nutzen als für ein spannendes Verbrechen?

Natürlich gehören Mord und Totschlag in einem Krimi dazu wie der Schnee auf die Berge. Doch seien Sie beruhigt: Alles, was in diesem Buch passiert, ist reine Fiktion. Sollten Sie also beim Lesen zufällige Parallelen zur Realität entdecken, so sind diese keinesfalls beabsichtigt.

Ich lade Sie ein, in die faszinierende Welt rund um Sils-Maria einzutauchen, wo die Natur selbst zu einem Teil der Geschichte wird. Es ist eine Region, die nicht nur durch ihre Schönheit beeindruckt, sondern auch eine gewisse Mystik ausstrahlt – der perfekte Schauplatz also für ein Verbrechen, das genauso komplex und vielschichtig ist wie die Landschaft selbst.

Vielleicht inspiriert Sie dieses Buch sogar, die Region einmal persönlich zu besuchen. Sils-Maria und das Oberengadin bieten viel mehr als nur schöne Aussichten – sie haben eine Tiefe, die man spüren muss. Und wer weiss, vielleicht entdecken Sie bei einem Spaziergang sogar den ein oder anderen Ort aus meiner Geschichte.

1

Sils-Maria

Von St. Moritz kommend biegt das elegante Aston Martin Cabriolet geschmeidig in die Via da Marias Richtung Sils-Maria. Mit einem kurzen Tritt auf das Gaspedal zieht der Wagen mühelos an einer gemächlich fahrenden Kutsche vorbei, die sich auf dem Weg ins malerische Dorfzentrum befindet. Am Steuer sitzt Paul Reinhardt, ein erfolgreicher Geschäftsmann, der zwischen seinem modernen Büro in St. Moritz und seinem traditionellen Bündnerhaus in Sils-Maria pendelt.

Mit seinen grau melierten Haaren und dem gepflegten Kinnbart strahlt er vertrauenserweckende Selbstsicherheit aus. Doch hinter dem charmanten Lächeln und den funkelnden Augen verbirgt sich eine dubiose Aura. Seine Professionalität und Eleganz täuschen darüber hinweg, dass er ein Mann ist, der im Verborgenen die Fäden zieht – stets bereit, moralische Grenzen zu überschreiten, um seine Ziele zu erreichen.

„Wir Zürcher stehen nicht für Bescheidenheit,“ pflegt er ab und zu mit einem süffisanten Lächeln einzustreuen, wenn die Frage nach seiner Herkunft aufkommt. Obwohl er schon seit zwanzig Jahren im Oberengadin Geschäfte macht, hat er nie den Anspruch aufgeben, seine Wurzeln zu betonen. Schon in der Banklehre entwickelte er seinen Instinkt für Geschäfte. Zuerst Autos, Parties, dann Immobilien - immer hatte er etwas am Laufen.

Durch die Lautsprecher des Wagens dröhnt Frank Sinatras "New York, New York". Besonders die Passage „if I can make it there, I‘ll make it anywhere“ lässt Reinhardt’s Herz höherschlagen. Mit einem zufriedenen Lächeln pfeift er die Melodie mit – als Geste seines Selbstbewusstseins. Er ist ein Macher, jemand, der Hindernisse nicht akzeptiert, und sich von nichts und niemandem bremsen lässt, schon gar nicht von den Geschwindigkeitsbeschränkungen auf der Strasse. Mit Schwung und Präzision steuert er das Cabriolet in die Tiefgarage seines Anwesens. Der Motor verstummt, Sinatra verklingt, und Reinhardt macht sich bereit, in seine Oase der Ruhe in Sils-Maria einzutreten. Er und seine Jagdfreunde haben sich später am Nachmittag verabredet.

Paul Reinhardt, geboren und aufgewachsen an der Goldküste Zürichs, ist das Produkt einer Welt, in der Erfolg nicht nur erwartet, sondern gefeiert wird. Sein Vater, ein Pionier im Import japanischer Automarken, baute in den 1970er-Jahren ein Vermögen auf, das Paul in jungen Jahren einen exklusiven Lebensstil ermöglichte. Schon früh lernte er, dass Macht und Status nicht nur mit harter Arbeit, sondern auch mit der richtigen Inszenierung zu tun haben. Die Sommer seiner Kindheit verbrachte er in Sils-Maria, wo die Familie ein altes traditionelles Haus besass.

Doch Paul war kein Vorzeigesohn. Noch während seiner Banklehre in Zürich begann er, das Geschäftliche mit dem Privaten zu vermischen. Partys, schnelle Autos, riskante Deals. Reinhardt war der Inbegriff eines jungen Mannes, der die Welt erobern wollte, koste es, was es wolle. Und es kostete viel: Seine ersten Projekte, darunter überambitionierte Investments und dubiose Geschäftsideen, gingen spektakulär in die Brüche. Das Geld seines Vaters rettete ihn mehr als einmal vor der Pleite, doch in der Zürcher Geschäftswelt haftete ihm bald der Ruf eines Hasardeurs an.

Mit 30 Jahren zog Reinhardt die Reissleine – oder vielmehr: Er musste sie ziehen. Die goldene Zürcher Bühne wurde ihm zu heiss, und er kehrte an einen Ort zurück, der weniger kritisch, aber nicht weniger anspruchsvoll war: Sils-Maria. Dort begann er, das Familienerbe neu zu definieren. Sein ehemaliges Feriendomizil baute er zu einem luxuriösen Domizil um, das gleichzeitig als Symbol für seinen Neuanfang diente.

Mit dem geerbten Vermögen seines Vaters und einem untrüglichen Instinkt für exklusive Möglichkeiten fand Reinhardt schnell seinen Platz im Oberengadin. Immobilien wurden sein Spielfeld. Er kaufte, renovierte, verkaufte und das mit einer Präzision, die ihn bald zu einer festen Grösse machte. Während andere zögerten, griff er zu. Er verstand, was reiche Investoren suchten: Diskretion, Qualität und Prestige.

Seine Inspiration? Donald Trump. Schon als junger Mann bewunderte Reinhardt dessen „All-in“-Mentalität und die Fähigkeit, sich selbst zur Marke zu machen. Dieses Prinzip hat er für sich übernommen: Paul Reinhardt ist nicht nur ein Geschäftsmann – er ist ein Name, der in der Region für Erfolg, Risikobereitschaft und Exklusivität steht.

Heute geniesst Paul Reinhardt die Früchte seines Erfolgs. Nach einer turbulenten Ehe, die ihn mehr kostete, als er bereit war zuzugeben, nicht nur finanziell, hat er der Romantik abgeschworen. Stattdessen betreibt er Sexualität wie seine Geschäfte: zielgerichtet, effizient und mit klaren Erwartungen. Er bezahlt grosszügig und erwartet dafür eine angemessene Gegenleistung, ohne Fragen, ohne Verpflichtungen. Für ihn ist Intimität eine Transaktion, nicht mehr und nicht weniger.

In Sils-Maria weiss er die politischen Verhältnisse geschickt für seine Interessen zu nutzen. Mit einem Netz aus Gefälligkeiten, Einfluss und geschickter Überzeugungsarbeit hat er die lokalen Entscheidungsträger in seiner Hand. Sponsoring von Gemeindeveranstaltungen, grosszügige Spenden für die Renovierung der Dorfkirche oder ein unterschwelliger Hinweis auf Arbeitsplätze, die seine Projekte schaffen – Reinhardt weiss, wie er Druck ausüben kann, ohne dass es jemand so nennt.

Sein Immobiliengeschäft ist eine Meisterklasse in taktischem Denken. Durch gezielte Eingriffe in lokale Bauvorschriften und kluge Allianzen hat er es geschafft, Bauvorhaben durchzusetzen, die anderen unmöglich erschienen. Er versteht es, Gemeindepolitik zu einem Werkzeug seiner Profitmaximierung zu machen. Was für andere nur Bürokratie ist, ist für ihn ein Spielfeld, auf dem er sich mit Präzision bewegt.

Doch eins bleibt immer gleich: Paul Reinhardt ist ein Mann, der weiss, wie man spielt, um zu gewinnen. Ob es darum geht, ein lukratives Grundstück zu erwerben oder den Widerstand von Umweltaktivisten geschickt zu neutralisieren, er agiert mit der Unerschütterlichkeit eines Profis. Seine Stärke liegt nicht nur in seiner Beharrlichkeit, sondern in seiner Fähigkeit, Menschen zu lesen und ihre Schwächen zu nutzen.

Im Oberengadin, wo Eleganz und Macht auf diskreteste Weise miteinander verschmelzen, spielt er nach seinen eigenen Regeln – und gewinnt. Hier oben, wo jeder Blick aufs Panorama Millionen wert ist, hat Reinhardt sich sein eigenes Imperium geschaffen. Solange er die Fäden zieht, wird niemand den Mut haben, sie ihm aus der Hand zu nehmen.

                                       *

Mit seiner atemberaubenden Schönheit ist das Oberengadin ein Ort, der sowohl Abenteuer als auch Ruhe bietet, ein Paradies, das die Herzen seiner Besucher im Sturm erobert und sie nie wieder loslässt. In den mondänen Strassen von St. Moritz, den stillen Pfaden von Sils-Maria und den wilden Höhen der Alpen, finden die Menschen ihr eigenes Paradies. Ein bisschen kitschig, ein bisschen zu perfekt, aber genau diese makellose Kulisse lockt die Besucher immer wieder an. Raus aus dem Alltag, rein in die Postkartenidylle: Da liegt das malerische Sils-Maria, ein Juwel eingebettet zwischen dem Silsersee und dem Silvaplanersee.

Seit Jahrzehnten ist Sils-Maria ein Sehnsuchtsort für Leute mit Geld, die gerne ihre Ruhe haben. Auf der Homepage von Sils-Maria heisst es: „Die Feriengäste, denen St. Moritz zu umtriebig war, sind nach Sils Maria weitergefahren. So war es vor hundert Jahren; und so ist es noch heute.“

Die traditionellen Engadiner Häuser, mit ihren bemalten Fassaden und steilen Dächern, zeugen von einer reichen Geschichte. In den engen Gassen von Sils-Maria scheint die Zeit stillzustehen. Der diskrete Charme der Bourgeoisie weht durch den Ort, kein Klirren von Champagnergläsern, das Läuten der Kuhglocken tut es auch. Die Einheimischen haben schnell gelernt, ihren Vorteil aus dieser Situation zu ziehen. Man munkelt, dass mehr als ein Dorfbewohner seinen Traktor gegen einen Porsche getauscht hat, nachdem er seinen Grund und Boden an reiche Leute jedweder Nationalität verkauft hatte. Mit der Folge, dass Wohnen im Oberengadin in den letzten Jahrzehnten zu einer exklusiven Angelegenheit geworden ist.

                                        *

Die fünf Männer auf der Terrasse des La Passarella verbindet mehr als nur die Geschäfte, über die sie sich immer wieder im Verborgenen austauschen. Sie alle sind Mitglieder des Jagdvereins und bilden eine enge Jagdgemeinschaft in Sils. Diese Jagdgemeinschaft ist mehr als ein Hobby. In ihr finden sich alteingesessene Traditionen und ein Netzwerk aus Einfluss und Macht, das tief in die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Gemeinde verankert ist.

In ihrer Jagdgemeinschaft werden nicht nur Rehe und Wildschweine ins Visier genommen. Diese Männer verstehen es, ihre Positionen geschickt zu nutzen, um Prozesse zu ihren Gunsten zu beschleunigen und Entscheidungen in den Gemeindegremien zu beeinflussen. Stille Absprachen im Wald oder bei einem Jagdausflug sind ein effektives Mittel, um Deals abzuwickeln, die unter offiziellen Umständen zu lange dauern oder gar nicht zustande kommen würden.

Als Paul Reinhardt auf der Terrasse das Gespräch führt, erinnert er die Gruppe unmissverständlich daran, wie wichtig ihre Zusammenarbeit ist. „Wir sind eine Gemeinschaft,“ sagt er leise, „nicht nur im Wald, sondern auch in den Dingen, die uns hier in Sils wirklich weiterbringen.“ Jeder in der Runde weiss, dass dies keine leere Phrase ist. Die Jagdgemeinschaft bietet nicht nur die Kameradschaft unter Freunden, sondern ist das Rückgrat eines Netzwerks, das über die Jahre grosse wirtschaftliche Vorteile gebracht hat.

Paul Reinhardt war von Beginn weg der Anführer der Gruppe, nicht dass er es sich aufgedrängt hätte, sondern weil er der geborene Stratege ist. Pauls Fähigkeit, Menschen zu lesen und Geschäfte zu machen, hat ihm in der Gruppe schnell Respekt eingebracht.

Silvan Lutz, der mit der Natur so verwachsen ist wie die Bäume in den Wäldern, in denen sie jagen, ist die stille Kraft hinter der Gruppe. Als Jagdaufseher hat er das Geschehen im Revier immer im Blick. Seine nüchterne und fokussierte Herangehensweise an die Jagd spiegelt auch seine Geschäftspraktiken wider. Für Silvan geht es bei allem, ob Jagd oder Gemeindeangelegenheiten, um Präzision und Kontrolle.

Jori Cavegn, mit seiner Metzgerei ist das Herz der Gemeinde. Seine Rolle in der Gemeinschaft geht weit über die Versorgung mit frischem Wild hinaus. Er sorgt dafür, dass die Geschäfte der Gruppe reibungslos laufen, sei es durch Kontakte, die er durch seine Metzgerei knüpft, oder durch seine Rolle in der Geschäftsprüfungskommission. Jori weiss, wie man Dinge unter dem Radar erledigt.

Und dann gibt es Stefan Gruber, den ehemaligen Polizisten. Er ist der Mann, der Lösungen findet, wenn die Dinge kompliziert werden. Wo die anderen subtil verhandeln, greift Stefan ein, wenn es notwendig wird.

Maurin Thöny ist der Aussenseiter in der Gruppe. Als frisch gewählter Gemeindevorstand und erfolgreicher Schreiner hat er sich seinen Respekt durch harte Arbeit verdient. Für ihn zählt das, was rechtens und moralisch vertretbar ist. Er macht keinen Hehl daraus, dass er nicht bereit ist, in Grauzonen abzutauchen.

„Siehst du denn nicht, welche grossartigen Möglichkeiten sich für dich bieten, wenn du bei uns einsteigst?“ richtet Paul das Wort leise, aber mit unverkennbarer Autorität an Maurin Thöny. „Silvan hat sich dafür stark gemacht, dass du in den Gemeindevorstand gewählt wurdest. Wir sind auf einem guten Weg. Du wirst auch deinen Anteil haben.“ Die Worte sind mit Bedacht gewählt, aber in Pauls Ton liegt eine deutliche Warnung: Dies ist kein Geschäft, das man leichtfertig ablehnt.

Maurin Thöny jedoch, ist nicht so leicht zu beeindrucken. „Unter diesen Umständen? Keinesfalls!“ Entgegnet er lautstark und sieht sich um. Die Gäste an den anderen Tischen, meist Touristen, schauen kurz auf, dann wieder weg.

Silvan, der bisher ruhig zugehört hat, sieht Maurin streng an und zischt: „Psst, nicht so laut!“ Es ist ihm klar, dass zu viel Aufsehen hier schaden könnte.

Doch Maurin lässt sich nicht einschüchtern. Er dreht sich um und antwortet kühl: „Mir doch egal ob jemand zuhört, ich habe nichts zu verbergen!“ Seine Entschlossenheit ist spürbar, und er lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht bereit ist, Teil dieser Machenschaften zu werden, egal welche Gewinne ihm in Aussicht gestellt werden.

Jori Cavegn, der immer versucht die Wogen zu glätten, schiebt seinen Stuhl näher an Maurin heran und spricht leise: „Maurin, sei doch vernünftig. Wir wollen doch nur, dass es uns allen gut geht. Diese geschäftlichen Aktivitäten bringen viel für die Gemeinde.“ Joris Worte klingen harmlos, aber es ist klar, dass hier nicht nur von Gemeinwohl die Rede ist. Es geht um persönliche Vorteile, um diskrete Absprachen, die unter dem Deckmantel offizieller Entscheidungen getroffen werden.

Maurin steht auf, seine Entscheidung klar und unmissverständlich. „Zahlen bitte!“ ruft er, ohne einen weiteren Blick auf die Männer zu werfen. Als er davongeht, legt sich eine bedrückende Stille über den Tisch.

Paul Reinhardt, der als Erster das Schweigen bricht, sieht Silvan und die anderen mit schmalen Augen an. „Wir müssen etwas unternehmen. Lassen wir es nicht so enden. Heute Abend bei den Jagdvorbereitungen unternehmt ihr einen letzten Versuch, ansonsten…“ Er hält kurz inne und richtet sich dann an Jori. „Du sorgst dafür, dass Maurin auch kommt. Unbedingt.“

2

Böses Erwachen

Maurin Thöny wuchs im wunderschönen Dorf La Punt im Oberengadin auf. Schon als Junge war er von Holz fasziniert. Er beobachtete seinen Vater, der als Schreiner arbeitete, und lernte von ihm die Grundlagen des Handwerks. Der Duft von frisch gesägtem Holz und das Geräusch des Hobels waren für Maurin vertraute und beruhigende Begleiter seiner Kindheit.

Nach seiner Schulzeit entschied sich Maurin, das Handwerk seines Vaters zu erlernen. Er begann eine Ausbildung zum Schreiner und zeigte schnell grosses Talent. Seine Hände schienen förmlich mit dem Holz zu sprechen, und er verstand es, die Maserung und die natürlichen Formen des Materials zu nutzen, um wunderschöne Möbelstücke und Einbauten zu schaffen.

Doch Maurin wollte mehr. Er wollte nicht nur neue Möbel herstellen, sondern auch die alten, historischen Stücke bewahren und restaurieren. Also machte er eine Zusatzausbildung zum Antikschreiner. Diese Entscheidung sollte sein Leben und seine Karriere massgeblich prägen.

Nach seiner Ausbildung begann Maurin, in historischen, denkmalgeschützten Gebäuden zu arbeiten. Einer seiner häufigsten Arbeitsorte war das Waldhaus. Lukas Decurtins vom Hotel Waldhaus, ist ein enger Freund von Maurin. Die beiden kennen sich seit Jahren und haben viele Projekte gemeinsam umgesetzt.

Das Fünfsternehotel Waldhaus thront wie eine zeitlose Bastion der Belle Époque in der rauen Schönheit der Alpenlandschaft ob Sils. Betritt man das Waldhaus, so ist es, als öffne man die Tür zu einer anderen Zeit. Der Duft von frisch gebrühtem Tee mischt sich mit den Klängen eines Streichquartetts, das im eleganten Salon aufspielt. Livrierte Kellner gleiten geräuschlos über den polierten Parkettboden, und es ist leicht, sich vorzustellen, wie die Grossen dieser Welt in diesen Räumen verweilten – fasziniert von der einzigartigen Mischung aus alpiner Wildheit und kultivierter Gastlichkeit.

Lukas Decurtins, ein Mitglied der Besitzerfamilie, ist bekannt für seine freundliche Art, insbesondere gegenüber seinen Angestellten. Er kennt jeden seiner Mitarbeiter persönlich und sorgt dafür, dass sie sich geschätzt und respektiert fühlen. Unter seiner Leitung erlebt das Grandhotel Waldhaus nicht nur wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch eine besonders hohe Zufriedenheit der Mitarbeiter.

„Maurin, gut dich zu sehen,“ begrüsst Lukas ihn eines Tages, als Maurin für eine neue Restaurierung ins Waldhaus kam.

„Hallo Lukas, wie geht es dir?“ antwortet Maurin, während er seine Werkzeuge auspackte.

„Gut, gut. Das Waldhaus braucht wieder einmal deine magischen Hände. Die alten Fensterläden im ersten Stock müssen dringend überarbeitet werden,“ erklärt Lukas und führt Maurin durch das Gebäude.

„Kein Problem, das kriegen wir hin,“ sagt Maurin, während er die Fensterläden begutachtet. „Die sind zwar alt, aber noch in gutem Zustand. Ein bisschen Pflege und sie werden wieder wie neu aussehen.“

Neben seinen Projekten im Waldhaus hat Maurin auch viele Aufträge in den Villen und Eigentumswohnungen der Vermögenden in der ganzen Region. In all diesen Projekten ist Julia, seine Frau, eine unverzichtbare Partnerin. Julia ist nicht nur gelernte Bankkauffrau, sondern auch eine geschickte Handwerkerin, die Maurin praktisch in der Werkstatt unterstützt. Sie kümmert sich um die Buchhaltung, erstellt Kostenvoranschläge und ist für die gesamte geschäftliche und organisatorische Seite des Unternehmens verantwortlich. Ihre Kommunikation mit Kunden ist von entscheidender Bedeutung, und ihre Fähigkeit, die Wünsche der Kunden zu verstehen und in konkrete Pläne umzusetzen, ergänzt Maurins handwerkliches Geschick perfekt.

Maurin schätzt Julias Beitrag enorm. „Schatz, ohne dich wäre ich aufgeschmissen. Buchhaltung, Businessplan, Kostenvoranschläge, ich hätte das nie geschafft. Ich bin so froh, dass du den Laden schmeisst,“ gesteht er ihr immer wieder.

„Jetzt übertreib nicht, aber du hast recht, wir sind ein gutes Team,“ antwortet Julia lächelnd. „Und jetzt, wo du mit deinem Freund Silvan in den Gemeindevorstand gewählt worden bist, sind wir optimal vernetzt,“ ergänzt sie. „Du bist jetzt auch für den Unterhalt der Gemeindeliegenschaften zuständig. Das ist doch grossartig.“

Nach langen Tagen in der Werkstatt sucht Maurin Ausgleich auf seinem Fahrrad. Mit Leidenschaft braust er durch die Wälder und Hügel rund um Sils-Maria. Das Geräusch der Reifen auf dem Waldboden, die frische Luft und das Gefühl von Freiheit helfen ihm, den Kopf freizubekommen. Oft ist er allein unterwegs, doch manchmal begleitet ihn Jori Cavegn, sein Jugendfreund, mit dem er seit der Schulzeit verbunden ist. Für Maurin ist diese Freundschaft unkompliziert und beständig, ein Stück Heimat in einer Welt, die sich immer schneller verändert.

Für Jori ist die Beziehung zu Maurin jedoch eine Quelle von Freude und Schmerz zugleich. Mit der Pubertät hat er erkannt, dass seine Gefühle für Maurin mehr als nur freundschaftlich sind. Doch in der engen, konservativen Gemeinschaft von Sils-Maria hat er niemals die Kraft gefunden, sich zu offenbaren. Stattdessen hat er gelernt, seine Zuneigung zu verbergen, indem er sie hinter einer Fassade von Lässigkeit und Grobheit versteckt. Maurin ahnt nichts von Joris innerem Kampf und begegnet ihm mit der offenen Herzlichkeit, die er für einen guten Freund empfindet.

Um seinen unterdrückten Gefühlen zu entfliehen, fährt Jori gelegentlich ins nahegelegene Chiavenna. In der Anonymität der Stadt kann er sein wahres Selbst ausleben, besucht Schwulenbars oder sucht flüchtige Begegnungen mit jungen Strichern. Diese Ausflüge verschaffen ihm zwar kurzfristige Erleichterung, doch sie verstärken auch seine innere Zerrissenheit. Die Rückkehr nach Sils-Maria, zu Maurin und der starren Dorfgemeinschaft, fühlt sich jedes Mal schwerer an. So bleibt ihre Freundschaft von Schweigen und unausgesprochenen Gefühlen geprägt, ein fragiles Gleichgewicht, das jederzeit zerbrechen kann.

                                       *

Eines Tages erhält Maurin einen Anruf von einer neuen Kundin. Eine prächtige Villa am See benötigt eine komplette Restaurierung der Innenräume. Die Besitzerin, eine elegante Dame mittleren Alters, erwartet Maurin bereits.

„Herr Thöny, es freut mich, Sie kennenzulernen,“ sagt sie und führt ihn durch die Villa. „Ich habe gehört, Sie sind der Beste in Ihrem Fach.“

„Vielen Dank, das freut mich zu hören,“ antwortet Maurin bescheiden. „Ich werde mein Bestes tun, um Ihre Villa in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.“

Die Arbeit ist anspruchsvoll, aber Maurin liebt jede Minute davon. Er restauriert die alten Holzvertäfelungen, repariert die kunstvoll geschnitzten Geländer und bringt die antiken Möbelstücke wieder in ihren ursprünglichen Zustand. Die Besitzerin ist begeistert von seiner Arbeit und will ihn weiterempfehlen.

Maurins Werkstatt hat hohe Fixkosten, weshalb er und Julia stets darauf angewiesen sind, gut mit Aufträgen ausgelastet zu sein. Mit drei angestellten Schreinern und zwei Lehrlingen, denen er sein Wissen und seine Leidenschaft fürs Handwerk weitergibt, muss der Betrieb regelmässig Aufträge an Land ziehen, um rentabel zu bleiben.

Das Angebot von Paul Reinhardt an neue Aufträge zu kommen, klingt daher verlockend. Doch Maurin hegt Zweifel an den Geschäftspraktiken von Reinhardt und seiner Gruppe, was ihn zögern lässt, ob er dieses Risiko eingehen soll.

Privat läuft es für Maurin und Julia wirklich gut. Ihre Zusammenarbeit in der Schreinerei funktioniert reibungslos, und auch zu Hause sind sie ein eingespieltes Team. Trotz der intensiven Arbeit schaffen sie es, für ihre Kinder ein liebevolles und stabiles Zuhause zu bieten. Oft verbringen sie Zeit zusammen in der Natur.

Das alte Bündnerhaus, das Maurin für seine Familie restauriert hat, liegt am Rande von Sils-Maria. Es ist ein typisches Engadinerhaus mit massiven Steinmauern und kleinen, tief gesetzten Fenstern, die den Charakter der Region widerspiegeln. Die Fassade ist mit kunstvollen Sgraffito-Verzierungen verschönert. Die schweren Holztüren und Fensterläden, die Maurin eigenhändig restauriert hat, sind mit feinen Schnitzereien versehen. Die Wände und Decken aus altem, honigfarbenem Holz, das Maurin liebevoll aufgearbeitet hat, verleihen den Räumen eine warme und einladende Atmosphäre. Ein grosser Kachelofen im Wohnzimmer dient als Herzstück des Hauses und spendet an kalten Winterabenden wohlige Wärme. Die Küche ist das Herz der Familie. Hier versammelt sich die Familie, um gemeinsam zu essen und zu plaudern.

„Wir haben es wirklich schön hier“, sagt Julia oft, wenn sie gemeinsam unterwegs sind. „Aber manchmal frage ich mich, wie lange wir diese Belastung durchhalten können.“

Maurin nickt gedankenverloren. Er weiss genau, was Julia andeutet. Die Werkstatt muss laufen, und die Hypothek auf ihrem Haus ist eine ständige Last. Auch die Kosten für die Familie steigen, aber trotz all dieser Sorgen bleibt er fest in seinen Überzeugungen. „Wir schaffen das“, sagt er schliesslich und versucht, Zuversicht auszustrahlen. „Aber nur mit harter, ehrlicher Arbeit. Ich habe das den anderen heute klar gemacht. Sie waren, wie erwartet, nicht begeistert.“

Er tritt einen kleinen Stein zur Seite und lässt den Blick über den dunkler werdenden Himmel schweifen. „Wenn Reinhardt nicht nachgibt, werde ich morgen bei der Tagung des Gemeindevorstands handeln müssen.“

Diese Vorstellung beunruhigt Julia. Sie versteht die Gefahr, aber auch die Notwendigkeit seiner Entscheidung.

„Morgen früh gehe ich in den Wald“, fügt Maurin fast beiläufig hinzu. „Ich treffe mich mit Silvan, Stefan und Jori um drei Uhr zu Jagdvorbereitungen.“ In seiner Stimme schwingt eine leise Schwere mit, die den inneren Konflikt verrät: Die Jagd, die einst ein gemeinsames Ritual und Symbol der Freundschaft war, droht nun zur Bühne eines tiefen moralischen Bruchs zu werden. Maurin steht zwischen der Loyalität zu seinen Freunden und seiner Pflicht, das Richtige zu tun. Seit Paul Reinhardt sich zum Anführer der Gruppe entwickelt hat, ist es nicht mehr das Gleiche. In Maurins Augen missbraucht er den Gemeinschaftsinn der Mitglieder zu seinem eigenen Vorteil. Die Anderen machen mit und lassen sich mit mehr oder minder lukrativen Anteilen abspeisen. Maurin ist das zuwider.

                                       *

Der Morgen beginnt für Julia Thöny mit einer Unruhe, die sie einfach nicht abschütteln kann. Es ist bereits sieben Uhr, und Maurin ist noch immer nicht zurück. Normalerweise ist er pünktlich, besonders wenn er weiss, dass heute morgen der Gemeindevorstand tagt.

Am frühen Morgen war Maurin mit seinen Freunden Jori, Silvan und Stefan wegen der Jagdvorbereitungen unterwegs, eher widerwillig wie er Julia mitgeteilt hat, aber er wollte seine Jagdkollegen nicht hängen lassen. Die vier Männer haben sich dann nach getaner Arbeit in der Morgendämmerung wieder getrennt. Jeder fuhr für sich nach Hause. Maurin kennt diese Strecke in- und auswendig, jeden Hügel, jede Kurve, jeden Stein. Deshalb ist Julia umso beunruhigter, als er nicht rechtzeitig zurückkehrt. Julia ist keine Frau, die leicht in Panik verfällt. Doch an diesem Morgen ist etwas anders. Ein flaues Gefühl in ihrem Magen lässt sie nicht los, und das Ticken der Uhr scheint immer lauter zu werden. Schliesslich hält sie es nicht mehr aus und greift zum Telefon.