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Simon, ein junger Mann mit gebrochenen Träumen, kämpft um seinen Platz in der Welt. Seine Jugend ist überschattet von der Krankheit der Mutter, einer gescheiterten Liebe und dem abgebrochenen Abitur. Trost findet er bei seinen Freunden, dem Rausch und den Linien auf seinem Papier. Mit dem Bleistift zeichnet er seine Träume und inneren Konflikte. Er trifft auf Arthur, einen faszinierenden jüdischen Kunstmaler, der ihm zum Vorbild wird. Simon träumt davon, mit seiner Kunst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und einmal Indien zu bereisen. Doch sein Leben bleibt von Schicksalsschlägen geprägt: Eine neue Liebe, die bald ein tragisches Ende nimmt. Ein weiterer Selbstmordversuch seiner Mutter, der ihn zwingt, sich der harten Realität zu stellen. Als er schließlich erfährt, dass sein leiblicher Vater Roma ist, begibt sich Simon in den Dschungel einer Großstadt. Kerstin Fischer zeichnet das bewegende Porträt eines jungen Mannes, der inmitten von Verlust, Liebe und den Wirren einer Metropole in den 1980er Jahren nach seiner Identität sucht. Ein Roman über Scheitern, Hoffnung und die Sehnsucht nach einem Neuanfang.
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Seitenzahl: 229
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Impressum:
© Verlag Kern GmbH
Bahnhofstraße 22
D - 98693 Ilmenau
Verlag-kern.de, [email protected]
© Inhaltliche Rechte beim Autor
1. Auflage, Februar 2025
Autorin: Kerstin Fischer
Layout/Satz: Brigitte Winkler
Bildquellen Cover: Adobe Stock - Lake Stylez / drdigitaldesign
Lektorat: Heike Funke
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Sprache: deutsch
ISBN 978-3-95716-393-6
E-Book: ISBN 978-3-95716-414-8
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.
Kerstin Fischer
Simons Linien
Roman
Cover
Impressum
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Epilog
In dieser Sommernacht würde Simon draußen schlafen, bei den Grillen, in der bunten Hängematte, die der Vater ihm zwischen den beiden Apfelbäumen befestigt hatte. Das war klar – trotz der Bedenken seiner Mutter, ihn mit seinen acht Jahren und den flehenden blauen Augen schutzlos der Nacht im Garten zu überlassen. In der Fantasie der Mutter nahm sie Gestalt an, diese Nacht, wurde Kriegszustand. Aber Simon wusste sich in diesen Kriegszustand hineinzubetteln, denn die Angst hatte die Mutter auch schwach und nachgiebig werden lassen. Mager und verloren stand sie in der Eingangstür des kleinen Siedlungshäuschens und nestelte unruhig an dem Zipfel ihres blauen Jerseykleides.
Der Vater, der wesentlich älter war als sie, nickte, steckte sich eine Zigarre an und zog daran. Simon lief in sein Zimmer, um das Bettzeug mit den Eulen zu holen. Wenn es gewitterte, würde er wieder flüchten, in diese trockene Höhle. Das Wagnis barg die Chance der Rückkehr.
Leicht zog der Abendwind über die Hängematte mit Simon darin, der in die Unmöglichkeit sah, einen Himmel zu begrenzen. Der Wolkenzug, der sich ab und an vor den Mond schob, erlöste von dem Anblick einer fahl leuchtenden Magie. Simon achtete auf jedes Geräusch. Das Ästeknacken. Näherten sich Schritte? Aus der Ferne dröhnte der Motor eines Autos. Man war hier nicht allein, in der Nacht. Das beruhigte. Aus dem Garten der Nachbarin kam plötzlich ein lautes Geräusch. Es hörte sich an, als ob sich ein Baby aus der Welt schrie.
Simon sprang aus seiner Hängematte und lief zum Zaun. Zwei Katzen kämpften miteinander wie Gut und Böse. Er schaute zum Haus. Hinter der Gardine des Schlafzimmers zeigte sich der Schatten der Mutter wie der Flügel eines schwarzen, seidenen Schmetterlings. Sein Herzschlag ging heftig. Er hatte Angst, aber er versuchte, den Sternen zu trauen, die sich nun mehr und mehr zeigten. Simon schwang sich zurück in die Hängematte. Mit aufgerissenen Augen lag er da. Mehr und mehr dehnte sich die schwarze Welt um ihn aus, berührte dabei aber auch die kleine Stadt, in der sicherlich noch Licht war. Er verband sich mit dieser Ahnung von Licht.
Wo das Eichhörnchen wohl schlief, das er am Nachmittag gesehen hatte? Gab es Füchse, Waschbären, Ratten, die lauerten und die er nicht sehen konnte? Was um alles in der Welt hatte ihn hier hinausgetrieben? Er dachte an sein warmes, weiches Bett und das Superman-Poster unter der Decke. Superman beschütze ihn. Er sehnte sich nach diesem Schutz. Er hätte abbrechen können, einfach in das Haus gehen, ganz leise, damit die Eltern ihn nicht hören würden, aber er blieb regungslos liegen, in der Sogkraft der Nacht. Er konnte ihr nicht widerstehen, konnte nicht widerstehen, mutig zu sein wie Superman.
Wie spät mochte es sein? Er hatte keine Uhr mitgenommen, aber eine Taschenlampe. Mit der leuchtete er nun gegen den Mond, damit er ihm nicht so ausgeliefert war. Die Zeit bis zum Morgen, die noch vor ihm lag, wuchs zu einem dicken Berg an. Daran ließ sich nichts ändern, wenn man aushalten wollte. Nun versuchte er, die Augen zu schließen, was ihm dann aber vorkam wie Verrat an seiner Situation. Er musste wachsam sein. Man könnte ihn überfallen, aus dem Hinterhalt.
Die Lebensbäume wirkten im Dunkeln wie die Kriegerdenkmäler im Stadtpark. Er leuchtete mit der Taschenlampe in den Garten und durch den Wind. Es änderte nichts. Eine Minute hatte 60 Sekunden. 60-mal mit den Augen zwinkern, dann erst war sie um. Und wie viele Sekunden hatte seine Angst? Er machte sich steif, um ihnen zu widerstehen, dann wieder gab er nach, bis er erlag. Sie waren in der Überzahl, kenterten sein Schiff. Simon ließ sich aus der Hängematte auf den Boden fallen, schnappte sein Bettzeug und lief mit eingezogenem Kopf, wie ein Hund, den man bei etwas Verbotenem erwischt hat, hinüber zum Haus. Er öffnete die Eingangstür. Es roch nach der Wärme der Mutter. Simon schlich die Treppe hinauf zu seinem Zimmer und trat ein. Er hatte es nicht geschafft, aber das Bett war so weich und sicher, nahm ihn auf und stellte sich vor sein Scheitern. Zumindest für den Rest der Nacht.
Am Morgen setzte sich Simon schweigend an den Frühstückstisch. Der Vater schlug mit dem Löffel gegen das Hühnerei.
„Na, Simon, wie war die Nacht im Garten?“, fragte er.
„Schon ganz gut“, sagte Simon in die Masse des Körpers neben sich.
Die Mutter umarmte ihn, umarmte sein schlechtes Gewissen mit ihrer frühzeitig bekundeten Angst. Er hatte abgebrochen. Er hatte versagt, vor dem Vater und seiner Sicherheit. Simon kam sich vor wie ein kleiner Vogel, dessen Stimme heiser geworden war.
„Ich habe dich gehört“, lachte der Vater und Simon schämte sich.
Die Uhr tickte und Simon konzentrierte sich auf das Ticken, um dem Vater auszuweichen.
„Ich wusste, dass du irgendwann angeschissen kommst“, sagte der Vater und strich eine große Portion Butter auf ein Weißbrot, das er anschließend mit zwei Bissen verspeiste.
Simon duckte sich, als bekäme er einen Nackenschlag. Aber das würde der Vater ja nie tun, ihn schlagen. Er sah auf die großen, rissigen Hände des Vaters, der in einer Tischlerei arbeitete. Dorthin war Simon einmal mitgekommen. Er hatte die scharfe, elektrische Säge gesehen, sich vorgestellt, wie der Vater, einmal unachtsam, sich daran verletzte. Immer musste er aufpassen, auf sich und auf die Mutter und auf Simon. Aber wirklich beschützen konnte er sie alle drei nicht. Das spürte Simon.
Die Mutter räumte die Teller vom Tisch. Sie hatte etwas von einem kleinen Segelschiff, das in einen Sturm geraten war. Dabei geschah an diesem Tag gar nichts Außergewöhnliches, über das man sich hätte beunruhigen müssen. Es war ein ganz normaler Sonntag, der einen trägen Anfang und ein träges Ende nahm, auf der Couch aus braunem Kunstleder, vor dem Fernseher.
In der Schule war Simon unaufmerksam. Er konnte sich nur schwer konzentrieren. Ständig flogen ihm die Gedanken weg. Sie waren wie Vögel, die jede noch so kleinste Ablenkung hochtrieb. Wie ein Geist stand die Lehrerin Frau Kling vor ihm und verlangte, was er nicht geben konnte. Dafür hatte er seine Buntstifte gespitzt, sehr sorgsam. Zeichnen konnte er gut. Da lobte ihn Frau Kling. Aber Zeichnen war nur einmal in der Woche.
Am liebsten hätte er nun Pferde gezeichnet, die über eine Weide toben. Er war eines von ihnen, mit einer langen, schönen Mähne. Er galoppierte dem Geist der Lehrerin davon. Doch die Tür des Klassenzimmers war geschlossen. Er war eingesperrt mit 25 Kindern und den Zahlen, die ihn festhielten. Sie waren mächtig, wie sie da an der Tafel standen. Ungefragt rieben sie sich in seine Sinne. Es gab kein Entrinnen. Aber da konnte man machen, was man wollte. Er verstand ihre Sprache nicht.
Noch zwei Stunden musste er über sich ergehen lassen. Dann war Schulschluss. Dann war Freiheit. Auf dem Heimweg breitete Simon die Arme aus und rannte. Er war ein Flugzeug, das nach Indien flog.
Als er zu Hause ankam, saß die Mutter mit ihrem blau geblümten Leinenkleid vor dem Haus. Heute trug sie die schon vorzeitig ergrauenden Haare offen. Strähnig hingen sie herab. Simon störte sich an dieser Veränderung. Sie missfiel ihm. Was hatte die Mutter dazu bewogen, die Haare zu öffnen und sie so strähnig hängen zu lassen? Es sah aus, als wäre sie durch einen heftigen Regen gekommen. Dabei schien die Sonne. Sie starrte auf das Unkraut zwischen den Steinen, als ließe sich daraus eine geheime Botschaft ableiten.
„Mama.“ Simon lief auf sie zu.
Sie sah ihn an und sah durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas. Er rannte in die Küche, um nach den Speisen auf dem Herd zu sehen. Dort stand nichts, aber er hatte Hunger. Die Mutter war ihm gefolgt, in die kalte Küche. Sie war doch verantwortlich, dass Essen da war. Es war doch immer Essen da, am Mittag. Diese Gewohnheit hatte nun einen Riss bekommen, der Simon fassungslos machte.
„Warum gibt es nichts zu essen?“, fragte er.
„Nachher“, sagte sie.
In diesem Wort lag eine Erklärung, auf die man sich einlassen konnte. Vielleicht hatte sie noch nicht eingekauft. Sie sah ihren Sohn an, mit Blei im Blick. Dann ging sie hinauf in das Schlafzimmer und verriegelte die Tür. Simon und sein Hunger standen verlassen im Raum. Er folgte der Mutter und drückte die Klinke der Tür zum Schlafzimmer hinunter, mit seinem ganzen Gewicht. Die Mutter öffnete nicht. Was trieb sie? Simon wurde wütend, gleichzeitig wollte er sie beschützen. Die Tüte Chips fiel ihm ein, die er in seinem Schrank versteckt hatte, weil die Eltern nicht wollten, dass er so ungesundes Zeug aß. Er lief in sein Zimmer und riss den Schrank auf. Er nahm die halb volle Tüte und stopfte sich die Chips in den Mund. Dann lauschte er und dachte: Selber schuld.
Die Mutter. Sie war da und sie war nicht da. Dieses Elend breitete sich über den Flur, bis in sein Zimmer. Die Mutter war doch immer da gewesen, für ihn. Er sehnte sich zu ihr in das Schlafzimmer. Er dachte an die Zugfahrt nach Rügen, im letzten Sommer, als er es nicht schaffte, aus der Toilette herauszukommen, zu den Eltern wollte und es erst ging, als der Schaffner von außen aufschloss. Nun kam kein Schaffner. Die Ruhe im Haus beunruhigte Simon. Es war totenstill, bis der Vater am Abend kam. Als er ihn an der Eingangstür hörte, stürzte Simon die Treppe hinunter und schrie:
„Mama hat sich im Schlafzimmer eingesperrt und mittags gab es nichts zu essen!“
Unten angekommen klammerte er sich am Bein des Vaters fest. Das Gesicht verbarg er im Stoff der derben Arbeitshose, die nach Sägemehl und Unterwegssein roch. Plötzlich öffnete die Mutter die Tür und kam herunter, als wäre nichts gewesen, blickte aber ins Leere wie in einem Traum.
„Was ist los mit dir, Hedi? Warum hat der Junge nichts zu essen bekommen?“, fragte der Vater mit ärgerlicher Stimme.
„Er hätte sich ein Brot machen können. Er ist alt genug. Und Nudeln kann er auch schon kochen“, sagte die Mutter und wirkte, als ob sie innerlich verschwinden würde.
Ein paar Wochen später schien sie ganz verschwunden, als wäre sie durch nichts mehr mit Simon und seinem Vater verbunden. Essen gab es nun immer erst am Abend, wenn der Vater nach Hause kam, der nun kochte.
Simon beobachtete immer häufiger, wie die Mutter mit jemandem redete, der gar nicht da war. Oder sah er ihn nur nicht? War er unsichtbar? Bald war Simon sich sicher, da war ein Ungeheuer im Haus, das die Mutter krank machte. War es ein außerirdisches Wesen, ein Ufo, das sich nur ihr zeigte? Simon wurde immer trauriger. Er wollte die Mutter an die Hand nehmen, aber sie lief auf der anderen Seite der Straße. Sie schien nur noch unerreichbare Erinnerung. Das Haus hatte seine Wärme verloren.
Als er dann eines Tages nach Hause kam, stand die Nachbarin Frau Solms in der Tür, um ihn zu empfangen. Sie beugte sich zu ihm hinunter und sagte:
„Simon, deine Mutter ist heute Morgen in ein Krankenhaus gekommen.“
Die Worte trafen Simon wie Schnee, der auf ein Papier mit Tinte fiel und die Schrift zerstörte. Und der Ernst in dem faltigen Gesicht von Frau Solms trieb ihn für einen Moment durch einen kalten, nassen Wald. Dann fragte er:
„Was ist mit Mama?“
„Deine Mutter ist sehr krank, aber die Ärzte werden ihr helfen. Sie wird wieder gesund, dann ist alles wie früher.“
Konnte man sich darauf verlassen? Das Ufo hat sie krank gemacht. War es noch im Haus?
Frau Solms legte ihre dicken, warmen Hände auf seine Schultern. In diesem Moment erwischte die Katze eine Meise. Simon beobachtete es aus dem Augenwinkel. Er stürmte auf den Rasen. Die Katze hatte den Vogel am Genick gepackt. Er spreizte die Flügel wie einen Fächer, um sich zu befreien. Schönheit und Tod mischten sich in dem Anblick. Simon schlug auf die Katze ein, damit sie ihre Beute fallen ließe. Doch je mehr er schlug, umso mehr verbiss sie sich in dem Vogel, bis sie mit ihm schließlich das Weite suchte. Sie verschwand und Simon hielt noch den Tod in seinen kleinen Fäustchen. Frau Solms kam zu ihm.
„Lass die Katze, das ist die Natur“, sagte sie.
Die Mutter zeigte sich nun nicht mehr, war in diesem Krankenhaus, in das man ihn nicht mitnehmen wollte. In seinem Kopf hatte es dicke, feste Mauern, wie eine Burg, die sich nicht einnehmen ließ. Er zeichnete für die Mutter Bilder von Schwänen, die der Vater mitnahm, wenn er sie besuchte. Der Vater hatte Zugang zu dieser Welt, die aus Ferne bestand – Zugang, weil er erwachsen war. Für Kinder sei das kein Ort, sagte er. Die Mutter haftete stumm nur in seiner Erinnerung, und Simon hatte das Gefühl, in einem Haus zu leben, in dem die Fenster immer offen standen. Auch im Winter würden sie offen stehen. Wann war Winter? Vielleicht kam die Mutter mit dem Winter zurück, mit dem ersten Schnee? Dann würde er die Fenster wieder schließen, damit sie es warm hatte.
Mit jeder Woche, die verging, wurden die Mauern der Burg, in der die Mutter lebte, mächtiger. Simon trommelte dagegen im Traum, trommelte gegen den Herbst, damit aus ihm Winter wurde. Manchmal schrieb die Mutter ihm Briefe. Aber weil ihre Schrift so krakelig war, musste der Vater sie vorlesen. Dann gab es immer einen Mitwisser und die Mutter bekam etwas Offizielles.
Simon sah aus dem Fenster des Wohnzimmers von Frau Solms, zu der er immer nach der Schule gehen sollte, bis der Vater kam. Die Blätter fielen aus den Bäumen, als würden die Bäume die Haare verlieren. Frau Solms hatte einen gelben Kanarienvogel. Sein Gezwitscher zerbrach das Dunkel des Zimmers, sodass Simon es ertragen konnte. Dennoch wurde er bei ihr immer noch trauriger, wenn er auf dem Sofa zwischen den mit Kirschen bestickten dicken Kissen saß.
Er verglich Frau Solms mit seiner Mutter in allem, was sie tat. Die Unterschiede machten den Verlust nur noch schmerzlicher. Wenn sie Kinder gehabt hätte, wäre es vielleicht einfacher gewesen. Aber Frau Solms hatte keine. Und es störte ihn, dass er sich nach zwei Monaten an ihren Geruch nach Lavendel so gewöhnt hatte, dass er sich an jenen der Mutter gar nicht mehr erinnern konnte.
Widerwillig machte er bei ihr seine Schulaufgaben. Frau Solms, die selber viele Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, begleitete ihn. Das war anstrengend. Sie schaute ihm auf die Finger, verfolgte seine Schrift und die Spuren seines Denkens wie ein Adler, der dicht über seiner Beute flog und doch nicht zufasste. Als Simon fertig war, holte sie das Halmaspiel aus der oberen Schublade des Eichenschranks, breitete das Brett auf dem Tisch aus und brachte die Figuren in Position. Immer nahm sie Schwarz. Sie war die dunkle Königin. Simon bevorzugte Grün. So standen sie sich gegenüber, die kleinen Figuren in ihrem Netz aus Besorgnis, wie das andere Feld zu erreichen sei und alle Schäflein ins Trockene zu bringen wären. Wenn Simon das vor Frau Solms gelang, bekam er Karamellbonbons. Die machten ihn zum Jäger. Auf der Jagd vergaß er, dass die Mutter ihn allein gelassen hatte.
Am Morgen eines Montags im Februar dann sagte der Vater zu Simon: „Am Wochenende kommt Mama wieder nach Hause.“
Wie Sonnenstrahlen durchdrangen Simon diese Worte. Aber er war empfindlich geworden gegen ihr Licht, auch als sie plötzlich vor ihm stand. Der Vater hatte einen Strauß weiße Rosen auf den Holztisch des Wohnzimmers gestellt. Er half ihr aus einem dicken, dunkelblauen Mantel, den Simon nicht kannte. Sie zog die Mütze vom Kopf. Die Haare waren abgeschnitten. Sie sagte nichts und Simon stand bewegungslos da. Im Wechsel blickte er mal zur Seite, mal zu ihr. Plötzlich stürmte er auf sie zu und umarmte sie, umarmte auch die gewachsene Fremdheit und die Zeit, die sie verloren hatten. Der knochige Leib der Mutter schien in ihn sinken zu wollen in diesem Moment. Mit beiden Händen strich sie ihm über die braunen Locken, ordnete sie mit schnellen, fahrigen Bewegungen, als hätte ein herber Wind seine Haare zerzaust. Immer noch schwieg sie. Hatte sie ihre Sprache verloren? Hatte man ihr die Sprache genommen in der Burg? Er löste sich aus der Umarmung und sah sie an, sah in ihre braunen, kleinen Augen, die nun wirkten, als schliefe sie.
„Simon, mein Kleiner“, sagte sie nun endlich. Es klang, als stünde sie am Ende einer großen Halle, aus der sie diese Worte rief.
So lange hatte er auf diesen Tag gewartet, der nun zu versagen schien, die Wünsche, die das Sehnen nach ihm begleitet hatte, offenbar ignorierte. Verloren stand Simon da, allein mit der Vorstellung von seiner Mutter, so wie sie ihn verlassen hatte. „Hedi, komm, setz dich!“, sagte nun der Vater und schob die Mutter in Richtung Stuhl, der leer geblieben war seit dem letzten Sommer.
Die Mutter nahm Platz und glättete vor sich die Falten, die sich in die Tischdecke gelegt hatten. Endlich etwas Gewohntes, eine gewohnte Handbewegung, die Simon Mut machte, dass doch wieder alles so werden würde wie früher.
Über die Zeit in der Klinik wurde nicht geredet. Die Ereignisse um das Ufo blieben nach wie vor offen. Und Simon traute sich auch nicht nachzufragen. Die Mutter war wieder gesund – reichte das nicht? Nur weshalb musste sie immer diese Tabletten nehmen? Kranke nehmen Tabletten und Leute mit Schmerzen. Im Badezimmer lagen diese weißen Pillen in einer Schachtel, auf die mit schwarzem Filzstift „Mama“ geschrieben stand wie eine Warnung. Und Simon spürte, dass der Außerirdische weiter um das Haus schlich. Das war hier kein sicherer Ort, und der Vater konnte sie ja nicht beschützen, ihn und die Mutter und sich selbst.
An diesem Tag war Simons 18. Geburtstag. Sie gingen zum Fluss. Er, Schwalbe und Fin. Sie hatten Bier im Rucksack, eingetupperte Torte und Gras. Zu Hause bei Simon konnten sie nicht feiern, die Mutter hatte wieder einen ihrer Schübe, war wieder verrückt geworden. Sie brauchte Ruhe, stand wieder vor dem Felsen, von dem sich Simon am liebsten in die Tiefe gestürzt hätte. Aber das verriet er keinem, behielt es lieber für sich, in seinem Zimmer, das der Vater neu gestrichen hatte. Das war sein Geburtstagsgeschenk. Alles darin war jetzt hell, schien sich neu zu formen.
Am Ufer des Flusses setzten sie sich in den Sand. So früh im Jahr war er noch feucht und kalt. Schwalbe zog die Kapuze seines Pullis über die roten Haare und sagte: „Na, und Wehrdienst? Du bist nun 18. Verweigerst du nach der Schule? Also ich auf jeden Fall.“
„Hab einen Herzfehler“, grinste Simon, „die kriegen mich ohnehin nicht.“
„Dann bist du fein raus.“ Schwalbe grinste, öffnete den Rucksack und suchte darin nach etwas.
„Lasst uns Feuer machen“, sagte er.
„Super Idee“, stimmte Fin ihm zu und sah zu Simon. Feuer zu machen hatte der Vater Simon schon früh beigebracht, damit er auf eigenen Beinen stand. Es war, als läge im Feuermachen eine Erkenntnis, die ihn nach vorn getrieben hatte. Dass er in der Lage war, etwas zu erschaffen, vor dem er sich gleichzeitig hüten musste.
Sie standen auf und liefen zur angrenzenden Weide, um Äste und trockene Gräser zu sammeln. Simon fand noch eine alte, vergilbte Zeitung, die im Stacheldraht hängen geblieben war. Ohne die wäre es ohnehin schwer geworden, das Feuer in Gang zu bringen. Er sah hinüber zum Fluss. Die Sonne verteilte Schönheit auf dem Wasser, von der er sich vorstellte, dass sie nur ihm galt, heute an seinem Geburtstag.
Sie hatten genug gesammelt, gingen zurück an den kleinen Strand und legten die Zeitung auf den Boden. Dann brach Simon die Äste in kleine Stücke und platzierte sie darüber. Dazwischen stopfte Fin kleine Büschel der trockenen Gräser. Schwalbe warf Simon ein Feuerzeug zu. Simon entzündete das Papier an mehreren Stellen: Rasch fraß sich das Feuer in die Gräser, dann in die Äste und dann in die Angst, die Simon im Magen trug wie ein eisiges Geschwür. Aber hier am Fluss war er stark. Fin ließ eine Feder in die Flammen fallen. Sie hatte im Sand gelegen wie aus einer anderen Zeit.
Als Geburtstagskind war es nun an Simon, den Joint zu bauen. Am Morgen hatte er in der Raucherecke das Gras von Bobby besorgt. Bobby ging nachts immer auf Friedhöfe. Warum tat er das? Einmal war Simon mitgekommen. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und auf die schwarzen Grabsteine gestarrt. Ganz ruhig war der Tod geblieben. Die Illusion von Werwölfen, auf die ein fahles Mondlicht fiel, hatte sie dann aber doch von diesem Ort vertrieben.
Ziemlich dick war Simon die Tüte geraten, an der er nun als Erster zog, bevor er sie weiterreichte wie einen Triumpf. Die Freunde schwiegen, rauchten und warteten die Wirkung ab. Allmählich begann sich die Schwere in der Gestalt von Simons Leben zu zersetzen, verlor sich im aufkommenden Wind über dem Wasser. Das Knistern des Feuers schillerte in den Himmel. Fin begann zu lachen. Simon sah in sein blaurotes Gesicht. Ein Schwarm Krähen stieg auf in einen Baum. Nun lachte auch Simon. Schwalbe warf sich mit dem Rücken in den Sand und schloss die Augen wie nach einem Orgasmus. Simon ging vor bis zum Fluss. Darin spiegelte sich seine Existenz in mehreren Schichten. Lange saß er so davor, bis er sich mit dem Sinken der Sonne immer fremder vorkam. Die Wirkung des Grases ließ nach wie ein Lied, das zu Ende ging, und wieder war sie da, die Angst, die sich mit feinen Zeichen in ihn ritzte.
Nun waren sie hungrig. Im Dunkeln aßen sie mit den Händen die Torte. Im letzten Jahr hatten sie noch Kerzen gehabt zum Auspusten und Wünschen. Dieses Siegel fehlte nun, hier in freier Natur. Simon biss in die Freude von damals. Aber das reichte nicht. Es reichte nie.
Als er nach Hause kam, war schon kein Licht mehr im Haus. Die Eltern und die Krankheit der Mutter waren bereits schlafen gegangen. Geblieben war nur die Einsamkeit zweier leerer Gläser auf dem Wohnzimmertisch.
Leise ging Simon hinauf in sein Zimmer. Er zog den Zeichenblock aus dem Regal, griff nach dem Bleistift und legte sich mit beidem auf das ungemachte Bett. Den Linien, die nun auf dem Blatt landeten, fehlte noch die Bestimmung. Die ergab sich erst im Fortgang der Zeichnung, wenn die Fantasie sich einmischte, mit ihren Gesichtern. Simon genoss diese anfängliche Unbestimmtheit. Alles war möglich. Die Linien kamen aus dem Nichts. Sie kamen aus der Freiheit. Aber die Freiheit brauchte eine Form, damit sie anerkannt wurde. Aus diesem Moment der Besorgnis fand er sie, zeichnete er seine Fantasietiere und -städte. Das Zimmer war voll mit diesen Zeichnungen. Überall lagen sie herum, auf Schreibtisch und Boden, und sie zierten die Wände, notdürftig mit Tesastreifen angeheftet. Eines Tages würde er seine Sachen packen und fortgehen. Niemand wüsste, wohin. Dann würde man seine Zeichnungen entdecken, die dem Vater unverständlich waren und die Mutter ängstigten, weil sie alles ängstigte, was Raum und Zeit verlor. Man würde nach ihm suchen, weil seine Zeichnungen etwas Besonderes waren. Irgendwann glitt ihm der Bleistift aus der Hand und er schlief ein.
Am Morgen schrillte erbarmungslos der Wecker. Simon erwachte unruhig. Irgendein Traum hatte in ihm getobt wie ein wildes Tier. Er konnte sich nicht mehr erinnern an das Tier. Aber nun war er Schatten. Es hatte ihn niedergerungen. Dazu gehörte ja nicht viel. Er bestand aus Schwäche, die sich jeden Tag im Leben verteilte. Simon stand auf und ging zum Fenster. Über dem Garten lag ein dichter Nebel. Seine Undurchsichtigkeit hatte etwas Sinnliches. Er dachte an Nadine, die Neue, die Schöne. Zwei Reihen vor ihm saß sie im Geschichtskurs. Sie roch nach Sonnenmilch. Sie kam gerade vom Strand. So stellte er es sich immer vor, in seiner Fantasie, wenn sie sich auf ihren Platz setzte.
Simon ging hinüber ins Bad, um zu duschen, wie jeden Tag. Das warme Wasser, das über seinen Körper strömte, klärte vieles in ihm vorübergehend. Dann trocknete er sich mit einem vom vielen Waschen schon ziemlich harten Badetuch ab. Am Frühstückstisch waren sie nur zu zweit, der Vater und er. Die Mutter schlief noch. Simon genoss ihre physische Abwesenheit. Zurzeit war es anstrengend, ihr zu begegnen. Diese ewige Rücksichtnahme auf ihren Zustand, ihre Irre, zu der man keinen Zugang hatte. In der Zeit der Schübe lebte sie ganz in ihrer Welt und war obendrein zugedröhnt mit einer Höchstdosis an Medikamenten, eine Wachsfigur, die bleich durch das Haus schlich, mit einem Geist, der sich von seinem Körper gelöst hatte. Dann waren sie Mutter und Sohn und Tod. Wenn der Schub vorbei war, war wieder alles normal. Sie stand früh auf, webte sich in ihren Alltag, auch wenn er ihr zunächst Mühe machte. Die Intervalle zwischen den Schüben allerdings wurden kürzer.
„Wie geht es ihr?“ Wie oft hatte er in seinem Leben diese Frage gestellt. Dem Vater und sich selber. Weder der Vater noch er würden jemals eine zufriedenstellende Antwort darauf finden. Dennoch stellte Simon diese Frage aus einem Mechanismus heraus der über viele Jahre eingeübt war und die Familie an solch einem Morgen vorantrieb.
Der Vater saß vor ihm wie ein gebrochener Ast, der es aufgegeben hatte zu blühen.
„Sie ist früh eingeschlafen“, sagte der Vater. Mit dieser Antwort betrog er die Bedenken. Simon und er konnten nur mit diesem Betrug leben.
„Na, dann ist es ja gut“, sagte Simon und schüttete sich Milch in die Schale mit Cornflakes. Er musste sich beeilen, damit er nicht wieder zu spät kam. Das geschah in letzter Zeit häufiger. Was hielt ihn auf?
Simon zog sein Fahrrad aus dem Schuppen. Nun war es schon fast hell um diese Zeit. Der Nebel war geblieben. Simon liebte ihn, weil er verbarg – auch das, was verletzte.
Im Fahrradkeller der Schule traf er auf Fin, der sehr groß war und ihn um einen Kopf überragte.
„Hey, Simon. Ich kauf’ mir heute neue Goldfische für mein Aquarium. Kommst du nachher vorbei?“
„Klar, interessiert mich. Kann ich von dir Mathe abschreiben?“, fragte Simon.
„Natürlich“, sagte Fin, zog eine rote Plastikmappe aus seiner Schultasche und übergab sie Simon, der sich in dieser Sache immer auf ihn verlassen konnte.
Fin fiel alles zu, er hatte ein fotografisches Gedächtnis. Das hätte Simon auch gerne gehabt, aber er konnte froh sein, wenn er mal eine Drei mit nach Hause brachte. Dem Vater war das eigentlich egal. Daheim hatten sie andere Sorgen. So jedenfalls würde er das Abi nie schaffen, hatte Frau Marquardt, die Geschichtslehrerin, gesagt. Und er hatte ja schon einmal wiederholt. Thomas Mann hatte kein Abitur, sagte der Deutschlehrer. Das beruhigte. Studieren wollte er sowieso nicht, das war nicht seine Sache. Thomas Mann hatte auch nicht studiert, nur geschrieben. Und Simon wollte nur zeichnen.