Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger - E-Book

Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi E-Book

Thomas Kanger

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Beschreibung

Eine Kommissarin, zwei Morde und Spannung pur: Für die charmante Kommissarin Elina Wiik ist es der zweite Fall. In ihrer Heimatstadt Vasterås wird ein Kommunalpolitiker erschossen. Wenig später wird auch in Göteborg ein Industrieller erschossen aufgefunden. Schon bald steht fest: Zwischen beiden Morden gibt es einen Zusammenhang. Elina Wiik jagt den gleichen Täter. Für die Kommissarin und ihr Team beginnt die zermürbende Suche nach dem Tatmotiv. Denn was könnten zwei so unterschiedliche Männer gemeinsam haben? Wie sich herausstellt, teilten die beiden eine ganz besondere politische Vergangenheit. Und je weiter der Deckmantel ihrer sozialdemokratischen Rechtschaffenheit gelüftet wird, umso tiefere Abgründe tun sich darunter auf ... -

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Thomas Kanger

Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi

Saga

Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi

ÜbersetztAngelika Kutsch Copyright © , 2019 Thomas Kanger und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726350944

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1

Es ist mir eine große Freude, euch alle hier zu sehen.«

Sein Blick glitt über die Versammlung. Sechsundsiebzig Personen saßen und standen in dem viel zu kleinen Raum oder lehnten an den Wänden.

Aller Aufmerksamkeit war in diesem Moment auf Wiljam Åkesson gerichtet. Ihm zu Ehren waren sie hier.

»Ich habe niemals persönlichen Gewinn aus meiner Tätigkeit zu ziehen versucht, das kann ich aufrichtig behaupten. Auch wenn ich nicht gerade leer ausgegangen bin.«

Er lachte und das Publikum lachte mit ihm.

»Meine Belohnung war die Freude zu sehen, wie sich der Wohlstand entwickelt hat. Zu erleben, dass es den Menschen besser geht. Die vergangenen Jahrzehnte sind nicht nur positiv gewesen, das muss ich natürlich zugeben. Es hat Kosten verursacht, die Säulen der Solidarität zu erhalten, die Basis, auf die sich unsere Gesellschaft stützt. Manchmal, glaubt mir, war es schmerzhaft, Einsparungen zu beschließen. Bei so mancher Entscheidung habe ich mich sehr unwohl gefühlt. Aber ich habe aus Überzeugung gehandelt und zum Wohl aller und für die Zukunft kommender Generationen entschieden.«

Das Publikum applaudierte verhalten.

»Wenn ich meinen Posten jetzt verlasse, möchte ich mich bei einigen von Ihnen ganz besonders bedanken. Alle kann ich nicht erwähnen. Wenn ich also einige Namen auslasse, geschieht das nicht absichtlich oder aus Geringschätzung. Es ist lediglich ein Zeichen dafür, dass so viele von Bedeutung waren für das, was wir erreicht haben. So groß ist die Zahl derer, die mich unterstützt haben, dass es unmöglich ist, jeden Einzelnen zu nennen.«

Er stand auf einem Podium, etwa einen halben Meter über dem Boden. Von unten gesehen wirkte er mächtig. Mehr als einsneunzig groß und mit einem Bauch, der in den letzten fünfundzwanzig Jahren beträchtlich zugenommen hatte, sodass das Jackett seines Maßanzugs aufsprang. Sein zurückgekämmtes Haar war weiß, aber immer noch voll. Seine Nase ähnelte der eines römischen Heerführers.

»Aber diese will ich doch nennen: Ragnar Sundstedt, Sixten Eriksson, Karl-Axel Svensson. Sie haben mir stets den Rücken gestärkt und eine Loyalität bewiesen, die ich persönlich ganz außerordentlich schätze.«

Wiljam Åkesson stieg vom Podium. Er ging nach links und reichte allen am Tisch die Hand. Die Sitzenden erhoben sich einer nach dem anderen und ergriffen seine Hand. Dann winkte er denen zu, die standen. Ragnar Sundstedt, äußerlich der krasse Gegensatz zu Åkesson, klein, dünn und fast kahl, blieb neben seinem Stuhl am Podium stehen, nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten.

»Ein vierfaches Hoch auf den frisch gebackenen Pensionär!«, rief er. »Hurra, hurra, hurra, hurra!«

Den Hochrufen folgte donnernder Applaus. Anna-Margareta Nilsson ging auf Wiljam Åkesson zu.

»Ich bin froh, deine Sekretärin gewesen zu sein«, sagte sie. »Ich bin kein Mensch großer Worte, aber ich muss sagen, dass es wirklich nicht schwer war, alle im Rathaus zu einem Beitrag für das Abschiedsgeschenk zu überreden. Du hast der Kommune in all den Jahren treu gedient, und jetzt sollst du die Chance haben, deinen Horizont zu erweitern. Ich wünsche dir Glück und hoffe, dich auch in Zukunft häufig zu sehen. So wie ich dich kenne, wirst du dich nicht lange ausruhen, obwohl du es verdient hättest.«

Sie umarmte Åkesson und überreichte ihm ein Kuvert, das er mit übertriebener Geste drehte und wendete, ehe er es öffnete und den Inhalt herausnahm.

»Eine Reise nach China«, rief er aus. »Fantastisch! Ich danke euch allen von ganzem Herzen. Na dann vielleicht bis zu den Olympischen Spielen in Peking?«

Er sah demonstrativ auf die Uhr.

»Aber die findet ja erst in sechs Jahren statt. So lange lebe ich wohl nicht mehr!«

»Doch, doch, Unkraut vergeht nicht«, ertönte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes, gefolgt von Gelächter.

»Na, ich glaube, ich reise eher. Nochmals danke!«

Im selben Moment schlug die Rathausuhr fünf. Alle applaudierten noch einmal und schickten sich an zu gehen.

»Soll ich dich fahren?«, fragte Ragnar Sundstedt.

»Danke, Ragnar«, sagte Wiljam Åkesson. »Aber ich glaube, ich möchte das Ganze während eines Spaziergangs verdauen.«

Wiljam Åkesson entschied sich, das Rathaus durch den Haupteingang zu verlassen, der zum Fiskartorget und Svartån hinausging. Er blieb eine Weile auf der Treppe stehen und schaute zur Grotte der Winde, Eric Grates Statue, an die er oft gedacht hatte, wenn die Wogen über seiner Person zusammenschlugen. Dann warf er noch einen raschen Abschiedsblick zum goldenen Stier auf seinem Sockel. Er hatte wahrhaftig das Seine für die Kommune von Västerås getan.

Auf dem Heimweg wurde er mehrere Male von Einwohnern der Stadt aufgehalten, die ihm die Hand drücken wollten, und es war Viertel vor sechs, als er den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte. Er bückte sich, hob die Post auf und warf sie auf den Couchtisch, ohne nachzusehen, was sie enthielt. Stattdessen griff er nach der Länstidningen, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. »Wiljam Åkessons politisches Erbe« lautete die Überschrift auf der ersten Seite. Sein Bild ging über drei Spalten; allein sein Lächeln war fast eine ganze Spalte breit.

Er schaute kurz auf das Foto, bevor er die Zeitung zurücklegte. Dann drehte er sich zu den gut gefüllten Bücherregalen um.

Er zog ein Buch heraus, es war der dritte Teil einer Biographie über Per Albin Hansson.

Eine ganze Weile stand er still da und las. Plötzlich erstarrte sein Körper. Sein Blick wurde unbestimmt und hob sich langsam von den Zeilen.

Mit einer zögernden Bewegung sah er sich im Zimmer um. Nichts kam ihm verändert vor. Seine Augen blieben an einem gerahmten Gemälde von Albin Amelin hängen, einer Radierung, die er vor mehr als zwanzig Jahren für knapp tausend Kronen gekauft hatte.

Abrupt ließ Wiljam Åkesson das Buch zu Boden fallen. Mit wenigen raschen Schritten war er beim Fenster neben dem Amelin-Bild und tastete nach dem Griff. Es war geschlossen. Er wandte sich hastig um. Die Küchentür war zu, obwohl er doch immer alle Türen im Haus offen ließ.

Er verharrte mehrere Sekunden regungslos. Auf einem kleinen Intarsientisch zwei Meter von ihm entfernt stand ein schwarzes Telefon.

Bevor er es erreichte, wurde die Stille von einem schwachen, metallischen Klicken unterbrochen.

2

Elina Wiik erwachte mit einem Ruck in dem breiten Bett in ihrer Wohnung auf dem Oxbacken.

Auf diesen Tag hatte sie sich gefreut. Aber sofort breitete sich wie eine Schockwelle das Gefühl von Einsamkeit in ihr aus. Wahrscheinlich hatte sie schlecht geträumt. Sie richtete sich auf, um das Gefühl rasch loszuwerden.

Sonnenlicht tröpfelte herein. Es würde ein schöner Spätsommertag werden.

Plötzlich war aller Missmut verschwunden.

Ich muss den Posten bekommen, dachte sie. Selbstverständlich bekomme ich ihn. Die wissen doch, was zu ihrem Besten ist. Alles andere wäre unangemessen.

Sie richtete sich auf und betrachtete sich im Spiegel, der die ganze Wand bedeckte. Sie hatte ihn vor zehn Jahren, als sie die Wohnung bezog, und eine Woche, bevor sie als Assistentin bei der Polizei anfing, in ihrem jugendlichen Übermut aufgehängt.

Ich werde ihn abnehmen, dachte sie, bevor ich einen Grund dafür habe.

Eine Stunde und zweiundzwanzig Minuten später betrat sie das graue Betongebäude neben dem Stadttheater auf der Västgötegatan, eine andere Spielbühne für menschliche Schicksale in Västerås. Es war achtunddreißig Minuten vor dem regulären Dienstbeginn, und Elina fragte sich, warum sie sich aus freien Stücken quälte. Die Mitteilung würde erst um acht Uhr erfolgen. Sie würde von Oskar Kärnlund, ihrem Chef, bei der Morgensitzung gemacht werden.

Langsam stieg sie die Treppe hinauf, zog die Erkennungskarte durch den Leser, öffnete die Tür und betrat ihren Korridor. Die vierte Tür rechts führte in ihr Büro. Auf einem Schild stand Krim. Ass. Elina Wiik.

Noch, Elina, noch, dachte sie.

Sie setzte sich und schaltete den Computer ein. Drei neue E-Mails. Sie öffnete keine von ihnen.

Elina drehte sich auf dem Bürostuhl um und nahm ein Kuvert aus einem Schrank hinter sich. Sie zog einen Zeitungsausschnitt mit der Überschrift »IT-Polizei: So löste sie den Suramord« heraus. Auf dem Ausschnitt zeichneten sich Fingerabdrücke in der Druckerschwärze ab, und das Papier war lappig geworden, obwohl es noch nicht einmal ein Jahr alt war. Das Bild von ihrem lächelnden Gesicht reichte über vier Spalten. Ihre grün gesprenkelten Augen, der breite Mund und die dunklen, kurz geschnittenen Haare bildeten eine wunderbare Einheit.

Ein gutes Bild, dachte sie. Auf dem sehe ich besser aus als in Wirklichkeit.

Sie hatte den Text schon unzählige Male gelesen und tat es jetzt noch einmal. In der Einleitung stand, dass, soweit bekannt war, zum ersten Mal in Schweden ein Polizist einen Mord mit Hilfe von E-Mails gelöst hatte.

Elina legte den Ausschnitt beiseite und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Wie verwirrend sie gewesen war, ihre allererste Mordermittlung. Man hätte ihr, unerfahren wie sie war, nie die Verantwortung dafür übertragen, wenn das Ganze nicht mit einem trivialen Verschwinden begonnen hätte.

Hoffentlich setzt man mich bald wieder ein, dachte sie. Falls überhaupt ein neuer Mord geschieht, korrigierte sie sich, fast so, als ob jemand ihre Gedanken hören konnte.

Sie wusste, dass die Chance gering war. In Västmanland passierten kaum mehr als drei, vier Morde im Jahr. Und bei der Mehrzahl handelte es sich um Morde, die im Suff begangen wurden: Jemand erschlug oder erstach einen Bekannten bei etwas, das die Zeitungen »Alkoholgelage« nannten. Fälle, die umgehend gelöst wurden. Der Täter konnte sich in der Regel kaum noch an das Geschehen erinnern, die Indizien waren meistens eindeutig. Es kam sogar vor, dass man den Täter mit der Mordwaffe in der Hand schnappte, an der noch die Blutspuren von Opfer und Mörder klebten.

Außerdem war sie kaum an der Reihe für etwas so Interessantes wie die Ermittlung in einem Mordfall. Die Schlange der Kollegen war lang. Die meisten von ihnen waren Kriminalinspektoren und sie war ja bisher immer noch Assistentin.

Noch, dachte sie.

Drei Minuten vor acht. Sie erhob sich und ging in den Korridor.

»Na, dann viel Glück«, hörte sie eine Stimme hinter sich, kurz bevor sie den Konferenzraum erreichte.

»Danke, John«, antwortete sie mit einer raschen Drehung des Kopfes.

Pünktlich auf die Minute um acht Uhr eröffnete Oskar Kärnlund die Besprechung.

»Bevor wir mit der Arbeit beginnen, haben wir einige Punkte zu besprechen«, sagte er. »Ich möchte mit einer Ankündigung beginnen.«

Er nahm ein Blatt Papier aus einer Mappe, setzte sich die Lesebrille auf und schaute nach unten. Elina hielt den Atem an.

»Das Präsidium der Reichspolizei hat Polizeiassistentin Elina Wiik zur Inspektorin der Kriminalabteilung im Västeräsdezernat von Västmanland ernannt.«

Er erhob sich, ging zu Elina, die ihrer Gewohnheit gemäß am anderen Ende des Tisches saß, und reichte ihr die Hand.

»Ich gratuliere.«

Elina atmete aus, als sie Kärnlunds Hand ergriff.

»Danke«, sagte sie matt.

»Alle anderen, die einen Antrag gestellt haben, bekommen beim nächsten Mal eine Chance«, sagte Kärnlund und wandte sich den Anwesenden am Tisch zu, von denen zwei ihr Bestes taten, um ihre Enttäuschung zu verbergen.

Elina erinnerte sich nicht mehr, was danach besprochen wurde. In ihrem Dienstraum lag ein ganzer Stapel von Ermittlungsberichten und verlangte Aufmerksamkeit. Aber ihr war klar, dass es ihr nicht gelingen würde, sich darauf zu konzentrieren, jedenfalls nicht an diesem Vormittag. Einige ihrer Kollegen hatten schon den Kopf zur Tür hereingesteckt und ihr gratuliert. Auf dem Tisch stand ein Blumenstrauß mit einer Karte darin. Sie fingerte an der Karte herum, ohne recht wahrzunehmen, was darauf stand.

Ich mache einen Spaziergang durch den Vasapark, dachte sie. Und trinke eine Tasse Kaffee in der Stadt.

Das Laub war dunkler geworden, aber es würde noch einige Wochen dauern, bevor es sich gelb färbte. Obwohl der Vasapark mit seinen großen alten Eichen und Kastanien so stattlich und außerdem die einzige grüne Oase der Stadt war, schien er als Ort der Erholung auffallend wenig beliebt zu sein. Die Bewohner von Västerås benutzten ihn meistens als Abkürzung zum und vom Bahnhof. Die, die gern im grünen Gras saßen, um frische Luft zu tanken und vielleicht einen mitgebrachten Imbiss einzunehmen oder über die Mysterien des Lebens nachzugrübeln, gingen lieber zum Djäkneberg. Aber es gab Ausnahmen.

»Hallo, Baby!«, rief ein Mann, der auf einer Bank unter der Büste von Gustav Vasa saß.

Elina drehte sich um und sah drei Männer in verschlissener Kleidung und mit strähnigen Haaren zu ihr herüberschauen. Auf dem Boden vor ihnen stand eine Tüte mit einer Plastikflasche und mehreren Dosen.

»Komm, setz dich zu uns, wenn du ein bisschen Spaß haben willst«, sagte der Mann, der in der Mitte der Bank saß.

Er sah wie mindestens fünfzig aus und schien damit der Jüngste in der Runde zu sein.

Elina lächelte sie strahlend an.

»Gern! Eine solche Einladung kriegt man nicht alle Tage. Aber vielleicht sollte ich der Ehrlichkeit halber verraten, dass das Baby Polizistin ist.«

Der Mann schnaubte und lehnte sich zurück.

»Ich hab aber auch immer Glück«, sagte er und nahm einen Schluck Bier.

Elina lachte und ging weiter. Der Mann, der sie angesprochen hatte, begann sich mit seinem linken Banknachbarn zu unterhalten. Sie hatten bereits das Interesse an ihr verloren.

Der andere Mann an der Seite des Aufdringlichen saß schweigend da. Er kratzte sich langsam an der Wade und folgte Elina mit dem Blick, bis sie am Ende des Parks unter dem Gewölbe des Rathauses verschwand.

3

Olli! Mach auf!«

Der Mann hämmerte gegen die Tür.

»Mach endlich auf, Mensch! Ich weiß, dass du da bist. Ich bin’s doch. Ich brauch was. Olli!«

Gegenüber wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet.

»Machen Sie bitte nicht so einen Krach«, bat eine Frau hinter der Sicherheitskette.

»Zieh deine Visage zurück, bevor ich sie dir einklemme, du blöde Kuh!«, zischte der Mann und hämmerte weiter.

Schnell schloss die Frau die Tür.

»Olli, du alter Säufer!«, brüllte der Mann. »Wie viele Male hab ich dich schon freigehalten? Sei ein Kumpel. Mach endlich auf!«

Nach einer Weile gab der Mann auf und torkelte die Treppen hinunter.

In der kleinen Wohnung war es ganz still. Das Fenster war geschlossen, und obwohl es keine Vorhänge gab, drang kaum Sonne herein. Das Radio war ausgeschaltet und die alte Stereoanlage war schon seit einem halben Jahr kaputt. Olavi Andersson saß mitten im Zimmer auf seinem einzigen Stuhl. Das Bett in der Ecke besaß er schon seit seiner Jugend. Es war ungemacht und das Bettzeug schmutzig. Die Couch hatte er von seiner Mutter bekommen. Ein Couchtisch, gebraucht für fünfzig Kronen erworben, war vollgemüllt mit Zeitungen, Bierdosen, Flaschen, leeren Gläsern, einem übervollen Aschenbecher und Abfall, der sich seit längerer Zeit angesammelt hatte. Auf dem Küchentisch, den ein früherer Bewohner hinterlassen hatte, stand ein Teller mit eingetrockneten Makkaroni und einer halben Scheibe Fleischwurst. Und noch mehr Gläser. Die Fensterbank war von Staub bedeckt. In der Spüle stapelten sich Teller, Töpfe und Gläser. Der Herd war mit Nudeln und Fett beschmiert. In einer Ecke auf dem Fußboden klebten noch die Reste von nachlässig aufgewischtem Erbrochenem.

Dir werde ich die Tür nie wieder öffnen, dachte er.

Olavi Andersson langte nach einer Schachtel Zigaretten auf dem Couchtisch und nahm die letzte heraus. Er stand auf und ging zum Fenster. Auf dem Hof spielten drei Kinder mit einem Ball. Er folgte dem Ball mit den Augen und führte die Zigarette in regelmäßigen Abständen zum Mund. Seine Hand zitterte.

Es fängt schon an, dachte er. Soll ich den leichten Weg wählen oder den schweren?

Er ging in die Küche und hob einen Kanister hoch, der auf dem Fußboden stand. Ohne Zögern kippte er den ganzen Inhalt in den Ausguss. Dann öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Flasche Zider heraus. Er schraubte den Plastikverschluss ab und machte einen Schritt zur Seite, zurück zum Ausguss. Er zögerte einige Sekunden, dann goss er den ganzen Inhalt aus.

Vielleicht sterbe ich, dachte er. Aber das ist die einzige Möglichkeit.

Er kehrte ins Zimmer zurück, glättete das Bettzeug und legte sich darauf, ohne seine Schuhe auszuziehen. Zwei Stunden später kam der erste Schüttelfrost. Er legte Zeigefinger und Mittelfinger an seinen Hals und fühlte seinen Pulsschlag, während er den Sekundenzeiger der Armbanduhr im Auge behielt.

Schon hundertvierzig, dachte er, als er die Hand nach einer Minute wegnahm. Bei hundertachtzig sterbe ich.

Die Haut am Hals war empfindlich. Die Nervenbahnen schienen langsam nach außen gekrochen zu sein wie Würmer aus feuchter Erde. Er versuchte die Gedanken abzustellen und zu schlafen. Sein Körper wurde taub und er versank in einer Art Dämmerzustand. Als er wieder zu sich kam, war es draußen dunkel. In der Wohnung brannte kein Licht. Er hörte ein knarrendes Geräusch und drehte sich zur Wohnungstür. Der Briefschlitz stand offen, in der Öffnung steckte ein Messer und bewegte sich langsam wie ein schwingendes Pendel. Olavi Andersson atmete heftig. So leise wie möglich stand er auf und nahm den Besen aus der Kammer. Er schlich zur Tür und holte aus, um der Hand desjenigen, der einzudringen versuchte, das Messer wegzuschlagen. Aber als er zuschlug, war der Briefschlitz geschlossen.

Er beugte sich vor und öffnete das Sicherheitsschloss, riss die Tür auf und stürmte ins Treppenhaus, den Besen wie eine Waffe erhoben. Draußen war es dunkel und still. Er machte Licht und schaute sich um. Kein Mensch zu sehen. Er senkte den Blick. An seinem rechten Bein lief ein Rinnsal Urin auf den steinernen Fußboden. Als er wieder aufschaute, tanzten Feuerfliegen vor seinem Gesicht.

»Nein, nein«, stöhnte er und torkelte zurück in die Wohnung.

Er setzte sich aufs Bett, kreuzte die Arme über der Brust und schaukelte vor und zurück.

Ich bilde es mir ein, sagte er zu sich selbst. Es ist nur eine Einbildung. Halt dir die Gespenster vom Leib. Gib nicht nach. Es ist ein Film, in dem du nicht mitspielst, du stehst daneben und schaust zu.

Er knipste die Deckenbeleuchtung an und tastete seinen Hals ab. Hundertfünfundsiebzig. Plötzlich zogen sich seine Bauchmuskeln zusammen und er fiel vornüber. Langsam kroch er vorwärts. Das Geräusch von Stoff, der über den Boden rutscht, wurde immer lauter. Mit einer letzten Kraftanstrengung führte er die Hände zum Kopf und presste sie fest gegen die Ohren.

Er hatte das Gefühl, als würde er in Ohnmacht fallen.

Es ist der Schweiß. Olavi, der Schweiß. Es ist, wie es sein soll. Es ist, wie es sein soll. Ganz normal.

Schwerelos sank er hinab. Auf dem Grund des Ozeans sah er einen kleinen Punkt, der immer größer wurde. Wie hypnotisiert starrte er darauf, und schließlich erkannte er, was es war. Eine Dampfwalze rollte mit einem dumpfen Geräusch auf ihn zu. Er versuchte zu laufen, doch das Wasser hinderte ihn daran und verlangsamte alle Bewegungen wie in Zeitlupe. Unaufhaltsam näherte sich die Dampfwalze. In dem Augenblick, als sie ihn zu überrollen drohte, musste er sich übergeben. Der Mageninhalt verbreitete sich im Wasser und bildete eine undurchsichtige Masse. Er versuchte zu schreien, brachte jedoch keinen Laut heraus.

Drei Tage später kam er wieder zu Bewusstsein. Er richtete sich im Bett auf und versuchte sein Hemd auszuziehen, aber es klebte an seiner Haut. Er stand auf, fiel jedoch sofort wieder zurück. Kriechend bewegte er sich in die Küche, richtete sich mit zitternden Beinen auf und hielt den Mund an den Wasserhahn über der Spüle. Dann sank er auf die Knie und legte die Finger an seinen Hals. Es fühlte sich an wie hundertvierzig.

Ich lebe, dachte er.

4

Ragnar Sundstedt beschäftigte sich mit den Lautsprechern auf dem Podium. Er hatte nachgerechnet, dass es fünfzig Jahre her war, seit er das erste Mal an einer Wahlkundgebung seiner Partei teilgenommen hatte. Auch damals war es in Västerås gewesen, vor der Wahl zur Zweiten Kammer des schwedischen Reichstags.

Als er sich auf dem Sigmatorget umsah, stellte er fest, dass sich die Wahlplakate kaum von den damaligen Plakaten unterschieden. Damals wie heute verlangte seine Partei Vollbeschäftigung. Die einstige Forderung der Volkspartei, die »Steuern abzuschaffen, da sie die Wirtschaft lahm legten«, wurde jetzt in der Forderung wiederholt, die Grundsteuer abzuschaffen. Und schon vor fünfzig Jahren hatten die Rechten ein Wahlplakat aufgehängt, auf dem die Steuerzahler zur Solidarität aufgerufen wurden. Selbst das Gerede über die Qualität der Nahrungsmittel und die landwirtschaftlichen Subventionen hatte vor einem halben Jahrhundert sein Pendant gehabt.

Ragnar Sundstedt liebte den Start des Wahlkampfes, er war wie der Beginn zu einer Reise, die so weit wie möglich führen sollte. Er trug einen Anzug und einen neuen Schlips. Die Sonne schien. Es waren zweiundzwanzig Grad und es war windstill. Auf den Bänken vor dem Podium begannen die Leute ihre Plätze einzunehmen.

»Was ist mit dir los, Ragnar?«, fragte Aurora Sundstedt, die ganz vorn stand. »Du bist ja so unruhig. Bereitet dir irgendwas Sorgen?«

»Aber nein«, antwortete er seiner Frau. »Alles ist bestens. Hast du eigentlich Wiljam schon gesehen?«

»Nein, jetzt, wo du es sagst, fällt mir auf, dass er noch gar nicht da ist. Sonst ist er doch immer der Erste. Er wird sich doch nicht aus der Politik zurückziehen, nur weil er jetzt pensioniert ist?«

»Natürlich nicht. Deswegen wundere ich mich ja.«

»Vielleicht ist er dabei, seine Chinareise zu planen«, meinte Aurora Sundstedt lachend.

Ragnar Sundstedt sah sich um.

»Ich versteh das nicht«, sagte er.

Zwei Stunden später betrat Ragnar Sundstedt das Polizeipräsidium in Västerås. Nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte, wurde er zu Kriminalinspektorin Elina Wiik hinaufgeführt.

»Ich mache mir Sorgen«, sagte er, nachdem er sich vorgestellt hatte.

»Weswegen?«, fragte Elina. »Oder um wen?«

»Um Wiljam Åkesson. Er ist verschwunden.«

»Sprechen Sie von dem Politiker? Gemeinderat Åkesson? Er soll verschwunden sein?«

»Er hätte heute zu einer Wahlkampfveranstaltung kommen sollen. Er ist sonst immer dabei gewesen. Nach der Veranstaltung bin ich zu seinem Haus gefahren und habe geklingelt. Aber niemand hat geöffnet. Er wohnt zwar allein und kann für sich selber sorgen, doch warum sollte er ausgerechnet zu Beginn des Wahlkampfes verreisen? Erst vor einer Woche ist er in Pension gegangen und von irgendwelchen Reiseplänen hat er mir nichts erzählt.«

Ragnar Sundstedt begegnete Elinas Blick. Sie runzelte die Stirn.

»Ich bin sein bester Freund«, fügte er hinzu.

»Wann haben Sie ihn zuletzt getroffen?«

»Bei seiner Verabschiedung im Rathaus. Seitdem hab ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich hatte den Eindruck, er wollte eine Weile allein sein, und dachte, er würde von sich aus wieder Kontakt zu uns aufnehmen, wenn ihm danach wäre.«

»Hm. Vielleicht war sein Wunsch nach Alleinsein so stark, dass er keine Lust hatte, die Wahlveranstaltung zu besuchen?«

»Das ist sehr unwahrscheinlich.«

»War er krank oder deprimiert?«

»Keineswegs. Im Gegenteil, er war bester Laune, als ich ihn zuletzt traf. Er hat sich auf seine Pensionierung gefreut.«

Elina erhob sich.

»Dann fahren wir wohl besser zu seinem Haus. Wissen Sie, ob jemand einen Schlüssel hat?«

»Vielleicht seine Töchter.«

»Wir schauen erst mal nach. Haben Sie ein Auto?«

Sieben Minuten später parkte Ragnar Sundstedt seinen Volvo vor einem blauen Holzhaus auf dem Stora Ursulasväg in Blåsbo, einem Viertel für jene, die es sich leisten konnten, in gut erhaltenen, älteren Häusern mit großen Gärten zu wohnen. Elina ging zum Haus und klingelte. Nachdem sie eine Minute gewartet hatte, legte sie die Hände an die Stirn und spähte durch das Küchenfenster.

»Auf der Spüle steht eine Kaffeetasse«, stellte sie fest. »Ansonsten sieht es leer aus.«

Sie trat ein paar Schritte zurück und musterte die Fassade. Dann ging sie einmal ums Haus und stieß auf dem Schotterweg vor der Tür wieder auf Ragnar Sundstedt.

»Alles sieht normal aus, aber das Fenster zur Waschküche an der Rückseite ist nur angelehnt. Es wäre gut, wenn mir eine der Töchter die Erlaubnis geben würde einzusteigen.«

»Sie bekommen meine Erlaubnis. Wie gesagt, er ist mein bester Freund, und ich versichere Ihnen, es ist in Ordnung. Schließlich machen wir uns berechtigte Sorgen um ihn.«

Elina sah ihn an und dachte eine Weile nach.

»Nein. Wenn ich es richtig bedenke, ist es falsch, durchs Fenster zu steigen. Jemand anders könnte ja diesen Weg benutzt haben, um ins Haus oder wieder hinauszugelangen. Ich würde Spuren verwischen. Wir versuchen besser, eine der Töchter zu erreichen und einen Schlüssel zu bekommen.«

»Jemand anders?«, wiederholte Ragnar Sundstedt, vollendete den Satz jedoch nicht.

Eine Dreiviertelstunde später steckte Elina den Schlüssel ins Haustürschloss. Auf dem Schotterweg standen Ragnar Sundstedt und Annelie Björk, Wiljam Åkessons älteste Tochter. Sie wirkte sehr verkrampft. Elina öffnete vorsichtig die Tür und bat die beiden, draußen zu warten. Sie betrat die Diele. Links lag die Küche und ein Stück weiter rechts befand sich die Tür zum Wohnzimmer. Sie ging hinein. Mitten auf dem Fußboden lag ein Buch, die einzige Störung der sonst so musterhaften Ordnung. Sie trat näher, um den Titel zu entziffern.

Nachdem sie in der Waschküche, der Toilette und im Esszimmer im Erdgeschoss nachgeschaut hatte, stieg sie die Treppe zum ersten Stock hinauf. Wiljam Åkessons Schlafzimmer war aufgeräumt, das Bett unbenutzt. Gegenüber befand sich ein weiteres Zimmer, vielleicht ein Gästezimmer, da es keine persönlichen Gegenstände enthielt. Es sah ebenfalls unbenutzt aus. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Bad, das genauso ordentlich war wie die übrigen Räume.

Ganz hinten gab es noch ein Zimmer. Vom Flur aus sah Elina einen Schreibtisch und Bücherregale, in denen Ordner standen. Sie ging auf die Tür zu und schaute lange hinein. Sie versuchte sich jedes Detail einzuprägen. Dann drehte sie sich um, nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte die Direktdurchwahl zum Diensthabenden im Präsidium.

Weder Ragnar Sundstedt noch Annelie Björk sagten etwas, als Elina wieder herauskam. Sie sah die beiden an.

»Sie müssen hier draußen warten«, sagte sie schließlich. »Es kommt gleich polizeiliche Verstärkung. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass im Obergeschoss ein toter Mann liegt.«

Ragnar Sundstedt fuhr zusammen. Annelie Björk machte einen Schritt vorwärts. Keiner von ihnen sprach ein Wort, sie starrten Elina an.

»Ich weiß nicht, wer es ist. Es könnte Wiljam Åkesson sein, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Warum nicht«, sagte Ragnar Sundstedt leise. »Sie müssen doch den Gemeinderat kennen, sein Gesicht kennt jeder in Västerås.«

»Das Gesicht ist nicht zu sehen. Ich möchte nichts anrühren, bevor unsere Leute von der Spurensicherung da sind. Es tut mir Leid, aber bis dahin müssen wir uns gedulden.«

Annelie Björk machte noch einen Schritt nach vorn.

»Was ist passiert?«, rief sie aus. »Warum ist er tot? Sagen Sie doch etwas!«

Elina legte Annelie die Hand auf den Arm. Der Schrecken stand der Frau ins Gesicht geschrieben, die plötzlich aussah wie ein kleines Kind. Elina dachte an ihren eigenen Vater.

»Es tut mir Leid«, sagte sie. »Auf dem Fußboden ist Blut, es handelt sich also nicht um ... einen natürlichen Tod. Mehr wage ich im Augenblick nicht zu sagen. Lassen Sie uns warten, bald werden wir mehr wissen.«

Drei Stunden später saßen Elina Wiik, Oskar Kärnlund und John Rosén in Kärnlunds Chefzimmer im Dezernat des Präsidiums. Es war Mittwoch, der 14. August, kurz vor vier Uhr nachmittags.

»John wird die Ermittlung leiten«, sagte Kärnlund. »Du, Wiik, und John, ihr bildet ein Team. Und ich werde sofort ein paar Leute anfordern, die euch bei der Arbeit unterstützen.«

Er stand auf und begann im Zimmer herumzugehen.

»Ein ermordeter Gemeinderat«, murmelte er. »Herr im Himmel, fast ein lokaler Palme-Fall.«

Er hob den Kopf und sah John Rosén und Elina an.

»Die von der Spurensicherung haben natürlich einen Selbstmord ausgeschlossen«, verkündete er. »Erkki Määttä sagt, dass es vollkommen unmöglich ist, sich auf diese Weise umzubringen. Eine überflüssige Feststellung, so wie es aussieht, nicht wahr? Eingerollt in einen Teppich, die Arme am Körper und von oben in den Kopf geschossen. Wiljam Åkesson hatte viele Talente, aber ein Houdini war er nicht.«

»Was ist mit der Mordwaffe?«, fragte Elina. »Hat Erkki irgendwelche Spuren gefunden? Eine Patronenhülse zum Beispiel?«

»Keine Hülse, ich habe vor fünf Minuten mit ihm gesprochen. Die Laborergebnisse werden zeigen, ob es Pulverspuren an Kopf, Teppich oder auf dem Fußboden gibt. Erkki glaubt, dass man Åkesson aus nächster Nähe umgebracht hat, da er mitten in den Kopf getroffen wurde. Das ist aber auch alles. Mehr Spuren haben wir nicht. Jedenfalls bis jetzt. Nicht einmal Fußspuren vor der Waschküche, falls der Mörder dort eingestiegen ist. Der Gerichtsmediziner vermutet, dass Åkesson seit ungefähr einer Woche tot ist, und letzte Woche hat es ziemlich heftig geregnet. Mögliche Spuren könnten also verschwunden sein.«

»Vielleicht hat Åkesson den Täter auch zur Haustür hereingelassen«, sagte Elina. »Oder der Mörder hatte einen Schlüssel, ist durch die Tür hereingekommen und hat wieder hinter sich abgeschlossen.«

»Wie hat er Åkesson dazu gekriegt, sich in den Teppich einzurollen?«, wollte John Rosén wissen. »Åkesson war ein kräftiger Mann. Natürlich wurde er mit einer Waffe bedroht, aber trotzdem. Vielleicht waren mehrere Personen daran beteiligt.«

»Entwickelt einen Arbeitsplan, ihr beiden. Mailt ihn mir und fangt sofort an. Sorgt dafür, dass ich über alles auf dem Laufenden gehalten werde. Um sechs findet eine Pressekonferenz statt.«

Kärnlund setzte sich auf seinen Stuhl und schaute schweigend aus dem Fenster. Elina Wiik und John Rosén wussten, dass dies das Zeichen für das Ende der Besprechung war. Draußen auf dem Korridor blieb Elina stehen und drehte sich zu John Rosén um.

»Ich verstehe, dass du die Leitung der Ermittlung bekommen hast. Du kannst das und hast große Erfahrung. Und auch wenn es offiziell ein Geheimnis ist, weiß ich doch, dass du aus Göteborg hierher geholt worden bist, weil das Dezernat Verstärkung durch tüchtige Leute brauchte. Aber warum soll ich dabei sein? Wieder dabei sein, meine ich. Eine frisch gebackene Inspektorin, die gerade erst mit einem Mordfall beauftragt war? Es gibt hier andere, die eigenhändig einen Mord begehen würden, entschuldige den unpassenden Vergleich, um diese Chance zu bekommen. Dass ich die Leiche gefunden habe, ist kein hinreichender Grund.«

John Rosén lächelte sie mit seinen blendend weißen Zähnen an und strich sich das gewellte graue Haar zurück.

»Fishing for compliments, Inspektor Wiik?«

»Ich möchte es nur wissen. Hat Kärnlund etwas zu dir gesagt?«

»Ich hab ihn gebeten, mit dir Zusammenarbeiten zu dürfen«, sagte Rosén und ging weiter.

Elina sah ihm erstaunt nach und holte ihn ein.

»Aber warum, John?«

Er blieb stehen und sah sie mit der Andeutung eines Lächelns an.

»Nicht wegen deiner grünen Augen, glaub das bloß nicht. Es gibt zwei Gründe, wenn du es unbedingt wissen willst. Der eine ist ja ganz offensichtlich – weil du den Suramord auf ungewöhnlich einfallsreiche Art gelöst hast. Diese Fähigkeit ist hier sicher wieder vonnöten. Der andere Grund ist, dass du so bist wie ich. Ich halte viel von Instinkt, besonders wenn es sich um Menschen handelt.«

»Instinktiv habe ich im Augenblick das Bedürfnis mich zu bedanken!«

»Du wirst dafür arbeiten müssen, Kriminalinspektorin Wiik. Wollen wir anfangen? Als Erstes fahren wir zu dem Haus raus. Ich muss mir ein Bild von dem machen, was passiert ist, bevor die von der Spurensicherung alles auf den Kopf stellen.«

Das ganze Grundstück um das Haus herum war abgesperrt, als Elina und John Rosén dort ankamen. Außerhalb der Absperrung standen mehrere Fotografen und Kameraleute vom Fernsehen, zusammen mit einigen Personen, die Elina für Journalisten hielt. Sie wurde sofort von einem Mann im Reporterlook aufgehalten.

»Elina Wiik? Ich bin Jesper Pärsson vom Aftonbladet. Ich kenne Sie vom Suramord. Sind Sie jetzt auch wieder dabei?«

»Ich gehöre zum Dezernat«, erwiderte Elina unsicher. »Und ich schlage vor, dass Sie Ihre Fragen bei der Pressekonferenz heute Abend um sechs meinem Chef Oskar Kärnlund stellen.«

Mehrere Personen hatten sich um Elina versammelt. John Rosén stand daneben und sah amüsiert zu.

»Beantworten Sie bitte nur eine Frage«, bat Jesper Pärsson. »Stimmt es, dass der ehemalige Gemeinderat ermordet in seinem Haus aufgefunden wurde?«

»Wie gesagt, um sechs Uhr.«

»Haben Sie ihn gefunden?«

»Entschuldigen Sie, aber ich habe zu arbeiten«, sagte Elina lächelnd.

»Wir auch«, entgegnete Pärsson und rief einen Namen.

Ein Fotograf lief herbei und machte Bilder von Elina, während sie an der Absperrung vorbeiging.

»Alles wegen deiner grünen Augen«, bemerkte John Rosén schmunzelnd, als sie das Haus betraten.

Erkki Määttä kam ihnen in der Diele entgegen und zeigte zur Treppe. Wortlos führte er sie zu einem blutigen Teppich. Darauf lag Wiljam Åkesson auf dem Rücken, die Arme am Körper. Elina biss die Zähne zusammen, um den Geruch auszuhalten.

»Ich habe ihn nur aus dem Teppich gerollt, sonst nichts. Aber es wäre gut, wenn ihr ihn so schnell wie möglich in die Gerichtsmedizin schafft. Ich möchte den Teppich untersuchen, und das ist im Augenblick etwas schwierig, wie ihr seht.«

John Rosén setzte seine Brille auf und kniete sich hin.

»Außer dem Loch im Kopf scheint er keine weiteren Verletzungen zu haben«, stellte er fest.

»Wir müssen nach dem Austrittsloch der Kugel suchen, wenn wir ihn ausgezogen haben«, sagte Määttä. »Ich kann bisher auch keine weiteren Verletzungen entdecken. Demnach müsste die Kugel sich noch im Körper befinden.«

»Hast du was gefunden, Erkki?«

»Bis jetzt nichts von Bedeutung. Nach der Analyse wissen wir hoffentlich mehr. Es könnte ja auch Blut von einer anderen Person dabei sein.«

Er zeigte nach unten und beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis.

»Ich bin noch lange nicht fertig«, fuhr er fort. »Wir müssen nach Fingerabdrücken suchen. Und Haaren. Außerdem müsste der Gerichtsmediziner sagen können, wann er erschossen wurde. Ich wage nicht, über den Zeitpunkt zu spekulieren.«

Schweigend gingen Elina und John Rosén im Haus herum. Elina versuchte alles aufzunehmen, was sie sah. Sie nahm an, dass Rosén es genauso machte.

»Den Fall werden wir wohl lösen, oder?«, sagte Elina.

»Sicher. Aber ich habe das Gefühl, dass es schwierig wird. Es scheint kein ...«

»... Tatmotiv zu geben?«

Rosén nickte leicht.

Die Pressekonferenz im Polizeipräsidium war die bestbesuchte in der Geschichte der Kripo von Västerås. Über fünfzig Reporter und Fotografen drängten sich in einem Raum, der für zwanzig Personen vorgesehen war. Oskar Kärnlund seufzte, als er vor den blitzenden Kameras auf einem Stuhl Platz nahm.

»Sie wissen ja, wie das hier abläuft. Ich werde in groben Zügen berichten, was passiert ist, und wo es die Ermittlungen erfordern, auf die Geheimhaltung verweisen. Lassen Sie uns das Ganze nicht unnötig in die Länge ziehen. Seien Sie so freundlich und stellen Sie nur Fragen, die ich beantworten kann. Ich möchte so schnell wie möglich zu den Ermittlungen zurückkehren.«

Die Journalisten antworteten mit Schweigen. Im Raum gab es nicht eine einzige Person, die auf Fragen nach Details zu dem Mord verzichten wollte, da eine ausweichende Antwort auch eine Antwort war, die man zitieren und interpretieren konnte.

»Okay«, sagte Kärnlund. »Der ehemalige Gemeinderat Wiljam Åkesson wurde heute Mittag um ein Uhr tot aufgefunden. Er ist durch äußerliche Gewaltanwendung ums Leben gekommen. Alle anderen Möglichkeiten mussten wir ausschließen. Ich kann auch verraten, dass er erschossen wurde, möchte aber nicht näher darauf eingehen, wie oder mit welcher Waffe. Der Mord wurde vor ungefähr einer Woche verübt, so viel konnte der Gerichtsmediziner bereits sagen, obwohl es noch zu früh ist, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen. Sobald wir ihn kennen, werden wir Sie es wissen lassen, denn wir erhoffen uns dadurch, Zeugenaussagen zu den Geschehnissen zu erhalten. Im Augenblick haben wir noch keinen Verdächtigen, wir befinden uns noch am Anfang der Ermittlungen. Mehr kann ich Ihnen momentan nicht sagen.«

Oskar Kärnlund wurde mit Fragen überschüttet, aber schließlich gelang es Jesper Pärsson, sich Gehör zu verschaffen.

»Wieso können Sie jede andere Todesursache ausschließen?«

»Wegen der Umstände«, antwortete Kärnlund. »Aber Sie kriegen keine Details aus mir heraus, egal, wie viele Fragen Sie stellen.«

»Mit wie vielen Schüssen ist er umgebracht worden?«, fuhr der Reporter vom Aftonbladet fort.

Oskar Kärnlund schaute eine Weile schweigend auf den Tisch.

»Mit einem«, sagte er schließlich.

»Wir bedanken uns für das Detail«, erklärte Jesper Pärsson. Dann hob er die Stimme, um das Wort nicht zu verlieren. »Gibt es etwas, das auf einen politischen Mord hindeutet?«

»Zu früh für eine Antwort«, sagte Kärnlund.

Nachdem er Fangfragen ausgewichen und belanglose, allgemein gültige Antworten auf die zahlreichen Fragen der übrigen Reporter gegeben hatte, machte Oskar Kärnlund Anstalten, die Pressekonferenz zu beenden. Er legte die Handflächen auf den Tisch, sein übliches Signal, dass er sich erheben und gehen wollte.

»Noch eine Frage«, bat Jesper Pärsson. »Ist die IT-Polizei mit im Ermittlungsteam? Elina Wiik, meine ich.«

Kärnlund schaute den Journalisten erstaunt an.

»Ja, das ist sie. Wieso?«

»Wollte ich nur wissen.«

»Herr im Himmel, die Arme. Sie ist ein Medienstar geworden«, murmelte Kärnlund vor sich hin, als er den Raum verließ.

5

John Rosén und Elina beschlossen, noch am selben Abend eine erste Besprechung einzuberufen. Beide wussten, dass sie die goldene Chance, den Mörder zu fassen, verpasst hatten. Die Zeit arbeitete gegen sie. Die ersten vierundzwanzig Stunden nach einem Mord waren die wichtigsten. Die Zeit, in der sich der Mörder auf der Flucht vor seiner Tat befand, physisch und psychisch, die Zeit, in der er häufig nicht klar denken konnte und deswegen am ehesten Fehler machte. Aber wahrscheinlich war seit dem Mord an Wiljam Åkesson bereits eine Woche vergangen; vielleicht war er am selben Tag geschehen, an dem er als Gemeinderat verabschiedet worden war. Sie hofften, einen genaueren Zeitpunkt zu erfahren, wenn sie mit Menschen aus Åkessons Umgebung gesprochen und der Gerichtsmediziner sein Gutachten abgeschlossen hätte.

Henrik Svalberg und Erik Enquist saßen schon in John Roséns Zimmer. Nach der Pressekonferenz hatte Oskar Kärnlund die beiden verständigt und sie waren sofort ins Polizeipräsidium geeilt. Elina Wiik hatte im Sommer vor einem Jahr mit beiden zusammengearbeitet. Svalberg, einige Jahre jünger als Elina mit ihren dreiunddreißig, war ihr Partner bei der Ermittlung im Mordfall Bertil Adolfsson gewesen, während Enquist mit der Brandstiftung im Bürgerhaus beschäftigt gewesen war, einer Ermittlung, an der sie zu Anfang auch mitgearbeitet hatte. Daraus hatte sich ihr erster Mordfall entwickelt, den sie gelöst hatte. In Svalbergs Gesellschaft fühlte sie sich wohl. Da er frei von Geltungssucht war und sich ihrer Führung unterordnete, waren sie hervorragend miteinander ausgekommen.

Enquist kannte sie nicht näher. Normalerweise arbeitete er bei der Kripo in Hallstahammar, aber Kärnlund holte ihn immer dann ins Team, wenn Spezialgruppen gebildet werden mussten, um schwierige Fälle zu lösen. Daraus ließ sich wohl ableiten, dass er ein überdurchschnittlich guter Polizist war. Bei den Ermittlungen im Fall der Brandstiftung war es zu einem starken Konflikt zwischen Elina und Egon Jönsson gekommen, dem Kriminalinspektor, der die Gruppe leitete. Enquist hatte sich zwar loyal gegen Jönsson verhalten, schien aber auch ihr gegenüber keine Vorbehalte zu haben. Jetzt hatte er sie freundlich begrüßt.

Alle vier waren sich darüber einig, wie die Arbeit jetzt vorangetrieben werden sollte. John Rosén und Elina würden Åkessons Haus aufs Genaueste durchsuchen. Elina würde mit den beiden Töchtern und der geschiedenen Ehefrau reden. Menschen aus Åkessons direkter Umgebung sollten vernommen werden. Man würde eine Befragungsaktion in der Nachbarschaft seines Hauses durchführen. Sein persönlicher Besitz musste gesichtet werden. Enquist würde damit anfangen, sich in Åkessons Freundeskreis umzuhören. Svalberg würde die Verantwortung für die Tür-zu-Tür-Befragung übernehmen. Anfangs würden sie nur von wenigen Kollegen unterstützt werden, so vielen, wie das Dezernat freisteilen konnte. Dann würden sie sich gemeinsam mit seinen politischen Kontakten und früheren Kollegen befassen. John Rosén würde die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassen und weiterleiten.

Gegen zehn Uhr abends stand ihr Plan. John Rosén trommelte mit dem Stift auf seinen Schreibtisch. Niemand schien aufstehen und nach Hause gehen zu wollen. Alle dachten dasselbe.

»Was kann dahinter stecken?«, fragte Rosén. »Hat jemand eine Ahnung?«

»Schwer begreiflich«, murmelte Svalberg.

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Enquist.

»Jemand rollt einen Gemeinderat in einen Teppich ein und jagt ihm eine Kugel in den Kopf«, sagte Rosén. »So was habe ich noch nie gehört.«

Einige Sekunden schwiegen sie.

»Es ist brutal«, bemerkte Elina, »unnötig brutal.«

»Wie meinst du das?«

»Man muss sich ja nur Åkessons Schreck vorstellen, bevor er erschossen wurde. Vielleicht hat der Mörder noch mit ihm geredet. Gesagt, dass er ihn erschießen werde, und ihm erklärt, warum. Das muss ein Gefühl gewesen sein wie lebendig begraben zu werden.«

»Also Hass«, konstatierte Enquist.

»Und Rache«, fügte Rosén hinzu.

»Aber wir wissen es nicht«, warf Svalberg ein. »Vielleicht wurde der Mörder bei einem gewöhnlichen Einbruch von Åkesson überrascht. Da hat er ihn mit vorgehaltener Waffe in einen Teppich gerollt, um das Haus nach Wertsachen durchsuchen zu können, und dann beschlossen, ihn zu erschießen.«

»Warum?«

»Vielleicht ist er verrückt. Oder er wollte einen Zeugen beseitigen.«

»Wenn das so wäre, müsste irgendetwas gestohlen worden sein. Wir müssen die Töchter bitten, seinen Besitz zu sichten, um festzustellen, ob etwas fehlt.«

»Wahrscheinlich ist es sinnvoller, erst dann Spekulationen anzustellen, wenn wir ein Stück weiter sind«, sagte John Rosén abschließend. »Ich schlage vor, wir hören jetzt auf und treffen uns morgen um acht.«

Elina war ohne Jacke zur Arbeit gegangen und bekam eine Gänsehaut, als sie in die Abendluft hinaustrat.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte John Rosén.

»Danke, das ist nicht nötig. Ich wohne auf dem Lidmansvägen.«

»Wo ist das? Du vergisst, dass ich Göteborger bin.«

Elina zeigte schräg nach links.

»Nur ein paar Häuserblocks entfernt. Ungefähr mitten auf dem Oxbacken. Über den bist du schon viele Male gefahren. Ich habe eine Dreizimmerwohnung im dritten Stock.«

»Dann also bis morgen«, sagte John Rosén.

»Ich bin spätestens um halb acht da. Gute Nacht.«

Sie sah John Rosén nach, wie er auf den Parkplatz zuging. Sie mochte ihn, hatte ihn vom ersten Tag an gemocht, als er im vergangenen Sommer in Västerås beim Dezernat anfing. Seine lässige Erscheinung kombiniert mit dem Gebaren eines altmodischen Gentleman gefiel ihr. Trotzdem wurde sie nicht recht klug aus ihm. Er hatte etwas, das sie bei anderen Polizisten noch nie beobachtet hatte. Eine gewisse Distanz zum Beruf, eine Art, ihn von außen zu betrachten, als wäre er nicht Teil der Gemeinschaft. Eine selbst gewählte Isolation, die sich nicht in Ungeschicklichkeit im Umgang mit anderen ausdrückte, sondern in einem Auftreten, das mit Worten schwer zu beschreiben war. Etwas, das sie sehr schätzte, von dem sie jedoch nicht wusste, worauf es gründete.

Irgendwie, dachte sie, macht es ihn unnahbar.

Als Erstes schaltete sie ihren Computer ein und öffnete ihre Mailbox. Den Computer und das Internet-Abo hatte sie sich im letzten Herbst angeschafft, weil immer mehr Kontakte mit Freunden und Verwandten über E-Mail liefen. Sie wollte nicht wie alle anderen ihre Arbeitszeit zum Schreiben und Lesen privater E-Mails benutzen. Schon aus dem Grund, weil jeder, der ein wenig von Computern verstand, sich in ihre private Post einklicken konnte.

Wie erwartet, hatte ihr Vater geschrieben. Früher hatte er sie häufig angerufen, aber nachdem Elina ihn davon überzeugen konnte, sich ebenfalls einen Computer und E-Mail anzuschaffen, mailte er lieber.

Außerdem fand sie einen Brief von Susanne Norman, ihrer besten Freundin. Und einen von Martin. Sie lächelte, als sie die Absender der ersten beiden Mails las. Der dritte versetzte ihr einen kleinen Stich in den Magen.

Ihr Vater Botwid schrieb über Åkessons Tod und dass er Elina im Fernsehen gesehen habe. Dann schilderte er in knappen Zügen, was bei einer Wahlkundgebung in Stockholm passiert war, an der er teilgenommen hatte, und was er getan hatte, als er nach Hause nach Märsta gekommen war.

Er schrieb ihr fast jeden Tag. Sie versuchte ihm jedes Mal sofort zu antworten, doch da er Rentner war, stand ihm all die Zeit zur Verfügung, die ihr fehlte. Ihre Zeit reichte häufig nur für einen kurzen Gruß. Diesmal schrieb sie ein wenig ausführlicher und erzählte ihm, dass sie auf den ausdrücklichen Wunsch John Roséns an der Ermittlung im Mordfall Åkesson beteiligt sei, und wie sehr sie sich über die Arbeit freue.

Susanne Normans Nachricht war kürzer. »Samstag Essen in der Stadt?« Elina antwortete mit Ja und fügte hinzu, dass sie Neuigkeiten habe, obwohl ihr klar war, dass Susanne schon alles wusste. In den regionalen und in den landesweiten Programmen war sie in jeder Nachrichtensendung aufgetaucht.

Martins Brief las sie zuletzt. Er bestand aus drei Wörtern. »Ich bitte dich.« Sie löschte den Brief sofort, ohne zu antworten. Zu Kreuze zu kriechen kam für sie nicht in Frage. Der Entschluss sich von ihm zu trennen, war ihr fast unerträglich gewesen, da sie ihn liebte. Oder geglaubt hatte, ihn zu lieben. Jetzt, ein halbes Jahr später, war sie sich nicht mehr so sicher. Die Erkenntnis, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie gab, hatte zum Bruch geführt. Sie glaubte ganz einfach nicht mehr daran, dass er seine Frau verlassen würde. Seitdem hatte er versucht sie umzustimmen, ohne sich jedoch zu dem nötigen Schritt durchringen zu können.

6

Ist das nötig? Ich verstehe nicht, was ich dazu beitragen könnte.«

Annelie Björks Hände lagen fest gefaltet in ihrem Schoß. Sie trug ein hellgrünes Kostüm und saß mit geradem Rücken in einem Sessel. Hier ist es genauso ordentlich wie zu Hause bei ihrem Vater, dachte Elina.