Siren - Kiera Cass - E-Book + Hörbuch

Siren Hörbuch

Kiera Cass

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Beschreibung

Der große New York-Times Bestseller endlich auf deutsch! Kahlens Familie kommt bei einem Schiffsunglück ums Leben. Sie selbst wird als Einzige gerettet – von drei betörenden jungen Frauen: Sirenen. Wunderschön und unsterblich. Von nun an ist Kahlen eine von ihnen. Scheinbar ein ganz normales Mädchen, doch ihr Leben gehört dem Meer. Jeder Mensch, der ihre Stimme hört, muss sterben. Und so schweigt sie. Bis sie Akinli begegnet, einem jungen Studenten, der Kahlen auch völlig ohne Worte versteht. Nach nur wenigen Stunden haben nicht nur ihre Herzen, sondern auch ihre Seelen zu einander gefunden. Und als Akinli schwer erkrankt, droht auch der eigentlich unsterblichen Kahlen der Tod. Der nächste große romantische Roman der Bestsellerautorin Kiera Cass - wer ›Selection‹ mochte, wird ›Siren‹ lieben!

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Zeit:4 Std. 11 min

Sprecher:Inga Reuters

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Kiera Cass

Siren

Aus dem Amerikanischen von Anna Julia Strüh

FISCHER E-Books

Inhalt

• Prolog •80 Jahre später• 1 •• 2 •• 3 •• 4 •• 5 •• 6 •• 7 •• 8 •• 9 •• 10 •• 11 •• 12 •• 13 •• 14 •• 15 •• 16 •• 17 •• 18 •• 19 •• 20 •• 21 •• 22 •• 23 •• 24 •• 25 •• 26 •• 27 •• 28 •• 29 •• 30 •• Epilog •• Grußwort von Kiera Cass •

• Prolog •

Schon seltsam, woran man festhält, was einem im Gedächtnis bleibt, wenn alles endet. Ich kann immer noch die Wandverkleidung unserer Kabine vor mir sehen und weiß genau, wie weich der Teppich war. Ich erinnere mich an den Geruch von Salzwasser, der die Luft durchdrang und meine Haut benetzte, und an das Gelächter meines Bruders im Raum nebenan – als wäre der Sturm für ihn ein aufregendes Abenteuer, kein Albtraum.

Statt Angst oder Sorge lag eher Verärgerung in der Luft. Der Sturm machte unsere Pläne zunichte; heute Abend würde es keinen Ball an Deck geben, und das hieß, ich würde mein neues Kleid nicht präsentieren können. Das waren die Probleme, die mich zu jener Zeit plagten; so unerheblich, dass es rückblickend regelrecht peinlich war. Aber das alles war mein »Es war einmal …«, damals fühlte sich mein Leben noch so wundervoll an wie im Märchen.

»Wenn diese Schaukelei nicht bald aufhört, kann ich mich vor dem Essen nicht mehr frisieren«, schimpfte Mama. Ich spähte vom Boden aus, wo ich zusammengekauert hockte, zu ihr hoch und versuchte, mich nicht zu übergeben. Mamas Erscheinung erinnerte mich an ein Filmplakat, und ihre im Stil der 20er Jahre gewellten Haare sahen perfekt aus. Aber sie war nie zufrieden. »Du solltest wirklich aufstehen«, fuhr sie mit einem strengen Blick in meine Richtung fort. »Was, wenn ein Bediensteter hereinkommt?«

Ich gehorchte – wie immer – ohne Widerworte und schleppte mich zu einer Chaiselongue, obwohl diese neue Position wohl auch nicht damenhafter war. Ich schloss die Augen und betete, dass die See sich endlich beruhigen würde. Ich wollte mich nicht übergeben. Bis zu diesem letzten Tag war unsere Reise der Inbegriff von gewöhnlich gewesen; nur ein Familienausflug von A nach B. Ich weiß nicht einmal mehr, wo wir hinwollten. Aber ich erinnere mich, dass wir wie üblich mit Stil reisten. Wir waren eine der wenigen Familien, die den Börsencrash überstanden und ihr gesamtes Vermögen behalten hatten – und Mama sorgte gerne dafür, dass alle es wussten. Deshalb waren wir in einer wunderschönen Suite mit großen Fenstern untergebracht, und persönliche Bedienstete standen uns jederzeit zur Verfügung. Ich spielte mit dem Gedanken, nach einem zu klingeln und um einen Eimer zu bitten.

Doch da, umnebelt vom trüben Dunst der Übelkeit, hörte ich plötzlich etwas; fast wie ein Schlaflied aus weiter Ferne. Es machte mich neugierig und seltsamerweise auch irgendwie durstig. Ich hob meinen benommenen Kopf und sah, wie auch Mama auf der Suche nach dem Ursprung des Geräuschs zum Fenster schaute. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke – wir brauchten beide die Bestätigung, dass wir uns das nicht einbildeten. Als wir wussten, dass wir es beide hörten, wandten wir uns wieder dem Fenster zu und lauschten. Die Musik war berauschend schön, wie ein Kirchenlied für die Gläubigen.

Papa streckte den Kopf zur Tür herein, am Hals ein frisches Pflaster, wo er sich beim Versuch, sich trotz des Sturms zu rasieren, geschnitten hatte. »Ist das die Band?«, fragte er. Er klang ruhig, aber der fieberhafte Ausdruck in seinen Augen war verstörend.

»Vielleicht. Klingt, als würde es von draußen kommen, meint ihr nicht?« Mama war plötzlich ganz außer Atem vor Aufregung. »Sehen wir nach!«, rief sie, sprang auf und schnappte sich ihren Pullover.

Ich war schockiert. Sie hasste es, in den Regen hinauszumüssen.

»Aber Mama, dein Make-up. Du hast doch gerade gesagt …«

»Ach das«, winkte sie ab und zog sich einen elfenbeinfarbenen Cardigan über. »Wir sind doch nicht lange weg. Ich habe später noch genug Zeit, mich zu frisieren.«

»Ich glaube, ich bleibe lieber hier.« Die Musik zog mich genauso an wie alle anderen, aber der kalte Schweiß auf meiner Stirn erinnerte mich daran, wie kurz ich davor war, mich zu übergeben. In meinem Zustand das Zimmer zu verlassen war bestimmt keine gute Idee, also kauerte ich mich nur noch mehr zusammen und widerstand dem Drang, der Musik zu folgen.

Mama drehte sich zu mir um und begegnete meinem Blick. »Ich würde mich besser fühlen, wenn du bei uns wärst«, sagte sie lächelnd.

Das war das Letzte, was meine Mutter je zu mir sagte.

Noch während ich den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, stand ich auf und ging ihr nach. Das tat ich nicht nur, um ihr zu gehorchen. Ich musste an Deck. Ich musste näher zu diesem Gesang. Wäre ich in unserer Kabine geblieben, hätte ich vermutlich in der Falle gesessen und wäre mit dem Schiff untergegangen. Dann hätte ich mich meiner Familie angeschlossen. Im Himmel oder in der Hölle – oder nirgends, wenn doch alles eine Lüge war. Doch so kam es nicht.

Wir gingen die Treppe hinauf, und auf dem Weg stießen immer mehr und mehr Leute zu uns. Da wurde mir klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Manche der Passagiere kämpften sich durch die Massen, als wollten sie um jeden Preis als Erste da sein, anderen sahen aus, als würden sie schlafwandeln.

Ich lief hinaus in den strömenden Regen, blieb aber abrupt stehen, als ich sah, was mich draußen erwartete. Die Hände fest auf die Ohren gepresst, um den krachenden Donner und die hypnotische Musik auszusperren, versuchte ich, mich zu orientieren. Zwei Männer hasteten an mir vorbei und sprangen, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, über Bord. Der Sturm war doch nicht so schlimm, dass wir das Schiff verlassen mussten, oder?

Ich schaute zu meinem kleinen Bruder und sah, wie er gierig den Regen aufleckte – wie eine Raubkatze rohes Fleisch hinunterschlingt. Als jemand in seiner Nähe es ihm gleichtun wollte, gab es Streit, und im nächsten Moment kämpften sie um die Tropfen. Ich wich zurück und hielt nach meinem mittleren Bruder Ausschau. Als ich ihn entdeckte, war es bereits zu spät. Er rannte auf die Reling zu und war fort, ehe ich auch nur begriff, was geschah.

Dann sah ich meine Eltern Hand in Hand an der Reling stehen – sie ließen sich einfach rückwärts über Bord fallen. Dabei lächelten sie. Ich schrie.

Was ging hier vor? War die ganze Welt dem Wahnsinn verfallen?

Ein Ton drang tief in mein Bewusstsein, und ich ließ die Hände sinken, meine Sorgen und Ängste schon fast vergessen, als das Lied von meinen Gedanken Besitz ergriff. Es schien tatsächlich besser, sich in die Fluten zu stürzen, sich von den Wellen umfangen zu lassen, als im prasselnden Regen zu stehen. Das Wasser war sicher köstlich. Ich musste es trinken. Ich musste meinen Bauch, mein Herz und meine Lungen damit füllen.

Von diesem einzigen pulsierenden Verlangen ergriffen, ging ich auf die Reling zu. Es würde ein phantastisches Gefühl sein zu trinken, bis mein Durst endgültig gelöscht war. Ich nahm kaum wahr, wie ich über das Geländer kletterte – nichts nahm ich richtig wahr, bis mir das Wasser ins Gesicht schlug und mich mit einem Ruck aus meiner Trance riss.

Ich würde sterben.

Nein!, schoss es mir durch den Kopf, während ich verzweifelt versuchte, mich zurück an die Oberfläche zu kämpfen. Neunzehn Jahre waren nicht genug. Es gab noch so viel Essen, das ich probieren wollte, so viele Orte, die ich noch bereisen wollte. Die große Liebe – hoffentlich – und eine eigene Familie. Und jetzt wurde mir das alles im Bruchteil einer Sekunde genommen.

Ist es das, was du willst?

Mir blieb keine Zeit zu überlegen, ob die Stimme, die ich hörte, echt war. Ja!

Was würdest du geben, um am Leben zu bleiben?

Alles!

Im nächsten Augenblick wurde ich aus den tosenden Fluten herausgerissen. Als würde sich ein Arm um meine Taille schlingen und mich zwischen den im Wasser treibenden Körpern hindurchziehen, bis ich frei war. Bald fand ich mich auf dem Rücken liegend wieder und starrte hoch zu drei unmenschlich schönen Mädchen.

Einen Moment schwanden meine Verwirrung und das ganze Grauen dahin. Es gab keinen Sturm, keine Familie, keine Angst. Alles, was es je gegeben hatte und je geben würde, waren diese drei wunderschönen Gesichter. Ich musterte sie mit zusammengekniffenen Augen und sprach die einzige Vermutung aus, die mir möglich schien.

»Seid ihr Engel?«, fragte ich. »Bin ich tot?«

Das Mädchen, das mir am nächsten stand, mit Augen so grün wie die Smaragde in Mamas Ohrringen und leuchtend roten Haaren, die ihr Gesicht umwogten, beugte sich zu mir herunter. »Aber nein, du lebst«, versicherte sie mir. Sie sprach mit einem melodischen britischen Akzent.

Ich starrte sie mit großen Augen an. Wenn ich lebte, müsste mein Hals dann nicht kratzen von dem vielen Salzwasser, das ich geschluckt hatte? Müssten meine Augen nicht brennen? Müsste ich nicht immer noch diesen stechenden Schmerz spüren, wo ich mit dem Gesicht im Wasser aufgeschlagen war? Doch ich fühlte mich wundervoll. Entweder träumte ich, oder ich war tot. Anders konnte es nicht sein.

In der Ferne hörte ich Schreie. Ich hob den Kopf und sah das Heck unseres Schiffes wie eine Fata Morgana aus den Wellen ragen.

Ich holte ein paarmal hastig Luft – wie war es möglich, dass ich überhaupt noch atmete? –, während ich den Schreien der Ertrinkenden überall um mich herum lauschte.

»Woran erinnerst du dich?«, fragte das rothaarige Mädchen.

Ich schüttelte den Kopf. »An den Teppich.« Ich suchte in meinen Erinnerungen, die bereits zu verblassen begannen. »Und an die Haare meiner Mutter.« Meine Stimme stockte. »Dann war ich plötzlich im Wasser.«

»Hast du darum gebeten, weiterzuleben?«

»Ja!«, platzte ich heraus. Hatte sie meine Gedanken gelesen? »Wer seid ihr?«

»Ich bin Marilyn«, antwortete sie fröhlich. »Das ist Aisling.« Sie deutete auf ein blondes Mädchen, das mir ein kleines, warmes Lächeln schenkte. »Und das ist Nombeko.« Nombeko war so dunkel wie der Nachthimmel und schien fast keine Haare zu haben.

»Wir sind Sängerinnen. Sirenen. Dienerinnen der See«, erklärte Marilyn. »Wir helfen Ihr. Wir … nähren Sie.«

Ich blinzelte sie verständnislos an. »Wovon sollte sich die See ernähren?«

Marilyn schaute zu dem sinkenden Schiff, und ich folgte ihrem Blick. Die Schreie waren fast vollständig verstummt.

Oh.

»Es ist unsere Pflicht, und bald wird es auch die deine sein. Wenn du Ihr deine Zeit widmest, schenkt Sie dir das Leben. Die nächsten hundert Jahre wirst du weder krank noch verletzt werden, und du wirst keinen Tag altern. Wenn du deine Zeit abgeleistet hast, bekommst du deine Stimme und deine Freiheit zurück. Du bekommst dein Leben zurück.«

»Entschuldigt, aber …«, stammelte ich, »aber das verstehe ich nicht.«

Die anderen beiden Mädchen lächelten, doch ihr Blick war traurig. »Nein. Das kannst du jetzt auch noch nicht verstehen.« Marilyn strich mir über meine triefnassen Haare, als würde ich bereits zu ihnen gehören. »Ich versichere dir, das hat keine von uns. Aber du wirst es verstehen.«

Vorsichtig richtete ich mich auf und stellte schockiert fest, dass ich auf dem Wasser stand. In der Ferne kämpften immer noch ein paar Leute gegen die Strömung um ihr Leben, als hätten sie noch Hoffnung, gerettet zu werden.

»Bitte, meine Mutter ist hier!«, flehte ich. Nombeko seufzte und sah mich mit einem wehmütigen Ausdruck in den Augen an.

Marilyn schlang einen Arm um mich und flüsterte mit einem Blick in Richtung des Wracks: »Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du bleibst hier bei uns, oder du stirbst mit ihr. Retten kannst du sie nicht.«

Ich schwieg, tief in Gedanken versunken. Sagte sie die Wahrheit? Könnte ich mich dafür entscheiden zu sterben?

»Du hast gesagt, du würdest alles geben, um zu leben«, erinnerte sie mich. »Bitte meine es auch so.«

Ich sah die Hoffnung in ihren Augen. Sie wollte nicht, dass ich ging. Vielleicht hatte sie schon genug Menschen sterben sehen.

Schließlich nickte ich. Ich würde bleiben.

Sie schloss mich in die Arme und hauchte mir ins Ohr: »Willkommen in der Schwesternschaft der Sirenen.«

Plötzlich war ich wieder unter Wasser, und etwas Kaltes wurde in meine Adern gespült. Doch obwohl es mir Angst machte, tat es kaum weh.

• 80 Jahre später •

• 1 •

»Warum?«, fragte sie, ihr Gesicht aufgequollen vom qualvoll langsamen Tod durch Ertrinken.

Ich hob die Hände, bedeutete ihr, bloß nicht näher zu kommen, versuchte, ihr ohne Worte klarzumachen, dass ich sie töten könnte. Aber sie hatte ganz offensichtlich keine Angst. Sie wollte sich an mir rächen. Und um dieses Ziel zu erreichen, war sie zu allem bereit.

»Warum?«, fragte sie erneut. Meeresalgen wanden sich um ihr Bein und glitten mit einem kratzenden, feuchten Geräusch über den Boden hinter ihr.

Die Worte flogen aus meinem Mund, ehe ich sie aufhalten konnte. »Ich musste es tun.«

Sie kam unaufhaltsam näher. So würde es also enden. Jetzt, nach so langer Zeit, würde ich für meine Taten büßen.

»Ich hatte drei Kinder.«

Ich wich zurück, suchte verzweifelt nach einem Fluchtweg. »Das wusste ich nicht! Ich hatte keine Ahnung, das schwöre ich dir!«

Endlich hielt sie inne, nur Zentimeter von mir entfernt. Ich wartete darauf, dass sie mich schlug oder würgte, dass sie Rache nahm für das Leben, das ihr viel zu früh geraubt worden war. Doch sie verharrte vor mir und starrte mich stumm an, ihre Augen hervorquellend, ihre Haut blau verfärbt.

Dann stürzte sie sich auf mich.

Ich erwachte mit einem erstickten Schrei und riss zur Verteidigung den Arm hoch, ehe ich begriff.

Ein Traum. Es war nur ein Traum. Ich hob eine Hand an die Brust, um meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, und stieß mit den Fingern an mein Scrapbook. Ich schlug es auf und sah mir die sorgfältig mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln beklebten Seiten an. Geschah mir recht, wenn ich noch im Bett daran arbeitete.

Bevor ich eingeschlafen war, hatte ich die Seite über Kerry Straus fertiggestellt. Sie war eine der Letzten, die ich von dem jüngsten Schiffsunglück noch ausfindig machen musste. Noch zwei, dann hatte ich Informationen über all die verlorenen Seelen, die dabei ums Leben gekommen waren. Vielleicht würde die Arcatia das erste Schiff sein, von dem ich jeden Passagier fand.

Was mir an der Seite über Kerry besonders auffiel, waren ihre strahlenden Augen auf dem Bild, das ich auf ihrer Gedenk-Website gefunden hatte; eine armselige Seite, die wahrscheinlich ihr verwitweter Ehemann in Windeseile zusammengestellt hatte, während er seinen Kindern etwas Originelleres als Spaghetti zu kochen versuchte und sich Tag für Tag in seinem Job abrackerte, um seiner Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Kerry hatte einen hoffnungsvollen Ausdruck in den Augen, eine Aura gespannter Erwartung, die sie wie ein Lichtschein umgab.

Und ich hatte ihr das genommen. Ich hatte ihr ihre Träume geraubt und sie der See zum Fraß vorgeworfen.

»Wenigstens hattest du eine Familie«, sagte ich zu ihrem Foto. »Wenigstens hat jemand um dich geweint, als du fort warst.« Ich wünschte, ich könnte ihr erklären, wie viel besser ein glückliches Leben war, das zu früh endete, als ein unerfülltes Leben, das endlos in die Länge gezogen wurde. Ich klappte das Buch zu und legte es in meinen Koffer zu den anderen; eins für jedes Schiffsunglück. Es gab nur wenige Menschen, die verstehen konnten, wie ich mich fühlte, und selbst bei ihnen war ich mir nicht immer sicher.

Mit einem tiefen Seufzen machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo Elizabeth und Miaka lauter plauderten, als mir lieb war.

»Kahlen!«, begrüßte mich Elizabeth. So unauffällig wie möglich überprüfte ich, ob alle Fenster geschlossen waren. Sie wussten, wie wichtig es war, dass niemand uns hörte, und trotzdem waren sie nie so vorsichtig, wie ich es mir gewünscht hätte. »Miaka hatte gerade noch eine Idee für ihre Zukunft.«

Ich wandte meine Aufmerksamkeit Miaka zu. Winzig und dunkel in jeder Hinsicht bis auf ihr sonniges Gemüt, hatte ich sie von der ersten Minute an in mein Herz geschlossen.

»Dann lass mal hören«, sagte ich und setzte mich auf den Platz in der Ecke.

Miaka grinste mich an. »Ich werde mir vielleicht eine Galerie kaufen.«

»Echt?« Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. »Dann willst du jetzt lieber Kunst besitzen, statt sie zu schaffen?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Malerei je aufgibst«, meinte Elizabeth nachdenklich.

Ich nickte. »Du bist viel zu talentiert.«

Miaka verkaufte ihre Bilder schon seit Jahren online. Selbst jetzt, während sie sich mit uns unterhielt, tippte sie eifrig auf ihrem Handy herum – bestimmt schloss sie gerade einen weiteren großen Handel ab. Dass eine von uns ein Handy besaß, war schon fast lächerlich – als hätten wir irgendwen, den wir anrufen könnten –, aber sie blieb gerne mit der Welt in Verbindung.

»Die Leitung über ein Geschäft zu übernehmen klingt doch nach einer Menge Spaß, oder?«

»Ja«, stimmte ich ihr zu, »ein eigenes Geschäft klingt echt verlockend.«

»Ganz genau!« Miaka tippte und redete gleichzeitig. »Verantwortung und Individualität – das fehlt mir im Moment, aber vielleicht kann ich das später nachholen.«

Ich wollte einwerfen, dass wir reichlich Verantwortung hatten, aber Elizabeth kam mir zuvor.

»Ich hatte auch eine neue Idee!«, verkündete sie fröhlich.

»Schieß los.« Miaka legte ihr Handy weg und kletterte auf Elizabeth, als wären sie Welpen.

»Mir ist klargeworden, dass ich am liebsten singe. Das würde ich gerne auf eine andere Art weitermachen.«

»Du wärst bestimmt phantastisch als Leadsängerin einer Band.«

Elizabeth setzte sich so ruckartig auf, dass sie Miaka fast zu Boden warf. »Genau das dachte ich mir auch!«

Ich beobachtete die beiden und staunte nicht zum ersten Mal, dass drei so unterschiedliche Frauen wie wir, die an verschiedenen Orten und in verschiedenen Zeiten – in völlig verschiedenen Welten – aufgewachsen waren, sich so perfekt ergänzten. Selbst Aisling, die sich freiwillig in die Einsamkeit zurückgezogen hatte und nur selten bei uns war, passte dazu wie ein Puzzlestück.

»Was ist mit dir, Kahlen?«

»Hm?«

Miaka stützte sich auf einen Ellbogen. »Irgendwelche neuen großen Träume?«

Dieses Spiel hatten wir über die Jahre schon Hunderte Male gespielt, um uns aufzumuntern. Ich hatte überlegt, Ärztin zu werden und so Wiedergutmachung zu leisten für all die Leben, die ich genommen hatte. Oder Tänzerin, um zu lernen, meinen Körper in seiner Gänze zu kontrollieren. Schriftstellerin, damit ich immer eine Stimme hatte, ob ich nun gerade redete oder nicht. Astronautin, für den Fall, dass ich noch etwas mehr Abstand zwischen mich und die See bringen musste. Ich hatte so ziemlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Doch tief im Innern wusste ich, dass ich nur eins wirklich wollte – auch wenn schon allein der Gedanke daran fast zu schmerzhaft war.

Verstohlen beäugte ich das Geschichtsbuch, das neben meinem Lieblingssessel lag – ich hatte vergessen, es gestern Abend wieder in mein Zimmer mitzunehmen, aber zum Glück war das Brautmagazin, das ich darin versteckt hatte, nicht zu sehen.

Ich zuckte lächelnd die Achseln. »Nur dasselbe wie immer.«

 

Ich schluckte schwer, als ich den Campus betrat. Sosehr ich mir ein gewöhnliches, schönes Leben wünschte, erlaubte ich mir nie, mich zu entspannen. Menschen – und die Notwendigkeit, jederzeit Stillschweigen zu bewahren, um sie zu schützen – machten mich nervös. Doch selbst jetzt hörte ich Elizabeths Stimme in meinem Kopf: »Wir müssen nicht immer drinnenbleiben. So werde ich nie leben«, hatte sie ungefähr zwei Wochen, nachdem sie zu uns gekommen war, geschworen. Und sie hatte Wort gehalten. Sie war nicht nur selbst ausgegangen, sie hatte auch uns dazu ermutigt, ein möglichst normales Leben zu führen. Indem ich mich wieder in die große weite Welt hinauswagte, wollte ich zum einen sie beschwichtigen und zum anderen mir eine Freude gönnen.

Unser derzeitiges Zuhause lag direkt neben einer Universität, was absolut perfekt für mich war. Über den Campus wanderten jeden Tag ganze Scharen von Menschen und saßen an den Picknicktischen zusammen. Ich hatte kein Bedürfnis danach, auf Konzerte oder Partys zu gehen wie Elizabeth und Miaka. Mir reichte es vollkommen, unter Menschen zu sein und sie zu beobachten. Sicher, mein Modegeschmack mochte ihnen eigenartig erscheinen, schließlich fühlte ich mich immer noch wie magisch angezogen von Röcken und Kleidern im Stil der 50er, aber wenn ich mit einem Buch unter einem Baum saß, konnte ich stundenlang so tun, als wäre ich eine von ihnen.

Ich sah zu, wie die Leute an mir vorbeispazierten – manche von ihnen winkten mir sogar, einfach aus Nettigkeit, obwohl wir uns gar nicht kannten. Hätte ich ihnen hallo sagen können – nur dieses eine winzige, harmlose Wort –, wäre die Illusion perfekt gewesen.

»… wenn sie nicht will. Warum sagt sie das nicht einfach?«, fragte ein Mädchen ihre Freundinnen, die sich um sie scharten. Sie erinnerte mich an eine Bienenkönigin, umschwärmt von ihren Drohnen.

»Ja, echt mal! Sie hätte dir sagen sollen, dass sie nicht mitwill, anstatt es überall rumzuerzählen.«

Die Königin warf ihre Haare zurück. »Tja, das hat sie jetzt davon. Ich habe ihre Spielchen satt.«

Ich schaute ihr mit gerunzelter Stirn nach; offensichtlich spielte sie ihr ganz eigenes Spiel, und das würde sie mit Sicherheit gewinnen.

»Ich sag’s dir, Mann, das können wir selbst designen«, versuchte ein kurzhaariger Junge wild gestikulierend, seinen Kumpel für seine Idee zu begeistern.

»Ich weiß nicht.« Der Kumpel, ein leicht übergewichtiger Kerl, der sich pausenlos am Hals kratzte, ging zügig. Vielleicht versuchte er, seinen Freund abzuhängen, aber der war so gut zu Fuß und so motiviert, dass er wahrscheinlich sogar mit einer Rakete hätte mithalten können.

»Ist doch nur eine winzige Investition, Mann. Wir könnten ganz groß rauskommen. Stell dir das doch mal vor; in zehn Jahren reden vielleicht alle von den beiden Nerds aus Florida, die die ganze Welt verändert haben!«

Ich verkniff mir ein Lächeln.

Als die Studentenscharen sich am Nachmittag in alle Winde zerstreuten, machte ich mich auf den Weg zur Bibliothek. Seit wir nach Miami gezogen waren, ging ich dort ein- oder zweimal die Woche hin. Ich recherchierte nicht gerne zu Hause für mein Scrapbook. Den Fehler hatte ich einmal gemacht, und Elizabeth hatte mich tagelang gnadenlos damit aufgezogen, wie morbide ich doch sei.

»Warum buddelst du nicht gleich ihre Leichen aus?«, hatte sie gefragt. »Oder bittest die See, dir ihre letzten Gedanken zu verraten. Willst du die jetzt auch noch wissen?«

Ich konnte nachvollziehen, warum sie das abstoßend fand. Sie sah in meinem Scrapbook eine krankhafte Obsession mit den Leuten, die wir ermordet hatten. Doch ich wünschte, sie würde verstehen, dass mich all diese Leute immer noch heimsuchten, dass mir ihre Schreie noch lange im Gedächtnis blieben, nachdem ihre Schiffe gesunken waren. Zu wissen, dass Melinda Bernard Puppen sammelte und Jordan Cammers im ersten Semester Medizin studierte, linderte meinen Schmerz. Als würde ich dadurch, dass ich mehr über ihr Leben wusste als über ihren Tod, ihr schweres Los etwas leichter machen.

Mein heutiges Ziel war Warner Thomas, der Zweitletzte auf der Passagierliste der Arcatia. Über ihn zu recherchieren stellte sich als erstaunlich einfach heraus. Es gab eine Menge Leute mit demselben Namen, aber als ich all seine Profile in sozialen Netzwerken fand, auf denen die Flut von Posts vor sechs Monaten plötzlich abgebrochen war, wusste ich sofort, dass er der Richtige war. Warner war ein großer, schlaksiger Kerl, der dem Aussehen nach zu schüchtern war, um mit den Leuten zu reden. Sein Status lautete überall »Single«, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil mich das kein bisschen wunderte.

Der letzte Eintrag in seinem Blog brach mir fast das Herz.

Sorry, nur ein kurzes Update, poste übers Handy. Seht euch diesen Sonnenaufgang an!

Direkt darunter verschmolz die Sonne in einer atemberaubenden Momentaufnahme mit dem Ozean.

So viel Schönheit auf der Welt! Ich bin mir fast sicher, dass was Tolles auf mich zukommt!

Ich hätte fast gelacht. Seinem Gesichtsausdruck auf all den Fotos nach zu schließen hatte er noch nie im Leben etwas laut ausgerufen. Aber ich fragte mich trotzdem, ob vor seiner verhängnisvollen Schiffsreise etwas passiert war, das ihm Hoffnung gegeben hatte. Hatte er Grund zu der Annahme, dass sich sein Leben zum Besseren ändern würde? Oder war das nur eine dieser Lügen, die wir uns allein in unserem Zimmer erzählten, wo niemand sehen konnte, wie weit sie von der Wahrheit entfernt waren?

Ich druckte das schönste Foto von ihm, einen Witz, den er gepostet hatte, und ein paar Informationen über seine Geschwister aus. Ich trug die Scrapbooks nicht gerne in aller Öffentlichkeit mit mir herum, darum verstaute ich die Seiten ordentlich in meiner Tasche.

Nachdem das erledigt war, konnte ich mich etwas Erfreulicherem zuwenden. Über die Jahre hatte ich gelernt, dass ich für jede traurige Geschichte, die ich in meinen Scrapbooks festhielt, einen positiven Ausgleich brauchte. Bevor ich gestern Abend die letzten Bilder von Kerry eingeklebt hatte, hatte ich mir Kleider angeschaut, und auch für heute hatte ich mir schon den perfekten Ausgleich überlegt: Kuchen. Ich ging in die kulinarische Abteilung und schleppte einen ganzen Stapel Bücher zu einem freien Platz im dritten Stock. Ich las Rezepte, studierte Bilder von phantastischen Kreationen und verlor mich dabei in Tagträumen, wie ich selbst die besten, köstlichsten Hochzeitstorten zauberte, die die Welt je gesehen hatte. Die erste war eine klassische Vanille-Buttercremetorte mit blassblauer Glasur, garniert mit weißem Mohn. Dreistöckig. Unglaublich lecker. Die nächste war ein fünfstöckiges, rechteckiges Meisterwerk, verziert mit einer schwarzen Schleife und Modeschmuckbroschen, die an der Vorderseite vertikal angeordnet waren. Ja, die würde sich für eine Hochzeit am Abend noch besser eignen.

Vielleicht war das mein nächster großer Traum. Vielleicht könnte ich Bäckerin werden und jemand anderem eine unvergessliche Hochzeit bescheren, wenn mir dieses Glück nie selbst vergönnt sein sollte.

»Gibst du eine Party?«

Überrascht schaute ich auf und sah einen etwas verlotterten blonden Jungen, der einen Wagen voller Bücher schob. Er trug ein verblasstes Namensschild, das ich nicht lesen konnte, und das typische Studenten-Outfit: Khakihosen und ein schlichtes Hemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben. Niemand gab sich heutzutage mehr Mühe.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Auch das war ein unvermeidbarer Teil meiner Strafe. Wir waren dazu bestimmt, anziehend auf Menschen zu wirken, und Männer waren ganz besonders anfällig für unsere Reize.

Ohne ein Wort senkte ich den Blick wieder – hoffentlich würde er den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen. Ich hatte mir nicht die hinterste Ecke im obersten Stockwerk als Sitzplatz ausgesucht, weil mir nach Plaudern zumute war.

»Du siehst gestresst aus. Da könntest du bestimmt eine Party brauchen.«

Zu meiner eigenen Überraschung musste ich schmunzeln. Er hatte ja keine Ahnung. Leider verstand er mein kleines Lächeln als Einladung, weiter mit mir zu reden.

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare – die moderne Variante von einem höflichen »Guten Tag, Miss« – und zeigte auf meine Bücher. »Meine Mutter sagt, das Erfolgsrezept beim Backen ist eine warme Schüssel. Nicht dass ich was davon verstehe. Ich kann mir kaum Müsli machen, ohne dass es anbrennt.«

Sein verschämtes Grinsen legte nahe, dass er keineswegs übertrieb, und irgendwie fand ich es süß, wie er nervös auf der Stelle trat und eine Hand in der Hosentasche vergrub.

Es war wirklich eine Schande. Ich wusste, dass er mir nichts Böses wollte, und ich wollte seine Gefühle nicht verletzen. Trotzdem war ich im Begriff, ihn eiskalt abblitzen zu lassen und einfach zu gehen, als er die Hand plötzlich wieder herauszog und sie mir hinhielt.

»Ich bin Akinli«, stellte er sich vor. Ich starrte ihn verblüfft an – noch nie hatte jemand trotz meines Schweigens so beharrlich versucht, sich mit mir zu unterhalten. »Merkwürdiger Name, ich weiß.« Er hatte meinen verwirrten Gesichtsausdruck missverstanden. »Familienname. Na ja, so eine Art. Jemand aus meiner Familie mütterlicherseits hieß so.«

Er wartete geduldig. Normalerweise hätte ich spätestens jetzt die Flucht ergriffen. Aber Miaka und Elizabeth schafften es auch irgendwie, mit den Menschen zu kommunizieren. Herrgott nochmal, Elizabeth nahm sich einen Liebhaber nach dem anderen, ohne je auch nur ein Wort zu sagen. Und irgendwas hatte dieser Junge an sich, irgendwas an ihm wirkte … anders. Vielleicht lag es an seinem Lächeln, das sich wie von selbst auf sein Gesicht zu stehlen schien, oder an seiner Stimme, die weich wie Wolken aus ihm herausströmte – ich war mir sicher, wenn ich ihn abwies, würde mich das noch weit mehr verletzen als ihn. Ich würde es mein ganzes Leben lang bereuen.

Vorsichtig, als könnte ich uns womöglich beide zerbrechen, nahm ich seine Hand und hoffte, er würde nicht merken, wie kalt meine Haut war.

»Und du bist?«, erkundigte er sich.

Ich seufzte. Bestimmt würde er gleich gehen, auch wenn ich ihn beim besten Willen nicht vergraulen wollte. Ich schrieb meinen Namen in Gebärdensprache, und seine Augen wurden groß.

»Oh, wow. Dann hast du die ganze Zeit von meinen Lippen gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du kannst mich hören?«

Ich nickte.

»Aber du kannst nicht sprechen … Ähm, okay.« Er fing an, seine Taschen abzuklopfen, während ich gegen das ungute Gefühl ankämpfte, das mich mit einem Mal beschlich. Wir hatten nicht viele Regeln, aber die wenigen, die wir hatten, waren streng.

Kein Sterbenswörtchen zu den Menschen, bis es Zeit ist zu singen.

Wenn die Zeit zum Singen kommt, zögert nicht.

Solange ihr nicht singt, tut nichts, wodurch ihr euer Geheimnis verraten könntet.

Eine belebte Straße entlangzugehen oder unter einem Baum zu sitzen war eine Sache – aber das hier? Der Versuch, ein echtes Gespräch anzufangen? Damit brachte ich mich in ernsthafte Gefahr.

»Da ist er ja«, sagte Akinli und zog einen Stift heraus. »Ich hab leider kein Papier, also musst du auf meine Hand schreiben.«

Zögernd starrte ich auf seine Haut. Welchen Namen sollte ich ihm nennen? Den auf dem Führerschein, den Miaka online für mich besorgt hatte? Den, unter dem ich unser derzeitiges Haus gemietet hatte? Oder vielleicht den, den ich in der letzten Stadt, wo wir gewohnt hatten, benutzt hatte? Ich hatte hundert Namen zur Auswahl.

Womöglich war das naiv, aber ich entschied, ihm die Wahrheit zu sagen.

»Kahlen?«, las er von seiner Hand ab.

Ich nickte, überrascht, wie befreiend es war, dass wenigstens ein Mensch auf diesem Planeten wusste, wie ich wirklich hieß.

»Schöner Name. Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Kahlen.«

Ich versuchte zu lächeln, obwohl ich mich immer noch unbehaglich fühlte. Smalltalk war nicht gerade meine Stärke.

»Ich find’s echt toll, dass du auf eine normale Uni gehst, obwohl du Gebärdensprache benutzt. Und ich dachte, ich wäre mutig, weil ich in einen anderen Bundesstaat gezogen bin.« Er lachte.

Egal, wie unwohl mir war, ich bewunderte seine hartnäckigen Bemühungen, das Gespräch am Laufen zu halten. Nur wenige Leute würden sich in einer solchen Situation so ins Zeug legen. Er deutete erneut auf meine Bücher. »Also, ähm, wenn du eine Party gibst und noch Hilfe mit dem Kuchen brauchst, könnte ich meine Unfähigkeit bestimmt lang genug überwinden, um nicht alles zu ruinieren.«

Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Ich mein’s ernst!«, rief er lachend, als hätte ich einen Witz gemacht. »Na ja, ich wünsch dir auf alle Fälle viel Glück. Hoffe, man sieht sich.«

Er winkte mir etwas unbeholfen zu und schob seinen Wagen dann weiter. Ich sah ihm nach. Ich wusste, ich würde mich an seine Haare erinnern, die selbst in völliger Windstille aussahen, als hätte sie eine kräftige Böe zerzaust, und an die Wärme in seinen Augen. Und ich würde mich dafür hassen, dass ich mir diese Details eingeprägt hatte, wenn sich unsere Wege je an einem jener finsteren Tage kreuzten – einem Tag wie jenem, an dem mir Kerry und Warner begegnet waren.

Und dennoch war ich dankbar. Ich konnte mich nicht entsinnen, wann ich mich zum letzten Mal so menschlich gefühlt hatte.

• 2 •

»Was wollt ihr heute Abend machen?«, fragte Elizabeth und ließ sich aufs Sofa fallen. Durch das Fenster hinter ihr sah ich, wie der Himmel seine Farbe von Blau zu Pink zu Orange wechselte, und hakte in Gedanken einen weiteren Tag von den Tausenden ab, die ich noch vor mir hatte.

»Ich hab keine Lust, in einen Club zu gehen.«

»Wie jetzt, im Ernst?« Ich warf die Arme hoch. »Bist du krank?«

»Haha«, gab sie augenrollend zurück. »Ich will einfach mal was anderes machen.«

Miaka sah von dem Laptop auf, den wir uns teilten. »Wo ist es jetzt Tag? Wir könnten ins Museum gehen.«

Elizabeth schüttelte den Kopf. »Ich werde nie verstehen, was du an solchen totenstillen Gebäuden findest. Als wären wir selbst nicht schon still genug.«

Ich warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Du? Still?«

Elizabeth streckte mir die Zunge raus und hopste zu Miaka hinüber. »Was siehst du dir da an?«

»Fallschirmspringen.«

»Oh, wow! Das klingt schon viel besser!«

»Steiger dich da nicht gleich rein. Ich recherchiere nur. Ich hab mich gefragt, was mit unserem Adrenalinspiegel passiert, wenn wir so was machen«, erklärte Miaka, während sie sich auf einem Block Notizen machte. »Ob er noch rasanter ansteigen würde als bei den Menschen.«

Ich lachte leise. »Miaka, soll das ein Abenteuer werden oder ein wissenschaftliches Experiment?«

»Ein bisschen von beidem. Ich hab gelesen, dass Adrenalinstöße die Wahrnehmung verändern können, die Sicht verschleiern oder einen Moment scheinbar einfrieren. Ich möchte herausfinden, was ich sehe, und dann versuchen, das Erlebnis künstlerisch festzuhalten.«

»Zugegeben, das klingt sehr kreativ«, meinte ich lächelnd. »Aber es muss doch einen besseren Weg geben, sich einen Kick zu verschaffen, als aus einem Flugzeug zu springen.«

»Selbst wenn es schiefgeht, würden wir überleben, oder?«, fragte Miaka, und sie wandten sich beide mir zu, als wäre ich bei diesem Thema die Expertin.

»Ich denke schon. Aber bei diesem speziellen Abenteuer mache ich nicht mit.«

»Hast du etwa Angst?«, zog Elizabeth mich auf.

»Nein«, protestierte ich. »Ich hab einfach kein Interesse.«

»Sie hat Angst, dass sie Ärger kriegt«, vermutete Miaka. »Dass das der See nicht gefallen würde.«

»Als ob Sie auf dich je böse sein könnte.« In Elizabeths Stimme schwang ein Anflug von Bitterkeit mit. »Sie liebt dich.«

»Wir alle sind Ihr wichtig.« Ich verschränkte die Hände im Schoß.

»Dann hätte Sie doch bestimmt nichts dagegen, wenn wir Fallschirmspringen gehen.«

»Was, wenn du Angst kriegst und anfängst zu schreien?«, gab ich zu bedenken. »Was würde dann passieren?«

Elizabeth, die sich schon warmgelaufen hatte, meine Sorgen in den Wind zu schlagen, knickte ein. »Gutes Argument.«

»Ich hab noch zwanzig Jahre«, sagte ich leise. »Wenn ich jetzt Mist baue, waren die letzten achtzig umsonst. Ihr wisst genauso gut wie ich, was aus Sirenen wird, die sich Fehler erlauben. Miaka, du hast gesehen, was mit Ifama passiert ist.«

Miaka schauderte. Die See hatte Ifama in den 50er Jahren an der Küste von Südafrika vor dem Ertrinken gerettet, und zum Dank hatte das Mädchen geschworen, Ihr zu dienen. In der kurzen Zeit, die sie bei uns gewesen war, war sie für sich geblieben, saß allein in ihrem Zimmer und schien die meiste Zeit zu beten. Später fragten wir uns, ob sie uns die kalte Schulter gezeigt hatte, um bloß keine emotionale Bindung zu uns aufzubauen. Als sie zum ersten Mal singen musste, stand sie mit hochgerecktem Kinn auf dem Wasser und weigerte sich. Die See riss sie so schnell in die Tiefe, als wäre sie nie da gewesen.

Es war eine Warnung an uns alle. Wir mussten singen, und wir mussten das Geheimnis bewahren. So lauteten unsere Gebote.

»Und was ist mit Catarina?«, fuhr ich fort. »Oder Beth? Oder Molly? Mit all den Mädchen, die vor derselben Herausforderung standen wie wir und versagt haben?«

Die Geschichten dieser Mädchen dienten uns als abschreckendes Beispiel, und so wurden sie von einer Sirene an die nächste weitergegeben. Beth hatte ihre Stimme missbraucht, indem sie drei Mädchen, die sie geärgert hatten, dazu zwang, sich in einen Brunnen zu stürzen. Und das im 17. Jahrhundert, als die Hexenverfolgung noch in vollem Gange war. Sie hatte ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken versetzt, und die See hatte sie zum Schweigen gebracht, um unser Geheimnis zu bewahren. Catarina hatte sich ebenfalls geweigert zu singen und mit dem Leben dafür bezahlt. Das Seltsame an ihrer Geschichte war, dass sie der See zu diesem Zeitpunkt schon dreißig Jahre lang gedient hatte. Die Frage, was sie nach so langer Zeit dazu gebracht hatte, ihren Schwur zu missachten, bereitete mir immer noch Kopfzerbrechen.

Mollys Geschichte war anders – und verstörender. Das Leben als Sirene hatte bei ihr eine Art geistigen Zusammenbruch ausgelöst. Nach vier Jahren hatte sie in einem Ausbruch von unbändiger Wut eine ganze Familie, darunter auch ein kleines Kind, ermordet, was ihr gar nicht bewusst gewesen war, bis sie auf eine ältere Frau herabblickte, die mit dem Gesicht nach unten in ihrer Badewanne trieb. Den Erzählungen zufolge hatte die See versucht, sie zu beruhigen, aber als sie wenige Monate später erneut auf ähnliche Weise die Kontrolle verlor, beendete die See ihr Leben. Molly war der Beweis, dass die See gnädig sein konnte, wenn Sie die Absicht hinter einer Tat verstand, dass Ihre Nachsicht jedoch Grenzen hatte.

Das waren die Geschichten, die wir bei uns trugen, die Leitplanken, die uns davon abhielten, aus der Reihe zu tanzen. Die Regeln zu missachten bedeutete den Tod.

Würden wir unser Geheimnis preisgeben, würden die Menschen uns einfangen und Experimente an uns durchführen. Wenn sie uns nicht töten und wir uns nicht befreien könnten, erwartete uns wortwörtlich eine Ewigkeit in stiller Gefangenschaft. Und wenn irgendjemand dahinterkam, dass die See einige der Leute verzehrte, die Sie doch eigentlich am Leben erhielt, würde es nicht lange dauern, bis die Menschen einen Weg fanden, an Wasser zu kommen, ohne sich Ihr zu nähern. Und wenn sich niemand mehr ins Wasser wagte … wie sollten wir dann überleben?

Gehorsam war zwingend notwendig.

»Ich mache mir Sorgen um euch«, gestand ich, ging zu Elizabeth und Miaka und nahm sie fest in die Arme. »Ganz ehrlich, ich beneide euch manchmal darum, wie gut ihr euch … anpasst. Aber wie lange könnt ihr das noch durchhalten, ohne einen Fehler zu machen?«

»Kein Grund zur Sorge«, versicherte mir Miaka. »So leben die Sirenen seit unzähligen Jahren, und wir sind besser darin als irgendjemand sonst. Selbst Aisling wohnt am Rand einer Stadt. Kontakt zu den Menschen hilft uns, bei Verstand zu bleiben. Man muss sich nicht abschotten, um dieses Leben durchzustehen.«

Ich nickte. »Ich weiß. Aber ich will mein Glück nicht überstrapazieren – oder die Geduld der See.«

Elizabeth musste nichts sagen. Ich wusste auch so, wie wenig sie von meiner Ansicht hielt.

»Warum besuchen wir nicht Aisling?«, schlug Miaka vor. »Wir haben sie nie gefragt, wie sie mit all dem zurechtkommt.«

»Weil sie nie hier ist«, erwiderte Elizabeth ärgerlich.

Wir hatten unsere älteste Schwester nicht mehr gesehen, seit wir zum letzten Mal gesungen hatten, und sie lebte seit über zwei Jahren nicht mehr bei uns.

»Gute Idee. So ein kleiner Ausflug würde uns guttun«, meinte ich, hauptsächlich zu Elizabeth, die mit Aisling nie wirklich warmgeworden war. Unsere große Schwester lebte zu zurückgezogen für ihren Geschmack.

Elizabeth nickte schließlich zögernd. »Okay. Sonst gibt’s ja sowieso nichts zu tun.«

Wir gingen durch die Hintertür nach draußen und eine kleine Holztreppe hinunter zu unserem Steg. Einige der Nachbarhäuser hatten Jetskis oder Ruderboote an ihrer Anlegestelle vertäut, aber unsere war leer. Die Sonne stand tief genug, dass niemand uns sehen konnte, als wir ins Wasser stiegen.

Ihre Wellen umwogten uns zur Begrüßung, und ein kribbelndes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus, als wir in die Fluten sanken. In Ihrer sanften Umarmung fühlte ich mich gleich viel ruhiger.

Kannst Du Aisling sagen, dass wir kommen?, fragte ich.

Natürlich.

Yippiiie, jauchzte Elizabeth, als wir tief ins Wasser eintauchten und uns auf den Weg machten. Ihr rasantes Tempo riss ihr die spärlichen Kleider vom Leib, und sie streckte die Arme aus, ihre Haare in der Strömung tanzend, und wartete, dass die See sie ins Gewand einer Sirene hüllte.

Wenn wir uns so bewegten, fiel alles Weltliche von uns ab. Die See öffnete ihre Venen, und heraus strömten Tausende Salzpartikel, die sich an unsere Körper hefteten und sich zu wunderschönen, weich fallenden Gewändern formten. Sie schillerten in all Ihren Farben – lila wie ein Korallenriff, das kein Mensch je zu Gesicht bekommen hatte, grün wie der Seetang, der dem Licht entgegenwuchs, golden wie der brennende Sand bei Sonnenaufgang – und sahen immer anders aus. Es tat fast weh, zusehen zu müssen, wie sie zu zerfallen begannen, sobald wir die See verließen, bis wenige Tage später nichts mehr von ihnen übrig war.

Du wirkst traurig. Ihre Worte waren nur für mich zu hören.

Ich hatte wieder Albträume.

Du brauchst keinen Schlaf. Du kommst gut ohne aus, das weißt du.

Ich lächelte. Ja, ich weiß. Aber ich schlafe gerne. Das beruhigt mich. Nur die Albträume würde ich lieber loswerden.

Sie konnte mich nicht von den Albträumen befreien, aber irgendwie schaffte Sie es immer, mich zu trösten. Manchmal nahm Sie mich zu einer Insel mit oder Sie zeigte mir die schönsten Facetten Ihrer selbst, so leicht verborgen vor den Menschen. An anderen Tagen wusste Sie, dass Sie mir am besten half, indem Sie mich eine Weile allein sein ließ. Aber ich wollte nie lange von Ihr getrennt bleiben. Sie war die einzige Mutter, die ich noch hatte.

Teils Mutter, teils Schutzherrin, teils Arbeitgeberin … unsere Beziehung war schwer zu beschreiben.

Aisling schwamm uns entgegen, um uns zu empfangen, ihr eigenes Gewand, noch nicht ganz fertig geformt, trieb in Strängen um sie herum.

Was für eine schöne Überraschung!, begrüßte sie uns und drückte Miakas Hand. Kommt.

Wir folgten ihr, vorbei an Landmassen, die sich über die Fluten schoben und zu Kontinenten wurden. Unser geographisches Wissen unterschied sich von dem der Menschen, weil wir wussten, dass manche Orte von Felsen, andere von Sand und wieder andere von steilen Klippen umgeben waren. Auch andere Dinge kannten wir besser als irgendjemand sonst, wie die Orte, an denen wir uns gefunden hatten, und die Stellen, wo wir Schiffe zum Kentern gebracht hatten. Wir besaßen ein einzigartiges Wissen über nirgends kartographierte Geisterstädte am Grund des Meeres.

Aisling führte uns zu einer leicht unebenen Küste und richtete sich auf, sobald das Wasser seicht genug war.

»Keine Sorge«, sagte sie, als sie unsere Nervosität bemerkte. »Wir sind hier allein.«

»Ich dachte, du lebst in der Nähe einer Stadt«, meinte Elizabeth verwundert und hüpfte über die abgerundeten Felsen am Ufer.

Aisling zuckte die Achseln. »Nähe ist ein dehnbarer Begriff.« Sie brachte uns zu einer alten Holzhütte direkt am Waldrand. Sie war malerisch schön, wie sie sich unter das dichte Geäst schmiegte, und ich vermutete, dass die Bäume die Hütte im Sommer angenehm kühl hielten und sie im Winter vor dem Schnee schützten. Davor lag ein kleiner Garten voller Blumen und Waldbeeren, und die prachtvolle Blüte, in der alles stand, brachte mich zu der Vermutung, dass Aisling im Gegensatz zu uns, die wir nur mit dem Wasser verbunden waren, ihre Kraft aus allen Elementen zog.

»Dein Haus ist so klein!«, rief Miaka, als wir hineingingen. Nur ein Zimmer, und das war kaum so groß wie das Wohnzimmer in unserem Strandhaus. Auch Möbel gab es nicht viele, nur ein kleines Bett und einen Tisch mit einer Bank zum Sitzen.

»Ich finde es gemütlich«, meinte Aisling und stellte einen Kessel auf einen uralten Herd. »Es freut mich, dass ihr mich besucht. Ich habe heute frische Beeren gesammelt und wollte einen Kuchen backen. Gebt mir eine Dreiviertelstunde, dann mache ich uns einen köstlichen Nachtisch!«

»Erwartest du noch jemanden?«, fragte Elizabeth. »Oder war dir nur langweilig?«

Wir hatte nicht viel Grund zu kochen. Wir mussten nichts essen, und gerade Elizabeth kam monatelang ohne Essen aus, ehe sie plötzlich Sehnsucht nach einem bestimmten Geschmack bekam.

Aisling, die gerade den Teig in ihrer Backform auslegte, lächelte. »Ja, der König sollte jeden Moment vorbeikommen.«

»Ah, dann mag der König also Kuchen?«, scherzte Miaka mit.

»Jeder mag Kuchen!«, rief Aisling und seufzte dann. »Um ehrlich zu sein, war mir heute wirklich ein bisschen langweilig. Deswegen bin ich so froh, dass ihr da seid.«

Ich gesellte mich zu ihr, während sie die Füllung in die Form gab. »Du weißt, dass du jederzeit wieder zu uns kommen kannst.«

»Oh, mir gefällt die Ruhe.«