Skala des Bösen - Michael Moser - E-Book

Skala des Bösen E-Book

Michael Moser

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Beschreibung

Ein perfider Plan, eine tödliche Lüge - und eine Frau, die alles verliert. Lena hat als Anwältin gelernt zu kämpfen. Doch nichts hat sie auf diesen Tag vorbereitet: Ihre Familie ist verschwunden und sie steht unter Verdacht. Während die Polizei sie in die Enge treibt, ihre Kollegen sich von ihr abwenden und Freunde zu Feinden werden, wird ihr klar: Jemand inszeniert in ihrem Leben das perfekte Verbrechen. Ein Feind, der ihre tiefsten Ängste kennt. Aber wer? Und warum? Um ihre Familie zu retten, muss Lena tief in eine dunkle Welt eintauchen, aus der es vielleicht kein Zurück mehr gibt.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Michael Moser

Skala des Bösen

thriller

Zum Buch

Die perfekte Täuschung Nichts und niemand hätte die Rechtsanwältin Lena von Nierstein auf den wahrgewordenen Albtraum vorbereiten können, in den sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen verwandelt hat: Erst löst der bestialische Mord an einem Anwalt aus einer konkurrierenden Kanzlei große Sorgen bei ihr aus, schon muss Lena um ihre eigene Zukunft kämpfen. Ihre Familie ist spurlos verschwunden, eine mysteriöse Botschaft in Kreideschrift ist ihr einziger Anhaltspunkt. Gleichzeitig häufen sich für die Ermittler die Indizien, dass Lena selbst etwas damit zu tun hat. Ist sie Opfer oder Täterin? Während die Polizei sie verfolgt und ihr Umfeld sich gegen sie wendet, bleibt ihr nur eine Chance: den wahren Schuldigen zu finden. Doch was, wenn die Wahrheit schlimmer ist als die Lüge? Denn irgendjemand will, dass sie für diese Verbrechen bezahlt – mit ihrem Leben.

Dr. Michael Moser, Jahrgang 1976, ist Manager und lebt in Frankfurt am Main. Als ehemaliger Rechtsanwalt kennt er das Großkanzleileben. Seine beruflichen Erfahrungen haben ihn zu diesem Titel inspiriert. Er hat bereits mehrere Fachbücher zu wirtschaftsrechtlichen Themen veröffentlicht. »Skala des Bösen« ist sein erster Thriller.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Louis Droege / unsplash

ISBN 978-3-7349-3384-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Lena starrte in seine blutunterlaufenen Augen. Zögerlich trat sie einen Schritt auf den Fremden zu. Er war unrasiert und musterte sie kalt.

Eine Furche durchzog seine Stirnmitte. Grobe Poren und vernarbte Haut zeugten von einer früheren starken Akne. Aus der rechten Hand des Mannes ragte die glänzende Spindel eines Korkenziehers. Die Spitze war auf Lena gerichtet, und die Pupillen des Fremden waren vor Erregung geweitet.

Lenas Mund wurde trocken. Ihr Körper zitterte. Dennoch fühlte sie sich von dem Blick unfreiwillig angezogen. Sie schauderte.

»Ich dachte, du verabscheust die Idee meiner Ausstellung. Stattdessen scheinen dich meine Fotos geradezu in den Bann zu ziehen, mein Schatz.«

Lena drehte sich um. Dabei rutschten ihre schulterlangen, dunkelblonden Haare aus dem Gummiband. Die Nähe ihres Mannes Mark beruhigte sie. Sanft legte sie ihm die Hände um den Hals und gab ihm einen zärtlichen Kuss.

»Ich habe dich so vermisst und schon befürchtet, das Büro lässt dich heute nicht mehr frei«, sagte Mark. Er strahlte.

Lena stellte ihre Aktentasche auf einen der freien Stehtische und legte ihren Kaschmirmantel ordentlich über die Stuhllehne eines in einer Ecke stehenden Barhockers. Seine Unsicherheit wegen der neugierigen Blicke der Gäste versuchte Mark durch seine fröhliche Art zu überspielen. Er wusste um die Wirkung seiner Frau. Vor allem, wenn sie ein figurbetontes Businesskostüm trug.

»Wie läuft die Vernissage? Soll ich jemanden vom Wert deiner Werke überzeugen, oder ist alles schon verkauft?« Lena sah flüchtig erneut auf das Porträt des Typen mit den unfassbar blauen Augen. Unterhalb des Bilderrahmens stand in blutroten Buchstaben »Der perfekte Mord«. Gab es den? Lena war überzeugt, dass jeder Mörder am Ende seine gerechte Strafe erhalten würde, mochte er seine Tat noch so gut geplant haben.

»Du hattest mal wieder recht, Leni. Es sind fast nur Journalisten gekommen. Weit und breit kein kaufwilliger Kunstliebhaber. Das Thema meiner Fotoreihe trifft vielleicht den Nerv der Zeit, aber leider will sich niemand Fotos von Schwerverbrechern an die Wände hängen«, gab Mark kleinlaut zu.

Lena drückte ihm tröstend die Hand. An dieser Niederlage würde er zu knabbern haben.

»Stattdessen giert die Boulevardpresse nach Druckrechten. Und weißt du, was die häufigste Frage ist?« Mark spitzte die Lippen und schob das Kinn nach vorn. Mit hoher, leiernder Stimme ahmte er die Journalisten nach. »Wer ist die 22?« Er rollte mit den Augen. »Alle sind nur am größten Verbrecher aller Zeiten interessiert. Sie gieren nach Superlativen. Und auch du, mein Schatz, hast ihm gerade in die mörderischen Augen geblickt. Wenn ich an das Interview mit ihm denke, wird mir heute noch angst und bange.«

Lena spürte, dass Mark versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Sie kannte seine typische Reaktion, wenn ihm oberflächliche Fragen gestellt wurden: darüber hinweglächeln. Am liebsten hätte sie ihn schützend in den Arm genommen. Seit seinem Abschluss an der Kunstakademie Frankfurt hoffte ihr Mann auf den großen Durchbruch. Doch außerhalb der Städelschule kannte keiner den selbstständigen Künstler. Mehrere Vernissagen waren bereits gefloppt.

Lenas und Marks Rollen im Alltag waren klar verteilt. Während sie als Rechtsanwältin in der Großkanzlei das Geld verdiente, kümmerte er sich um ihren anderthalbjährigen Sohn Luca und den Haushalt. Dass sie in den überfüllten Kitas rund um Frankfurt keinen Platz bekommen hatten, war Lena, wenn sie ehrlich war, ganz recht. Aus ihrer Sicht sollte Luca erst in fremde Hände gegeben werden, wenn er richtig sprechen konnte. Mark sah dies anders, und während der Vorbereitung für die Ausstellung war es hierüber regelmäßig zum Streit gekommen.

Im Freundeskreis bezeichnete sich Mark gern als Vollzeitpapi. Tatsächlich füllte er diese Rolle mit Leib und Seele aus. Er kannte sämtliche Kinderlieder, baute Sandburgen und hatte sogar eine Krabbelgruppe in ihrem Viertel organisiert. Und doch wünschte er sich nichts sehnlicher als beruflichen Erfolg. In jeder freien Minute tüftelte er an neuen Projekten, um endlich Anerkennung für seine Ausstellungen zu bekommen.

Mit der Fotoreihe »Das Böse in uns« musste es endlich funktionieren. »Provokation schafft Aufmerksamkeit«, lautete sein Kalkül.

Lena zog Mark zu einer Gruppe Journalisten, die sich zu langweilen schien. Es war höchste Zeit, dass Mark sich um sie kümmerte.

»Hat die Skala Ihr Interesse geweckt?«, fragte er.

»Ah, der Künstler. Hi. Ich bin vom Kulturmagazin ›Kunst Szene Frankfurt‹ und werde eine Kritik über Ihre Ausstellung schreiben. Was zeichnet Ihre Kunst aus? Bitte in drei bis vier Sätzen.«

Mark atmete tief ein. »Also. Tja. Wo soll ich anfangen? Alle Fotos, die Sie sehen, zeigen Mörderinnen und Mörder. Darunter die brutalsten des 20. Jahrhunderts. Meine Werke beruhen auf der Skala des Bösen, die zurückgeht auf Michael Stone. Der forensische Psychiater hat Gewaltverbrecher je nach Schwere der Schuld in 22 Kategorien eingeordnet. Diese Kategorien teilte er wiederum in vier Gruppen auf. Die erste Gruppe beinhaltet Personen, die in Notwehr getötet haben, bei denen jede Spur des Bösen fehlt. In die zweite Gruppe sortierte Stone all jene Mörder ein, die ihre Tat aus Bosheit, Eifersucht oder Hass verüben. Die dritte Gruppe verkörpert die unscharfe Grenze zur Psychopathie. Zur letzten Gruppe zählen Psychopathen, die keine Reue empfinden können.«

»Klingt für unsere Leser zu abstrakt, Herr von Nierstein. Was macht den Mörder aus, der ganz oben auf dieser Skala steht?«

Mark dozierte trotz der rüden Unterbrechung unbeirrt weiter. »Das Ziel der Mörder der letzten Gruppe war allein das Vergnügen, das sie aus der Gewalttat zogen. Ein extremer Folterer etwa, der mit kaltem Verstand einen brutalen Mord verübte, wird als im höchsten Maße schändlich eingestuft. Mit den Porträts der Mörder, in denen diese mit ihren Tatwaffen zu sehen sind, illustriere ich diese Gewaltleiter.«

»Was unsere Leser brennend interessieren würde«, ging der Pressevertreter der Boulevardzeitung dazwischen, »ist, wie die Gespräche mit den Mördern abgelaufen sind. Hatten Sie Angst? Wurden Sie bedroht?«

»Es war faszinierend.« Marks Augen funkelten. »Für die Ausstellung habe ich vier Jahre lang in unregelmäßigen Abständen 13 Häftlinge in Psychiatrien und Gefängnissen besucht. Eine Mörderin ist mir dabei besonders im Gedächtnis geblieben. Claudia Nebel alias die ›Zungensammlerin vom Bodensee‹.«

Mark wartete ab, ob der Name bei den Journalisten Wirkung zeigte. Als die erhoffte Reaktion ausblieb, fuhr er fort. »Claudia hat mir von Beginn an vertraut. Bereitwillig hat sie mir offenbart, was sie an Zungen so fasziniert und warum sie ihren Opfern dieses Körperteil entfernte. Wohlgemerkt, als ihre Opfer noch lebten. Sie hat mir sogar ihre Dienste angeboten, sollte sie eines Tages aus der Psychiatrie entlassen werden. Genauer gesagt, passen Sie auf, was Sie schreiben.« Mark schob ein verlegenes Grinsen hinterher.

Lena spürte, dass der Funke nicht übersprang. Marks Begeisterung für das Thema war ihr ebenfalls fremd. Die Vernissage war eine geschmacklose Inszenierung von niederträchtigen Menschen. Doch die Eröffnung war so wichtig für ihn, deshalb bangte sie mit. »Mein Mann macht nur Witze. Keine Sorge.« Lena durchbrach die angespannte Situation mit einem Lachen. »Ich verstehe Ihre Zurückhaltung. Mir ging es ebenso, dass ich zu Beginn des Projekts nicht begriffen habe, warum man diese widerlichen Menschen ins Scheinwerferlicht rücken sollte.«

Mark blinzelte Lena dankbar an. »Meine Frau war in der Tat meine größte Kritikerin. Noch letzte Woche hat sie mir an den Kopf geworfen, dass jeder mit gesundem Menschenverstand einen großen Bogen um die porträtierten Mörder machen würde, statt sie sich ins Wohnzimmer zu holen.«

»Von deinem Dozieren über menschliche Urinstinkte abgesehen, hast du mich aber letztlich überzeugt, Schatz.« Lena lächelte Mark liebevoll an und nickte ihm auffordernd zu.

»Selbst wenn wir es nicht wahrhaben wollen, Gewalt schlummert als Erbe der Evolution in jedem noch so gut sozialisierten Menschen.« Mark blickte provozierend in die Gesichter seiner Zuhörer. Endlich war er in seinem Element. Locker und sicher führte er sein Argument aus. »Nur diejenigen, die Gewalt ausübten, verfügten über Nahrung und hatten daher die besten Chancen, sich zu vermehren.«

»Um ehrlich zu sein, klingt das für mich nach ziemlichem Blabla. Wieso geben Sie diesen Bestien überhaupt eine Bühne? Haben Sie sich für deren Opfer ebenfalls so viel Zeit genommen?« Eine Journalistin mit überdimensioniertem Brillengestell baute sich auf. Ihre Abneigung war fast mit Händen zu greifen.

»Mögen Sie Krimis?«, fragte Mark freundlich.

Die Frau bejahte.

»Ihre Krimileidenschaft ist ein Beweis dafür, dass wir alle vom Bösen fasziniert sind. Die Krimis entspringen allerdings der Fantasie. Sie flüchten sich als Leserin in eine fiktive Welt. Meine Kunst dagegen offenbart schonungslos, wie brutal und böse die Welt in Wirklichkeit ist.«

Die Journalistin musterte Mark. Sichtlich im Angriffsmodus rückte sie ihr Brillengestell zurecht. »True-Crime-Art, um die ohnehin viel zu grausame Welt noch grausamer zu machen? Was kommt als Nächstes? Ein Porträt von Kriegsverbrechern, die zum eigenen Machterhalt auf bestialische Weise Kinder abschlachten?«

Mark starrte die Frau entgeistert an. Ihm fehlten die Worte.

Trotz aller Bemühungen war die Luft raus, und die Journalisten verteilten sich am Buffet. Die Vernissage war auf dem besten Weg, als Reinfall zu enden. Die kritischen Fragen waren da noch das Harmloseste. Der deutlichste Hinweis war, dass die Journalisten keine Fotos von Mark oder der Ausstellung machten.

»Mach dir nichts draus. Vielleicht kauft ja später einer die gesamte Ausstellung auf.« Lena glaubte zwar selbst nicht daran, wollte aber die Stimmung retten. Es war ihr erster freier Abend ohne Luca, auf den ihre Schwiegermutter aufpasste.

Lena und Mark hatten nach eineinhalb Jahren endlich mal wieder Zeit nur für sich. Schon seit Tagen freuten sie sich wie Teenager auf die Nacht nach der Ausstellung und malten sich aus, was sie alles anstellen würden. Mark wollte in jedem Zimmer ihrer Wohnung mindestens einen Orgasmus bekommen. Lena wollte das Ganze noch mit einer dreifachen Portion Spaghettieis toppen, die sie auslöffelten, während sie eine komplette Staffel Killing Eve anschauten.

Lena gönnte sich in der kleinen Küche des Ausstellungsraums einen doppelten Espresso macchiato. Da die letzten Tage anstrengend gewesen waren, musste Koffein sie bei ihrem Vorhaben für die Nacht unterstützen. Genüsslich kippte sie einen halben Beutel Zucker in kleinen Türmchen auf den Milchschaum.

»Baust du wieder deine Tröpfelburgen, gnädige Frau von Nierstein?«

»Robi! Wie schön, dass du da bist! Nun kann die Party richtig losgehen.«

Lena prostete ihrem besten Freund mit der Kaffeetasse zu, während sie sich mit Mark auf eine Bank setzte und Robert auf den leeren Platz neben sich zog. Robert und sie waren seit ihrer Kindergartenzeit nahezu unzertrennlich, sie hatten sogar an derselben Uni studiert. Für beide war es daher logisch gewesen, dass sie in derselben Kanzlei als Anwälte anfingen.

»Auf keinen Fall würde ich Marks Megaevent verpassen. Mein Plan ist, dass ich mich kostenlos betrinke und endlich die Frau meines Lebens kennenlerne.« Lachend riss Robert die Arme wie bei einer La-Ola-Welle nach oben.

Mark kniff die Augen zusammen. »War mir klar, dass du dir das Freibier nicht entgehen lässt.«

Lena schaute erst Mark und anschließend Robert irritiert an. Mark hatte schon lange ein Problem mit ihrem Kindergartenfreund. Immer wieder waren Marks Eifersüchteleien Thema. Robert war in der Gegenwart ihres Mannes daher gewöhnlich eher zurückhaltend.

»Mach dir nichts draus, Lena. Dein Liebster ist nur etwas angespannt.«

Lena wollte gerade auf Roberts ungewohnt schnippische Antwort eingehen, als der DJ die Musik lauter drehte. Begleitet von künstlichem Nebel und dem Licht blutroter Scheinwerfer dröhnte düstere Gothicmusik durch die Ausstellung. Wie bei einem kitschigen Remake des Michael-Jackson-Klassikers Thriller trat eine rothaarige Frau im schwarzen Abendkleid aus dem Nebel.

»Ich wäre unter den Top Ten der Skala des Bösen, wenn ich nicht das perfekte Verbrechen begangen hätte«, sagte sie.

Lena sah Mark fragend an. Auch er war von dem Auftritt offenbar überrascht. Den verbliebenen Gästen schien es jedenfalls zu gefallen.

»Sie wissen nicht, ob ich spaße oder es ernst meine«, fuhr die Frau fort. »Das werden Sie heute auch nicht erfahren. Sehen Sie sich um. Schauen Sie in die Augen der porträtierten Frauen und Männer. Es gibt keinen eindeutigen Weg, wie man zu einem Unmenschen wird. Vielleicht wird der Künstler selbst zum Massenmörder.«

Ein Raunen ging durch den Raum.

»Vielleicht wird Mark von Nierstein aber auch bald ein bemitleidenswertes Opfer. Denn natürlich gibt es keine vorhersehbare Bestimmung, ein Opfer zu werden.«

Lena schauderte und zog Mark an sich.

Mit rhetorischen Finessen und humorvollen Spitzen gegen Mark pries die Rednerin weiter die Kunst des perfekten Mordens und ging auf jedes Ausstellungsstück ein.

»Wo hat Mark diesen heißen Feger her? Endlich wird der langweiligen Meute hier etwas eingeheizt«, frotzelte Robert.

»Das ist unsere Nachbarin Annika. Wahnsinn. Die rettet uns noch die Veranstaltung. Und soviel ich weiß, ist sie Single.« Marks Laune war nach Annikas gelungenem Auftritt merklich gestiegen. Er winkte sie zu sich, und gemeinsam stießen sie auf die Retterin des Abends an.

»Eine atemberaubende Rede und eine atemberaubende Frau«, raunte Robert Annika zu.

Es dauerte keine zehn Minuten, und die beiden verschwanden auf die Tanzfläche, um sich bei hämmerndem Elektrosound körperlich näherzukommen.

Ausgelassen tanzten die Gäste um die breit grinsenden Schwerverbrecher. Als in den frühen Morgenstunden die Letzten gingen, sah Lena ihre Chance. Sie schnappte sich Mark und schob ihn sanft aus dem Atelier. »Lass uns nach Hause gehen.« Lena deckte Mark mit Küssen ein. Widerstandslos holte er den Autoschlüssel aus der Hosentasche hervor.

Ein Schauer lief Lenas Rücken hinunter, als sie einen letzten Blick auf die Mörder warf.

Als Lena die Tür ihrer Wohnung aufsperrte, waren die Anstrengungen des langen Tages wie weggeblasen. Für sie zählte lediglich der Luxus, mit Mark ein paar ungestörte Stunden zu verbringen. Stunden, in denen es ausschließlich sie beide gab.

Lena streifte ihre Pumps ab und zog Mark sanft, aber fordernd zu sich. Vergessen war die Skala des Bösen und verflogen war Lenas beklemmendes Gefühl, einem Mörder in die Augen zu sehen.

Kapitel 2

»Hey, Robi. Tut mir leid, dass wir gestern nicht bis zum Ende geblieben sind. Wie lief es mit unserer Nachbarin Annika?« Lena umarmte ihren alten Freund auf dem Kanzleiflur.

Robert klappte seufzend eine Aktenmappe zu. »Ich hab ein schlechtes Gewissen, dass ich Mark so einen blöden Spruch reingedrückt habe. Mit Annika lief es echt gut, aber um 2 Uhr nachts hat mir unser geschätzter Chef Berg einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schläft der denn nie? Und das wegen eines bescheuerten Vertragsentwurfs für einen Mandanten, der den Termin natürlich kurzfristig abgesagt hat. Wieder ein vielversprechendes Date viel zu früh abgebrochen. Für nichts.«

Lena hakte sich bei Robert ein. »Sieh es positiv, Robi. Berg hält viel von dir, deshalb spannt er dich so ein. Ich wünschte, er würde sich auch so um mich kümmern. Annika wirst du bestimmt wiedersehen. Ich hatte den Eindruck, sie war ganz angetan von dir.«

»Meinst du nicht, ich hab sie abgeschreckt? Gegen eine zweite Chance hätte ich nichts einzuwenden. Und mach dir wegen Berg keinen Kopf. Der ist halt, wie er ist. Und er schätzt dich sehr.«

»Das bezweifle ich mittlerweile. Ich versuche seit Wochen, einen Termin bei ihm zu bekommen, und habe gerade einen per E-Mail erhalten. Hoffentlich sagt er nicht schon wieder ab. Glaub mir, der hat ein Problem mit mir.«

»Ach Quatsch. Ich sehe ihn in einer Stunde wegen des Projekts Nautilus. Und dann mache ich ihn noch mal darauf aufmerksam, welch wertvollen Beitrag du dafür geleistet hast. Aber zu etwas anderem, du kannst dir nicht vorstellen, was ich gerade gehört habe. Madlung ist wohl regelrecht hingerichtet worden.«

Lena zuckte zusammen. Der Tod ihres Anwaltskollegen vor wenigen Wochen war in aller Munde gewesen. »Hinrichtung? Wie um Gottes willen meinst du das?«

»Vorhin habe ich mit einem Anwalt von Nors gesprochen. Madlung wurde tot an seinem Schreibtisch sitzend gefunden. Seine Gesichtshaut war mit einer Rasierklinge akribisch abgezogen worden, und er hat vor seinem Ableben mit blutverschmierten Fingern ›Ich bin eingebildet und dumm‹ auf die Tischplatte schreiben müssen.«

»Ist ja abscheulich. Welche kranke Seele tut das? Oh Mann, und wir reden über so banale Sachen.«

»Wäre jedenfalls was für deinen Mark. Die Skala des Bösen wird erweitert.«

»Mach dich nicht auch noch lustig. Das ist entsetzlich. Wie kannst du da nur so kühl reagieren?« Lena schüttelte erschüttert den Kopf. Mehr aus Gewohnheit drückte sie Robert kurz und ging schnellen Schrittes in Richtung ihres Büros. Eine Nachricht ging auf ihrem Handy ein. Lena warf einen Blick darauf. Unfassbar, ihr Termin mit Berg war tatsächlich wieder gecancelt worden!

»Boah. Das ist so ’n Spacko«, hallte es Lena auf dem Flur entgegen.

Nie zuvor hatte sie von Prof. Bergs Assistentin eine derart abfällige Bemerkung gehört. Diana kam zwar gerne direkt auf den Punkt, aber derart emotionale Beleidigungen waren bisher nicht vorgekommen. Seitdem sie ihre leicht pummelige Figur durch veganes Essen zu shapen – wie sie sagte – versuchte, war sie reizbarer. Ihre Low-Carb-Ernährung musste dann als Entschuldigung für ihr Temperament herhalten.

Lena blieb auf Höhe des Vorzimmers stehen. »Ich habe gerade etwas Schreckliches erfahren. Ich bin nicht sicher, ob ich jetzt den Kopf frei habe. Außerdem habe ich ja gleich dieses Teamsmeeting, wie du weißt. Aber sag schnell: Was ist los?«

»Das ist so ein frauenverachtender Scheißladen hier. Boah, ich könnte kotzen. Diese arroganten Anwälte meinen echt, ihnen gehört die Welt, und wir sind ihr dummes Fußvolk.«

Lena trat näher an Diana heran. »Sei leiser und reiß dich zusammen! Es gibt im Moment bedeutend Schlimmeres.«

»Schlimmeres? Was bist du denn für eine? Wir sind hier bei der Serie Mad Men gelandet. Fehlt nur noch, dass die Herren der Schöpfung uns ihren Tabakrauch ins Gesicht pusten.«

»Diana, ich bitte dich. Jetzt ist nicht der richtige Moment für Witze.«

»Okay, dann eben Klartext: Du erinnerst dich doch an die Kanzleifeier vorletzte Woche? Zum ersten Mal waren selbst wir Assistentinnen eingeladen.«

»Klar erinnere ich mich.«

»Amelie hat mich vorhin angerufen, also die junge Assistentin von Dr. Hartmut Fischer. Sie ist am Tag nach der Feier von zwei Sicherheitsleuten aus der Kanzlei rausbefördert worden. Fristlose Kündigung. Ausgerechnet, als ich im Urlaub war und ihr nicht beistehen konnte. Amelie hatte auf der Feier zu viel getrunken.«

»Ist mir aufgefallen. Aber deswegen wird man doch nicht entlassen.«

»Deswegen nicht, aber wenn man als dumme Sekretärin mit einem Anwalt Sex hatte.«

»Bitte was?«

»Dr. Fischer hat sich an Amelie rangemacht. Und sie hat sich von dem Alten begrapschen lassen.«

»Dr. Fischer? Der ist doch Ende 50, verheiratet und hat erwachsene Kinder. Und eigentlich ist der nett. Dachte ich zumindest. O Gott.«

»Vor allem war er ihr Chef. Deswegen hat Amelie die Sache ganz schnell beendet. Allerdings haben die beiden die Kameras im Parkhaus vergessen. Der Ausrutscher ist für die Nachwelt festgehalten worden. Tja, und nun rate mal, wer keine Konsequenzen fürchten muss.«

»Das ist unfassbar, Diana. Ich bin echt geschockt.«

»Anscheinend wurde sie nicht nur entlassen, sondern sie musste außerdem eine Unterlassungserklärung unterzeichnen. Sobald sie mit irgendwem über die Sache spricht, erwartet sie eine erhebliche Vertragsstrafe. Sie hat mir trotzdem davon erzählt, weil ihr Vorstellungsgespräch bei Nors & Partners ziemlich bescheiden gelaufen ist und sie jemanden gebraucht hat, bei dem sie sich ausheulen kann. Ich dürfte es eigentlich nicht weitersagen. Ist riskant für sie. Hilfe ist jedoch zwingend erforderlich. Du musst was tun. Irgendwas. Das sind solche Wichser. Der Anwalt kommt ungeschoren davon, weil er abrechenbare Stundensätze von 200 bis 800 Euro einbringt. Da ist eine Assistentin leicht zu verschmerzen. Und als wäre das allein nicht asozial genug, wird Amelie wie eine Verbrecherin abgeführt und rausgeworfen.«

»Diana, ich verstehe dich. Das ist ekelhaft. Schreien und beleidigen bringt uns allerdings auch nicht weiter.«

»Man muss den Säcken doch mal Paroli bieten! So kann man nicht mit Mitarbeitern umspringen. Und die Arme sucht verzweifelt nach einem Job.«

»Ausgerechnet bei Nors & Partners hat sie sich umgeschaut? Jedenfalls gut, dass sie dort nicht anfängt. Die haben gerade echt andere Sorgen.«

Diana sah Lena fragend an.

»Hast du das im Urlaub nicht mitbekommen?«, wollte Lena wissen. »Stand in allen Zeitungen. Bei denen ist ein Anwalt ermordet worden.«

»Bei Nors? Krass. Kannte ich den? Wenn das mal kein Karma ist. Irgendwann rächt sich arrogantes Arschlochverhalten eben doch. Anwälte sind halt alle gleich.«

Lena legte Diana die Hand auf den Arm. Die Pietätlosigkeit der Assistentin machte sie fassungslos. »Wir überlegen später, was wir für Amelie tun können.«

»Danke. Ach, eine Sache habe ich vergessen. Auch das darf ich dir eigentlich nicht sagen.« Diana machte eine theatralische Pause. Eine ihrer typischen Angewohnheiten. Diana prahlte häufig damit, dass sie streng vertrauliche Informationen von Prof. Berg einsehen konnte. Denn er gewährte ihr Einsichts- und Editierrechte für alle eingegangenen E-Mails sowie den Kalender. Das erleichterte nicht nur das Diktieren von Nachrichten, sondern auch das Sortieren, Löschen, die Wiedervorlage und das Drucken von Dokumenten. Dass Diana auch für Lena Assistenzaufgaben wahrnehmen musste, ließ sie gerne unter den Tisch fallen. Viel zu wichtig war Diana, dass sie durch die Zusammenarbeit mit Prof. Berg an der Spitze des informellen Assistentinnen-Rankings stand. »Du solltest mal mit Robert sprechen. Er hat deine rechtliche Einschätzung gestern Abend an den Professor gemailt. Einen Hinweis, dass du die Analyse erstellt hast, habe ich nicht gefunden.«

»Robert hat es ihm bestimmt gesagt, Diana.« Lena legte die Stirn in Falten und schaute ihre Assistentin scharf an. Das war ihre Art, unliebsame Themen mit Nachdruck zu beenden. »Eine Sache noch bevor ich mich endlich in die Videokonferenz einwähle: Berg hat meine heutige Besprechung mit ihm gerade abgesagt. Schon wieder. Weißt du, was mit ihm los ist? Ich muss dringend mit ihm sprechen. Gib mir bitte Bescheid, wenn er über den Flur läuft, ich werde ihn abpassen und mit ihm reden.«

Diana kaute auf ihrem Bleistift, klickte zweimal mit ihrer Computermaus und schnaubte, ohne aufzublicken. »Würde ich dir nicht raten. Er hat den ganzen Tag furchtbare Laune. Ich vereinbare einen neuen Termin für dich. So, noch ein Klick. Schwups, und nun in deiner Inbox. Nächste Woche Donnerstag um 14 Uhr.«

»Danke, und jetzt trink mal draußen einen Kaffee, danach sieht die Welt weniger finster aus.«

Diana stand auf und eilte mit einem überraschend kalten »Bis später, ich bin im Park« aus dem Büro.

In Diana hatte Lena eine Verbündete und eine gute Verbindung zu Berg gefunden. Über die Jahre war zwischen den Frauen ein Vertrauensverhältnis entstanden. Dianas Loyalität Lena gegenüber hatte beispielsweise dazu geführt, dass sie eigenmächtig zur Personalabteilung stolziert war und sich darüber echauffiert hatte, dass Lena seit Jahren eine veraltete Büroausstattung hatte. Etwas, das in den ansonsten luxuriös ausgestatteten Büros, bei denen sogar auf individuelle Wünsche eingegangen wurde, aus dem Rahmen fiel. Diana hatte Lenas Bürosituation als Diskriminierung arbeitender Mütter angeprangert. Einer der Partner hatte entgegnet, wie schade es sei, dass ausgerechnet die Anwältin mit den zweitbesten Examensnoten aller 420 Anwälte ihre Karriere mit der Gründung einer Familie torpediert hatte. Mit Dianas Alleingang und vor allem mit dem altchauvinistischen Flurfunk umzugehen, war Lena schwergefallen. Ihr tief verwurzelter Gerechtigkeitssinn kitzelte zwar die Rebellin in ihr, nach nächtelangen Rotweingesprächen mit Mark und Robert hatte sie jedoch beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Choose your battles«, wie es Robert nannte. Eine abwartende Haltung gepaart mit einer Portion Gelassenheit fehlte Lena auf ihrem Weg zur Staranwältin. Das beklemmende Gefühl in ihrem Bauch meldete sich zurück, sobald sie an die kalte Atmosphäre in der Kanzlei dachte.

Lena ging zurück in ihr Büro, klappte ihren Laptop auf und verband sich mit der Videokonferenz.

Zwei Stunden später kam Diana zu ihr. »Also, was können wir für Amelie tun? Wir können nicht tatenlos zusehen, wie die Gerechtigkeit hier vor die Hunde geht.«

Lena zuckte mit den Schultern. »Alle ächzen unter dem Druck der Partner. Eine Nachtschicht nach der anderen und kein freundliches Wort. Solange jeder davon träumt, diese Kanzlei im Lebenslauf stehen zu haben, werden die da oben nicht umdenken. Ich überlege mir was. Ich darf jedoch nichts riskieren, zumal wir unsere Wohnung noch nicht abbezahlt haben.«

»Und solange du für Roberts Schulden einstehst und deswegen mit karrieregeilen Machos arbeiten musst. Wann ist seine Privatinsolvenz wegen seines Start-up-Versuchs eigentlich ausgestanden?«

Lena ignorierte Dianas Kommentar und zog einen Kaufvertragsentwurf an sich heran. »Ich überlege mir was wegen Amelie. Versprochen.«

Diana sah sie mit müdem Blick an. »Du lässt dich also von denen kaufen.«

»Es reicht. Du bist schließlich selbst auch hier. So ein fürstliches Gehalt schlägt niemand einfach so aus. Außerdem hat Amelie sicherlich eine Abfindung erhalten.«

Diana verstummte und stapfte zurück in Bergs Vorzimmer.

»Sei doch nicht eingeschnappt! Hey, ich rede mit dir.«

Das laute Klappern der Tastatur von Dianas Laptop war bis in Lenas Büro zu hören.

Lena gab auf und versuchte, sich mit der Überarbeitung des Vertrags abzulenken. Ihr Beratungsschwerpunkt war der Kauf von Unternehmen, in der Wirtschaftssprache Mergers & Acquisitions genannt. Aktuell beriet sie die größte deutsche Bank bei einem öffentlichen Übernahmeangebot. Dafür erstellte Lena etliche Analysen und Gutachten. Prof. Berg und Robert nutzten Lenas Ausführungen, um die Übernahme mit den Mandanten vorzubereiten.

Lena liebte den direkten Austausch mit Klienten. Meistens erhielt jedoch Robert oder ein anderer Senior Associate den Vorzug. Sie wusste, wie es in der Kanzlei um das Thema Gleichbehandlung stand und dass es kein purer Zufall war. Dennoch hoffte sie, dass sie irgendwann wieder Gelegenheit haben würde, in einer Verhandlung ihr Können zu zeigen.

Eine Stunde später mailte Lena Robert das Vertragswerk. Ihre Grußworte »Mach was daraus« dekorierte sie mit einem Smiley. So etwas fügte sie ausschließlich bei ihm ein. Das Versenden von Emojis war in der konservativen Kanzlei verpönt.

Nach getaner Arbeit am frühen Abend wollte Lena eigentlich einzig noch den Laptop zuklappen und schnell nach Hause. Doch der Streit mit Diana hielt sie davon ab. Sie ging in die Büroküche und gesellte sich kurz darauf mit zwei frisch aufgebrühten Tassen Holundertee zu Diana in Bergs Vorzimmer. Diana zog sich ihre Kopfhörer von den Ohren.

»Frieden?«, fragte Lena.

Diana nickte. Lena lächelte sie an und hielt ihr den duftenden Tee entgegen. »Du hast mir noch nicht von deinem Kurzurlaub erzählt. Warst du in dem Kinofilm? Wie hieß er doch gleich?«

»Knives Out.« Diana nahm ihre Teetasse. »Du weißt ja, Daniel Craig würde ich nicht von der Bettkante stoßen. Wie war denn dein freier Abend mit Mark? Hast du ordentlich die Sau rausgelassen und ihn durch die Wohnung gevögelt?«

Lena ignorierte Dianas vulgären Kommentar. Ihre Augen leuchteten. »Es war unglaublich schön. Genau die richtige Mischung aus Aufgeregtheit wie beim ersten Date und unendlichem …«

Diana fiel ihr ins Wort. »Da fällt mir meine schrullige Vermieterin ein. Du kennst die alte Dame ja schon.«

»Natürlich erinnere ich mich. Sie ist echt süß.«

»Die spricht jetzt mit ihren Blumen.« Diana prustete los. »So stelle ich mir deine Schwiegermutter vor.«

»Da müssen wir am Mittwoch hin. Sie feiert ihren 60. Sonst werde ich mir wieder den ganzen Tag lang anhören dürfen, was mir alles zur perfekten Ehefrau fehlt.« Sie plauderten noch eine Weile, dann trank Lena den letzten Schluck des mittlerweile kalt gewordenen Tees und stand auf. »Ich muss los. Luca wartet bestimmt schon mit seinem Elefantenpuzzle auf mich.«

In ihrem Büro prüfte Lena kurz ihren Maileingang und fuhr anschließend den Laptop runter. Schemenhaft sah sie ihre gespiegelten Konturen auf dem schwarzen Monitor. Sie war bis zu ihrer Schwangerschaft nie eitel gewesen, hatte keine Sekunde länger vor dem Spiegel verbracht als unbedingt notwendig. Doch seitdem Luca auf der Welt war und sie wenige Monate später wieder hatte arbeiten müssen, suchte sie ständig nach einem Makel bei sich, nur um sich vorzuhalten, dass sie eine erfolglose Anwältin, eine Rabenmutter und eine Frau zweiter Klasse geworden sei. Der Spagat zwischen Familie und Beruf war jeden Tag eine Herausforderung. Jammern kam für Lena jedoch nicht infrage, auch wenn ihr oft danach zumute war. Zumal die Vereinbarung mit Prof. Berg, anfänglich halbtags zu arbeiten, regelmäßig ignoriert wurde. Groteskerweise war das Gehalt jedoch von Beginn an penibel genau angepasst und reduziert worden. Ständig hatte sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, sobald sie das Büro später als andere betrat oder früher verließ.

Lena schaute prüfend über ihren Schreibtisch. Auf gelben Notizzetteln hatte sie ihre Aufgaben für den nächsten Tag geschrieben. Daneben lag ihr Tageskalender mit allen Telefonkonferenzen und Meetings. Am rechten Tischende stand ein Foto von Mark und Luca, links davon befanden sich ihre Schreibtischutensilien. Ihr Blick fiel auf ihren Montblanc-Füller. Ihre Eltern hatten dafür ihre Ersparnisse zusammengekratzt und ihn Lena zum Juraabschluss geschenkt. Noch nie hatte sie ihre Eltern so stolz gesehen. Lena vermisste sie schrecklich. Vor drei Jahren waren sie bei einem Segelflug gestorben. Sie hatten sich zum 40. Hochzeitstag einen Rundflug über die Stadt gegönnt, von dem sie nicht zurückgekehrt waren. So früh die eigenen Eltern zu verlieren, hatte Lena noch enger mit Mark zusammengeschweißt. Nächtelang hatten sie über Lenas Trauer geredet.

Sie legte den Füller behutsam zu dem Stapel Briefpapier. Dessen Wasserzeichenprägung, umrandet von einem dezenten Silberstreifen, wirkte unaufdringlich, aber doch distinguiert und passte zur stilvollen Büroeinrichtung, welche dank Dianas Einsatz spendiert worden war.

Lena schnappte sich ihr übliches Paket für zu Hause: Smartphone und Tablet. Am Ende packte sie noch eine Familienpackung Gummibärchen ein, um die eine rote Schleife mit kitschigen Herzen gebunden war.

»Wieder ein Geschenk deines heimlichen Verehrers«, hatte Diana trompetet, als sie mit den Gummibärchen in der Hand den Kopf in Lenas Büro gesteckt hatte. »Kam vorhin mit der Post. Genau wie die belgischen Pralinen und der Blumenstrauß letzte Woche. Der Typ scheint vieles von dir zu wissen, dich aber nicht richtig zu kennen. Das wird allmählich unheimlich, Lena.«

Lena seufzte und verließ schnellen Schrittes ihr Büro.

Kapitel 3

Während Lena durch die Kanzleiflure lief, spähte sie durch die bodentiefe Fensterfront. Die Aussicht auf die Frankfurter Skyline war atemberaubend. Das Prestigegebäude der Kanzlei strotzte vor Macht. Als Lena im Warteraum des Empfangsbereichs an den ordentlich drapierten Wirtschaftsmagazinen in englischer, französischer, japanischer oder chinesischer Sprache vorbeiging, klingelte ihr Mobiltelefon. Ihr Mann.

»Hey, mein Schatz. Ich bin auf dem Weg zu dir und Luca.« Lena sah auf ihre von der italienischen Bluse dezent versteckten Ballon Bleu de Cartier. Unauffällige Uhren trug sie am liebsten. 19:47 Uhr.

Es war aus Kanzleisicht zu früh und aus Sicht einer Mutter deutlich zu spät.

»Du weißt schon, dass ich seit über einer Stunde mit dem Essen auf dich warte?«

Lena wunderte sich über Marks ungewöhnlich aggressiven Ton. »Es tut mir leid, aber du kannst dir nicht vorstellen, was heute hier los war.«

»Und du kannst dir nicht vorstellen, was hier los war. Einfach, weil du kaum zu Hause bist. Deine Kanzlei scheint dir zunehmend wichtiger zu sein als deine Familie. Ich hatte vor, dich mit einem Lauchauflauf zu überraschen. Tja, und der Einzige, der tatsächlich überrascht war, war Luca. Der wollte nämlich von dir ins Bett gebracht werden, schläft aber inzwischen.«

»Ach, Mark. Das tut mir leid. Ich bin schon auf dem Weg zum Auto. Lass es mich wiedergutmachen. Soll ich ein Spaghettieis vom Da Marietto mitbringen?«

»Nicht nötig. Das macht es nicht besser. Auch den Artikel über meine Vernissage nicht. Statt über meine Kunst zu berichten, schreiben die Ignoranten: ›Rechtsanwältin Dr. von Nierstein ist davon überzeugt, dass es kein perfektes Verbrechen gibt.‹«

Mark hatte aufgelegt. Ungläubig starrte Lena auf ihr Display. Sie konnte sich nicht erinnern, dass in ihrer langjährigen Beziehung zuvor schon einmal ein Gespräch so kühl beendet worden war. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch nickte Lena der Empfangsdame zu. »Bitte stellen Sie keine Anrufe auf mein Handy durch.«

Lenas ansonsten ansteckendes Lächeln verkümmerte zur Fassade. Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand sie in einem der marmorverzierten Aufzüge Richtung Tiefgarage.

Luca war bestimmt nur unter Protest ins Bett gegangen. Seine Kreativität fand ihren Höhepunkt, wenn er den Zeitpunkt dafür hinauszögern wollte. Mit seinen eineinhalb Jahren hatte er bereits klare Vorstellungen davon, wann es Zeit zum Schlafen war. Jedenfalls nicht, bevor er mindestens eines der zwölfteiligen Puzzles mit seiner Mama vervollständigt hatte. Bestimmt war Luca beim Warten auf sie eingeschlafen.

Schon wieder.

Die schwere Stahltür zur Garage öffnete sich mit einem lauten Quietschen. Die fünfstöckige Tiefgarage stand in krassem Gegensatz zum sonstigen Stil der Kanzlei. Einzig das oberste Parkdeck, das für Mandanten und Partner reserviert war, verfügte über eine ausreichende Beleuchtung und ordentlich verputzte Wände. In den unteren Stockwerken war es dagegen düster. Unweigerlich musste Lena an ihren unbekannten Verehrer denken. Mark anzurufen war nach dem Telefonat keine Option. Sie wählte Roberts Nummer.

»Ich bin in der Dunkelkammer auf dem Weg nach Hause. Hoffentlich erwischt mich die Skala des Bösen nicht.«

»Was ist los, Leni? Du klingst geknickt.«

»Mir geht der entsetzliche Tod von Alexander Madlung nicht aus dem Kopf. Von heute auf morgen auf so brutale Weise aus dem Leben gerissen zu werden. Unfassbar. Währenddessen dreht sich das Hamsterrad weiter, als wäre nichts passiert. Und jetzt ist Mark sauer, weil ich mal wieder im Büro hängen geblieben bin und ich ihm angeblich die Show in einem Zeitungsartikel über seine Vernissage gestohlen habe. Und Luca schläft schon. Egal, was ich mache, es ist falsch. Arbeite ich viel, kommen meine Männer zu Hause zu kurz. Tja, und arbeite ich weniger, dann dreht Berg am Rad und stellt mich aufs Abstellgleis.«

»Der Gedanke an den kranken Mord lässt mich auch nicht los. War heute den ganzen Tag über wie paralysiert. Aber zumindest deine Sorgen wegen Berg kann ich dir nehmen. Du bist super und gibst dein Bestes für die Kanzlei. Und was deine Familie betrifft: Mark ist im Grunde garantiert genauso stolz auf dich, wie ich es bin.«

Roberts Verständnis tat ihr gut. Als Karrieremama pendelte Lena zwischen dunkelblauen Businesskostümen und Jogginghosen sowie Kapuzenpullis mit Kinderrotze daran. An guten Tagen genoss sie die Arbeit als willkommene Abwechslung zu vollen Windeln und nächtlichem Geschrei. Doch immer öfter erschien ihr die Kanzleiwelt surreal und kalt. Von außen betrachtet gehörte Lena dazu. Dennoch fühlte sie sich oft wie ein Gast, der nur vorübergehend willkommen war.

»Um Berg brauchst du dir echt keine Gedanken zu machen. Er schätzt dich sehr, Leni, das weiß ich.«

»Schätzen? Du machst wohl Witze. Nie vergessen werde ich, dass er mir fehlende Professionalität vorgeworfen hat, weil sich ein Mandant darüber beschwerte, dass ich während einer Telefonkonferenz auf Luca aufpassen musste. Und du weißt ja auch, was unser Kollege Siewert beim Abschlussdinner des Workshops erzählt hat.« Ihre Schritte hallten durch die verlassene Tiefgarage.

»Dass Berg die Anwälte bewusst durch Druck und Überforderung seelisch brechen will, um sie dann zu Topanwälten wiederaufzubauen. Und ich glaube inzwischen, exakt so ist es. Seinetwegen hast du dich in der Kanzlei beworben. Hast du nicht vom Besten der Besten lernen wollen?« Robert imitierte beim letzten Satz Lenas Stimme.

»Jaja. Aber er hat wohl gemerkt, dass ich es nicht draufhabe, und geht mir aus dem Weg.«

»Ach, das ist Quatsch, Leni. Du bist mit Abstand die Beste von uns Associates, und daran ändert auch dein Familienleben nichts. Das ist ein unglückliches Missverständnis, glaub mir. Nun mach einen Haken dahinter und bring das mit Mark ins Lot. Er kann froh sein, eine Frau wie dich zu haben. Und Luca liebt seine Mama eh über alles.«

Lena lächelte ins Telefon. »You made my day. Und denk dran: Du brauchst auch mal eine Pause. Tschüss und bis morgen.«

Sie erreichte ihr Auto und hörte ein Klirren. »Hallo, ist da wer?«

Sie drehte sich in Richtung des Klirrens, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.

Mit klopfendem Herzen öffnete Lena den Kofferraum ihres cappuccinofarbenen Fiat 500 und warf ihre Unterlagen hinein. Aufgrund des fortgeschrittenen Baujahrs war ein elektronischer Türöffner kein Teil der ohnehin recht spartanischen Grundausstattung. Selbst die Kanzleisekretärinnen fuhren luxuriösere Autos. Lena liebte jedoch ihren kleinen Flitzer.

Hastig stieg sie ein.

Drinnen fiel ihr Blick auf ihre Sporttasche, die unschuldig im Fußraum vor dem Beifahrersitz stand und seit Wochen auf ihren Einsatz wartete. Sie war offen. Lena hätte geschworen, dass sie die Tasche geschlossen hatte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Sie durchwühlte sie ihre Sporttasche. Ihr Sport-BH fehlte. Sie kippte den gesamten Inhalt aus. Der BH war nicht da. Bestimmt hatte sie ihn zu Hause liegen lassen. Lena startete den Wagen. Sie wollte so schnell es ging aus der Tiefgarage.

Kapitel 4

Lena öffnete die Wohnungstür. Verheißungsvoller Duft stieg ihr in die Nase. Mark schien das Essen aufgewärmt zu haben.