Sinus  (Alpha) - André Rammin - E-Book

Sinus (Alpha) E-Book

André Rammin

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Beschreibung

Herrmann Rütters, Vorstand eines großen Energiekonzerns und Architekt der deutschen Energiemarktreform, wird aufgrund von Korruptionsvorwürfen suspendiert. Gleichzeitig wird er von seiner Frau verlassen. Der Roman zeichnet ein Charakterbild und zeigt, wie ein machtbewusster Mensch mit diesen Situationen umgeht und mit welchen Mitteln und Methoden er versucht, die Angelegenheiten für sich zu lösen, dabei auf ein Netzwerk von Bekannten, Freunden und Geschäftspartnern zurückgreift und stets seine eigene Person, mit ihrem Geltungsbedürfnis, Prestige und finanziellen Interessen im Blick behält.

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Sinus (Alpha)

1. Auflage, erschienen 01-2024

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: André Rammin

Layout: Romeon Verlag

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

ISBN (E-Book): 978-3-96229-609-4

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Handlungen sind rein zufällig. Alle Charaktere und Unternehmen sind rein fiktiv.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

André Rammin

Sinus

(Alpha)

Inhalt

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechszehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Epilog

Prolog

Mit vor Stolz geschwellter Brust stand Herrmann Rütters neben dem Bundespräsidenten und hörte auf die Lobrede, die dieser anlässlich seiner Ehrung hielt. Auf dem Tisch vor dem Fenster standen die Orden bereit, in wenigen Minuten wird ihm das deutsche Staatsoberhaupt das Bundesverdienstkreuz überreichen.

Und wem, wenn nicht ihm, konnte diese Ehre zuteilwerden. Nachdem, was er für das Land geleistet hatte, war es fast schon selbstverständlich, dass man seinen Einsatz gebührend würdigte.

Als Vorstand der Norddeutschen Elektrizitätswerke AG hatte ihn sein alter Freund, der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, gebeten, eine Kommission zur Überarbeitung der deutschen Energiegesetzgebung ins Leben zu rufen und Vorschläge zur Neuausrichtung der Energiepolitik in Hinblick auf eine nachhaltige, klimafreundliche und umweltschonende Energieversorgung der Bundesrepublik Deutschland zu unterbreiten.

Nach jahrelangen, kraftlosen Versuchen und unstetem Kurs in der Politik war es dringend erforderlich gewesen, endlich eine Lösung herbeizuführen. Und da dies auf politischer Ebene offenbar nicht zu erreichen war, hatte er den Bundeswirtschaftsminister, Joachim Pohlmann, davon überzeugt, dass dies nur mithilfe eines Gremiums von Fachleuten gelingen konnte.

Schließlich hatte er von seinem Duzfreund Jochen den Auftrag bekommen und die Kommission zur Vorbereitung der Energiewende in Deutschland gegründet. So war durch ihn, mit dem ausgearbeiteten Gesetzespaket, das Meisterstück einer zukunftsfähigen Energieversorgung geglückt, die sogenannte Rütters-Reform. Diese war der große Wurf, dessen die Bundesrepublik Deutschland bedurft hatte, und diese war mit seinem Namen verbunden.

Mit erhobenem Haupt stand er da, nahm die Huldigungen des Bundespräsidenten in sich auf und blickte auf die in den Stuhlreihen platzierten Gäste. Neben Joachim Pohlmann, dem Bundeswirtschaftsminister, saß da auch seine Ehefrau, die ihm anerkennend zulächelte.

Ja, sie konnte stolz sein, dass er sie auserwählt hatte, an seiner Seite zu stehen, denn Männer seines Formats waren rar. Wenn er dabei die Reihen in der Energiebranche durchging, fiel ihm kein weiterer ein. Denn gerade, um die von ihm entworfenen Reformpläne ausarbeiten zu können, war eingehende Expertise notwendig. Dafür hatte er Energietechnik studiert und dazu einen Abschluss als Wirtschaftsingenieur absolviert. Er hatte danach verschiedene Positionen in der Energiebranche bekleidet und so seine Erfahrungen gesammelt. Später war er in gehobener Stellung bei der NEW, der Norddeutschen Elektrizitätswerke AG, eingestiegen und kurze Zeit darauf in den Vorstand berufen worden, dem er nun bereits seit vielen Jahren angehörte.

Aber nur durch seine fundierten Kenntnisse, sowohl im technischen Bereich als auch auf dem Gebiet der Energiewirtschaft, war es überhaupt möglich gewesen, einen umfassenden Ansatz für die Neuausrichtung in der deutschen Energiepolitik zu finden.

Zudem war es seiner Fähigkeit, Menschen von einer Idee zu überzeugen und sie für diese zu gewinnen, zu verdanken, dass das Gesetzespaket in den breiten Bevölkerungsschichten Akzeptanz gefunden hatte und von einer breiten politischen Mehrheit aus Koalition und Opposition angenommen worden war. Spätestens daran wäre jeder einseitige politische Vorschlag gescheitert.

Also Deutschland war ihm zu tiefstem Dank verpflichtet und löste nun einen kleinen Teil seiner Schuldigkeit mit der Verleihung der Auszeichnung ein. Der Bundespräsident kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Mit einem Blick, leicht von oben herab, nahm er diese und drückte sie, wozu er erhaben mit dem Kopf nickte.

Das deutsche Staatsoberhaupt überreichte ihm sodann das Bundesverdienstkreuz und trat zur Seite, sodass er allein im Mittelpunkt stand. Er stellte sich mit seiner kräftigen Figur noch breiter auf und sonnte sich im Blitzlichtgewitter der Pressefotografen. Er lächelte mit sich und allem zufrieden in jede Kamera und versprühte, von seinem übergroßen Selbstbewusstsein durchsetzt, die majestätische Würde seiner großen Tat.

Erstes Kapitel

Hans Schindler blickte verwundert aus dem Pförtnerhäuschen, als sich der 7er BMW dem Werkstor näherte.

„Nanu“, sagte er zu seinem Kollegen Rudolf Lehmann gerichtet, „das ist doch der Wagen vom Rütters. Wo will der denn hin. Es ist gerade einmal halb fünf durch. Sonst fährt der doch nie vor um sieben nach Hause.“

Auch Lehmann blickte aus dem Fenster. Herrmann Rütters, Vorstandsmitglied der Norddeutschen Elektrizitätswerke AG, rollte langsam auf das Werkstor zu und sah zu den beiden Pförtnern herüber.

Lehmann war von seinem Stuhl aufgestanden und an Schindler herangetreten. Er blickte skeptisch durch das Fenster nach draußen zu Rütters, dessen Silhouette hinter der Windschutzscheibe bei der Spiegelung dieses trüben Novembertages nur undeutlich zu erkennen war.

Schindler, der heute die Schranke bediente, drückte eilig auf den Knopf, um den großen Chef, das Vorstandsmitglied Herrmann Rütters, passieren zu lassen.

So brauchte Rütters seinen Wagen gar nicht erst zu stoppen. Die Schranke ging hoch und das Fahrzeug konnte durchrollen. Gleich danach beschleunigte Rütters wieder und bog auf die Hauptstraße ab.

„Wahrscheinlich hat er noch einen Termin“, meinte Schindler und zuckte mit den Schultern.

Doch Lehmann schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „das glaube ich nicht. Hier ist irgendetwas im Argen. Das sieht nicht gut aus.“

„Ach was, Rudi“, meinte Hans Schindler, „du mit deinen Vorahnungen. Warum soll denn immer alles so komplex und tiefgründig sein. Das kannst du doch gar nicht wissen. Zum Schluss ist es ein ganz simpler Zusammenhang.“

Rudolf, Rudi, Lehmann schüttelte abermals den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht, Hansi. Kurz vor drei ist doch Henning Gundolfsson reingefahren. Und bis jetzt ist er nicht wieder weg. Angelika Schreiber, die Assistentin vom Vorstandsvorsitzenden, Torsten Volkahmer, hat ihn uns angekündigt, und das nicht mal eine Stunde vorher. Das muss ein kurzfristig anberaumter Termin gewesen sein. Und Gundolfsson ist unser Haus- und Hofanwalt, gewöhnlich hat er seine Termine bei Rütters und seine Assistentin gibt uns Bescheid, wenn er erwartet wird. Wenn Volkahmer ihn bestellt hat und Rütters abfährt, bevor Gundolfsson weg ist, dann stimmt da was nicht.“

Schindler, von Rudolf Hansi genannt, neigte den Kopf hin und her. Er konnte nicht von der Hand weisen, was sein Pförtnerkollege gesagt hatte, aber so wirklich glauben wollte er es doch nicht.

„Mag sein, Rudi. Aber Rütters ist doch eine integre Persönlichkeit. Was soll denn da vorgefallen sein. Denk dran, Joachim Pohlmann, der Wirtschaftsminister, hatte ihn damals sogar als Berater bei seiner großen Gesetzesreform engagiert.“

Rudolf zog die Augenbrauen hoch. „Gewiss“, sagte er zu Hans, „aber das Leben läuft in einem immerwährenden Kreis, mal bist du oben, mal bist du unten.“ Er nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und lehnte sich vielsagend zurück.

Hans lachte verschmitzt auf. „Ja, du hast Recht, Rudi. Kannst du dich an die Zeiten erinnern, als es im Vorstandsgebäude noch den Paternoster gab. Auch der fuhr immerwährend im Kreis. Und wir haben viele Vorstände und Manager gesehen. Hochfahren – und auch wieder runter!“

Rudolfs Mundwinkel zuckte kurz genüsslich. „Sicher“, sagte er, „und noch etwas: Alles läuft im Kreis, man kann es zu einer Kurve ausrollen – als sogenannte Sinusfunktion.“

Lehmann nahm eine alte Karteikarte, die auf dem Tisch lag und zeichnete einen Kreis darauf. Dann schnitt er den Kreis aus, knickte das ausgeschnittene Pappstück genau in der Mitte und schnitt ihn an der Kante in zwei Hälften. Nun ging er zu der alten Tafel, die an der Wand hing, und zeichnete mit Kreide eine senkrechte Linie, und eine waagerechte, die genau in der Mitte der senkrechten Linie begann. An die Enden oben und rechts malte er Pfeile. Er nahm nun den einen Halbkreis aus Pappe, legte ihn an der waagerechten Linie, mit der Rundung nach oben an und fuhr mit der Kreide drum herum. Er griff zu dem zweiten Halbkreis, legte ihn mit der Rundung nach unten an, genau dort, wo der erste Halbkreis auf der waagerechten Linie endete, und zeichnete diesen nach. Er wechselte mit dem ersten Halbkreis auf die andere Seite des zweiten Halbkreises, zog den Kreidestrich und legte dann, wieder rechts der Pappe den zweiten Halbkreis an, um diesen unterhalb der Linie anzuzeichnen. So waren im Wechsel zwei Bögen oben und unten zu sehen.

Der Pförtner legte die Pappen zur Seite, betrachtete das Abbild und deutete dann mit dem Kreidestück auf den höchsten Punkt des ersten Halbkreises. „Hier befand sich Rütters, als er seine Energiemarktreform präsentiert hat“, meinte er zu seinem Kollegen gewandt, „und heute ist er vielleicht hier unten.“ Er tippte auf den Punkt des zweiten Halbkreises, der einen Tiefpunkt in der Linie symbolisierte.

Hans Schindler schaute ihn und die Kreidezeichnung interessiert an. „Und du wirst sehen“, fügte Lehmann prophetisch hinzu, „irgendwann ist er auch wieder hier oben.“ Er markierte die Stelle des zweiten oberen Wendepunktes am dritten Halbkreis. „So verhält es sich nun mal mit machterfüllten Menschen wie ihm, sie können eben nicht anders. Erst geht es rauf und dann wieder runter, ein stetes Auf und Ab.“

Herrmann Rütters sah Schindler und Lehmann in ihrem Pförtnerhaus, als er auf die Schranke zufuhr. ‚Kaum zu glauben‘, dachte er bei sich, er konnte sich nicht erinnern, jemals zwei andere dort gesehen zu haben. Manchmal unterhielt er sich mit ihnen, wenn er eines Meinungsbildes innerhalb der Belegschaft bedurfte.

Die müssen schon dagewesen sein, als er hier angefangen hatte. Das ist schon fast zwanzig Jahre her! Und nun? Nostalgie konnte sich jetzt nicht breitmachen. Herrmann kam gleich wieder die Galle hoch, er musste sofort an das Gespräch von gerade eben mit Volkahmer und Gundolfsson denken. Gundolfsson, gerade der, den er für einen Vertrauten gehalten hatte, stand auf einmal auf der anderen Seite!

Herrmann konnte nur einen müden Blick für Schindler und Lehmann erübrigen. Er wollte jetzt hier raus, es reichte ihm für heute. Was morgen werden sollte, wusste er sowieso noch nicht. Seine Gedanken hatten sich bei dem soeben kontrovers ausgegangenen Termin verhangen, weiter konnte er noch nicht denken.

Er rollte unter der Schranke durch, trat ein wenig aufs Gaspedal und sein Wagen fuhr an die Hauptstraße heran. Herrmann bog nach rechts in den fließenden Verkehr ein. Ihn zog es erst einmal nach Hause, warum auch immer, denn zielgerichtet lenkte er seinen BMW nicht dorthin.

Die grellen Lichter der Scheinwerfer von den entgegenkommenden Fahrzeugen auf der zum Feierabendverkehr viel befahrenen Straße strömten ihm aus der Dämmerung entgegen. Er spürte ein Gefühl der Erschöpfung, aber nur Millisekunden später merkte er, wie ein Adrenalinstoß seinen Körper aufrüttelte. Nein, er konnte jetzt nicht klein beigeben. Was denken die sich wohl, er musste aktiv gegen die aufkommende Bedrohung ankämpfen.

Dieser Volkahmer, dieser Streber, er war stets nur mehr schlecht als recht mit ihm ausgekommen. Sein Ehrgeiz war ihm suspekt. Schon wie er sich präsentierte, mit seinem eleganten Haarschnitt, der schlanken Figur und dem einnehmenden Lächeln. Nun, er war gerade mal sechs Jahre älter als Volkahmer, der wirkte ihm gegenüber aber bedeutend jünger, fast jugendlich für seine Position.

Also, was hatte er schon gegen dessen Berufung tun können. Warum hätte er etwas gegen dessen Berufung zum Vorstandsvorsitzenden tun sollen? Doch nun war es Zeit, Front gegen ihn zu beziehen. Jetzt sollte er ihn mal kennenlernen!

Augenblicklich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er musste Pohlmann anrufen. Und wenn er gerade eben noch nicht gewusst hatte, was zu tun war, wählte er jetzt instinktiv die Nummer seines Freundes über die Freisprecheinrichtung seines Mobiltelefons.

Herrmann suchte die Dienstnummer des Bundesministers für Wirtschaft und Energie heraus, während sein BMW im dichten Verkehr auf der sechsspurigen Straße mitschwamm. Als er die Nummer gefunden hatte, drückte er die Taste für den Verbindungsaufbau.

Es klingelte am anderen Ende und die Sekretärin ging ran. „Hallo, Frau Pallmer.“ Er grüßte sie freundlich und zwang sich zu einer betont heiteren Stimmung. Er spürte, dass ihm dies widerlich vorkam, aber es war klar, dass er sich nichts anmerken lassen konnte.

„Hier ist Herrmann Rütters“, sagte er weiter, „ich wollte gern den Minister sprechen, wenn er kurz Zeit für mich hat.“

Rütters bemerkte, wie die Sekretärin zögerte, bevor sie schließlich gedehnt antwortete: „Äh, tut mir leid, Herr Rütters, der Minister ist gerade in einer Besprechung. Kann ich ihm etwas ausrichten.“

Schon aus einem Affekt heraus verzogen sich Herrmanns Mundwinkel. Die Pallmer, die noch nie seine Kragenweite war, musste nun nicht gleich erfahren, worum es ging. Und warum war sie so zögerlich? War Pohlmann wirklich gerade nicht zu sprechen oder steckte mehr dahinter?

Herrmann fasste sich schnell. „Nun, es geht um eine Angelegenheit bei uns, bei der NEW“, sagte er und blieb in seinem Anliegen ungenau. „Es dauert nicht lang, ist aber wirklich wichtig. Können Sie ihn nicht kurz ans Telefon holen?“

Dorothea Pallmer zögerte wieder und sagte schließlich: „Nun, also ich glaube, im Augenblick ist das wirklich nicht möglich. Ich kann Herrn Minister Pohlmann tatsächlich nur eine Nachricht hinterlassen, dass er Sie zurückruft.“

Herrmann rollte mit den Augen. Er konnte förmlich sehen, wie die Pallmer einen verstohlenen Blick zur Seite geworfen hat, während sie sprach. Wo hat sie bloß hingeschaut, von wem ein Zeichen erwartet. Dass Pohlmann nicht erreichbar war, schien ihm nun unglaubwürdig.

Aber es nutzte nichts. Seine grauen Zellen liefen auf Hochtouren, sein Blutdruck stieg, er konnte es fühlen, und auf den Verkehr musste er auch noch achten.

„Ja, bitte Frau Pallmer, hinterlassen Sie ihm eine Nachricht. Ich bitte um dringenden Rückruf.“

„Das werde ich tun, Herr Rütters. Dann auf Wiederhören“, sagte Frau Pallmer und legte auf.

Rütters war überrascht, das Gespräch war jetzt aber schnell zu Ende gegangen. „Ja, Wiederhören“, rief er noch verächtlich ins Telefon. Vorbei war es mit der aufgesetzten Heiterkeit, aber die Verbindung war eh bereits unterbrochen.

Nur, die Pallmer brauchte nicht zu denken, dass er sich abwimmeln ließ. Aus dem Blickwinkel heraus verfolgte er den Straßenverkehr und lenkte leicht nach links, um den Straßenverlauf seiner Fahrspur einzuhalten.

Schon wählte er an seiner Freisprecheinrichtung die nächste Nummer. Die Mobilfunknummer von Pohlmann, als sein guter Kumpel hatte er die natürlich.

In den Zeiten als Joachim Pohlmann noch Ministerpräsident in diesem nördlichen Bundesland und als Aktionärsvertreter des Landes im Aufsichtsrat seiner Firma gesessen hatte, hatten sie sich so gut verstanden, dass sie sich auch privat nähergekommen waren, des Öfteren einen Abend zusammen in die Kneipe gegangen waren und sogar mit ihren Ehefrauen manches Wochenende gemeinsam verbracht hatten.

Die Erinnerungen flackerten kurz auf, als er hörte, wie die Nummer angewählt wurde. Der Verbindungsaufbau dauerte einen Moment länger, da erst das Empfangsgerät lokalisiert werden musste, doch dann erklang das Besetztzeichen.

Von wegen Pohlmann in einem Termin und unabkömmlich. Wie konnte dann sein Handy besetzt sein. Rütters beendete die Verbindung.

Die Autoschlangen zogen sich die Straße entlang, die Vororte rückten langsam näher. Der Verkehr floss im hektischen Nachmittagstreiben dahin, Fahrzeuge bogen ab und bogen ein, wechselten die Spur, bremsten und beschleunigten und Herrmanns gedankenverlorener Blick haftete an den Rücklichtern des ihm vorausfahrenden Transporters.

Müdigkeit, Abgespanntsein, Stresserscheinungen machten sich breit. Er wusste nicht, wie lange dieser Zustand angedauert hatte, wie weit er seit dem Telefonat gefahren war. Waren es ein paar Minuten oder nur wenige Sekunden, vielleicht auch nur Bruchteile davon gewesen, er hätte es nicht sagen können.

Doch dann erlebte er einen neuen Energieausbruch. Sein Körper, sein Geist lehnten sich auf gegen die Lethargie. Und augenblicklich wählte er wieder die Nummer auf seinem Smartphone.

Er drückte gleich die Wahlwiederholung und probierte es noch mal bei Pohlmann auf dem Mobiltelefon. Und diesmal klingelte es.

Er hörte den Rufton – einmal, zweimal … zehnmal ... Warum ging Pohlmann nicht ran, er war doch gerade noch am Handy gewesen. Da konnte etwas nicht stimmen. … fünfzehnmal … Herrmann würde jetzt nicht lockerlassen. Das war der Jochen ihm schuldig, dass er ihn jetzt nicht im Stich ließ. Wer hat denn für ihn die Novelle der Energiegesetze ausgearbeitet … zwanzigmal … Wenn er in einer Besprechung war, wäre seine Mobilbox rangegangen, Jochen leitet sein Handy immer konsequent um. Also war er jetzt erreichbar … achtundzwanzigmal … Jetzt ging jemand ran.

„Pohlmann“, sagte eine abgehetzt klingende Stimme, aber Rütters bemerkte – völlig unbewusst – die gekünstelte Atemnot. Sein Freund Jochen war wegen ihm in ziemlicher Aufregung.

„Ja, Jochen, hallo. Zum Glück bist du doch noch rangegangen. Herrmann, hier.“ Er bemühte sich um einen möglichst unverbindlichen Ton.

„Hallo, Herrmann“, antwortete Minister Pohlmann spürbar verlegen. Entweder hatte er nicht auf sein Handy geschaut, wer ihn anrief, bevor er rangegangen war oder Joachim hatte sich der Situation nicht anders zu entziehen gewusst, als mit ihm zu sprechen, das war Herrmann klar. Und Joachim musste irgendeine Ahnung haben, was bei ihm los war. Wie sollte er aber schon Bescheid wissen. Sein Gespräch bei Volkahmer und Gundolfsson war kaum eine halbe Stunde her. Und wer sollte nun ausgerechnet Pohlmann so schnell informiert haben, der hatte doch gar nichts mehr zu tun mit der NEW.

Herrmann realisierte blitzschnell die Situation und richtete das Gespräch darauf aus. Vielleicht konnte er so erfahren, wie die Informationskanäle gerade liefen.

„Jochen, tut mir leid, wenn es unpassend ist, dass ich anrufe. Aber ich denke, du solltest unbedingt wissen, was gerade los ist. Volkahmer, hier von NEW, ist dabei, einen Skandal zu inszenieren und versucht, mich abzuschießen. Das kann natürlich auch für dich unangenehm werden. Immerhin steht mein Name in der Öffentlichkeit mit deiner Energiemarktreform in Zusammenhang. Es wäre also gut, wenn jemand Vollkahmer zur Vernunft bringen könnte, die Sache zu beenden, ehe unsere Gremien und vielleicht auch noch die Presse davon Wind bekommen. Vielleicht könntest du mit Tetzler, deinem Nachfolger als Ministerpräsidenten hier bei uns, mal reden, der sitzt ja auch bei uns im Aufsichtsrat.“

Es dauerte einen Moment, bis Pohlmann zu einer Antwort ansetzte. Für Herrmann war dessen Verlegenheit offenkundig. „Also, um ehrlich zu sein, Herrmann“, sagte der Minister schließlich, „Tetzler hat mich soeben informiert. Und es wird eine außerordentliche Aufsichtsratssitzung geben, wo es um deine Person und auch um die des Betriebsratsvorsitzenden gehen wird.“

Also seine Abberufung war schon in vollem Gange! Das ging schneller, als Rütters es sich hatte denken können. Nun gut, er fasste sich schnell wieder. Immerhin war Pohlmann offen zu ihm gewesen.

Was sollte er aber auch anderes machen, dachte sich Herrmann weiter. Er hätte es ja sowieso mitbekommen. Und wenn Joachim es ihm verschwiegen hätte, wäre das alles andere als ein Freundschaftsdienst gewesen.

Zumindest war klar, warum Pohlmanns Telefon vorhin besetzt gewesen war. Es war für Herrmann Rütters völlig offenkundig, wie die Ereignisse in der letzten halben Stunde abgelaufen waren. Und Pohlmanns Sekretärin, die Pallmer, war im Bilde gewesen, mit wem er am Telefon gesprochen hatte und dass es um ihn, Rütters, ging. Darum hatte sie auch nicht so recht gewusst, wie sie sich verhalten sollte, als Rütters bei ihr anrief, und hatte versucht, mit Pohlmann Blickkontakt aufzunehmen. Und deswegen hatte sie so zögerlich geantwortet.

Herrmann entschied sich spontan, seine Überraschung darüber, dass Pohlmann von Tetzler schon informiert worden war, für sich zu behalten. „Na, dann weißt du ja schon, was Volkahmer da für eine Story versucht zu konstruieren. Aber glaub‘ mir, bei all seinen Annahmen, das kann er vergessen, dass er mich damit loswird. Ich kann guten Gewissens für das, was ich getan habe, geradestehen. Es ist mein Verdienst, dass wir stets ein gutes Verhältnis zu unserer Belegschaft hatten und unsere Probleme immer einvernehmlich mit dem Betriebsrat lösen konnten. Die sollten bedenken, dass wir, seitdem ich im Vorstand bin, keinen Streik mehr auszuhalten hatten! Aber es wäre hilfreich, wenn sie jemand mal darauf hinweisen könnte, bevor hier unnötig Porzellan zerschlagen wird.“

Rütters erkannte, dass Pohlmann in der Zwickmühle steckte, wieder überlegte der merklich, bevor er antwortete: „Also, Herrmann, sicher werde ich mit Tetzler die Angelegenheit noch einmal diskutieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob dir das weiterhelfen wird.“

Herrmann setzte sofort nach, so einfach wollte er seinen Freund Pohlmann nicht von der Leine lassen. „Jochen, bedenke aber, was die Angelegenheit auch für dich für Auswirkungen annehmen kann. Deine Energiemarktreform war ein Riesenthema gewesen, und mein Name stand dahinter. Wir haben die Pressekonferenzen gemeinsam abgehalten. Du darfst nicht denken, dass du von der Sache nicht betroffen bist, wenn die einen Skandal daraus machen wollen. Und je eher du mit darauf hinwirkst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es erst gar nicht so weit kommt. Tetzler war dein Vertrauter in der Staatskanzlei, du wirst doch wenigstens ihn zur Vernunft bringen können.“

„Ich stimme dir voll und ganz zu, Herrmann“, antwortete Pohlmann. Herrmanns Lippen lächelten verzückt. Ja, Pohlmann war nicht blöd, dem ist klar, was für ihn auf dem Spiel steht. Jetzt war er drauf angesprungen, den ersten Punkt hatte er gelandet bei ihm.

„Nur, Herrmann, denke ich, du stellst dir das zu einfach vor“, sprach Pohlmann weiter. „Die Aufsichtsratssitzung wird stattfinden, die Einladungen sind verschickt. Es wird sich nicht vermeiden lassen, die Öffentlichkeit über diesen Termin zu informieren, auch wenn nicht bekanntgegeben wird, aus welchem Anlass die Einberufung erfolgte. Du bist vorübergehend suspendiert worden. Bei NEW prüft die Rechtsabteilung derzeit noch, ob aus diesem Grund eine Ad-hoc-Meldung an die Aktionäre ergehen muss. Und wenn dem so ist, wird sich der Grund für deine Suspendierung nicht verschweigen lassen.“

Rütters erschrak kurz, soweit hatte er noch nicht gedacht. Aber es bedurfte nur Millisekunden zu seiner Besinnung und er setzte verschärft bei Pohlmann nach: „Aber wenn dem so ist, Jochen, dann muss dir doch klar sein, was das für dich bedeutet! Das heißt doch, du musst umso dringlicher was dagegen unternehmen. Der Tetzler hat schließlich Volkahmer den Vorstandsposten verschafft, dann muss der den zur Vernunft bringen und das Ganze so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Das muss letzten Endes auch Tetzler begreifen. Und wenn nicht, musst du es ihm klarmachen.“ Rütters fühlte seinen Blutdruck ansteigen.

Im Gegenteil dazu fühlte sich Pohlmann offenbar der Situation wieder gewachsen. Seine Antworten kamen jetzt schneller. „Herrmann, du kannst dich darauf verlassen, dass ich versuchen werde, in der Angelegenheit so weit wie möglich für einen geordneten und diskreten Ablauf zu sorgen. Aber die Sache lässt sich nun mal nicht im Handumdrehen klären. Und mir ist auch absolut bewusst, was es für mich und mein Ministerium bedeutet. Deshalb habe ich schon mehrere meiner Staatssekretäre zum Krisentreffen geladen. Wir haben in einer halben Stunde einen Termin, um zu beraten, mit welcher Argumentationsstrategie wir möglichen Schaden von unserer energiepolitischen Agenda abwenden können.“

Rütters war regelrecht fassungslos. Da lief schon eine ganze Maschinerie im Hintergrund. Hatte er Pohlmann unterschätzt? Wieso trommelt der als Erstes seine Leute zusammen, anstatt mit ihm zu reden?

Herrmann merkte, dass sein Vorhaben, seinen Freund Pohlmann einzubinden, so nicht funktionierte, er machte dennoch einen weiteren Versuch.

„Mensch, Jochen“, rief Herrmann echauffiert ins Telefon, „wenn du schon so weit bist! Es geht doch aber im Kern nicht um deine Reformpolitik. Natürlich musst du jeden Schaden davon abwenden, aber das Problem ist doch, was hier bei der NEW passiert. Und du musst die Sache voll bei der Wurzel packen!“

„Mir ist vollkommen klar, wo die Ursache zu suchen ist. Du kannst in jedem Fall auf mich zählen. Wenn du gute Argumente für dein Vorgehen hattest, lassen sich die Vorfälle sicher aufklären. Und ich werde dich unterstützen, so gut ich kann. Aber ich kann das Ganze nicht ungeschehen machen. Und ich muss zunächst dafür sorgen, dass ich mein Ministerium schadlos halte.“

Entgeistert starrte Herrmann Rütters auf den Verkehr. Schematisch bog er jetzt, als der Vorort, in dem seine Villa lag, erreicht war, von der Hauptstraße ab. Instinktiv lenkte er den Wagen durch die Nebenstraßen zu seinem Wohnhaus.

Wohl einen Moment zu lange hatte er überlegt, wie es weitergehen sollte und hatte den Gesprächsfaden einen kurzen Augenblick ruhen lassen. Pohlmann, dem die Pause offenbar aufgefallen war, sagte nun: „Herrmann, ich bin mir sicher, dass alles wieder in Ordnung kommt. Es gilt jetzt, für einen kontrollierten Verlauf zu sorgen.“

„Ja, natürlich“, sagte Herrmann, den Joachims Worte auf das Gespräch zurückführten. „Wir sollten uns auf dem Laufenden halten und in jedem Fall in Verbindung bleiben.“

„Gewiss, Herrmann, bis dahin“, erwiderte Minister Pohlmann und legte dann auf.

Herrmann Rütters versuchte, sich wieder zu besinnen. Das Gespräch war nun absolut nicht so verlaufen, wie er es sich gedacht hatte. Also Pohlmann konnte er vergessen. Er konnte kaum glauben, dass der nichts Besseres zu tun hatte, als sein Ministerium schadlos zu halten. Zitternd, wie das Kaninchen vor der Schlange, in seinem Büro bibbernd, dass bloß die Katastrophe an ihm vorüberzieht, so erschien ihm Pohlmann jetzt vor seinen Augen. Was sollten seine Staatssekretäre wohl für eine Argumentationsstrategie haben. Irgendwelche Phrasen können die Angelegenheit wohl kaum lösen. So ein Idiot, er sollte ihn aktiv unterstützen, um den Volkahmer mit seiner hinterfotzigen Strategie ordentlich in den Arsch zu treten. Aber nein, man trifft sich lieber zum Kaffeekränzchen, um sich gegenseitig die Ohren vollzuheulen!

Andererseits war dieses Verhalten typisch für Leute wie Pohlmann, Berufspolitiker eben. Was blieb ihm auch anderes übrig, was sollte aus ihm werden, wenn er nicht an seinem Stuhl kleben blieb. Er hatte doch nie wirklich gearbeitet, war gleich nach seinem Studium in die Politik eingestiegen. Er hatte sich zunächst auf Landesebene hochgearbeitet, war Mitglied des Landtags geworden, dann Staatssekretär und Landeswirtschaftsminister und später dann Ministerpräsident. Nachdem seine Partei bei der letzten Bundestagswahl die meisten Stimmen errungen hatte, war er in das Bundeskabinett gewechselt und zum Bundeswirtschaftsminister ernannt worden.

Aber ohne ein solches Amt wäre er ein Nichts. Er war abhängig von solchen Posten, um nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Und man durfte sich zu keinem Zeitpunkt einen Ausrutscher leisten, denn die Perspektive hängt jedes Mal von der Wiederwahl ab.

Insofern war es nicht verwunderlich, wenn Pohlmann jetzt so reagierte, nur hatte Rütters nicht gedacht, dass sein Jochen so gestrickt war. Aber es leuchtete ihm nun ein, dass der Fall nicht anders liegen konnte. Wenn er es sich genau überlegte, nur fehlte ihm gerade die Zeit dazu, hätte er damit rechnen müssen.

Es war nicht Pohlmanns Art, Risiken einzugehen. Was hatte er damals auf ihn eingeredet, ihm die Ausarbeitung der neuen Energiegesetze zu überlassen. Wie oft hatte er mit ihm darüber diskutiert. Natürlich, hinterher, als alles gut gelaufen war, da hatte er sich damit präsentiert. Wenn es positive Schlagzeilen zu wittern gab, war er sofort zur Stelle. Nur hatte Herrmann stets darauf geachtet, mindestens gleichberechtigt neben ihm zu stehen. Und er hatte zum rechten Zeitpunkt seinem Freund mit dem Zeigefinger auf die Brust getippt und gesagt, wenn die Reform eine griffige Bezeichnung bekommen soll, dann gefälligst unter seinem Namen, so wurde die Gesetzesnovelle als Rütters-Reform bekannt.

Das hätte dem Pohlmann so passen können, die Lorbeeren dafür allein einzustreichen. Nein, dazu war er, Herrmann Rütters, der Fuchs, zu gewieft, um sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen, das hatte selbst Pohlmann einsehen müssen und schließlich klein beigegeben.

Aber nun, wo sich die Vorzeichen gewendet hatten, versuchte sich dieser wie ein glitschiger Aal aus der Affäre herauszuwinden. Rütters winkte ab, da er daran denken musste, wie es sich wohl im Weiteren abspielen würde. Wenn es dazu kam, würde der werte Minister langatmig, ausschweifend und nichtssagend herumlamentieren, dass das gar nichts mit ihm zu tun habe und es sich um eine rein betriebsinterne Angelegenheit der NEW handele. Das war dann schon an der Wortwahl zu bemerken, aus ‚mein Freund und geschätzter Kollege‘, wie es damals hieß, würde so etwas werden, wie der damalige Berater, das nun ehemalige Vorstandsmitglied der NEW‘ oder so ähnlich unpersönlich.

Na, Pohlmann wird schon noch zu spüren bekommen, was das für ihn zu bedeuten hat, wenn es nach ihm ging, kommt er ihm nicht so ohne Weiteres davon. Immerhin war er in seiner damaligen Funktion als Ministerpräsident auch Aufsichtsratsvorsitzender bei der NEW, und die Vorwürfe, die ihm gemacht wurden, reichten bis in diese Zeit zurück. Er brauchte sich also nicht einzubilden, dass er ungeschoren bleiben würde. Wie und für was ihm das noch nützlich sein konnte, das konnte Rütters im Moment noch nicht abschätzen, er hatte es sich aber auf jedem Fall vorgemerkt.

Rütters schüttelte dazu vorwurfsvoll und angewidert den Kopf. Durch sein Unterbewusstsein gesteuert erreichte er jetzt den Parkplatz vor seinem Haus und stellte den Wagen ab.

Zweites Kapitel

Also der Pohlmann konnte ihn mal kreuzweise! Rütters riss die Tür zum Esszimmer auf und trat ein. Der Sauerstoff, den er von der nasskalten frischen Luft eingeatmet hatte, die ihm beim Aussteigen aus seinem Wagen entgegengeströmt war, hatte in ihm einen neuen Emotionsschwall hochkochen lassen.

Im Flur hatte er nur seine Jacke in die Garderobe gefeuert und gleich geradeaus die Tür in den nächsten Raum angesteuert. Er wusste zwar nicht, was er hier wollte, aber das kraftvolle Aufstoßen der Tür hatte ein wenig die in ihm aufgestiegenen Aggressionen abgefangen.

Für einen winzigen Augenblick drang dadurch die sich in ihm bemerkbar machende Impulsivität in sein Bewusstsein und er versuchte, sich aus einem Instinkt heraus zu beherrschen. Aber dieses kurze Aufflackern von Rationalität wurde im gleichen Atemzug von den angestauten Wutgefühlen erdrückt.

Er war nur einen Schritt in das Zimmer hineingetreten, blickte wild um sich, er wusste nicht, was er hier drin sollte, schlug mit der Faust auf den Lichtschalter, weil er im Dunkeln nur schwer sehen konnte – und irgendwas irritierte ihn. Instinktiv spürte er es, aber sein Gehirn konnte nicht erfassen, was es war.

Noch nicht, dann aber, sein Blick ging noch ein paarmal aufgeregt hin und her, dann dämmerte es ihm langsam, was es war. Es war merkwürdig still hier, diese Stille und die diese Stille umhüllende Dunkelheit. Es war niemand zuhause, er war allein hier. Es war ihm gar nicht gleich aufgefallen, als er das Haus betreten hatte, obwohl die Haustür verschlossen gewesen war.

Doch jetzt wurde es ihm bewusst: Wo war seine Frau?

Sie war doch immer zu Hause, wenn er kam. Und wartete mit dem Essen auf ihn, egal wie spät es geworden ist. Doch heute? Nichts, nichts als Stille und Dunkelheit!

Jetzt wurde ihm auch klar, warum er als Erstes ins Esszimmer gegangen war. Dort stand normalerweise auf der Warmhalteplatte das vorbereitete Essen und gewöhnlich schaute er immer gleich nach, was seine Frau wohl gekocht hatte. Sie gab sich da in der Regel Mühe, ihm den Feierabend angenehm zu gestalten.

Aber heute war es anders, wie heute so vieles anders war. Hm, na klar, durchschoss es jetzt ihn. Er ist ja viel früher nach Hause gekommen. Darum war noch kein Essen vorbereitet. Aber warum war sie nicht da?

Herrmann wurde kurzzeitig klar, dass er eigentlich gar nicht wusste, was seine Frau den ganzen Tag machte. Nun, das war ja auch nichts, worum er sich im Grunde genommen kümmern musste, das war ihre Sache. Solange sie abends hier auf ihn wartete, war für ihn alles in Ordnung.

Im Grunde genommen war sie genau so, wie er sich eine Ehefrau vorstellte, sonst hätte er sie sich ja auch nicht ausgesucht. Sie hielt ihm den Rücken frei, was er erwarten durfte, damit er sich ganz auf seine Karriere konzentrieren konnte. Er legte besonderen Wert darauf, dass sie das Haus sauber hielt, damit sie jederzeit bereit waren, Gäste zu empfangen. Natürlich durfte sie auch seine privaten Termine organisieren und zur Verfügung stehen, alles Notwendige zu erledigen, was gerade in Vorbereitung auf seine Dienstreisen erforderlich war.

Sie tat dies tatsächlich mit der Hingabe, die ihn zufriedenstellte, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem sich ihm unterordnenden Blick. In ihren früheren Jahren war sie überaus hübsch gewesen, und wenn sie manchmal, zu kokett für seinen Geschmack, sich mit anderen Männern unterhalten hatte, war er sogar ein klein wenig eifersüchtig gewesen. Doch in all den Jahren hatte er nie ernsthafte Zweifel an ihrer Treue haben müssen, so wie es sich gehörte.

Inzwischen war sie auch schon in die Jahre gekommen, hielt sich mit ihrer zierlichen Figur aber dennoch gut für ihr Alter, sodass er durchaus stolz auf ihre Erscheinung, die er natürlich auch seiner eigenen Haltung ihr gegenüber zuschrieb, war und sich in jedem Fall mit ihr sehen lassen konnte.

Was er ihr hoch anrechnete, dass sie ihm in Gesellschaft eine sehr loyale Partnerin war. Sie verstand es, auf äußerst angenehme Art und Weise Gespräche bei Tisch zu führen und gekonnt Themen anzuschneiden, bei denen er einsteigen und auf seine Expertise verweisen konnte.

Sie war zu allen Menschen sehr nett und bei allen und jedem beliebt. Auch hatte sie ihre Tochter, Julia, wohlerzogen. Ihm als vielbeschäftigtem Manager war es ja nicht vergönnt, allzu viel Zeit mit ihr zu verbringen. Trotzdem hatte sie es geschafft, dass auch sie zu ihm aufsah und bereit war, alles zu tun, um ihm eine Freude zu bereiten.

Alles in allem war er also zufrieden mit ihr. Aber so etwas, dass sie nicht zu Hause war, ohne ihm Bescheid zu geben, war noch nicht vorgekommen. Möglicherweise war es gar nichts Ungewöhnliches, dass sie nicht da war, denn er war in der Tat viel früher als sonst nach Hause gekommen. Merkwürdig blieb es trotzdem.

Vielleicht ist sie ja öfter nachmittags unterwegs. Zu irgendeinem Fitnesskurs oder bei einer Wohltätigkeitsorganisation. Oder shoppen? Egal was, es war ihm egal. Nur war der ganze heutige Tag in seinem Verlauf irritierend. Und dazu gehörte auch dieses Detail.

Das ging schon am Vormittag los. Nachdem er den Termin mit Johannes Bertram, dem Betriebsratsvorsitzenden, gehabt hatte, war seine Assistentin nicht mehr dagewesen. Magdalena Boreslavsky kam auch nicht wieder. Irgendwann hatte er die Schreiber, Volkahmers Assistentin, gefragt, wo Magdalena wäre. Und die hatte gesagt, sie hätte sich unpässlich gefühlt und Volkahmer hätte sie nach Hause geschickt.

Natürlich, unpässlich! Es hatte Rütters dort schon irritiert, aber passt ins Bild. Spätestens als die Schreiber ihm kurzfristig den Termin bei Volkahmer für um drei angekündigt hatte, hätte Magdalena nachgefragt, worum es ging, um ihn zu informieren. Aber mehr als die Uhrzeit für den Termin hatte er nicht erfahren von der Schreiber. Volkahmer hatte Magdalena bewusst nach Hause geschickt, um den Hintergrund für den kurzfristigen Termin zu verschleiern. Dass die Schreiber ihm was sagt, war nicht zu erwarten gewesen.

Magdalena als seine Assistentin war ihm gegenüber da absolut loyal und zuverlässig, sonst hätte er sie ja auch nicht eingestellt. Loyalität und Zuverlässigkeit, so etwas schätzte er nicht nur im Allgemeinen bei Mitarbeitern, sondern speziell auch bei Frauen. Solche Eigenschaften erwartete er regelrecht vom weiblichen Geschlecht. Ja, aber das lenkte jetzt wieder Rütters Gedanken zurück auf seine Frau. Die war nicht hier, somit weder loyal noch zuverlässig.

Er ging vom Esszimmer zurück in den Flur. Vielleicht war sie in einem anderen Raum. Unwahrscheinlich, wenn die Haustür abgeschlossen war. Aber er lief schneller durch den Flur und schaute in die anderen Zimmer, als er diesen Umstand rekapitulieren konnte.

Jedoch lagen alle Räume im Dunkeln. Niemand hier. Er öffnete im Vorbeigehen die Türen zum Wohn- und Arbeitszimmer und schaute dann in die Küche, als wenn sie dort geräuschlos und ohne Licht am Kochen fürs Abendessen sein könnte.

Aber sie war dort auch nicht. Und seine Erwartung, dass sie tatsächlich irgendwo im Haus zu finden wäre, verflüchtigte sich, so wie jetzt sein Bewusstsein doch realisierte, dass alle Anzeichen gegen die Anwesenheit seiner Frau sprachen.

Und was sollte er jetzt machen? Sein vegetatives Nervensystem signalisierte Nachhausekommen und Essen – also Hunger! Da hier nichts vorbereitet war, musste er wohl auswärts essen gehen. Er zögerte noch, diesen Entschluss zu fassen, während er von der Küchentür durch den Flur zur Garderobe zurückkehrte. Doch schließlich war klar, dass es keine andere Möglichkeit gab. Keine Ahnung, wo seine Frau die Vorräte aufbewahrte und was dort zu finden wäre. Damit hatte er sich nie zu beschäftigen brauchen. Also blieb ihm ja gar nichts anderes übrig, als in ein Restaurant zu gehen.

So nahm er seine Jacke von der Kommode an der Garderobe, auf die er sie beim Eintreten geworfen hatte. Wie er sie von dort herunterriss, um sie missmutig überzuziehen, fiel ein Briefkuvert auf den Boden.

Sanft und in der Luft wiegend schwebte es zu Boden. Seine ruhige Bewegung durchbrach die angespannte und aufgeladene Stimmung in Rütters Kopf – schon wieder so ein irritierender Moment.

Er wollte dieses Ereignis bereits ignorieren, als er in die Ärmel seiner Jacke fuhr. Er entschied sich dann kurzerhand jedoch anders. Nachdem der die Jacke anhatte, bückte er sich, hob den Umschlag auf, der zur Hälfte unter die Kommode gerutscht war, und erkannte darauf die Handschrift seiner Frau: „Lieber Herrmann!“

Warum hat sie ihm einen Brief hier hingelegt? Er riss ihn hastig auf, zog den einen Bogen darin heraus und begann zu lesen.

Der Brief endete mit den Sätzen: Die Geschehnisse der letzten Zeit haben bei mir zu dem Entschluss geführt, dass ich davon – und somit auch von dir, Herrmann – um mit mir wieder ins Reine zu kommen, Abstand gewinnen muss. Schweren Herzens habe ich mich entschlossen, von nun an meinen eigenen Weg zu gehen. Ich bitte um Dein Verständnis und wünsche Dir alles Gute.

Entsetzt schaute Herrmann hoch, als er zu Ende gelesen hatte. Das war doch nicht zu fassen! War der Tag nicht schon verrückt genug, und dann auch noch das hier!

Er fühlte sich langsam wie in einem schlechten Film. Was sollte denn heute noch alles passieren. Erst seine Suspendierung in der Firma und nun hat ihn auch noch seine Frau verlassen. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein! Sind jetzt alle verrückt geworden.

Noch immer fassungslos blickte Rütters sich um, unfähig zu begreifen, was geschah, und unfähig in irgendeiner Weise darauf zu reagieren.

Wie benommen drehte er sich im Halbkreis, sah an sich herab, wie er hier im Flur stand. Die Jacke nur halbfertig angezogen, der Kragen war noch eingeschlagen, er hatte die Arme ausgebreitet, in seiner rechten Hand hielt er noch den Brief. Sein Blick fiel nun wieder auf das Schriftstück seiner Frau. Das riss ihn dadurch aus seiner Benommenheit und fokussierte seine Gedanken auf das augenblickliche Geschehen.

Was hat sich seine Frau dabei gedacht? Wie kann sie auf die Idee kommen, ihn zu verlassen? Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen.

Natürlich musste er mit ihr reden. Nur war sie nicht mehr da. Wenn sie erst mal verstanden hatte, was momentan vor sich ging, würde sie sicher ihre Meinung ändern. Familiäre Probleme waren in der jetzigen Situation nun wirklich das Allerletzte, was er gebrauchen konnte.

Sie hatte ja auch keinen Anlass. Wenn er eine Affäre gehabt hätte, wäre es ja vielleicht verständlich. Aber das war nicht der Fall. Und ansonsten ging es ihr doch gut. Sie konnte froh sein, einen so erfolgreichen Mann geheiratet zu haben. Sie hatte ein gutes Auskommen, ihr fehlte es doch an nichts. Und bei der sich derzeit anbahnenden Krise für ihn ist es umso erforderlicher, dass sie ihm zur Seite steht. Gerade jetzt muss sie ihn unterstützen und den Rücken freihalten, damit er die ungerechtfertigten Vorwürfe ausräumen kann.

Gut, sie konnte davon nichts wissen. Deswegen aber ist es so wichtig, dass er ihr die Situation begreiflich macht und sie zu ihm hält.

Herrmann Rütters schritt geistesabwesend zurück ins Esszimmer, wohl, weil ihn durch den schmalen Flur ein Gefühl der Bedrängnis überkam. Er trat erneut in das Zimmer, schaltete das Licht ein und wurde so wieder mit der Leere und Stille, die das Haus, jetzt durch die Abwesenheit seiner Frau, ausstrahlte, konfrontiert.

Er begriff, dass er etwas unternehmen musste, um mit seiner Frau zu sprechen. Doch er hatte keine Spur einer Ahnung, wie und wo er sie erreichen konnte.

Er fühlte die Ahnungslosigkeit und die daraus hervorgehende Hilflosigkeit, was dagegen zu tun sei. Das trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Was aber auch kein Wunder war, er hatte ja die Jacke an. Warum er sie trug, war ihm nicht gleichzeitig klar. Kam ihm auch nicht sofort in den Sinn, war aber auch egal, er musste seine Frau erreichen – und wusste nicht wie.

Wie gelähmt stand er für einige Sekunden da, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete, um eine Lösung zu suchen, um dieser Schleife der Handlungsunfähigkeit zu entfliehen.

Für Herrmann war gefühlt eine Ewigkeit vergangen, ehe er schließlich den Brief auf den Esstisch fallen ließ und mit beiden Händen seine Jackentaschen abklopfte. Er suchte sein Mobiltelefon, fand es schließlich und wählte.

Es klingelte am anderen Ende und jemand nahm ab. „Julia, mein Liebes“, grüßte er seine Tochter mit sanfter, ruhiger und ausgeglichener Stimme. „Wie geht es dir?“

Julia antworte mit spürbarem Zögern und stockender Stimme, ganz knapp: „Gut.“

„Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung und bei deinem Studium läuft’s?“, fuhr er fort.

„Alles in Ordnung, Paps“, sagte sie immer noch leise mit halb verschlossenen Lippen. „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, das weißt du doch.“

„Sicher, sicher“, beschwichtigte er sie schnell. „Natürlich weiß ich das. Aber ich hatte heute einen schrecklichen Tag. Und deine Mutter ist nicht zu Hause. Da wollte ich mit jemandem reden.“ Einen kurzen Moment hielt er inne, bevor er anschloss: „Weißt du, wo deine Mutter ist?“

Die Worte Julias kamen nun noch merklich verstockter herüber, was Herrmann selbstverständlich registrierte. Erst nach einer längeren Pause sagte sie: „Nein, weiß ich nicht.“

Herrmann Rütters hatte gleich den Verdacht, dass die Worte seiner Tochter nicht der Wahrheit entsprachen. Aber, wenn er etwas erreichen wollte, konnte er sie jetzt nicht damit konfrontieren. Er musste zunächst mehr offenbaren, als ihm eigentlich lieb war.

„Deine Mutter hat mir einen Brief geschrieben, dass sie einige Zeit für sich braucht. Ich mache mir Sorgen, wie du dir vorstellen kannst. Ich wollte gern mit ihr reden. Aber ich habe keine Ahnung, wo ich sie erreichen kann.“

Wieder folgte von Julia eine lange Pause. „Ich glaube, da kann ich dir auch nicht helfen“, sagte sie schließlich und ihre Stimme endete in einem Schluchzen.

„Schade“, sagte Rütters zunächst mit anteilnehmendem Tonfall. Er hatte die bedrückte Stimmung seiner Tochter bemerkt, wollte aber nicht zu sehr in sie dringen, es hätte wahrscheinlich nichts gebracht. „Ich hätte ihr so gern gesagt, wie leid es mir tut, wenn sie so empfindet. Und es bedrückt mich, wenn ich nicht mit ihr sprechen kann. Sie hat sich mir vorher ja auch nie anvertraut, dass ich etwas für sie hätte tun können.“ Herrmann versuchte, seine mitleidvollste Stimmlage zu bemühen.

Julia rang hörbar um eine Antwort, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bevor sie sprach und selbst dann brachte sie kaum einen Ton heraus: „Es wäre für Mama sicher einfacher gewesen, wenn du ihre Empfindungen erkannt hättest.“

Was sollte er mit der Antwort anfangen, dachte Herrmann irritiert. Als ob seine Frau jemals etwas gesagt hätte oder sich hätte etwas anmerken lassen. Wie hätte er denn ihre Empfindungen denn erkennen sollen?

Leider hatte Julia sich aber viel zu unkonkret geäußert, als dass er ihrer Antwort etwas entnehmen konnte, um darauf zu reagieren. Allenfalls war es ja ein Vorwurf, dass er die Empfindungen seiner Frau nicht erkannt hatte. Aber so weit wollte Herrmann nicht gehen. Vorwurfsvoll hatte Julia nun nicht gerade geklungen. Und darüber zu diskutieren, lohnte jetzt ohnehin nicht. Er konnte es schließlich nicht auf eine Konfrontation hinauslaufen lassen, wenn er etwas erreichen wollte.

Er setzte deshalb noch einmal neu an: „Aber wenn du auch nicht weißt, wo sie ist, wer soll es denn dann wissen. Mir hat sie nichts gesagt, und wenn sie dir auch nichts gesagt hat, mache ich mir ja noch mehr Sorgen.“

Die Antwort von Julia kam erneut nur verzögert. „Ich glaube, Mama geht es momentan besser, wenn du nicht Kontakt zu ihr aufnimmst.“

Rütters rollte mit den Augen. Es war nichts zu machen, Julia blockte jeden Versuch ab. Sie bot mit ihren Worten auch keinen Anhaltspunkt, keine Angriffsfläche, dass er hätte einhaken können, um mehr zu erfahren.

Rütters überlegte noch einmal, ob ihm etwas einfiel, um das Gespräch doch noch in Gang zu bringen, aber nach den ganzen Ereignissen dieses Tages waren seine Kraftreserven stark in Mitleidenschaft gezogen und seine Reaktionsfertigkeit nur noch eingeschränkt vorhanden.

So war jetzt auch seinerseits eine Pause im Gesprächsfaden entstanden. Da ihm nichts einfiel, um das in Erfahrung zu bringen, woran er interessiert war, konzentrierte er sich darauf, das Gespräch möglichst schnell und einvernehmlich zu beenden.

Er nahm all seine Selbstbeherrschung zusammen und sagte so einfühlsam wie möglich. „Es tut mir leid, Julchen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hilflos ich mich fühle. Ich möchte so gern mit deiner Mutter darüber sprechen, was sie bedrückt.“ Er wartete kunstvoll einen kleinen Moment, ehe er weitersprach und legte das ganze Mitgefühl, was er in seiner derzeitigen Situation aufbringen konnte, in seine Stimme. „Aber wenn du es für das Beste hältst, dass ich vorerst nicht mit ihr spreche, dann will ich das beherzigen.“ Noch einmal fügte er eine kurze Pause zur Besinnung ein. „Wenn du etwas von ihr hörst, dann grüß sie von mir und sage ihr, dass mir das alles sehr leidtut. Und gib mir Bescheid, wenn du etwas von ihr gehört hast.“

Julias Schluchzen ging in ein offenes Weinen über. „Mach ich, Paps“, sagte sie kaum verständlich unter den vielen Tränen.

„Ich danke dir. Mach’s gut“, entgegnete Herrmann.

„Bye, Paps“, klang es von Julia leise zurück.

„Ja. Tschüss.“ Herrmann beendete das Gespräch.

Jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. Was war denn hier los. Hatten sich alle gegen ihn verschworen? Warum konnte Julia ihm nicht sagen, wo ihre Mutter war? Die hatte es doch genau gewusst. Was war denn mit seiner Frau los, dass sie ihre Tochter so beeinflusst hatte.

Rütters schüttelte ungläubig den Kopf. Das machte doch alles keinen Sinn. Es gab keinen vernünftigen Grund für seine Frau, ihn verlassen zu wollen. Und ausgerechnet an dem Tag, wo ihm Volkahmer seine Position im Unternehmen streitig machen wollte, das Visier hochgeklappt hat, ihn zum Duell herausgefordert hat. Da musste seine Frau noch eins draufsetzen!

Na, wenn er mitgekriegt hat, wo sie steckte. Da kann sie was erleben. Er hatte noch nie eine solche Wut auf sie gespürt wie jetzt. Ausgerechnet am heutigen Tag musste sie eine solch idiotische Aktion starten. Und dass sie Julia mit hineingezogen hatte, war ja erst recht der Gipfel.

Herrmann schwitzte jetzt wie ein Schwein. Ihm wurde wieder bewusst, dass er im gut geheizten Esszimmer mit seiner dicken Jacke stand, darunter noch das Jackett.

Erneut kam ihm die Frage ins Bewusstsein, was er als Nächstes tun sollte. Er musste einen kurzen Moment nachdenken, ehe ihm wieder einfiel, was er vorgehabt hatte. Richtig, er wollte etwas essen gehen, weil hier nichts vorbereitet war, weil seine Frau nichts gekocht hatte. Die hatte ja nichts Besseres zu tun gehabt, als ihm diesen dämlichen Brief zu schreiben, indem sie ihm mitteilte, ihn verlassen zu wollen.

Sein Blick war auf den Brief gefallen, den er ja auf dem Esstisch abgelegt hatte. Unwillkürlich schüttelte er erneut den Kopf. Unglaublich, was sich seine Frau geleistet hatte.

Seine Gedanken fingen sogleich an, wieder abzuschweifen, aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig zusammenreißen. Essen wollte er gehen. Mit einem Ruck fuhr er herum und verließ das Esszimmer. Eiligen Schrittes ging er durch den Flur geradewegs auf die Haustür zu. Er öffnete sie, trat nach draußen und krachte sie zu.

Mit dem Schlag der Tür löste sich ein klein wenig seiner Anspannung. Draußen auf dem Treppenabsatz hielt er kurz inne, atmete tief durch und hastete zu seinem Fahrzeug. Im Gehen drückte er auf die Fernbedienung, riss die Tür des Wagens auf und ließ sich mit seinem vollen Gewicht auf den Fahrersitz fallen. Er startete schnell den Motor und setzte zügig, ohne sich groß umzusehen, ohne Rücksicht auf Fußgänger oder andere Fahrzeuge zu nehmen, zurück auf die Straße. Dann brauste er davon Richtung Innenstadt.

Hans Schindler rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her und scharrte unter dem Tisch mit den Füßen, wie Rudolf Lehmann bemerkte.

Lehmann zog die rechte Augenbraue hoch und schmunzelte, während er meinte: „Verpass deinen Feierabend nicht, Hansi, es ist Zeit für dich, loszumachen.“

Hans drehte sich in angespannter Körperhaltung zu seinem Kollegen um. „Feierabend hin oder her, es sind noch Gäste da, der Gundolfsson ist noch nicht abgefahren. Wir haben Anweisung, dass das Tor besetzt ist, solange sich noch Fremde auf dem Gelände aufhalten.“

Lehmann nickte verständnisvoll. „Das ist richtig Hansi, aber ich kann allein abwarten, es ist nicht nötig, dass du ebenfalls ausharrst.“ Und verständnisvoll fügte er hinzu: „Ich weiß doch, wie gern du zu deiner Erika nach Hause kommen möchtest.“

Hans atmete in Dankbarkeit tief durch, doch dann zog er wieder ein verkniffenes Gesicht. „Ich kann dich doch nicht allein hierlassen.“

Rudolf wog den Kopf hin und her. „Aber sicher kannst du das, es ist doch nichts weiter mehr los“, entgegnete er in einvernehmlichem Ton.

Hans haderte weiterhin, bis Rudolf noch einmal eindringlich betonte: „Hansi, ich weiß, was heute für ein Tag ist, beeile dich, dass du nach Hause kommst.“

Hansi schaute seinen Kollegen und besten Freund Rudi mit großer Erleichterung im Gesicht an. Dann erhob er sich langsam von seinem Stuhl, schaute dabei auf die Uhr und fing an, hastig seine Sachen zusammenzupacken.

Er hatte bemerkt, dass es bereits halb sechs durch war und er sich anstrengen musste, noch vor Ladenschluss am Floristikgeschäft anzukommen.

Er schaffte es noch rechtzeitig und mit dem kleinen Bukett in der Hand konnte er den Rest des Heimwegs nun gemächlicher angehen. Dabei dachte er noch einmal an seinen Rudi, dass der so viel Verständnis hatte. Nun, Rudi lebte allein, auf ihn wartete niemand, das war bei Hans anders, gleich würde er seine Ehefrau Erika, mit der er seit 43 Jahren verheiratet war, in den Arm nehmen können, und heute war ihr Hochzeitstag.

Mit den Blumen in der Hand schlurfte er die letzten Meter die Straße zu ihrem kleinen Häuschen entlang und freute sich auf den Abend mit seiner lieben Erika, so wie jeden Tag, der einmal im Jahr, eben heute, ein besonderer war.

Er schloss die Haustür auf, hörte auf die sanfte Musik, die in dem alten Radio in der Küche spielte, und noch bevor er seine Jacke ablegen konnte, kam Erika auf ihn zu.