Sinnliche Beute - Alia Cruz - E-Book

Sinnliche Beute E-Book

Alia Cruz

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Beschreibung

Sie sind Kunstdiebe und nennen sich die 'Art Hunter'. Doch sie stehen auf der Seite des Gesetzes und stehlen im Auftrag von Museen, um Sicherheitslücken aufzudecken. Das Besondere daran? Jeder von ihnen ist mit einer ganz speziellen Fähigkeit ausgestattet. Jules Bonnet ist ein bekannter Playboy – und ein Art Hunter. Sein neuester Auftrag ist die Nofretete in Berlin zu stehlen, um somit die Sicherheit im Neuen Museum zu prüfen. Doch als er seinen Auftrag ausführen will, wird ihm die Büste vor der Nase weggeschnappt. Von einer Frau. Sich dem Befehl seines Bosses widersetzend, kehrt er nicht zurück nach Paris, sondern heftet sich an die Fersen der geheimnisvollen Diebin.

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Sinnliche Beute

Art Hunter 2

Alia Cruz

Sinnliche Beute – Art Hunter 2Alia Cruz

© 2017 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864436710ISBN eBook-mobi: 9783864436727ISBN eBook-epub: 9783864436734

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Prolog

12 Jahre zuvor …

Jules folgte dem fast zwei Meter großen Mann mit der langen, blonden Mähne ins Schloss, das sich in Chantilly befand. Er konnte nicht anders, als stehen zu bleiben und sich ehrfürchtig umzusehen.

„Was stehst du da rum? Wir gehen in mein Büro.“

Jules sah kurz an sich herunter. Er passte nicht hier her mit den alten, ausgelatschten Turnschuhen, den zerrissenen Jeans und dem einfachen schwarzen T-Shirt. Das einzige Kleidungsstück, das edel an ihm war, war die Lederjacke, die er in einer Boutique geklaut hatte.

Jules betrat das Büro und setzte sich vorsichtig auf den antiken Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

„Nichts davon ist gestohlen. Alles Originale hier im Schloss und sei dir sicher, wenn du gehst, kontrolliere ich deine Taschen.“

„Wo sollte ich bitte ein Gemälde verstecken?“

„Allein mein Brieföffner ist 3000 Euro wert.“

Jules versuchte einen Blick zu erhaschen, aber der Mann mit Namen Théo ließ besagtes Utensil in der obersten Schublade verschwinden. Er blätterte in einem Schnellhefter.

„Jules Bonnet, achtzehn Jahre, kein Schulabschluss.“

Jules sah in die kalten Augen des Mannes und bekam eine Gänsehaut.

„Kannst du lesen und schreiben?“

„Natürlich, nur weil ich keine Schule besucht habe, heißt das nicht, dass ich dämlich bin.“

„Sachte, Kleiner. Für dämlich hält dich bestimmt keiner, andernfalls würdest du nicht hier sitzen. Es war eine rein sachliche Frage. Du hast dich als kleiner Dieb durchgeschlagen, auf der Straße oder in schäbigen Pensionen gelebt. Seit zwei Jahren machst du dir in Paris einen Namen als Kunstdieb und nun hat man dich geschnappt.“

Jules konnte nur nicken.

„Meine Bosse sind auf dich aufmerksam geworden. Wir suchen noch Verstärkung für unser Team.“

„Ich dachte, dass ich in den Knast wandern werde.“ Bei dem Gedanken ans Gefängnis, verkrampfte sich sein Magen.

„Wir sind die Art Hunter, du darfst stehlen, aber nur, um die Sicherheit in Museen, Privathäusern und so weiter zu überprüfen. Alles wird brav zurückgegeben. Hier bin ich der Boss, aber wir arbeiten für eine mächtige Sicherheitsfirma. Die werden veranlassen, dass du nicht ins Gefängnis musst. Du wirst für ein Jahr auf Bewährung eingestellt. Bist du gut, hast du einen Job fürs Leben, darfst in diesem Schloss leben und verdienst gutes Geld.“

„Wo ist der Haken?“

Der Hüne am Schreibtisch fing an zu lachen. „Kleiner, es gibt keinen. Du musst dich nur als vertrauenswürdig erweisen, wenn nicht, wanderst du für lange Zeit in den Knast.“

Ein Kugelschreiber und ein Vertrag tauchten vor Jules’ Nase auf.

„Warum ausgerechnet ich?“ Jules konnte sich noch nicht durchringen zu unterschreiben. Er war misstrauisch, das hörte sich alles zu gut an, um wahr zu sein.

„Du bist doch ein cleveres Kerlchen, kommst du nicht selbst drauf?“

Jules spielte mit dem Kugelschreiber. Das konnte doch nicht sein. Sie konnten es nicht wissen. Der Mann hinter dem Schreibtisch grinste schief.

„Ich …“ Jules wusste nicht genau, was er sagen sollte.

„Wir wissen es. Alle im Team haben eine besondere Fähigkeit. Wir müssen uns sowieso darüber unterhalten. Es gibt gewisse Regeln, was das betrifft.“

Jules atmete tief aus. Also wussten sie es tatsächlich. Sie mussten ihn schon lange beobachtet haben. „Und welche Regeln?“

„Bei einem Raub sind die Fähigkeiten tabu.“ Théo sah ihm wieder lange in die Augen und Jules fröstelte. „Obwohl ich mir sowieso nicht vorstellen kann, dass deine Fähigkeit bei einem Raub nützlich sein kann. Aber die Bosse wollten dich unbedingt.“

„Wie haben Sie es herausgefunden?“ Jules konnte sich die Frage nicht verkneifen. Es machte ihn nervös, dass fremde Menschen sein Geheimnis, das er so gut zu verbergen versucht hatte, kannten.

Théo lehnte sich zurück. „Glaub mir, Kleiner, die finden alles heraus. Leg dich nie mit ihnen an. Was ist? Unterschreibst du jetzt?“

Jules zögerte immer noch.

„Ich gebe dir einen guten Rat. Wenn die Polizei oder eine dieser anderen ach so wichtigen Behörden jemals herausfindet, dass du ein Totenleser bist, dann kassieren sie dich ein. Du wirst kein eigenes Leben mehr haben, sie werden dich wie ein Versuchskaninchen behandeln. Du wirst der Sklave des Staates werden.“

„Und das bin ich hier nicht?“

„Nein. Dein Leben wird immer noch dir gehören. Das verspreche ich dir.“

„Haben Sie auch eine besondere Fähigkeit?“

Das Gesicht des blonden Mannes wurde plötzlich noch härter. „Ich bin der Boss hier, das reicht ja wohl. Unterschreib!“

Jules näherte sich mit dem Kugelschreiber der Linie, die für seine Unterschrift bestimmt war.

„Warte, ich persönlich habe eine Bedingung. Ich kann deiner Akte entnehmen, dass du ein begnadeter Dieb bist. Du hast nur einen Fehler. Frauen werden dir regelmäßig zum Verhängnis. Die Letzte mit der du geschlafen hast, hat dich verpfiffen. Ich weiß, du bist jung und musst dir die Hörner abstoßen, aber das ist jetzt vorbei. Solange ich dein Boss bin, hältst du dich bei den Frauen zurück. Haben wir uns verstanden?“

Jules unterschrieb.

1

Chantilly, Frankreich, heute.

Jules unerschütterliches Selbstvertrauen machte eine Pause. Das geschah immer dann, wenn er mit seinem Chef Théo zu tun hatte. Dieser saß hinter seinem riesigen Schreibtisch und sah ihn mit strenger Miene an.

„Wann lernst du es endlich?“ Théos tiefe Stimme hallte durch den Raum. „Sieh nicht immer heimlich auf die Uhr.“

„Hab ich gar nicht.“

„Hör auf, dich wie ein Kind aufzuführen. Es interessiert mich nicht, ob du gleich mit irgendeinem Weib verabredet bist. Der Auftrag hat absoluten Vorrang.“

„Was willst du eigentlich? Ich bin gut in meinem Job, verdammt gut.“

„Das bestreitet niemand, aber du gehst nicht mit dem nötigen Ernst an die Sache. Das haben wir ja beim letzten Mal gesehen.“

„Dann soll die Agentur in Zukunft bessere Fotos schicken. Die Skulpturen sahen sich verdammt ähnlich.“ Jules rutschte auf dem alten Sessel ungeduldig hin und her. „Ich hab die Falsche mitgehen lassen, na und? Die Sicherheitslücke im System habe ich trotzdem aufgedeckt.“

„Sag mal, verstehst du eigentlich nicht, was ich sage? Du stiehlst auf Verlangen und zwar nur das, was man dir aufträgt. Alles andere ist ein Drahtseilakt. Man könnte dir und damit auch uns schnell vorwerfen, dass wir falsch spielen.“

Jules stand auf und strich sich die Haare aus der Stirn. „So ein Unsinn. Die Agentur verschafft uns Aufträge, wir stehlen oder bewachen Kunstgegenstände und decken so die Sicherheitslücken auf. Ich habe eine Skulptur stehlen können, sie zurückgegeben und der reiche Heini hat jetzt ein neues Sicherheitssystem. Ist doch alles perfekt gelaufen.“

„Wenn das deine Auffassung von perfekt ist, dann hast du in unserem Team nichts zu suchen.“ Théo war nun ebenfalls aufgestanden. Er hielt sich kurz am Schreibtisch fest und dann hinkte er zum Fenster. Er drehte Jules den Rücken zu. „Wir halten uns an die Anweisungen der Agentur, was die Exponate betrifft. Gerade bei deiner Vergangenheit ist das wichtig.“ Théos Stimme wurde leiser. „Ich will dir nichts Böses. Du bist dreißig und sollst dein Leben genießen, aber du musst deinen Job hundertprozentig erledigen. Sonst ist das alles hier für dich bald Vergangenheit.“ Er drehte sich wieder zu Jules um und deutete mit der Hand in den Raum. „Und auch wenn wir seit Monaten nichts mehr von Dr. Faustus gehört haben, wir dürfen nicht vergessen, dass er immer noch da draußen ist und uns auf dem Kieker hat.“

Jules setzte sich wieder. „Ich weiß, dass es ein Privileg ist, in diesem Schloss zu wohnen und so gut bezahlt zu werden. Ich weiß auch, dass wir Faustus nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen. Sorry.“

Théo nickte, der alte Schreibtischstuhl ächzte unter seiner Größe. „Der nächste Auftrag wird kein Zuckerschlecken. Die deutsche Regierung hat uns beauftragt.“

„Was?“

„Ja. Die Agentur hat dich ausgewählt. Du wirst Paris verlassen und nach Berlin reisen. Die Details werde ich dir morgen sagen. Geh schon zu deiner Verabredung.“

Jetzt hätte Jules gern mehr erfahren, aber er wusste auch die Gunst der Stunde zu nutzen und verließ den Raum. Théo hatte etwas gegen Frauen. Damit hatte er auch etwas gegen Jules’ Leben, das eine Menge Affären einschloss.

„Und, wie ist er so drauf?“ Christophe stand draußen vor der Tür. Jules wäre fast in ihn hinein gelaufen.

„Brummelig, wie immer. Hab nen neuen Auftrag. Details erfahre ich morgen.“ Er pustete sich eine Strähne aus der Stirn.

„Lass dir mal die Haare schneiden.“

„Die Frauen mögen es so.“

„Halte ich dich irgendwie auf?“

„Ja, grins nicht so blöd. Ich hab ne Verabredung.“

„Was auch sonst.“ Christophe klopfte Jules freundschaftlich auf die Schulter. „Dann mal viel Spaß.“

„Den du mit Théo da drin sicher nicht haben wirst.“ Jules spurtete den Flur entlang, dabei hörte er noch Christophes Lachen.

Christophe ersparte sich das Klopfen und trat direkt ein. Théo stand mit dem Rücken zu ihm und starrte in den parkähnlichen Garten hinaus. Seine langen, blonden Haare hatte er zu einem strengen Zopf gebunden und sein massiver Rücken nahm fast das ganze Fenster ein. Für einen Moment überkam Christophe Mitleid. Théo war der Beste in diesem Job gewesen, bis zu dieser Sache in Hongkong. Damals hatte er nicht nur die Verletzung an seinem Bein davongetragen, sondern auch eine an seiner Seele. Christophe war live dabei gewesen, als man Théos Frau Vivienne ermordete, seitdem war sein Freund nie wieder derselbe gewesen.

„Was starrst du mich an? Mit meinen Ohren ist noch alles in Ordnung. Komm rein und setz dich.“

„Hast du einen neuen Auftrag für mich?“

„Nein. Ich hatte erst überlegt, dass du dich an Jules dranhängst, aber ich glaube er kommt allein zurecht. Ich weiß, dass ihr mich mittlerweile für paranoid haltet.“ Ein trauriges Lächeln erschien auf Théos Gesicht.

„Niemand hält dich für paranoid. Es war eine gute Maßnahme, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Aber Faustus ist seit mehreren Monaten nicht aufgetaucht. Vielleicht sollten wir wieder Normalität einkehren lassen.“

„Deswegen habe ich dich gerufen. Ich brauchte irgendwie diese Bestätigung. Wie geht es dieser Frau?“

Christophe musste grinsen. Er wusste ja, dass die frauenfeindliche Einstellung nicht echt war. Trotzdem hätte Théo sich wenigstens mal die Namen der beiden Damen merken können, die hier im Schloss lebten. Wobei die eine auch noch seine Frau war. Und die andere traurigerweise im Koma lag.

„Claire geht es gut. Aber die siehst du ja jeden Abend beim Essen, ich vermute dann mal, dass deine Frage Tristans Schwester Jana gilt.“

„Ja.“

Wieder musste Christophe lächeln. Er hatte Théo jetzt schon mehrfach zufällig gesehen, wie er sich aus Janas Krankenzimmer schlich. Vielleicht würde sich sein Boss eines Tages noch einmal verlieben, aber solange Jana im Koma lag, waren das natürlich keine guten Aussichten.

„Bei Jana keine Veränderung.“

„Wie macht sich Tristan?“

Tristan war erst vor Kurzem zu ihnen gestoßen. Er war in der Ausbildung und Christophe hatte in letzter Zeit einen großen Teil davon übernommen.

„Sehr gut, er lernt schnell und kann sich kontrollieren. Er ist in den letzten Wochen nicht einmal mehr aus Versehen unsichtbar geworden. Es wäre hilfreich, wenn seine Schwester aufwachen würde. Er macht sich immer noch große Vorwürfe.“

„Er hat ihr damit das Leben gerettet. Faustus hätte sie sonst getötet.“ Théo wurde nachdenklich. „Ich glaube nicht, dass die Faustus-Sache ausgestanden ist.“

„Du denkst immer noch, er war auch für den Anschlag auf Vivienne und dich in Hongkong verantwortlich?“

„Ja. Und ich muss irgendwas übersehen. Er weiß, dass wir alle übersinnliche Fähigkeiten haben. Er kennt uns. Er hat uns beobachtet. Warum zum Teufel, kenne ich ihn nicht?“

Das beunruhigte sie alle, aber es gab bis jetzt keine Antwort darauf. Um sich und Théo abzulenken fragte Christophe: „Auch wenn ich dieses Mal nicht den Bodyguard für Jules spiele, was hat er denn für einen Auftrag?“

„Ein lukratives Ding. Die Büste der Nofretete soll aus dem ägyptischen Museum in Berlin gestohlen werden. Die deutsche Regierung vermutet massive Sicherheitslücken. Sollte es einem von uns gelingen, die Büste zu stehlen, werden sie eine Menge Geld investieren und alle Museen in der Hauptstadt mit neuer Sicherheitstechnik ausstatten.“

„Was natürlich unsere Oberbosse übernehmen werden.“

„Richtig. Die werden eine Menge Kohle verdienen, und das wird auch uns die nächsten Jahre auf diesem Schloss über Wasser halten.“

Christophe musste lächeln. „Und Jules winkt damit eine fette Provision. Freut mich für ihn, er hat es sich echt verdient so einen Hammerauftrag zu bekommen.“

Théo lehnte sich zurück und fixierte Christophe mit seinen hellblauen Augen. „Trotzdem. Wieder hatte ich keine große Wahl, Gerald Sorel hat vorgegeben, dass ich Jules nehmen soll. Das gefällt mir nicht.“

„Das letzte Mal, als Sorel so etwas vorgab, war Faustus mit im Spiel.“

Théo nickte. „Aber er wird doch nicht so dumm sein, zwei Mal auf den Typen hereinzufallen?“

„Wie denn?“, fragte Christophe. „Er weiß doch jetzt, wie er aussieht.“

Christophe wäre fast vom Stuhl gefallen, als Théo ihm zum ersten Mal fragte: „Was würdest du an meiner Stelle tun?“

Théo war der Boss. Der König. Der Diktator in diesem Schloss. Noch nie hatte er jemand anderen um dessen Meinung gebeten. Christophe überlegte genau, bevor er antworte. „Ich würde folgendes tun …“

Der Spiegel zerbrach und mit einem Klirren landeten die Scherben auf dem Boden.

Dr. Faustus starrte auf die Unordnung, die er angerichtet hatte. Der letzte Anfall war ein paar Monate her. Damals hatte der gescheiterte Mordversuch an Christophe Ledoux, Tristan Moulin, dessen Schwester und Jules Bonnet, ihn dazu gebracht, auszurasten und sein Büro zu zerlegen. Dann war es passiert. Nach über vierzig Jahren hatte er wieder einen Anfall gehabt. Über vierzig Jahre hatte er sich einreden können, dass er ganz normal sei. Doch das war er nicht. Wenn der Spiegel noch intakt wäre, hätte er es erneut bezeugen können. Man hatte ihn wieder seiner Identität beraubt. Vierzig Jahre lang war er als normaler Mensch durch die Gegend gelaufen, war gealtert, hatte sich ein kleines Wirtschaftsimperium aufgebaut und jetzt das. Der Anfall war schlimm gewesen. Er hatte mehrere Tage gedauert. Jeder einzelne Knochen in seinem Körper war zerbrochen und hatte sich dann schmerzhaft wieder zusammengesetzt. Die Haut hatte sich aufgelöst, so als sei sie mit Säure übergossen worden und jeder Muskel, jede Sehne in seinem Körper war zerrissen worden.

Alles hatte sich neu geformt unter Schmerzen, die ein normalsterblicher Mensch nie hätte aushalten können.

Der Blick in den Spiegel wäre für andere vielleicht ein Grund zur Freude gewesen, immerhin blickte ihm jetzt kein älterer Herr mehr entgegen. Er schätzte sich selbst auf Ende zwanzig. Pechschwarzes, dichtes Haar, leuchtend braune Augen, eine athletische Figur. Sein Körper fühlte sich jung und gesund an. Fast. Denn dieses eine Detail blieb immer. Die Hoden, die man ihm entfernt hatte, wuchsen nie nach.

Er musste aufhören, sich selbst zu quälen. Seufzend drehte sich Faustus um und ging vom Bad ins angrenzende Schlafzimmer. Er hatte schließlich beschlossen, das Spiel in einen Krieg zu verwandeln. Christophe Ledoux war leider dem Spiel nicht zum Opfer gefallen, doch Jules Bonnet würde sein erstes Kriegsopfer werden. Er warf einen Blick zurück auf die Scherben im Bad. Noch vor ein paar Monaten hätte er hektisch alles gesäubert. Doch vielleicht hatten seine Ordnung und seine Regeln ihn gehemmt. In einem Krieg musste Chaos herrschen. Ein Chaos, das er beherrschen würde. Schlachten mussten gewonnen werden, um am Ende endlich Théo zu bekommen. Der Mann, der stellvertretend für alles stand, was ihm widerfahren war.

Hass war etwas Schönes, er trieb einen an, half einem, am Leben zu bleiben.

Jules ließ den Blick durch das Chat Noir gleiten. Heute war nicht viel los. Die blonde Frau ihm gegenüber nippte an ihrem Cocktail. Jules entgingen die bewundernden Blicke nicht, die sie ihm ständig zuwarf. Ja, da würde heute Nacht bestimmt was gehen.

„Hattest du so einen harten Tag wie ich?“ Sie lehnte sich zurück und plapperte drauflos.

Jules schaute auf ihre Brüste. Seine Gedanken schweiften ab. Es interessierte ihn nicht wirklich, welche Schüler in ihrer Klasse aufsässig waren. Nach dieser Nacht würde er sie sowieso nicht wiedersehen. Feste Beziehungen waren nichts für ihn. Bindungen machten ihm Angst. Seit seinem zwölften Lebensjahr war er auf sich allein gestellt. Wenn er bedachte, wie weit er es seitdem gebracht hatte, konnte er durchaus zufrieden sein. Es lief verdammt gut. „Du hast ein wunderschönes Lächeln.“

Jules’ Mundwinkel zuckten. Er hatte nicht sie angelächelt. „Du aber auch. Und? Hast du schon Pläne für die Schulferien?“ Nicht, dass ihn das interessiert hätte. Er konnte sich wirklich glücklich schätzen. Er kam viel rum. Jetzt dieser Job in Berlin. In seinem Zimmer hatte er bevor er ging noch Gerald Sorels Auftragsbestätigung gefunden. In Deutschland war er bisher noch nicht gewesen. Er dachte an die anderen Mitglieder des Teams. Manchmal wunderte es ihn, dass er der Einzige in diesem Kreis war, der Verabredungen hatte. Théo hasste Frauen. Warum auch immer. Bei Maurice dagegen konnte er verstehen, warum dieser lieber für sich blieb. Vernarbt, tätowiert, da hatte man nicht so große Chancen. Christophe sah verdammt gut aus und seit dem letzten Auftrag hatte er auch eine wunderschöne Frau an seiner Seite. Jules mochte Claire, sie hatte es geschafft, dass der so ruhige Christophe aus seinem Schneckenhaus herausgekommen war. Clément interessierte sich nur für Geld und Pascale hatte wohl zu viel damit zu tun, die unkontrollierten Wutausbrüche seines Bruders Maurice im Zaum zu halten. Tristan war noch nicht lange bei ihnen, aber seine Ausbildung und seine kranke Schwester schienen ihn davon abzuhalten, Verabredungen zu treffen. Dennoch klappte das Zusammenleben im Schloss recht gut. Dies war eine der Bedingungen, die man im Vertrag der Sicherheitsfirma zu unterschreiben hatte. Sie mussten alle zusammen in diesem Schloss leben und jederzeit erreichbar sein. Eine eigene Wohnung war nicht erlaubt. Jules hatte das nie gestört. Das Schloss war groß genug, manchmal liefen sie sich tagelang nicht über den Weg.

„Du erzählst mir ja kaum was über dich. Ich glaube, ich habe genug geredet. Also du arbeitest für eine Sicherheitsfirma.“

Jules hätte gern die Augen verdreht. Dass Frauen immer so viel reden mussten. „Ja. Aber ich unterliege der Geheimhaltungsstufe.“

„Wow, ist das aufregend.“

„Und nicht nur das. Ich bin auch sehr aufregend. Ich kann es dir zeigen.“ Er nahm ihre Hand. Hieß sie jetzt Jasmine oder Jaqueline? „Hey, wie wäre es, wenn wir woanders hingehen?“

Sie kicherte. „Zu dir oder zu mir?“

„Zu dir.“ Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Gern hätte er mal einer Frau gezeigt, in was für einem prachtvollen Schloss er lebte, aber Théo duldete keine Frauen im Haus. Zumindest war das vor Claire und Jana so gewesen, aber das war auch etwas anderes. Die beiden waren keine flüchtigen One-Night-Stands eines Teammitgliedes. Claire arbeitete sogar mit ihnen zusammen. Sie hatte schließlich auch eine übersinnliche Fähigkeit. Jules war sicher, dass Théos ablehnende Haltung Frauen gegenüber nicht nur mit ihrem Beruf zu tun hatte. Selbst eine weibliche Haushälterin hatte Théo vehement verweigert. Jetzt hatten sie diesen alten Butler in den Fluren herumschlurfen.

Er warf ein paar Euros auf den Tisch und sie verließen das Lokal.

„Mann, siehst du verpennt aus.“

„Oh, Morgen Pascale.“ Jules rieb sich über die Augen. Während er sich einen schwarzen Kaffee genehmigte, fragte er sich mal wieder, wie Pascale es schaffte, immer perfekt auszusehen. Die langen, braunen Haare waren ordentlich zu einem Zopf gebunden und bereits um neun Uhr saß er im Anzug am Frühstückstisch. Armani, was anderes schien er nicht im Schrank zu haben.

„Der Boss will dich sehen.“ Pascale rümpfte die Nase. „Du warst bestimmt noch nicht duschen.“

„Doch.“

„Du bist aber nicht rasiert.“

„Hast du den Röntgenblick oder eine Kamera bei mir im Bad?“

Die perfekt gezupften Augenbrauen von Pascale schnellten nach oben. „Erspar mir die Details. Schau mal in den Spiegel.“

Jules nahm die silberne Thermoskanne und versuchte, sich darin zu spiegeln. Er sah trotz Dusche ein wenig verschlafen aus, das war aber auch alles. Zum Rasieren war er tatsächlich nicht mehr gekommen. Schließlich hatte er noch ein wenig googeln müssen.

„Jetzt lass den Boss nicht warten. Ich kann das dann nämlich wieder ausbaden.“

„Wieso?“

„Habe heute auch noch ein Gespräch mit ihm.“

Jules nickte und wollte sich schnell das letzte Croissant schnappen.

„Vergiss es.“ Pascale riss es ihm grinsend aus der Hand.

„Sollte ich jemals an Magenkrebs sterben, weil ich wegen dir nur schwarzen Kaffee am Morgen bekomme, schuldest du mir ne pompöse Beerdigung.“

„Mach ich, ich vergrab dich hinten im Garten, kauf mir nen Pudel und lass ihn draufpinkeln.“

„Ich liebe dich auch, Pascale.“

Théo blickte von seinen Papieren auf, als Jules eintrat.

„Ich dachte schon, du stehst heute gar nicht mehr auf“, brummte er.

„Es ist halb zehn, also im Grunde mitten in der Nacht.“

„Ich frag lieber erst gar nicht, was du gestern getrieben hast. Lass uns zur Sache kommen.“

Jules verkniff sich die Bemerkung, dass Théo lieber doch fragen sollte. Sex war gut für die Laune, aber stattdessen sagte er: „Hast du schon Details für mich?“

„Ja.“ Er rollte mehrere große Pläne auf dem Tisch aus. „Was weißt du über die Büste der Nofretete?“

„Sie ist aus Kalkstein und bemaltem Stuck. Die Augeneinlage ist Bergkristall. 47 cm hoch und im Gegensatz zu vielen anderen Fundstücken ist sie noch sehr gut erhalten. Sie stammt aus der 18. Dynastie, also wurde sie um 1340 vor unserer Zeitrechnung gefertigt. Die Deutsche Orient-Gesellschaft hat sie am 6. Dezember 1912 unter der Leitung von Ludwig Borchardt entdeckt. Sie wurde im Haus des Oberbildhauers Thutmosis in Tell el-Amarna gefunden. 1913 wurde sie mit Genehmigung der Ägypter nach Deutschland gebracht. Sie ist derzeit im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ist die Hauptattraktion im Ägyptischen Museum Berlin.“

„Was weißt du über das Museum?“

„Es ist seit 2009 im Nordflügel des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel untergebracht.“

Théo nickte. „Da hat einer seine Hausaufgaben gemacht.“

„Außerdem habe ich herausgefunden, dass es immer wieder Ärger um die Büste gab. Die Ägypter verlangten immer wieder die Rückgabe. Nach dem zweiten Weltkrieg wollten die Amerikaner sie haben. Da die Nationalsozialisten sie aber nicht im Zuge des Krieges entwendet hatten, verblieb sie in Deutschland. Selbst innerhalb Deutschlands hat man sich um sie gestritten.“

„Das ist richtig und seit 2000 kommen auch immer wieder verstärkt Forderungen aus Ägypten. Deswegen ist die Sache eine heikle Angelegenheit. Sollte mit der Büste etwas passieren …“

Jules wollte es nicht hören. „Ja, ist schon klar, aber warum entscheidet sich die Regierung ausgerechnet für so ein Ausstellungsstück?“

Théo zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil sie im Endeffekt nicht glauben, dass du es tatsächlich schaffst.“

Er drehte die Pläne um, sodass Jules sie betrachten konnte. Er spürte zwar, dass Théo ihn beobachtete, aber das gewohnte Kribbeln in seinem Inneren setzte ein. Diesen Auftrag liebte er schon jetzt.

„Durch die Kanalisation.“ Er sah auf und Théo lächelte ausnahmsweise. „Jetzt sag schon, dass ich verdammt gut bin.“

„Das wird sich zeigen, aber ich würde den gleichen Weg nehmen. Und dann?“

„Ich komme direkt in diesem Kellerschacht raus.“ Jules überlegte einen Moment. „Welche Technik für Sicherheitsschranken haben die?“ Er griff sich die nächsten Pläne. „Wenn ich die Codes hier dechiffriere, dann kann ich die Sicherheitsschranken passieren. Dreißig Minuten habe ich, wenn ich das richtig sehe.“

„Ich bin beeindruckt. Bist du sicher, dass du nichts übersehen hast?“

„Die guten alten Kameras habe ich vorher schon überspielt. Ich hacke mich einen Tag vorher ins System, kopiere eine normale, ereignislose Nacht. Speise die Kopie an der Onlineschnittstelle ein und keiner wird mich sehen.“

„Okay, sonst noch was?“

„Die Büste selbst ist vermutlich noch mal gesichert. Ich muss rausfinden wie, oder? Die Deutschen werden in der Regel von uns beliefert, was die direkte Exponatsicherung angeht. Ich vermute, du warst schon im System und hast dir die Liste der Firmen angesehen?“

„Ja, war nicht schwer, sich da einzuhacken. Hier sind die Unterlagen.“

„Danke.“ Jules vertiefte sich wieder. „Ach, da brauche ich doch nur den ganz normalen Störsender und ich kann die Büste einpacken.“

„Du klingst fast enttäuscht.“

„Na ja, ich dachte die hätten sich was Spannenderes einfallen lassen. Ich mach dir dann eine Liste, was ich benötige.“

„Ja. Jules, sei bitte vorsichtig.“

„Hast du Angst, dass ich Frau Nofretete fallenlasse?“

„Wäre dir zuzutrauen. Ich meine die Wachmänner. Die sind bewaffnet. Sie sind nicht eingeweiht. Wenn es nicht klappt und sie dich erwischen, ergibst du dich sofort, lässt dich verhaften und sobald du deinen ersten Anruf tätigen kannst, wird die Sache geklärt. Keine Heldentaten, keine Alleingänge, keine halsbrecherische Flucht. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, wenn sie mich erwischen, lass ich die Alte fallen und hau ab.“ Als Jules Théos Gesichtsausdruck sah, sagte er: „Ist schon klar. Aber die Büste ist so gut wie weg.“

2

Jules schlenderte durch das Neue Museum. Die deutsche Regierung hatte ihn einfliegen lassen, aber mehr Hilfe konnte er nicht erwarten. Er war in der Nähe unter falschem Namen in einem Appartement untergebracht.

Unauffällig sah er sich um. Zufrieden stellte er fest, dass alles soweit mit den Plänen übereinstimmte. Théo hatte mal wieder gute Vorarbeit geleistet. Jules war froh, im Außendienst tätig zu sein. Den ganzen Tag am PC zu sitzen und nur Planung und Organisation zu übernehmen, würde ihn schon nach kurzer Zeit langweilen.

Die Wachen interessierten ihn am meisten. Sie waren bewaffnet, aber nicht alle, und nicht alle waren in körperlich guter Form. Jules studierte ihren Wach-Rhythmus. In der Nähe der Büste hielten sich die meisten auf. Die war ja auch mindestens 300 Millionen Euro wert. Er schaute auf seine Uhr. Zeit, etwas zu essen. Für heute hatte er genug gesehen. Er war nun mit den inneren Örtlichkeiten vertraut. Die Pläne waren in seinem Kopf gespeichert. Morgen musste er sich noch mit den äußeren Gegebenheiten abgeben. Die Abläufe noch einmal genau überprüfen und sich um die Kameras kümmern. Am Wochenende konnte es losgehen.

Maurice legte in seinem Hotelzimmer die Beine auf den kleinen Tisch vor ihm. Gelinde gesagt ging es ihm ziemlich gegen den Strich, in Berlin festzusitzen. Das war ja noch nicht mal ein eigener Auftrag, den Théo ihm zugeteilt hatte, nur ein Babysitterjob. Seit Monaten ging das nun schon so. Sie passten gegenseitig aufeinander auf. So nannte Théo es zumindest. Maurice nannte es Zeitverschwendung. Noch viel weniger passte es ihm, dass er seinem Boss auch noch Bericht erstatten musste. Er hasste es, zu telefonieren. Da musste man reden und das war nicht sein Ding. Es dauerte eine Weile, doch dann hob Théo am anderen Ende der Leitung ab.

„Und was macht er?“

„Das, was er machen soll. Er bereitet sich vor.“

„Hat er dich bemerkt?“

Mehr als ein missbilligendes Schnauben brachte Maurice nicht über die Lippen.

„Ich will, dass er sich nur auf den Auftrag konzentriert. Er ist nicht in Berlin, um feiern zu gehen.“

„Warum sollte er?“

„Weil er eine Schwäche für Frauen hat.“

„Warum auch nicht. Es hat seine Arbeit bisher noch nicht beeinträchtigt. Und bevor du etwas sagst, das wird es auch dieses Mal nicht.“

„Okay, ich zähle auf dich.“

„Warum ausgerechnet auf mich?“ Doch Maurice bekam keine Antwort, Théo legte auf. Anhand seines Handys konnte er mit dem neuen Ortungsprogramm feststellen, wo sich Jules aufhielt. Er bewegte sich. Sicher hatte er Hunger und machte sich auf den Weg in die Stadt. Maurice hätte sich gern auf dem Bett ausgestreckt, doch laut Auftrag musste er Jules nun folgen. Er zog die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht, doch die Narben würde das nicht verdecken.

Jules konnte sich nicht helfen. Er hatte immer mal wieder diese Bauchgefühle in seinem Leben. Lag es an dem Auftrag? 300 Millionen waren kein Pappenstiel. Das wertvollste Exponat, für dessen Diebstahl er bisher zuständig war. Er freute sich auf den Auftrag. Dennoch war da dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Er saß in einem kleinen Restaurant an der Spree. Alkohol war in den nächsten Tagen tabu, also nahm er einen großen Schluck Mineralwasser. Wer sollte ihn verfolgen? Niemand wusste, dass er hier war, geschweige denn, was er vorhatte.

Sein Steak wurde serviert und er begann zu essen. Natürlich wusste die deutsche Regierung Bescheid. Jules lächelte. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie ihn entgegen der Abmachung beschatten ließen. Vertrauen war gut, Kontrolle besser. Als er aufgegessen hatte, verlangte er nach der Rechnung und brach auf, denn er wollte sich die Insel noch mal bei Nacht ansehen.

Am heutigen Donnerstag hatten die Museen auf der Insel etwas länger geöffnet. Sein Raub würde also am Wochenende stattfinden. Die Erfahrung lehrte, dass an Wochenenden die Polizei ihre Aufmerksamkeit auf andere Delikte zu richten hatte. Samstagnacht wäre also der perfekte Zeitpunkt. Jules’ geschultes Auge entging nichts. Jede Menge Touristen hielten sich in Berlin auf. Japaner mit Kameras, Amerikaner, Franzosen, Russen, hier waren alle Nationalitäten vertreten. Perfekt, um nicht aufzufallen. Jules ging um das Neue Museum herum. Er schaute sich das Mauerwerk an und stutzte. Eine kleine Markierung in blau, etwas über dem Boden, erregte seine Aufmerksamkeit. Es sah aus wie ein Kreis mit einer Rose innen. Er ging in seinem Kopf den Grundriss durch. Hier unter ihm befand sich der Raum, in dem er Samstagnacht rauszukommen gedachte. Wieder war da dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Er wollte lieber nicht länger stehen bleiben. Schnell ging er in die Knie und tat, als müsse er sich den Schnürsenkel seines Turnschuhes binden. Heimlich machte er mit seinem Handy ein Foto von dem Symbol. Vielleicht würde er im Internet etwas dazu finden.

Doch einige Stunden später warf Jules frustriert das Papier seines Schokoriegels in den Abfalleimer. Nirgendwo konnte er etwas zu diesem Symbol entdecken. Er durchforstete schon seit Stunden das Internet. Er könnte Théo um Hilfe bitten, aber schon bei dem Gedanken daran, drehte sich ihm der Magen um. Entweder hatte das Zeichen nichts zu bedeuten und er machte umsonst die Pferde scheu oder falls doch, wollte er es lieber allein herausfinden. Jetzt nahm er sich doch ein Bier aus dem Kühlschrank. Da stimmte etwas nicht. Die Frage war, wie lange diese Markierung auf der Mauer existierte. Sie sah frisch aus. In Kunstdiebenkreisen eine beliebte Art zur Kommunikation. Es gab nur eine Möglichkeit. Sein Ding musste bereits morgen Nacht steigen!

3

Maurice war beunruhigt. Sowas kam selten vor, denn die meiste Zeit ging ihm so gut wie alles am Arsch vorbei. Laut Plan sollte der Coup Samstagnacht stattfinden. Jules war auf dem Weg in die Kanalisation. Vor ein paar Minuten hatte Maurice das Signal verloren. Auch Maurice war auf dem Weg zur Museumsinsel. Zweimal hatte er schon Théos Nummer eingetippt, diesen aber dann doch nicht angerufen. Wenn eine Planänderung vorlag, hätte Théo ihn informiert. Jules zog da irgendeine andere Nummer ab.

Jules nahm den Rucksack von den Schultern. Dieser war gepolstert und hatte exakt die Größe, um die zwanzig Kilo schwere Büste darin zu verstauen. Er öffnete das vordere Fach und nahm den Laptop heraus. Das System brauchte nicht lange, um hochzufahren.

Die Kanalisation hatte er hinter sich gebracht. Er stand vor der unterirdischen Stahltür, die ihm Zugang zum Museum gewähren sollte. Während er die Programme öffnete, überlegte er sich, wie er die Stahltür aufbekam. Die Tür war nicht mit seinem Dietrich zu öffnen, wie er geplant hatte. Sprengstoff kam nicht in Frage. Den hatte er nicht dabei und das hätte zu viel Aufsehen erregt. Blieb also nur die Möglichkeit, sich ins Sicherheitssystem des Museums zu hacken und dann zu hoffen, dass er darüber Zugang bekäme. Ihm wurde heiß unter seiner Mütze, die sein Gesicht bis auf die Augen vermummte. Mehrere Fenster auf seinem Laptop waren geöffnet.

Das Wärmesensorenprogramm war mit den Koordinaten seiner Position gespeist und er konnte nun die meisten Räume des Museum einsehen. Rote Punkte bewegten sich auf dem Bildschirm. Die Wachleute, die ihre Runden drehten. Er brauchte mehrere Minuten, um ins Sicherheitssystem zu kommen. Die Türen waren automatisch abriegelbar. Das war gut, so konnte er den Mechanismus kurz ausschalten und die Tür vor ihm öffnen. Er musste das Risiko eingehen, dass jemand genau in diesen paar Sekunden auf die Schalttafel im Überwachungsraum schaute. Dort würde ein rotes Lämpchen leuchten. Jules atmete tief durch. Im Überwachungsraum war nur eine Person, erkannte er aufgrund des roten Punktes.

Jetzt oder nie.

Er setzte anhand eines übergeordneten Matchcodes die Verriegelung sämtlicher Türen außer Kraft. Schnell griff er zur Klinke, öffnete die Stahltür und stellte den Rucksack dazwischen. Mit fliegenden Fingern gab er den Verriegelungscode ein und wartete gespannt. Im Überwachungsraum tat sich nichts. Der rote Punkt bewegte sich nicht.

Jules atmete erleichtert aus. Der Wachmann hatte also nichts gemerkt. Er hatte noch ein weiteres Problem, um das er sich kümmern musste. Die Kameras. Sein Plan war hinfällig, er konnte jetzt kein Band mehr überspielen. Er musste reingehen und versuchen, den Kameras auszuweichen und mit Nebelgranaten arbeiten. So blieb ihm kaum Zeit, die Büste zu stehlen. Er überprüfte, ob der Störsender noch richtig an seinem Gürtel saß. Den benötigte er für die Büste selbst. Vielleicht konnte ihm der Sender aber auch bei den Kameras behilflich sein. Wenn der Mann im Überwachungsraum Schnee sah, wusste er nicht automatisch, wo Jules sich aufhielt. Besser als mit Nebelgranaten alle mit der Nase darauf zu stoßen, wo er sich befand.

Jetzt musste er sich nur noch um die Lichtschranken kümmern. Seine Finger flogen wieder über die Tastatur. Er lächelte, als er es geschafft hatte, die unsichtbaren Lichtschranken außer Gefecht zu setzen. Dies hätte ihm dreißig Minuten Zeit verschafft, aber da er nun das Kameraproblem am Hals hatte, nützte ihm das wenig. Er musste schnell sein. Verdammt schnell.

Er warf noch mal einen Blick auf die roten Punkte, die sich auf seinem Bildschirm bewegten. Was machte der Wachmann da in der Nähe der Büste? Wenn Sie den Turnus einhielten, sollten dort die nächsten vierzig Minuten keine Wachmänner auftauchen. Jules’ ungutes Bauchgefühl traf ihn mit voller Wucht. Der Punkt bewegte sich auf die Büste zu.

Er ließ alles stehen und liegen und betrat das Innere des Museums.

Maurice hatte immer noch kein Signal. Untypisch für ihn, aber er machte sich mittlerweile wirklich große Sorgen. Was dazu führte, dass er den ganzen Weg zum Museum vor sich hin fluchte. Jules war dabei, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Wieder und wieder fragte sich Maurice, warum Jules den Plan vorgezogen hatte. Das Neue Museum war geschlossen. Er konnte nichts tun, außer zu warten. Er musste sich beruhigen. Wie ein Tiger im Käfig lief er auf und ab. Früher oder später würde sich etwas tun und dann musste er bereit sein, einzuschreiten. Als Théo ihn gebeten hatte den Babysitter zu spielen, hatte er sich eigentlich gedacht, dass er einfach ein paar nette Tage in Berlin verbringen würde. Aber nein, jetzt schien Théo wieder mal recht zu behalten und er musste sich hier im Dunkeln verbergen. Untätigkeit lag Maurice gar nicht. Frustriert trat er gegen einen Baum und ignorierte den Schmerz in seinen Zehen. Den Schmerz in seiner Faust konnte er nicht ignorieren, der war zu stark, nachdem er den Baum auch mit seiner Hand bearbeitet hatte. Er versuchte, das Pochen in Wut auf Jules umzuwandeln, aber wie immer schaffte er es nicht, Jules wirklich böse zu sein. Prince Charming sollte allerdings einen guten Grund haben, dass Maurice sich vielleicht stundenlang im Schatten des Baumes die Beine in den Bauch stehen musste.

Jules grinste unter seiner Maskierung. Die Kameras waren dilettantisch angebracht. Welche Firma hatte sich das bloß ausgedacht? Bisher hatte er den Störsender noch nicht benötigt. Es gab nur zwei Kameras in jedem Raum, die im Minutentakt von rechts nach links schwenkten. So hatte er genug Zeit auszuweichen und durch die Räume zu laufen. Er hatte das Sensorenprogramm auf sein PDA geladen. Die Wachmänner drehten ihre übliche Runde. Außer einem.

Wer machte sich da an der Büste zu schaffen? Noch ein paar Meter. Jules verlangsamte seine Schritte. Da stand jemand direkt vor der Büste. Am liebsten hätte er geschnaubt. Warum hatte er sich Sorgen um die Kameras gemacht? Die waren mit Sicherheit manipuliert, denn die Person griff seelenruhig an den Kopf der Königin. Der Größe und Figur nach zu urteilen hatte er es mit einer Frau zu tun. Sie trug einen Catsuit. Sie stemmte die Büste in die Höhe und ließ sie anschließend in einen Rucksack gleiten, der seinem sehr ähnlich war. Kein Alarm, kein Wachmann nichts. Jules trat vor.

„Entschuldigung, aber die gehört mir.“