Skin of a Sinner - Avina St. Graves - E-Book

Skin of a Sinner E-Book

Avina St. Graves

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Beschreibung

Keiner sagt dir, was du tun sollst, wenn der Junge, der dir das Herz gebrochen hat, zurückkommt, um es zu stehlen. Roman Riviera war vor langer Zeit mein Ein und Alles. Ich fand meinen Ritter in glänzender Rüstung in einem anderen Pflegekind. Er beschützte mich und versprach mir, für immer an meiner Seite zu sein. Aber Roman Riviera ist ein Lügner. Er hat mich mit Monstern zurückgelassen. Drei Jahre später erwischte ich ihn mitten in der Nacht dabei, wie er seine Initialen in die Haut meines Pflegebruders ritzte, getränkt mit dem Blut meiner Familie. Er fesselte mich und zerrte mich von dem Leben weg, das ich mir ohne ihn aufgebaut hatte. Ich versuchte zu fliehen, aber er verfolgte mich. Ich wollte schreien, aber es kam kein Ton heraus. Er sagt, dass ich ihm nie entkommen werde. Er sagt, dass er für immer zurückgekommen ist. Ich glaube ihm nicht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Avina St. Graves

 

Skin of a Sinner

 

 

 

 

Skin of a Sinner

 

 

 

Copyright © 2023 by Avina St. Graves

First published by Avina St. Graves

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency

All Rights Reserved

Arranged by Agence Hoffman

 

Translation Copyright © 2025 by VAJONA Verlag GmbH

 

 

Übersetzung: Alexandra Gentara

Lektorat der Übersetzung: Anne Masur

Umschlaggestaltung: Manuela Williams

 

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

An all die braven Mädchen, die durch den Wald gejagt und von einem maskierten Fremden gevögelt werden wollen.

Hinweis

 

Dieses Buch behandelt folgende Themen: Stalking, zweifelhafter Consent, Consent-ohne-Consent, Fetischismus, Somnophilie, Demütigung, erzwungene Orgasmen, Blood Play, ungeschützter Sex/erzwungene Befruchtung, Kidnapping, Mord, Gewalt, Folter, Splatter, Drogenzwang, sexuelle Belästigung (verbal und nonverbal), Depression, Anxiety, Medikamentenmissbrauch, Mentale Krankheiten, Essstörungen, (männliche) Genitalverstümmelung, Drogenmissbrauch, Schimpfworte, Sprachstörungen, Armut, Kindesarmut, Kindesmissbrauch (psychologisch, physisch und sexuell)

 

Gegenteilige Trigger (für manche, jedenfalls):

Verehrung, Kosenamen, Masken, ein bisschen demütiges Kriechen, ein absolut besitzergreifender und übermäßig vereinnahmender männlicher Hauptcharakter, der auch sonst in allem anderen ein bisschen »drüber« ist.

 

 

Anmerkung der Autorin

 

Ist der männliche Protagonist in diesem Roman ein problematischer, kranker Typ, eine wandelnde Red Flag, der ins Gefängnis gehört?

Ja.

Würde er einen durch den Wald jagen, einem eine Kugel in den Rücken treiben und schlicht sagen, dass man ein braves Mädchen sein und es einfach wegstecken soll? Auch ja.

Würde er einem das Höschen stehlen? Einen im Schlaf beobachten? Sich den Namen seiner großen Liebe in die Brust ritzen? Für einen töten, nur um einen danach wie eine Prinzessin zu behandeln? Ich denke, ihr kennt die Antworten auf diese Fragen schon.

Und wisst ihr, was? Wir Mädels sind stolz darauf, seine Red Flags als grün anzusehen.

Ach, und das ist jetzt ausnahmsweise mal ernst gemeint – dieser Roman ist fiktiv. Es heißt also nicht, dass ich die Handlung der Charaktere gutheiße.

Skin of a Sinner ist eine unabhängige Dark Romance, die allerdings ein paar Rückblenden beinhaltet. Dafür gibt es aber auch keinen Cliffhanger am Ende und garantiert ein Happy End.

 

Viel Spaß beim Lesen!

 

A St. Graves

 

Playlist

 

Slow Down – Chase Atlantic

Reflection – The Neighborhood

King for a Day – Pierce the Veil

Bulls in the Bronx – Pierce the Veil

My Medicine – The Pretty Reckless

Make Me Wanna Die – The Pretty Reckless

De Selby (Part 2) – Hozier

Closer – Nine Inch Nails

Kicks – Barns Courtney

Yayo – Lana Del Rey

Prisoner – The Weeknd, Lana Del Rey

Fireworks – First Aid Kit

Teenagers – My Chemical romance

Mr. Brightside – The Killers

My strange addiction – Billie Eilish

Everybody Talks – Neon Trees

Lonely Boy – The Black Key

Don’t Speak – No Doubt

Stolen Dance – Milky Chance

Blood in the Cut – K.Flay

The Less I Know The Better – Tame Impala

Elephant – Tame Impala

Cinnamon Girl – Lana Del Rey

Smells Like Teen Spirit – Nirvana

 

 

»Ich hasse und ich liebe. Vielleicht fragt ihr euch, warum ich das tue. Ich weiß es nicht, aber ich spüre, dass es passiert, und es quält mich.«

 

Catullus

 

»Tut mir leid, Prinzessin. Ich wollte dich nicht aufwecken.«

Er ist es.

Er ist hier.

Er ist wieder da.

Nein, nein, nein! Das ist absolut falsch. Das alles hier ist so verdammt falsch!

Er hat mich einfach verlassen, ohne sich überhaupt zu verabschieden. Er hat mir versprochen, dass wir für immer zusammen sein würden, und dann ist er verschwunden. Was macht er jetzt hier? Wieso ist er überhaupt da? Warum–?

Galle steigt mir die Kehle hinauf, als ich die blutroten Spritzer an der Wand bemerke. Auf dem Holzfußboden ist eine Pfütze, die knallrote Farbe verziert auch seine Haut.

Ich habe ihn schon einmal so gesehen – mit blutigem Rot befleckt, nach Metall und Gefahr riechend –, aber noch nie so wie jetzt. Nicht mit Blutspritzern um seine stahlgrauen Augen herum und Blut, das von seinen dunklen Haaren tropft.

Die Flüssigkeit, die von seinen schwarzen Handschuhen rinnt und auch sein Shirt bedeckt, bildet einen gruseligen Kontrast zu dem glänzenden Messer in seiner Hand. Er trägt eine schwarze Maske mit blutroten Kreuzen über seinen Augen, die jede meiner Bewegungen beobachten. Zusammengekniffene Lippen, die zu einem spöttischen Grinsen verzogen sind, fordern mich dazu heraus, einen Ton von mir zu geben.

Ich wünschte, ich hätte die entsetzlichen Schreie einfach ignoriert und wäre gar nicht aus meinem Zimmer nach unten gekommen.

Ein Schrei bleibt mir in der Kehle stecken und droht, mich zu ersticken, trotzdem kann ich den Blick nicht von den abgehackten Fingern, die überall auf dem Esstisch verstreut liegen, abwenden. Auch nicht von der blassroten Flüssigkeit, die seitlich an Gregs Gesicht herabrinnt und das Klebeband über seinem Mund verfärbt.

Oder von den Striemen, die seinen ganzen Körper verunstalten.

Tiefe, lange Striemen, mehrere Zentimeter breit, überziehen seine Arme und Beine, an einigen Stellen ist die Haut aufgeplatzt. Diese Striemen würde ich überall wiedererkennen. Ich weiß genau, wie sehr jeder einzelne Hieb schmerzt.

Sie wurden mit einem Gürtel erzeugt. Mit Gregs Lieblingsgürtel.

Mit demselben Gürtel, der jetzt um seine Kehle geschlungen ist und sein Gesicht zu einer lebensbedrohlichen Schattierung von lila verfärbt.

Er hat das hier getan.

Roman.

Greg war ein mieses Stück Scheiße, das wohl so ziemlich alles verdient hätte, was sowieso auf ihn zugekommen wäre, aber nicht das hier. Der Mann, der mir seit vier Jahren eine Art Zuhause geboten hat, ist – war – ein recht gut funktionierender Alkoholiker, der kein Problem damit hatte, sein Pflegekind zu foltern und seinem Sohn Marcus erlaubt hat, mich ständig zu belästigen.

Langsam – sehr langsam – steckt Roman das Messer in die Scheide an seinem Oberschenkel zurück und legt die Maske auf den Tisch, als wäre ich ein scheues Tier, das bei einer plötzlichen Bewegung zurückschrecken könnte.

»Geh wieder nach oben. Ich hole dich, sobald ich hier fertig bin.«

Das dunkle Timbre seiner Stimme vibriert durch jede einzelne meiner Körperzellen und schreit nach meiner Aufmerksamkeit. Ich schlage mir eine Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken, während ich nach hinten stolpere.

Er ist real.

Er ist tatsächlich real.

Das hier ist kein verdrehter Albtraum. Es kostet mich all meine Selbstbeherrschung, nicht zu würgen. Er hätte niemals zurückkommen sollen, nachdem er mir das Herz aus der Brust gerissen und mich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte.

Mit zwanzig Jahren hatte ich es nun endlich geschafft, mich davon zu überzeugen, dass ich ohne ihn leben kann. Er hatte mir bewiesen, dass ich doch mit nichts anderem als nur einer weiteren gequälten Seele aufgewachsen war, denn am Ende hatte auch er mich einfach verlassen.

Heute vor drei Jahren hatte er mir endgültig bewiesen, dass ich ein Niemand für ihn war. Das tat am meisten weh, denn er war für mich niemals ein Niemand gewesen. Er war mein Ein und Alles. Er war jedes Lächeln, das sich auf meine Lippen stahl, jedes Lachen, das meinen Oberkörper beben ließ, jeder Traum, aus dem ich nicht tränenüberströmt aufwachte.

Im Vergleich zu ihm bedeutete mir alles andere nichts.

Doch ihm habe ich nichts bedeutet.

Roman tritt zur Seite, um mir den Blick zu verwehren, aber ich kann das, was er Greg angetan hat, nie wieder ungesehen machen. Und Marcus. O mein Gott!

Der Anblick meines nackten Pflegebruders, der an den Handgelenken von der Decke baumelt, wird sich für immer in mein Gedächtnis einbrennen. Das hat Roman getan. Auf seiner blassen Haut blühen zahlreiche blaue und lilafarbene Flecken, in so dunklen Tönen, dass selbst das Rot, das aus seinem Schwanz rinnt, sich damit vermischt. Besser gesagt sickert das Blut aus der Stelle, an der sich sein Anhängsel eigentlich befinden sollte.

Ich weiß genau, dass Marcus vor dem heutigen Abend noch einen Schwanz hatte. Ich habe ihn zu oft gespürt, wenn er ihn gegen meinen Willen an mich gepresst hat und ich es viel zu häufig einfach erduldet habe. Was sagt es über mich aus, dass ich jetzt bei seinem Anblick nicht einmal einen Hauch von Mitgefühl oder Ekel empfinde?

Ich trete einen Schritt zurück. Und noch einen.

Ein Schluchzen dringt über meine Lippen, dann spüre ich Romans Hände auf mir. Er hält mich fest. Seine Fingerspitzen streicheln mein Gesicht und er wischt sanft die Tränen weg, die er selbst verursacht hat. Um sie durch das Blut zu ersetzen, mit dem seine Handschuhe beschmiert sind. Ich versuche, ihn von mir zu stoßen, seine Hände von mir zu reißen, aber ihn zu berühren, macht alles nur noch schlimmer.

»Ssh, nicht. Alles ist gut. Nicht weinen, okay? Ich bin ja bei dir.« Seine Stimme klingt so viel tiefer als damals, ein deutliches Zeichen für die vielen Jahre, die inzwischen vergangen sind.

Obwohl uns noch der Ärmel meiner Bluse voneinander trennt, setzt seine Berührung meine Haut in Flammen. Aber ich kann ihn nicht ansehen – den Jungen, der mich schlimmer verletzt hat als jeder andere Mensch. Die Tränen brennen auf meinen Wangen und sammeln sich in meinen Mundwinkeln. Keuchend ringe ich nach Luft, als mir der Duft von Whisky, Blut, Sandelholz und Zimt in die Nase dringt. Obwohl er über und über mit Blut besudelt ist, riecht Roman besser als sein T-Shirt, das ich immer noch neben meinem Bett verstecke. Roman ist größer geworden, wirkt gefährlicher als früher, sein Körper ist schlank und muskulös zugleich.Die Muskeln in seinen Armen spannen sich bei jeder Bewegung sichtbar an. Er zieht mich an sich, meine Versuche, ihn mir vom Leib zu halten, sind vergeblich. Er ist viel zu stark. Und er bedeutet mir immer noch alles. Ich hasse es.

Warme Lippen legen sich an meine Stirn, während ein weiteres Schluchzen aus meiner Kehle dringt. Die Erinnerung an das letzte Mal, als ich ihn so nah gespürt habe, ist mir in den Verstand eingraviert, so tief, dass es viel mehr als nur eine Narbe ist. Es ist alles, was ich bin.

»Fass mich nicht an«, wimmere ich und versuche erneut, ihn wegzustoßen. Er rührt sich keinen Zentimeter, hält mich nur noch fester, als hätte er Angst, dass diesmal ich diejenige sein könnte, die einfach so verschwindet.

Wenn er mich weiter so festhält, vergesse ich womöglich noch, wie tief die Wunden tatsächlich sind, die er mir verpasst hat.

»Du hast schon immer so tief und fest geschlafen.« Er gluckst in sich hinein, als hätte er einen Insiderwitz gemacht.

Mit seiner behandschuhten Hand streichelt er meine Wange, legt seine Stirn an meine. Die Berührung ist so sanft und zärtlich, als würde ich ihm tatsächlich etwas bedeuten. Aber ich sollte es besser wissen – ich muss es besser wissen. Wenn er mich noch einmal so verlässt, werde ich es nicht überleben.

Als ich den Kopf nach hinten neige, um zu ihm aufzuschauen, verziehen sich seine Lippen zu einem finsteren Grinsen. Er sieht zu Marcus und dessen fehlendem Anhängsel, dann zieht Roman sein Messer wieder hervor und drückt es mir in die zittrige Hand.

»Möchtest du die Ehre haben, Prinzessin?«

Marcus’ Schreie werden von dem Klebeband über seinem Mund gedämpft. Das Geräusch reißt mich aus meiner Trance, und als ich mich diesmal von Roman loswinde, lässt er mich.

Ich wünschte, ich hätte die Kraft, Marcus auch so zu verletzen, wie Roman es getan hat. Nicht nur aus Rache für alles, was mein Pflegebruder mir angetan hat, sondern auch, um mir selbst zu beweisen, dass ich mich in jeder Hinsicht um mich selbst kümmern kann.

Ich wische meine Tränen mit dem Handrücken ab und verschmiere dabei das Blut, das er auf meiner Wange hinterlassen hat. Mein anderer Pflegebruder Jeremy ist im Zeltlager und zum Glück in Sicherheit, aber was ist mit …?

»Wo … wo ist Millie?« Meine Pflegemutter hat zwar alles geduldet und auch zugesehen, aber sie hat es nicht verdient, dafür auch so gefoltert zu werden. Im Grunde genommen ist sie ebenso ein Opfer von Marcus und Greg wie ich.

Er schüttelt den Kopf, zieht die Brauen zusammen und sieht mich an, als hätte er gehofft, etwas anderes von mir zu hören. »Sie ist … okay.«

»Was soll das heißen, okay?« Ich trete einen Schritt zurück, als er wieder nach mir greift, und sein Stirnrunzeln vertieft sich.

Dann drehe ich mich um und scanne den Raum ab. Und versuche, mein spärliches Abendessen daran zu hindern, mir die Kehle hochzusteigen. Ich habe gesehen, wie er jemanden mit bloßen Händen zu Brei geschlagen hat. Ich habe gehört, wie Knochen unter seinem Baseballschläger zersplittert sind. Aber das hier?

Diesmal hat er es geschafft. Diesmal ist er eindeutig zu weit gegangen.

Überall ist Blut. Abgerissene Gliedmaßen, abgeschnittene Geschlechtsteile, aufgeplatztes Fleisch. Das hier ist nicht einfach nur Mord. Das hier ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Blutbad.

»Was hast du getan?« Meine Stimme zittert, ich stoße mit den Kniekehlen gegen ein Regal.

Der Raum schwankt plötzlich und ich kann nicht mehr atmen. Er tritt vor mich, doch das verstärkt meinen Schwindel nur. Ich kann ihn nicht ansehen. Ich muss dringend wieder zurück zu dem Punkt, an dem ich mir noch einreden konnte, dass er gar nicht mehr existiert.

»Was hast du getan, Roman?« Ich zittere am ganzen Körper und versuche, meine Lunge davon abzuhalten, in Flammen aufzugehen. Aber das Streichholz wurde bereits entzündet und ich kann nicht mehr verhindern, dass sich in mir ein loderndes Inferno ausbreitet.

»Was … was soll das hier? Was hast du – ich kann das nicht. Ich kann das alles hier nicht!«

Ich falle auf die Knie und krieche rückwärts, ersticke fast an meinem eigenen Atem, bis ich schließlich den Inhalt meines Magens auf den Boden entleere. Er greift um meine Arme und zieht mich wieder auf die Füße, sodass ich an seiner Brust würgen muss.

»Tief einatmen, Bella. Nicht hinsehen, okay? Konzentrier dich einfach nur auf mich.«

Er fühlt sich so warm und tröstlich an, als wäre ich endlich nach Hause gekommen. Aber das ist alles so falsch. Ich zapple in seinen Armen und versuche verzweifelt, von ihm wegzukommen. Nach all dem Schmerz, den er mir zugefügt hat, und nach allem, was seitdem passiert ist, kann ich das hier einfach nicht. Er war das Einzige, das zwischen mir und den Dämonen auf der anderen Seite stand.

Dämonen wie Marcus.

Roman hat mich verlassen, und ich wäre deshalb beinahe gestorben.

Es gab eine Zeit, da hätte ich ihm jedes einzelne zerbrochene Teil meines Herzens geschenkt. Ich dachte, er würde jeden einzelnen zerbrochenen Teil meiner Seele lieben. Er sagte, ich wäre perfekt.

Aber Roman Riviera ist ein Lügner.

Jede einzelne Pflegefamilie vor dieser hier wollte mich so schnell wie möglich wieder loswerden. Meine Mutter ist verschwunden. Meinem Vater war ich nie gut genug. Und, bei Gott, ich hatte gehofft, ich könnte zumindest für ihn gut genug sein.

»Nein.« Ich keuche. »Nein!« Hör auf, mich anzufassen. Doch er lockert seinen Griff nicht und hält mich wie eine Gefangene weiter fest. Eine Gefangene in den Armen des Mannes, der mich an jedes einzelne Bruchstück von mir selbst erinnert, das ich an dem Tag, als er mich verlassen hat, verloren habe. »Du bist irre. Du bist komplett irre.«

»Ich bevorzuge den Begriff Künstler«, scherzt er.

Macht er ernsthaft ausgerechnet jetzt Witze? »Was ist dein verdammtes Problem? Wieso bist du überhaupt hier? Du bist abgehauen und hättest einfach wegbleiben sollen.«

Es war mir nur nach und nach besser gegangen. Mit jedem Tag war es ein bisschen leichter geworden. Ich hatte die Hoffnung gehegt – wenn auch nur eine hauchdünne –, dass ich dieser Stadt eines Tages den Rücken zukehren und mir ein für alle Mal jedes noch verbliebene Fleckchen, das mich an ihn erinnert, vom Leib schrubben könnte.

Ich hatte einen Lebenssinn darin gefunden, auf Jeremy, meinen Pflegebruder, aufzupassen. Das war zwar nicht viel, aber Kleinvieh macht eben auch Mist. Alles, was danach passiert ist, habe ich ertragen, damit zumindest Jeremy abends ohne Angst vor dem nächsten Morgen einschlafen konnte.

Ein Muskel in Romans Kiefer zuckt. »Geh wieder ins Bett. Ich hatte gehofft, hier fertig zu werden, ohne dich zu stören.«

Ohne mich zu stören.

Und jetzt? Ist er nur hier, um mich noch einmal verlassen zu können? War ich für ihn immer nur ein Spielzeug, um sein eigenes krankhaftes Vergnügen zu stillen?

Geh wieder ins Bett.

Ohne mich zu stören.

Die Worte hallen in mir wider und wider, schwellen in mir an und bauen sich weiter auf, bis sie plötzlich überlaufen.

Ich bin so verdammt dämlich und habe doch ernsthaft geglaubt, er wäre meinetwegen zurückgekommen. Dass er diesmal bleiben würde. Ich hätte es besser wissen müssen. Er hatte schon immer ein Problem mit Marcus und will die Sache einfach nur zum Abschluss bringen. Warum überrascht mich das nicht?

Ich stoße ihn gegen die Brust. Fest. Es reicht nicht aus, dass er mich loslässt, aber es bringt ihn immerhin lange genug aus dem Gleichgewicht, dass ich ihm eine Ohrfeige verpassen kann. »Verpiss dich, Roman. Ich hasse dich.«

Das aufgeregte Funkeln in seinen Augen erlischt, während er sich von meinen Worten erholt. Er weiß, was es für mich bedeutet, seinen Namen auszusprechen. »Das meinst du doch nicht–«

»Hau ab!«, fauche ich und sehe ihn endlich an. Studiere seine wunderschönen, wilden Gesichtszüge. Warum erwidert er meine Beschimpfung nicht? Warum reagiert er nicht darauf, dass ich ihn schlage, obwohl ihm doch offensichtlich gar nichts an mir liegt?

Marcus’ erstickte Schreie heizen meine Wut weiter an – ich denke an jedes einzelne Mal, wenn er mir den Mund zugehalten hat, jedes Mal, wenn ich dasitzen und es über mich ergehen lassen musste, es ertragen musste … All das will ich auf einmal rauslassen. Ich will dieses gesamte verfluchte Haus abfackeln.

Dieser verdammte Marcus. Ihn hasse ich auch. Meinetwegen kann er zusammen mit seinem Arschloch von Vater hier und heute sterben.

Dachte Roman wirklich, er könnte hier nach drei Jahren einfach so auftauchen, meine Pflegefamilie foltern und abschlachten, während ich oben friedlich weiterschlafe, und dann sang- und klanglos wieder verschwinden? Nicht noch einmal. Durch den Schleier meiner Tränen erkenne ich nur noch die scharfen Umrisse seines Kiefers und die Grübchen in seinen Wangen. Sogar seine Konturen sind mir zu viel.

»Ich will dich hier nicht haben.« Lüge. »Du bist ein Monster.«

»Aber ich bin es doch«, fleht er und legt beide Hände an mein Gesicht, um mich näher an sich zu ziehen. »Dein Micky.«

Ich trete um mich, in der Hoffnung, damit etwas zu bewirken – natürlich vergebens. »Ich weiß gar nicht mehr, wer du bist.«

»Bella – Bella, bitte. Ich bin es. Micky. Ich bin wieder da. Und ich werde dich hier rausholen.« Seine Berührung verschlingt mich. Der Duft seines Aftershaves umnebelt meinen Verstand und ich möchte so wahnsinnig gern nachgeben.

»Du hast mich verlassen!« Das habe ich mir selbst so oft eingeredet, dass ich wie eine zerkratzte Schallplatte klinge. Doch es dem Täter selbst zu sagen, fühlt sich an, als hätte man eine Schatztruhe gefunden, die voller Knochen und verwestem Fleisch ist und die man deshalb besser unter der Erde gelassen hätte.

»Ich weiß. Und es tut mir leid, ich–«

»Es tut dir leid«, äffe ich ihn nach. Meine Tränen versiegen abrupt, und ich sehe ihn plötzlich wieder klar vor mir.

All die Worte, die in meiner Brust vor sich hin blubbern, drängen plötzlich heraus – die vielen Male, in denen ich »Danke« sagen und irgendwelche Typen anlächeln musste, nachdem sie mich verletzt hatten. Ich bin es so verdammt leid. Er kann sich nicht einfach entschuldigen und erwarten, dass deshalb alles vergeben und vergessen ist.

»Es tut dir leid?« Mein Atem geht nur noch stoßweise und er lässt mich los, weil er genau weiß, was gleich passieren wird. Er weiß es immer. »Es tut dir leid? Leid? Dazu hast du gar kein Recht!« Je öfter ich das Wort ausspreche, desto unglaubwürdiger klingt es. »Du hast kein Recht, hierher zu kommen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Weißt du eigentlich, was sie mir angetan haben? Du hast mich einfach zurückgelassen und ich wäre fast gestorben, Roman. Du bist so ein Feigling.« Ich schubse ihn, obwohl er mich gar nicht mehr festhält. »Ein verdammter Feigling!«

Er zuckt nicht einmal zurück, wie er es hätte tun sollen. Er gibt mir nicht den Raum, den ich gerade brauche, sondern starrt mich stattdessen mit diesen stahlgrauen Augen an, die sich jedes Mal ein wenig verdunkeln, wenn seine olivfarbene Haut meine berührt. Als er sich nur ein klein wenig bewegt, passt kein Blatt mehr zwischen unsere beiden Körper.

Es fühlt sich viel zu gut an, die ganze Wut herauszulassen, die seit Jahren in meinen Adern geschlummert hat. Und es tut mir überhaupt nicht leid, dass Roman jetzt den Großteil davon abbekommt.

Meine Brust hebt und senkt sich rasch, meine Stimme klingt heiser. »Ich kann nicht glauben, dass ich dir vertraut habe. Dass ich dir alles von mir gegeben habe.« Schubs. »Ich bereue es, dich überhaupt so nah an mich rangelassen zu haben.« Schubs. »Ich bereue es, jemals mit dir geredet zu haben.« Schubs. »Ich bereue es, dir jemals begegnet zu sein.« Diesmal zuckt er nicht zurück, als ich ihn schubse. Er umschlingt meine Taille mit beiden Armen und schmiegt seine Wange an meinen Kopf. »Ich hasse dich, Roman. Ich hasse dich so sehr. Du bist das Schlimmste, das mir je passiert ist. Ich hasse dich. Ich hasse, hasse, hasse dich.«

Ich wiederhole mich.

Wieder und wieder.

Immer wieder.

Ich weiß nicht, wie lange ich ihn so anschreie, trete und kratze. Er lässt alles über sich ergehen, ohne mich loszulassen, nicht einmal für eine Sekunde, massiert nur in sanften Kreisen meinen Rücken. Und hört damit auch nicht auf, als mein Körper völlig entkräftet und kampflos in seinen Armen erschlafft. Dann flüstert er: »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verlassen. Jetzt bin ich ja wieder da. Und nichts wird uns mehr voneinander trennen können.«

Marcus’ Schreie im Hintergrund nehme ich kaum noch wahr. Ich habe keine Kraft mehr, um mir noch Gedanken darüber zu machen, dass mein Pflegevater nur wenige Schritte von uns entfernt tot auf seinem Stuhl hockt. Oder dass der Mann, der mich drei Jahre lang gequält hat, gerade verblutet.

Ich bin so erschöpft von all dem.

Wann wird es jemals genug sein? Wann werde ich dazu in der Lage sein, wirklich zu leben?

Doch nur vier Worte schaffen es in meinen Kopf und wirbeln darin umher: Er ist wieder da.

Ich möchte ihm so gern glauben.

Aber Roman Riviera ist eben ein Lügner.

 

 

 

 

 

Vierzehn Jahre zuvor

Roman: acht Jahre alt – Isabella: sechs Jahre alt.

 

Ich hasse diesen Stadtteil genauso wie jeden anderen.

Ich hasse die Schule. Egal, um welche es sich handelt, ich weiß jetzt schon genau, dass ich sie hassen werde.

Ich hasse Steve.

Ich glaube, ich hasse Steve sogar noch mehr als Troy, dabei kenne ich Steve erst seit drei Wochen. Ich habe gelernt, dass er lauter schreit, wenn ich in einer Sprache mit ihm rede, die er nicht versteht. Idiot. Das Schreien erschöpft ihn – wahrscheinlich, weil er so viel Bier trinkt. Je eher er anfängt zu schreien, desto eher lässt er mich wieder in Ruhe. Dann kann ich in das Zimmer rennen, das ich mir mit einem Jungen teile, der halb so alt ist wie ich, und mit dem anderen, der älter ist als wir beide und deshalb glaubt, er wäre etwas Besseres.

Er ist nichts Besseres. Diese Lektion versuche ich ihm immer noch beizubringen.

Die beiden Jungs hasse ich auch, Josh und Perez, aber da wir uns einig sind, dass wir alle Steve noch mehr hassen als uns, haben wir uns noch nicht gegenseitig umgebracht.

Ich gebe mir selbst noch einen Monat hier, bevor ich wieder woanders hingeschickt werde. Nachdem ich von jeder Schule im Osten der Stadt verwiesen wurde, sagte Margaret, sie müssten mich auf eine Schule in einem anderen Stadtteil schicken, wo man meine ganz besonderen Bedürfnisse besser »berücksichtigen« könne.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was das bedeutet, aber zumindest hasse ich Margaret nicht – außer wenn sie mich so ansieht, mit zusammengezogenen Augenbrauen, und ich weiß, dass sie gleich seufzen und sagen wird: »Schon wieder, Roman?«

Sie versucht ständig, mich dazu zu bringen, über meine Gefühle zu reden. Und sie bringt mir gerne Snacks mit. Ich weiß, dass sie mich damit bestechen will, weil ich für ein Pop-Tart fast alles tun würde. Ich habe ständig so einen verdammten Hunger.

Obwohl sie mir zu essen gibt, finde ich alle Erwachsenen einfach nur dämlich. Und sie ist genauso nutzlos wie alle anderen, wenn sie nichts gegen Steve unternehmen kann. Vielleicht will sie es aber auch nur nicht.

Aber ich habe mal gehört, wie Steve seine Frau genannt hat, und ich glaube, das passt auch ganz gut zu Margaret. Manchmal, jedenfalls. Verdammtes Miststück. Ich weiß allerdings nicht so genau, was das eigentlich bedeutet.

Vielleicht frage ich mal die Lehrerin danach.

Ich habe Margaret sogar erzählt, dass ich einen Abend ohne Essen in Steves Keller verbringen musste und erst am nächsten Abend wieder aus dem eiskalten Keller nach oben gehen durfte.

Ganze achtundzwanzig Stunden – nein, Moment. Hat ein Tag vierundzwanzig oder achtundzwanzig Stunden?

Ach. Ist ja auch egal, denn ich habe gesehen, wie sie »lebhafte Fantasie« aufgeschrieben hat, nachdem ich ihr das letzte Woche erzählt habe. Das war drei Wochen, nachdem ich in der ersten Schulwoche einen Lehrer geschlagen habe, was mich jetzt hierher gebracht hat … auf eine andere Schule. Zu meiner Verteidigung: Der Lehrer hatte mich eine Plage genannt, obwohl ich in dem Moment gar keine war.

Also habe ich ihm gezeigt, wie eine echte Plage aussieht.

Danach hat mich der bekloppte Lehrer als »aufmerksamkeitsbedürftig« bezeichnet. Zum Teufel mit ihm.

Egal, ich habe einen Plan. Perez meinte, dass es in der Gegend noch eine andere Schule gibt. Wenn ich von dieser Schule und auch noch der nächsten fliege, hat Margaret gesagt, müssen sie mich in eine andere Stadt oder eine Wohngemeinschaft umziehen lassen. Dann wird sie ihre Augenbrauen hochziehen und sagen: »Schon wieder, Roman? Im Ernst? Wir haben doch schon mal darüber gesprochen.«

Nicht, dass es irgendwas ändern würde, wenn man mich schon wieder umziehen ließe. Schulen sind alle scheiße und die Lehrer sind auch überall gleich.

Der stellvertretende Schulleiter der Woodside Grundschule und Ms. Dingsbums sagen genau das Gleiche, das auch die letzte Schule über mich gesagt hat. Ich höre nur Bruchstücke davon, während wir in den Klassenraum gehen.

Wir sind hier, um dich zu unterstützen, Roman.

Wir verstehen, dass es dir Angst macht, mitten im Schuljahr die Schule wechseln zu müssen.

Die anderen Kinder werden dich sicher mögen, Roman.

Wir wollen nur das Beste für dich, Roman.

Das sagen sie alle. Aber sie meinen es nicht so, denn wenn sie das täten, würden sie mich nicht bei jemandem wie Steve leben lassen.

Oder Troy.

Der Vater in meiner letzten Pflegefamilie war ein Fan davon, mit Dingen zu werfen, um seine Zielsicherheit zu trainieren. Und wir Kinder waren beliebte bewegliche Zielscheiben für ihn. Die Mutter gab ihr Bestes, um es wiedergutzumachen, indem sie zumindest jeden Tag für Essen auf dem Tisch sorgte, auch wenn es oft nur eine Scheibe Brot war.

Die Mutter in meiner derzeitigen Pflegefamilie ist genauso scheiße wie der Vater. Das letzte Mal, das einer von beiden daran gedacht hat, uns was zu essen zu geben, war gestern Morgen.

Ich bin so verdammt hungrig, um es vorsichtig auszudrücken.

Aber egal. Ich werde schon bald wieder hier weg sein, und wer weiß, ob die nächste Familie nicht noch schlimmer sein wird als Troy und Steve zusammen.

Die Klassenräume an dieser Schule sind kreisförmig um einen großen Schulhof herum angeordnet. Ich konzentriere mich nur auf die eine Ecke, wo es einen toten Winkel zwischen Zaun und Gebäude gibt. Dort sieht einen niemand stehen, es sei denn, man geht direkt daran vorbei.

Es ist perfekt.

Wir betreten den Flur zwischen zwei Klassenzimmern, in dem die Spinde stehen, und Ms. Dingsbums nimmt mir die leere Schultasche ab, um sie auf einen freien Haken zu hängen. Sie wartet nicht auf mich und geht voran in das Zimmer, das vermutlich vorübergehend mein Klassenzimmer ist – bis zu meinem nächsten Umzug.

Genau rechtzeitig drehe ich meinen Kopf, um zwei Jungs zu hören, die ein kleines Mädchen auslachen, das gerade seine Tasche durchwühlt. Ihre schwarzen Zöpfe fallen ihr ins Gesicht, während sie sich von den beiden abwendet. Dann sagt der eine von ihnen, der dünnere: »Hey, Isa.« Der hässlichere klopft dem dünneren auf die Schulter und kichert, als könnte er es nicht abwarten, endlich einen Witz loszulassen. »Sag mal Rotkohl.«

Beide brechen in Gelächter aus und werfen ihre Köpfe in den Nacken, als ob sie gerade den besten Witz aller Zeiten gerissen hätten.

Aber das ist doch gar nicht lustig. Was zur Hölle sollte denn lustig daran sein, Rotkohl zu sagen?

Das Mädchen sieht zu den beiden Jungs auf. Ihre Unterlippe zittert und ihre Augen glänzen, dann schlingt sie ihre Arme um den Oberkörper und umarmt sich selbst.

Ich verdrehe die Augen und folge der stellvertretenden Schulleiterin ins Klassenzimmer. Solche Quälgeister sind langweilig und schwach. Sie haben nur ein großes Mundwerk, wissen aber nicht mal, was ein ordentlicher Fausthieb ist, bis sie mal einen abbekommen. Sobald das der Fall ist, versuchen sie entweder, mir einen zurück zu verpassen, was die ganze Sache für mich nur noch lustiger macht, oder sie fangen an zu heulen und winseln um Gnade. Beides ist mir recht, vor allem, wenn sie am Ende beide Strategien gleichzeitig ausprobieren.

Ich finde heraus, dass die Klasse nebenan zwei Stufen unter mir ist, abgesehen davon passiert nichts Besonderes in meiner Klasse mit der übereifrigen Lehrerin, die ständig versucht, alle davon zu überzeugen, dass Lernen Spaß macht.

Sobald es zur Pause läutet, schnappe ich mir meine Tasche und stürme in den toten Winkel in der Ecke.

Die anderen Schüler verlassen die Klassenräume und gehen direkt auf den Spielplatz, wodurch diese ruhige Ecke erst recht zu meinem Paradies wird. Um diese Uhrzeit steht die Sonne bereits hoch am Himmel, sodass mein Fleckchen Erde nur teilweise im Schatten liegt. Splitter bedrohen meine Haut, als ich über den Zaun klettere und auf dem Bürgersteig dahinter lande. Die Sonne brennt mir ins Gesicht, aber ich riskiere lieber einen Sonnenbrand, als noch mal im Schatten zu frieren. Ich habe keine Lust mehr auf schneidende Kälte.

Nicht, seit Steve mich im Keller eingesperrt hat.

Mein Magen knurrt wütend, als ich meinen Rucksack aufmache. Ich hätte wohl nicht damit rechnen sollen, auch Essen in meiner Tasche vorzufinden statt nur einen Bleistift, ein Buch und ein paar Kronkorken. Nichts anderes hatte ich von Steve erwartet.

Würde Margaret das hier auch meiner lebhaften Fantasie zuschreiben? Zur Hölle mit ihr, und zur Hölle mit dem verfluchten Steve.

Wahrscheinlich würde sie nur zu Hause anrufen, und Steve würde ihr irgendeine Heldengeschichte von sich erzählen, wie er mir ein üppiges Lunchpaket zubereitet hat, das ich jedoch leider vergessen hätte. Dann würde ich wieder das zu hören bekommen, was jeder andere über mich sagt.

Aufmerksamkeitsdefizit.

Sie täuschen sich. Ich will ihre Aufmerksamkeit überhaupt nicht. Daraus kann ja auch nichts Gutes entstehen.

Selbst der Keller wäre gar nicht so übel gewesen, wenn es dort nicht so verdammt kalt und still gewesen wäre und ich nicht so großen Hunger gehabt hätte. Aber wenigstens gab es dort niemanden, der mich angeschrien oder geschlagen hätte.

Wie ich schon sagte: Je weniger Aufmerksamkeit, desto besser.

Es fühlte sich irgendwie sicher an da unten. Aber auch gruselig. Und meine Lunge hat so komische Sachen gemacht, dass es auf einmal wehgetan hat, zu atmen. Das habe ich gehasst.

Aufmerksamkeitsdefizit.

Dumme, dumme Margaret.

Ich nehme das gebrauchte Notizheft und den stumpfen Bleistift und lasse meine Hände weiterreden, während Bilder durch mein Gehirn ziehen, mit denen ich nicht umgehen kann. Es ist so laut in meinem Kopf, dass ich mir wünschte, mein Verstand würde mal für zwei Minuten die Fresse halten.

Dicke, wütende Striche aus Graphit malen zackige Umrisse auf das linierte Blatt. Kreise und Dreiecke, eins nach dem anderen, bis ein lächelnder Junge entsteht, der mit rasiermesserscharfen Zähnen grinst, während die Leute um ihn herum kreischen.

Als mich plötzlich ein Schauer überkommt, erstarrt meine Hand. Es fühlt sich an, als würde mich jemand beobachten. Mein Kopf schnellt hoch und ich starre den Eindringling an. Das Mädchen versteift sich erschrocken. Mit ihren riesigen braunen Augen, die mich anglotzen, sieht sie aus wie eine Comicfigur … kurz bevor sich auf ihrem Gesicht der vertraute Ausdruck abzeichnet, den ich ganz gut kenne.

Ich habe ihn schon mal bei dieser Comicmaus – ich glaube, sie hieß Jerry – gesehen, wenn sie Tom begegnet. Oder wenn ich blutig und voller blauer Flecken ins Klassenzimmer gekommen bin. Angst.

Ihre Unterlippe zittert wieder genauso wie vorhin, als die beiden Jungs sie im Flur geneckt haben. Sie schluckt sichtbar, als sie vom Spielplatz zu mir schaut und wieder zurück, als müsste sie entscheiden, wo das schlimmere Monster lauert.

Als sie den Kopf senkt, bin ich kurz davor, erleichtert aufzuseufzen, doch dann geht sie plötzlich weiter und zerstört meine Pause, indem sie tatsächlich zu mir rüberkommt.

Ich starre sie finster an. Offensichtlich hat sie entschieden, dass ich weniger bedrohlich für sie bin als Skinny und Ugly. Ihre ausgelatschten Turnschuhe schlurfen über den Zement, während sie zu einem Platz nur wenige Schritte von mir entfernt geht. Ich starre sie an und fordere sie stumm dazu auf, mir in die Augen zu sehen.

Es ist mir egal, ob das hier früher ihr Platz war, jetzt ist es jedenfalls meiner.

Bis ich hier wieder weg bin, zumindest.

Minuten verstreichen, und während sie so dasitzt und ungerührt die Wand anstarrt, geht eine merkwürdige Spannung von ihr aus. Sie ist so unfassbar ruhig. Ihretwegen will meine Hand jetzt auch nicht mehr richtig mitarbeiten.

Nichts landet so auf dem Blatt, wie es sollte. Die geraden Linien werden zu krumm und die gekrümmten Linien werden zu gerade.

Ich spüre mich nicht mehr, und das ist allein ihre Schuld.

Ich habe schon Katzenbabys gesehen, die nicht so nervös gewirkt haben wie sie. Wenn ich genau lausche, kann ich bestimmt sogar hören, dass sie gar nicht mehr atmet. Das Fehlen jeglicher Geräusche wühlt mich innerlich auf.

Sie ist einfach so verdammt still. Was zur Hölle ist ihr Problem?

»Mach dich doch mal locker«, schnauze ich sie an.

Ich fasse sie gar nicht an, ich sehe ja nicht mal wirklich hin. Sie muss sich doch einfach nur entspannen.

Mit einem Quietschen reißt sie ihre pinkfarbene Tasche an ihre Brust. Ihre Hände zittern. Die Tasche ist einer von diesen hübschen Rucksäcken mit Glitzermuster. Ich wette, sie gehört hier zu den reichen Gören und ihre Eltern haben ihr ein riesiges Lunchpaket eingepackt. Ihren lächerlichen Zöpfen nach zu urteilen, haben sie ihr bestimmt auch noch so einen dämlichen Zettel in die Tasche gesteckt, auf dem steht, dass sie sie lieben und ihr einen schönen Tag wünschen.

Allerdings wirkt sie überhaupt nicht wie eins von diesen peinlichen Rich Kids. Von den Pennern würde doch niemand so ausgelatschte, löchrige Schuhe tragen oder ein T-Shirt, das mindestens drei Nummern zu groß ist.

Trotzdem sieht das Mädchen vor mir auch nicht aus wie jemand, der wüsste, wie es sich anfühlt, in einem Keller eingesperrt oder mit einer heißen Gabel gepiesackt zu werden. Ich wette, sie wird noch jeden Abend ins Bett gebracht, so wie die Kinder in den Büchern, aus denen die Lehrer uns manchmal vorlesen.

Verwöhnte Zicke.

Das scharfe Geräusch eines Reißverschlusses, der geöffnet wird, erregt meine Aufmerksamkeit. Ich beobachte, wie ihre kleinen Hände kurz innehalten, bevor sie in ihrer Tasche kramt und ein verschlissenes Stofftier hervorholt. Es ist eine Figur aus einer Fernsehsendung, die ich früher mal gesehen habe – als ich in einer Pflegefamilie war, die einen Fernseher besaß.

Irgendwas mit Maus. Oder Ratte. Macky Maus oder so?

Was auch immer das für ein Ding ist, es sieht genauso aus wie die kleinen Ohrringe, die sie trägt. Als wäre sie von diesen Nagetieren irgendwie besessen. Troy hingegen hat im ganzen Haus Fallen aufgestellt, um sie zu killen.

Ihr Blick huscht zu mir und ich schaue rasch weg, als ob sie gar nicht da wäre. Glücklich – oder zumindest nicht mehr so steif und auch nicht mehr an die Wand starrend – legt sie das Spielzeug neben sich und richtet mit ihren niedlichen kleinen Händen dessen Beine aus, bis es aufrecht neben ihr sitzt.

Als sie ihr Lunchpaket, eine zerknitterte Plastiktüte, hervorzieht, kann ich mein Interesse nicht länger verbergen.

Was sie wohl dabeihat? Gehört sie zu den Kindern, die so gesundes Essen wie aus diesem Pyramidending mitbekommen? Vielleicht gehört sie auch zu den Glücklichen, die Reste vom Abendessen dabeihaben. Ein Kind an meiner vorherigen Schule hatte immer Fastfood-Reste dabei, und das Arschloch gab vor allen damit an und zeigte es jedem.

Als ich anfing, ihm sein Essen wegzunehmen, ließ er es irgendwann bleiben.

Rattenschwänzchen legt die Plastiktüte neben ihr Spielzeug auf den Boden. Und ich warte mit angehaltenem Atem darauf, dass sie den Inhalt herausfischt.

Zuerst nimmt sie zwei Cracker raus – diese Dinger, die trockener sind als Sand, aber zumindest satt machen – und reicht eins davon ihrem Stofftier, während sie an dem anderen knabbert.

Was zur Hölle?

Das Ding ist doch gar nicht lebendig, und sie gibt ihm ihr Mittagessen? Ich wusste doch, dass sie verwöhnt ist, wenn sie ihr Essen so verschwendet. Wenn sie nicht vorhat, es selbst zu essen, werde ich es eben tun.

Das Mäuschen zuckt zusammen, als sie bemerkt, dass ich sie beobachte. Aber ich wende den Blick nicht ab, tippe mit dem Bleistift auf mein Blatt und warte, was da sonst noch so aus ihrer Lunchtüte kommt. Und ob sie davon noch mehr verschwenden wird.

Das nächste Ding ist kein Cracker, das sehe ich sofort. Dafür ist es viel zu groß. Mir läuft der Speichel im Mund zusammen, während ich darüber nachdenke, was es alles sein könnte.

Mein Hunger wird auch nicht kleiner, als sie ihr armselig wirkendes Mittagessen herausholt. Es sind nur zwei dünne Scheiben Brot, die teilweise zerdrückt sind, weil sie ohne festen Behälter in ihrer Tasche gelegen haben. Obwohl es nicht einmal so aussieht, als ob das Brot belegt wäre, läuft mir immer noch das Wasser im Mund zusammen.

Ich bin kurz davor, sie anzuschreien, dass sie eine verzogene Göre ist, als sie das zerdrückte Butterbrot in zwei Teile zerreißt und dabei die Butter zermatscht. Aber dann klappe ich den Mund wieder zu. Rattenschwänzchen streckt ihre Hand aus und bietet mir eine Hälfte von ihrem Butterbrot an. Als wäre ich irgendein Penner, mit dem man Mitleid haben müsste.

»Du solltest dein Essen nicht teilen«, knurre ich sie an. Gleichzeitig knurrt auch mein Magen.

Ihr Blick sinkt von meinem Gesicht zu meinem Bauch, und ihre Unterlippe zittert wieder. Heult dieses Mädchen eigentlich ständig? Ja, das Leben ist hart. Komm damit klar. Heulen bringt dich auch nicht weiter.

»Ach«, sagt sie, ihre Stimme ist so leise, dass ich sie kaum verstehe. »Ich dachte–«

»Was dachtest du?«

»Ich dachte, du hättest Hunger«, flüstert sie und legt das Brot auf die Plastiktüte, die direkt zwischen uns liegt.

Dann holt sie ein Buch aus ihrer Tasche und ich schaue zu, wie sie eine Seite nach der anderen umblättert, während sie schüchtern an ihrem Butterbrot knabbert. Als der letzte Bissen verschwunden ist, legt sie den Cracker neben die zweite Hälfte von ihrem Brot und zieht das Stofftier in ihre dünnen Arme. Dann liest sie still weiter in ihrem Buch.

Es ist egal, wie lange ich sie anstarre oder wie lange ich so tue, als würde ich den Blick abwenden. Mein Magen hört nicht auf zu knurren, und sie wirft nicht einmal einen zweiten Blick auf die Reste ihres Mittagessens. Das Mittagessen, das jetzt deutlich näher bei mir liegt als bei ihr.

Zögerlich strecke ich meine Finger danach aus und warte darauf, dass sie es mir rasch wegschnappt, so wie es die anderen Kinder manchmal machen. Doch sie tut das Gegenteil davon. Sie wirft mir ein trauriges, sanftes Lächeln zu, das mir direkt in die Magengrube fährt, als ich das erste Mal abbeiße.

Es ist ekelhaft. Sowohl ihr trauriges Lächeln als auch der Scheiß, den ich hier gerade esse.

Das Brot ist wahrscheinlich noch trockener als der Cracker, der als Nächstes auf meiner Liste steht. Die Butter ist nicht einmal ordentlich verschmiert, so wie Troys Frau es gemacht hat. Sie hat zumindest immer dafür gesorgt, dass die Butter überall gleichmäßig verteilt und weder zu dick noch zu dünn aufgetragen war. Außerdem hat sie das Brot immer in eine Brotdose gelegt, damit es in der Tasche nicht zu Brei zermatscht wurde.

Das hier schmeckt so, als hätte ein Kind es selbst gemacht, die Butter befindet sich auch nur in der Mitte. Trotzdem stopfe ich mir den Rest davon in den Mund und denke nicht einmal daran, etwas anderes zu genießen als das Gefühl, irgendwas in den Magen zu bekommen. Nur für den Fall, dass Rattenschwänzchen ihre Meinung ändert.

Ich bin viel zu beschäftigt mit meinem vollen Mund, um ihr Starren zu bemerken, bis sie plötzlich fragt: »Wie heißt du?«

Ihre Stimme klingt so leise und zerbrechlich wie eine Prinzessin, die stets Blumen im Haar hat, ein schwingendes Kleid mit Puffärmeln trägt und ein betörendes Lächeln aufsetzt.

Ich fahre mir mit der Zunge über die trockenen Lippen und versuche, sie zu befeuchten, nachdem ich das trockenste Brot aller Zeiten heruntergewürgt habe. Mein Blick schweift zu der Trinkflasche, die jetzt neben der Plastiktüte steht. Es ist eine von diesen knisternden Plastikflaschen aus dem Supermarkt, die man wegwirft, sobald sie leer sind.

Sie sollte nicht so großzügig sein. Irgendwann wird das jemand ausnutzen und ihr wehtun.

»Das ist egal.« Meine Nase kräuselt sich, als ich die Flasche nehme und einen gesunden Schluck von der Flüssigkeit inhaliere, bis sie halb leer ist. »Ich bin sowieso bald wieder weg.«

»Ach.«

Sie klingt traurig. Wieso klingt sie so traurig?

Die Glocke läutet, und sie verschwendet keine Zeit. Sie stopft ihr Zeug in die Tasche zurück und rennt los, als wäre der Teufel hinter ihr her.

 

Am nächsten Tag sehe ich das Mädchen mit den Zöpfen am Ende der Pause im Flur wieder. Sie steht in einer Ecke, Skinny und Ugly lachen sie aus. Als ich sehe, dass Tränen über ihre Wangen laufen, dreht sich mir der Magen um. Ihr Gesicht ist knallrot angelaufen, als würde sie schon eine ganze Weile weinen. Sie wischt sich das Gesicht mit dem Ärmel ab und versteckt sich hinter ihren Haaren, dann läutet die Glocke.

In der Mittagspause habe ich sie nicht in der Ecke gesehen und dachte schon, sie hätte einen anderen Platz gefunden, an dem sie sich vor der Welt verstecken konnte.

Doch da habe ich mich wohl getäuscht.

Sie rennt zu ihrem Klassenzimmer, bevor die beiden Idioten noch etwas sagen können, und ich sehe zu, wie die beiden durch den Flur gehen und in dem Zimmer hinter mir verschwinden.

Gestern habe ich noch etwas gelernt: Skinny und Ugly gehen in meine Klasse. Und mobben gern die Kinder aus den unteren Jahrgängen.

Ich kenne solche Typen. Kinder, die glauben, sie wären unbesiegbar, weil sie sich nur an Kleineren vergreifen, die sich nicht wehren können. An Kindern wie Rattenschwänzchen.

Als die Mittagspause näherrückt, folge ich ihnen nach draußen und warte, bis sie ihre Taschen geholt und sich zu einer der Bänke auf der Rückseite der Schule verkrochen haben. Noch bevor Skinnys kleiner Hintern die Sitzfläche berührt, kralle ich mir sein T-Shirt und lehne mich nach hinten. Dann strecke ich mein Bein aus, sodass er über meinen Fuß stolpert und das Gleichgewicht verliert. Mit einem ordentlichen Rumms landet er auf dem Hintern.

Ugly ist genauso dämlich, wie er aussieht, denn er hechtet auf mich zu, obwohl er weder in Form ist noch Übung hat. Aber er ist wütend. Erst als meine Faust sein Gesicht trifft, hört er auf zu schreien und zieht sich zurück. Dabei heult er wie ein Baby.

Skinny versucht, wieder auf die Beine zu kommen, aber mein Fuß landet seitlich an seinen Rippen. »Was hast du für ein Problem?«, faucht er mich an und hält sich die Seite.

»Sprich noch einmal so mit dem Mäuschen, und ich mache noch was viel Schlimmeres mit deinem Gesicht«, blaffe ich ihn an und schnappe mir einen der beiden Rucksäcke. Am liebsten hätte ich den beiden noch eine reingehauen, weil die Tasche nicht so leer ist wie meine.

»Mit wem?« Ich bin mir nicht sicher, wer von beiden gerade geredet hat.

»Mit Rattenschwänzchen.«

Ohne den beiden noch einen zweiten Blick zuzuwerfen, stopfe ich mir eine der beiden Lunchdosen in die Tasche und stürme davon. Ich spüre ihre Blicke im Nacken. Wahrscheinlich lecken sie sich gerade gegenseitig ihre Wunden.

Der Lehrerin werden sie ganz sicher nichts davon erzählen. Was sollten sie ihr auch schon sagen?

Er hat uns geschlagen, weil wir ein Mädchen gemobbt haben, das zwei Klassen unter uns ist.

Tja, wohl eher nicht.

Als ich an unseren Platz komme, sitzt sie schon da. Das Rattenvieh sitzt neben ihr und hat einen halben Cracker in den Pfoten, der andere steckt zwischen ihren Zähnen und sie knabbert daran wie ein Kaninchen, während sie ihr Buch liest.

Das gleiche armselige Butterbrot liegt auf derselben nutzlosen zerknitterten Plastiktüte. Ihre Zöpfe sind unordentlicher als gestern, einer sitzt fast in der Mitte ihres Kopfes und der andere knapp über ihrem Ohr. Beide sind mit unterschiedlichen Haargummis befestigt.

Ihre Schuhe sind so löchrig, dass selbst ein Fischernetz neidisch darauf wäre.

Ihr T-Shirt ist zerrissen.

Sobald sie mich sieht, verwandelt sie sich zu derselben ängstlichen Maus wie gestern, zieht die Schultern hoch und starrt auf den Boden, als würde sie sich wünschen, dass ich verschwinde.

Ich lasse mich neben sie fallen und sie zuckt zusammen, obwohl ich genug Sicherheitsabstand eingehalten habe.

Das muss aufhören.

Ich werde ihr ganz sicher nichts tun. Das können ja die anderen mal versuchen.

Abgesehen von einem kurzen Seitenblick schenkt sie mir keinerlei Aufmerksamkeit, während ich Uglys oder Skinnys Lunchbox heraushole, sie öffne und genau die Sorte von Mittagessen offenbare, von der ich dachte, dass sie es dabeihaben würde.

Eine Banane und ein ordentliches Sandwich mit Hühnchen, Mayo und Gemüse. Ich pikse in das Brot, um zu prüfen, dass es nicht als Pappkarton durchgehen könnte.

»Hier. Iss.« Ich schiebe die Dose in ihre Richtung und schnappe mir dafür ihr noch unangetastetes Butterbrot.

Sie reißt die Augen auf, als ich in das widerliche Ding beiße – ja, ich würde es nicht mal Essen nennen.

Aber als sie mir das Brot aus der Hand reißt, blecke ich reflexhaft die Zähne.

»Was soll das denn?«

Ihre Zöpfe schwingen hin und her, während sie wie eine Irre den Kopf schüttelt. Sie zittert, als sie ihr Brot in zwei Hälften zerteilt und mir eine davon in die Hand drückt.

Ist das jetzt ihr Ernst? Sie will ein ganzes Sandwich und auch noch das halbe Butterbrot für sich?

Doch dann zerteilt sie auch das Sandwich in zwei Hälften, lässt eine davon in der Dose liegen und hebt die andere an ihren Mund.

»Jeder die Hälfte«, sagt sie.

Ich stopfe mir ihr Butterbrot in den Mund und schlucke. Das andere Sandwich mit dem Hühnchen schmeckt besser als alles, was ich seit langem gegessen habe.

Sie mustert mich interessiert. »Ich dachte, man soll sein Essen nicht teilen.«

»Ach, hör auf. Das gilt nicht für dich.«

Sie schaut mit ihrer winzigen Knopfnase und ihren lächerlichen Zöpfen zu mir hoch, und in ihren Augen funkelt etwas, das ich nur als Bewunderung interpretieren kann. Sie sieht mich an, als wäre ich ihr Held. Nur wegen eines blöden Sandwiches?

Wenn sie nicht aufhört, sich so zu benehmen, werden sie irgendwann andere Menschen, die deutlich schlimmer sind als diese beiden Jungs, bei lebendigem Leib auffressen. Die beiden heulen wahrscheinlich immer noch über das bisschen Schmerz.

Doch sie wendet den Blick nicht ab. Bei jedem Bissen funkeln ihre Augen noch ein wenig heller. Dieser Blick … so etwas habe ich noch nie gesehen. Jedenfalls hat mich noch nie jemand so angesehen.

Und ich weiß noch nicht so genau, ob es mir gefällt.

Irgendwie ist es auch merkwürdig.

Ich räuspere mich, um die Stille zu beenden, und wippe mit dem Fuß. »Roman.«

Ihre winzige Stirn kräuselt sich. »Hä?«

»So heiße ich.«

Sie blinzelt. »Ach so.« Spricht dieses Mädchen jemals mehr als ein paar Worte? Was stimmt denn nicht mit ihr? Sie räuspert sich und schaut stirnrunzelnd auf den Boden zwischen uns. Dann sagt sie: »Woah-Man.«

»Was? Nein. Ro-Man.«

Sie saugt ihre Unterlippe ein und versteckt ihr Gesicht hinter einem ihrer Zöpfe. »Woah-Man.«

»Nein, es heißt–« Ich klappe den Mund zu.

Was hatten Ugly und Skinny noch gestern zu ihr gesagt, was sie sagen soll? Rotkohl …? Das wütende Biest in mir – genau das, von dem Margaret mir ständig sagt, dass ich lernen muss, es zu kontrollieren – hebt seinen Kopf.

Diese Arschgesichter.

»Egal.« Ich versuche, ihr die Peinlichkeit zu ersparen. »Ich finde den Namen sowieso blöd.«

Sie schaut wieder zu mir hoch, ihre mandelförmigen Augen glänzen, und ich möchte mich selbst dafür anschreien, dass ich ihr diese Tränen in die Augen getrieben habe.

Mit ihrer niedlichen Stimme sagt sie: »Ich nicht.«

»Wieso nicht?«

Ich mochte meinen Namen noch nie. Niemand hat ihn jemals mit irgendeiner Art von Fürsorge oder gar Liebe ausgesprochen. Er wurde mir nur ständig wie ein Schimpfwort entgegengebrüllt.

Das Buch, das sie gelesen hat, wird zugeschlagen. Auf dem Titelbild sind die Zeichnungen von zwölf verschiedenen Männern und Frauen zu sehen, die goldene Blätter um den Kopf und weiße Bettlaken um den Körper tragen.

Ein winziger Finger tippt auf einen der Männer, der wütend dreinschaut. Er trägt eine Rüstung und einen Speer sowie einen Schild in der Hand. »Er sieht aus wie ein Woahman. So wie du.«

»Da steht aber, er heißt Ares.«

Sie nickt nachdenklich. »Aber er sieht aus wie ein Roman. Ein Römer.« Das R klingt immer noch wie ein W.

»Da steht, er heißt Ares und ist der Gott des Krieges.«

Braune Augen schielen auf die Unterschrift, und ihr Mund bewegt sich, als würde sie sich das Wort leise vorsprechen. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt weiß, was es bedeutet.

Ich zucke die Achseln. »Mir gefällt der Name trotzdem nicht.«

Sie verzieht die Lippen und schaut sich in unserer Ecke um, als würde sie nach einer Antwort suchen. Dann landet ihr Blick auf ihrem Stofftier und ich kann förmlich sehen, wie eine Glühbirne in ihrem Kopf aufflackert.

»Wie wäre es mit Micky?«

Ich verziehe verärgert den Mund. »Vergleichst du mich gerade mit einer Ratte?«

Als sie lacht, zieht sie mich damit sofort in ihren Bann. So etwas habe ich noch nie gehört. Es klingt fröhlich, und doch liegt noch so viel mehr in diesem Ton. Ich spüre das Gleiche, das ich fühle, wenn ich mal eine richtige Mahlzeit bekomme oder dieses Getöse in meinem Kopf endlich verstummt.

»Nein, du Dummkopf. Eine Maus. Du könntest Micky heißen und ich Minnie.« Sie seufzt verträumt, während sie das zerrupfte Ding an ihre Brust drückt. »Ich liebe Mauses.«

Mäuse, denke ich.

Das passt zu ihr.

»Was, wenn ich dich gar nicht Minnie nennen will? Wie soll ich dich dann nennen?«

Der Ausdruck, der plötzlich ihr Gesicht überzieht, fühlt sich schlimmer an als ein Tritt in die Eier. Ich habe sie enttäuscht. Und weiß nicht einmal so genau, womit.

Sie kaut auf ihrer Lippe. »Isabella. Aber alle nennen mich Isa.«

Ihr Name ruft irgendeine verblasste Erinnerung hervor. »Dann werde ich dich Bella nennen.« Schließlich ist sie der einzige Mensch, dem ich je begegnet bin, der es verdient hat, hübsch genannt zu werden. Sogar mit ihrem zerstrubbelten Haar und ihrem auf links gedrehten, zerrissenen T-Shirt.

»Aber–«

Ich unterbreche ihren Protest. »Doch. Bella gefällt mir.«

Ihr Lächeln ist so strahlend, dass es die Sonne verblassen lassen könnte. Und mit ihr vielleicht sogar meine Pläne, von diesem Ort hier so schnell wie möglich wieder abzuhauen.

 

 

 

 

Gegenwart

 

Roman zieht sich zurück, als der bleierne Schleier bis in meine Knochen wurzelt und sogar meine Gedanken lähmt.

»Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«

Wo sollte ich denn hingehen? Ich gehöre ganz bestimmt nicht zu den Leuten, die vor etwas weglaufen. Noch immer fühle ich mich wie in einem Netz gefangen, eingesperrt unter einem Dach, wo sich jeder Atemzug anfühlt, als könnte er gegen mich verwendet werden.

Die Berührung seiner Lippen an meiner Stirn, kurz bevor er geht, spüre ich kaum. Und ich nehme auch das Geräusch seiner Stiefel, die gegen Holz schlagen, nur am Rande wahr. Ich stehe einfach nur da und starre die mit Blut bespritzten Flyer an der Kühlschranktür an.

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass sich dieser Kühlschrank mit den Resten vom Abendessen in demselben Raum befindet wie der Mann, den meine Sandkastenliebe so brutal abgeschlachtet hat. Er passt auch nicht zu der Maske, die jetzt in einer Blutlache auf dem Tisch liegt, direkt neben der Zeitung von gestern, Millies Stickarbeiten und Gregs abgetrennten Fingern.

Das Geschirr, das zum Trocknen im Geschirrständer steht, passt nicht zu dem Körper, der im Wohnzimmer von der Decke baumelt. Gewöhnliche Dinge, die umgeben sind von gewaltsam zerstörten Körperteilen, die nicht hierhergehören. So wie mein leeres, ausgehöhltes Herz.

In diesem Haus gab es nie so etwas wie Hoffnung. Niemand hier hatte eine Zukunft gesehen jenseits dieser Wände oder außerhalb des Baumarktes, den Greg und Millie besitzen – besaßen.

Marcus hätte einfach nur ständig gelitten wegen all seiner krankhaften, perversen Vorlieben. Greg wäre einfach irgendwann gestorben als Resultat seiner Lebensentscheidungen, wahlweise wegen des Trinkens oder weil er dauernd faul auf dem Sofa herumsaß. Und ich? Ich wäre einfach weiter innerlich zerbrochen, gebrochen von dem Jungen, der mich zuvor bereits wieder zusammengeflickt hatte.

Schon seltsam, wie sich das Leben manchmal so entwickelt.

Roman könnte mich auf tausend verschiedene Arten verletzen und müsste dazu nicht einmal Hand an mich legen. Ein einziges Wort würde genügen, und er hätte mich komplett zerstört. Seinen Rücken anzusehen, wenn er sich von mir abwendet und weggeht, würde völlig ausreichen, und nichts auf der Welt könnte mich jemals wieder davon heilen.

All die zerbrochenen Scherben, die mein gesamtes Dasein ausmachen, würden damit vom Winde in alle Richtungen zerstreut werden, und ich würde nie wieder vollständig sein. Nicht, dass ich das jemals gewesen wäre. Aber er hatte mir immerhin mal das Gefühl gegeben, dass ich es eines Tages sein könnte.

Hektische Bewegungen reißen mich aus den finsteren Gedanken und ich brauche mehr Kraft, als ich brauchen sollte, um meinen Blick auf Marcus zu richten, der hilflos und verzweifelt zittert und zappelt. Ich schätze, er weiß genau, wie der heutige Abend für ihn ausgehen wird.

Seine letzte Mahlzeit wird das verkochte Hühnchen gewesen sein, das ich gemacht habe. Die letzte Person, die ihn noch einmal angefasst hat, wird derjenige sein, den ich früher mal als meinen Seelenverwandten bezeichnet habe. Doch das letzte Gesicht, das er sehen wird, wird meins sein.

Die kleine Isa.

Die hübsche Isabella.

Oder, das war immer sein Lieblingsspitzname für mich: das verfickte Miststück.

Er heult und sieht mich dabei flehend an. Wahrscheinlich betet er, dass ich mich als Engel entpuppe, der vom Himmel herabgestiegen ist, um ihn zu retten. In einem hat er recht: Ich bin ein Engel. Aber ich wurde nicht zur Erde gesandt. Ich bin einfach nur heruntergefallen. Mit brennenden Schwingen wirbelte ich durch den Himmel und landete jenseits von Eden ausgerechnet in dem Land, in dem es vor Schlangen nur so wimmelte. Weil Roman mich runtergeschubst hat.

Ich merke erst, dass ich mich überhaupt bewegt habe, als ich direkt vor ihm stehe und langsam das Klebeband von seinem Mund abziehe. So langsam, dass er jeden Millimeter genau spürt.

Sobald seine schmalen Lippen frei sind, japst er nach Luft, als würde er zum ersten Mal im Leben atmen. »Isa, bitte … Du musst mir helfen. Du musst … Er ist ein verdammter Irrer.« Er blinzelt hektisch, sein Blick huscht zwischen mir, der Treppe und dem Messerblock in der Küche hin und her. Ich schaue ihm fest ins Gesicht und ignoriere das viele Blut, das aus dem Loch quillt, wo sich noch gestern sein Anhängsel befunden hat. Ebenso wie das Blut, das sein Brusthaar verklebt. »Da … das Messer. Schneid–«

»Habe ich auch so erbärmlich ausgesehen?«, frage ich ungerührt.

Wie ein schniefendes Kind, wenn sich die Tränen mit Schweiß und Rotze vermischen? War ich das? Sah ich auch so aus, als hätte ich diese Qualen verdient? Mit großen, unschuldigen Augen, die völlig wahnsinnig darauf hofften, dass jemand kommen würde, um mich tatsächlich zu retten.

»Wovon redest du? Hol einfach das verdammte–«

»Nein.«

Sein Mund klappt auf und er hält inne. »Was zur Hölle hast du da gerade–?«

»Halt die Fresse«, fauche ich ihn an.

Er reißt die Augen auf und sein Gesicht verliert jegliche Farbe.

Gut. Er hat Schiss. Das sollte er auch.

»Es steht dir nicht mehr zu, so mit mir zu reden.« Bei diesen Worten zittert meine Stimme nur sehr leicht.

Es hat etwas Reinigendes, ihn so zu sehen, gefangen in einem Käfig, den ein anderer für ihn errichtet hat. Vor ein bisschen Blut habe ich mich noch nie gescheut – ich habe Roman oft genug damit verschmiert gesehen. Aber das hier liegt jenseits aller Vorstellungskraft und ist einfach nur abgefuckt.

Normalerweise würde ich lieber einfach weggehen, als jemanden umzubringen. Nicht, weil ich so ein guter Mensch wäre. Aber unter ihm habe ich in meinem Leben schon genug gelitten.

Er hat mich verletzt. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Er hat mich in meinem eigenen Zuhause ständig in Panik versetzt. Er hat dafür gesorgt, dass ich jede Sekunde meines Lebens gehasst habe.

Und jetzt ist er meiner Gnade ausgeliefert.

Meine Fäuste zittern und wollen meine Wut endlich irgendwo rauslassen – egal, an wem oder was. Aber allein der Gedanke, Marcus noch einmal anzufassen, lässt schlimmste Übelkeit in mir aufsteigen. Jahrelang hat er seine schmierigen Hände an mich gelegt, und ich glaube, irgendwie schließt sich jetzt dieser Kreis. Roman, der Marcus früher immer in Schach gehalten hatte, wird nun derjenige sein, der ihn umbringt.

Ich strecke den Arm zum Regal aus und schnappe mir das Erste, das ich in die Finger bekomme. Dann werfe ich es mit geballter Kraft gegen ihn. Ich bewerfe ihn mit allem, was ich erwischen kann. Mit seinen Sportpokalen, Medaillen, Werkzeug, Bilderrahmen, Dekokram. Alles hinterlässt dunkelrote Male auf seiner Haut.

Er windet sich und schreit, aber ich höre nicht auf und werfe weiter, bis mir übel wird und ich mich vorbeugen muss. Dann kotze ich ihm vor die Füße. Der Anblick des vielen Blutes im Zimmer bekommt mir wohl doch nicht so gut.

»Du wirst heute Nacht sterben, du mieses, perverses Schwein«, knurre ich. »Und nach allem, was du mir angetan hast, werde ich mit dem allergrößten Vergnügen dabei zusehen.« Ich trete einen Schritt vor und zeige mit einem zittrigen Finger auf ihn. »Du bist ein erbärmliches Stück Scheiße, das sich an Frauen vergreift, und du wirst für jedes einzelne Mal, als du über mich hergefallen bist, bezahlen.«

»Das willst du mir jetzt gerade ernsthaft vorwerfen?« Er schaukelt hin und her und strampelt mit den Füßen, während er verzweifelt versucht, den Boden zu erreichen. »Werd endlich erwachsen. Und mach mich hier los.«

»Ich war noch ein Kind«, blaffe ich ihn an, dann drehe ich mich zu Greg um. Beim Anblick des Gürtels um seine Kehle muss ich den Kopf schütteln. Es ist demütigend, aber auch die perfekte Art von Gerechtigkeit. »Ich musste gar nicht erst erwachsen werden.« Ich wollte zu meiner toten Mutter. Ich wollte zu meinem Vater, der mich nie gewollt hat. Ich wollte nicht einfach nur geliebt werden, sondern ich wollte selbst auch jemanden lieben.

»Isa, hol das verdam–«

Ich klatsche das Klebeband wieder auf seinen Mund, damit er Ruhe gibt. Wenn Engel fallen, werden sie manchmal von Schlangen gefressen. Aber manchmal lernen sie auch, mit ihnen zu leben.

»Ich würde ja gern sagen: Ruhe in Frieden. Aber ich hoffe, dass du deinen Frieden niemals finden wirst.« Es fühlt sich an wie eine Befreiung, diese Worte von meiner Zunge schlüpfen zu lassen.

Mein Nacken kribbelt, noch bevor ich höre, wie Roman die Treppe hinunterkommt.

»Ich hoffe für ihn, dass er nichts Falsches gesagt hat.« Roman verbirgt die Wut in seiner Stimme perfekt hinter seiner finsteren Fassade.

Ich muss ihn gar nicht ansehen, um zu wissen, dass er Marcus gerade breit angrinst. Denn mein Pflegebruder schaut wieder zu mir und fleht mich mit den Augen um meine Hilfe an. Wie sich das Blatt doch wenden kann.