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Hamburg-Wohldorf: In einer Villa, mitten im Wald, werden zwei fürchterlich zugerichtete Männerleichen gefunden. Schon in der Mordnacht gelingt es der Polizei, den Täter festzunehmen. Alle Beweise sprechen gegen den Journalisten Lothar Sommer, bei dem es sich ausgerechnet um Wegners Nachfolger in Veras Herzen handelt. Doch ganz so klar, wie es scheint, ist der Fall nicht. Auf der Suche nach dem richtigen Täter passiert das Unfassbare. Danach wirft Wegner selbst seine letzten Skrupel über Bord. Jede Minute zählt, denn es geht um Leben oder Tod … (Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann
Aus der Reihe Wegners erste Fälle:
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Skrupellos: Wegners letzte Fälle
Hamburg Krimi
von Thomas Herzberg
Alle Rechte vorbehalten
Fassung: 1.12
Cover: Titel: Addictive Stock / photocase.de; Hamburg Skyline: pixelliebe/stock.adobe.com
Covergestaltung (oder Umschlaggestaltung): Marius Gosch, www.ibgosch.de
Die Geschichte ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und/oder realen Handlungen sind rein zufällig. Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile ausdrücklich jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Ein großes Dankeschön geht an:
Michael Lohmann (Lektorat, Korrektorat: worttaten.de)
und an die liebe Birgit aus dem Elsass (als Testleserin)
Bisher aus der Reihe Wegners erste Fälle:
»Eisiger Tod« (Teil 1)»Feuerprobe« (Teil 2)»Blinde Wut« (Teil 3)»Auge um Auge« (Teil 4)»Das Böse« (Teil 5)»Alte Sünden« (Teil 6)»Vergeltung« (Teil 7)»Martin« (Teil 8)»Der Kiez« (Teil 9)»Die Schatzkiste« (Teil 10)Aus der Reihe Wegner & Hauser:
»Mausetot« (Teil 1)»Psycho« (Teil 2)Aus der Reihe Wegners schwerste Fälle:
»Der Hurenkiller« (Teil 1)»Der Hurenkiller – das Morden geht weiter …« (Teil 2)»Franz G. - Thriller« (Teil 3)»Blutige Rache« (Teil 4)»ErbRache« (Teil 5)»Blutiger Kiez« (Teil 6)»Mörderisches Verlangen« (Teil 7)»Tödliche Gier« (Teil 8)»Auftrag: Mord« (Teil 9)»Ruhe in Frieden« (Teil 10)Aus der Reihe Wegners letzte Fälle:
»Kaltes Herz« (Teil 1)»Skrupellos« (Teil 2)»Kaltblütig« (Teil 3)»Ende gut, alles gut!« (Teil 4)»Mord: Inklusive« (Teil 5)»Mörder gesucht« (Teil 6)»Auf Messers Schneide« (Teil 7)»Herr Müller« (Teil 8)Aus der Reihe Hannah Lambert ermittelt (Friesenkrimis):
»Ausgerechnet Sylt« (1)»Eiskaltes Sylt« (2)»Mörderisches Sylt« (3)»Stürmisches Sylt« (4)»Schneeweißes Sylt« (5)»Gieriges Sylt« (6)»Turbulentes Sylt« (7)Aus der Reihe Zwischem Mord und Ostsee:
»Nasses Grab« (Teil 1)»Grünes Grab« (Teil 2)Aus der Reihe Auftrag: Mord!:
»Der Schlitzer« (Teil 1)»Deutscher Herbst« (Teil 2)»Silvana« (Teil 3)Unter meinem Pseudonym "Thore Holmberg":
»Marthas Rache« (Schweden-Thriller)»XIII« (Thriller)Ansonsten:
»Zwischen Schutt und Asche« (Nachkriegs-Krimi/Hamburg 1946)»Zwischen Leben und Tod« (Nachkriegs-Krimi/Hamburg 1946)»Blutrausch: E.S.K.E. - Thriller« (Serienstart)»Wiener Blut: E.S.K.E. - Thriller« (Teil 2)»Ansonsten lächelt nur der Tod«
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Hamburg-Wohldorf: In einer Villa, mitten im Wald, werden zwei fürchterlich zugerichtete Männerleichen gefunden. Schon in der Mordnacht gelingt es der Polizei, den Täter festzunehmen. Alle Beweise sprechen gegen den Journalisten Lothar Sommer, bei dem es sich ausgerechnet um Wegners Nachfolger in Veras Herzen handelt. Doch ganz so klar, wie es scheint, ist der Fall nicht. Auf der Suche nach dem richtigen Täter passiert das Unfassbare. Danach wirft Wegner selbst seine letzten Skrupel über Bord. Jede Minute zählt, denn es geht um Leben oder Tod …
»Skrupellos« ist Teil 2 der neuen Serie »Wegners letzte Fälle«
(Jeder Wegner-Fall ist eine in sich abgeschlossene Geschichte. Es kann jedoch nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ...;)
Lektorat/Korrektorat: Michael Lohmann - worttaten.de
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»Können Sie mir verraten, wem es hilft, wenn ich tot bin?«
Markus Böhme ließ sich auf sein Sofa fallen und musterte seinen Besucher, der mitten im Wohnzimmer stand. Vor nicht mal zwei Minuten hatte es an der Haustür geklingelt. Böhme erwartete zwar einen Gast, aber der wollte eigentlich erst in eineinhalb Stunden eintreffen. Trotzdem gab es keinen Grund für Argwohn oder gar Vorsicht. Er hatte völlig unbekümmert die Tür geöffnet und kurz darauf – zum ersten Mal in seinem Leben übrigens – in die Mündung einer Pistole geschaut.
»Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen. Erklären Sie mir einfach, was Ihr Auftritt hier ändern soll. « Nach außen hin versuchte Markus Böhme, so cool wie möglich zu wirken. In seinem Inneren allerdings überschlugen sich die Gedanken; sie suchten nach einem Ausweg oder wenigstens einer Chance, Zeit zu schinden. Fragte sich nur, wofür?
»Halt die Klappe!«, forderte ihn der Mann barsch auf. Seitdem sie das Wohnzimmer erreicht hatten, stand der Kerl, ein pechschwarzer Riese, wie angewurzelt mitten im Raum. Er wirkte ruhig, übertrieben beherrscht geradezu. Dennoch blitzten von Zeit zu Zeit die typischen Anzeichen von Nervosität auf: fahrige Bewegungen, flatternde Augenlider und immer mehr Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn sammelten. Böhme hatte ein paar Semester Psychologie im Nebenfach studiert. Er kannte also die versteckten Signale, die jeder Mensch aussendete – ob er wollte oder nicht. Fragte sich nur, wie ihm diese Kenntnis gerade jetzt helfen sollte.
»Ich würde gerne wissen, was das hier bringen soll«, wiederholte der Hausherr seinen Protest. »Schließlich liegt die Geschichte schon bei sämtlichen Zeitungen und Fernsehsendern. Ich bin nur Chef einer Medienagentur und nicht der liebe Gott. Falls Sie glauben, dass ich die Sache in letzter Minute aufhalten könnte, dann muss ich Sie leider enttäuschen.«
»Hast du mich nicht verstanden? Du sollst dein Maul halten, sonst nichts!«
Böhme zuckte kurz zusammen, fing sich aber schnell wieder. Warum sollte er dieser Aufforderung folgen? Was hatte er denn noch zu verlieren? »Langsam verstehe ich, Sie kommen aus Afrika, richtig?«
Der Riese deutete auf sein tiefschwarzes Gesicht und verzog es gleich zu einem gequälten Grinsen. Anstelle einer Antwort holte er sein Smartphone aus der Tasche und wischte, von genervtem Stöhnen begleitet, eine Weile auf dem Display herum. Danach steckte er das Telefon kopfschüttelnd wieder ein.
»Warten Sie auf eine Nachricht?«, erkundigte sich Böhme in spöttischem Ton. »Worauf wartet man in Ihrer Branche? Auf den finalen Schießbefehl? Oder sitzt anderenorts jemand, der sich noch nicht endgültig entschieden hat? Vielleicht können wir ja …«
Völlig unvermittelt machte der Riese ein paar lange Schritte nach vorne, bis er direkt vor dem Hausherrn stand. Der wich ein Stück zurück, wurde jedoch von der Lehne seines Sofas ausgebremst. Wie ein Blitz schoss ihm eine Faust entgegen, die mit voller Wucht seine Nase traf. Auch das war eine Premiere: Der Medienmann hatte sich nie in seinem Leben geprügelt. Hatte nie etwas einstecken müssen und auch nichts ausgeteilt – zumindest nicht mit Fäusten. Sein Nasenbein war definitiv gebrochen. Durch seine Finger bahnte sich ein ganzer Schwall hellroten Blutes seinen Weg und tropfte auf sein Hemd, seine Hose und die weißen Sofapolster. Aber das hatte in diesem Moment keinerlei Bedeutung. Er machte sich weder Sorgen um die Reinigung, noch darüber, dass er womöglich ein neues Sofa brauchte. Hier ging es um etwas, das man nicht mit Geld kaufen konnte: sein nacktes Leben. Und er hatte keine Ahnung, wie er das Schlimmste – seinen augenscheinlich unausweichlichen Tod – verhindern sollte.
»Hast du’s jetzt endlich verstanden? Halt einfach dein Maul … ist besser so.« Der Mann schaute spöttisch auf sein Opfer hinab und lächelte. Von Mitleid war keine Spur zu erkennen. Dieses Lächeln drückte vielmehr eisige Kälte aus, die nur von Überheblichkeit abgerundet wurde. Der Mund des Riesen öffnete sich schon wieder, als sein Telefon ihn von weiteren – vermutlich kaum gefühlvolleren – Worten abhielt. Er lauschte in das Gerät hinein. Von Zeit zu Zeit nickte er, als könnte sein Gegenüber das sehen. Mehrfach runzelte er die Stirn, schien ehrlich erstaunt zu sein. »Das ist ganz sicher?«, fragte er zum ersten Mal und nickte dann wieder.
Markus Böhme hatte sich ein Stück aufgerichtet und den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Nase wollte einfach nicht aufhören zu bluten. Wobei ihn mehr und mehr das Gefühl beschlich, als wäre es für ihn das Beste, möglichst sein gesamtes Blut auf einmal durch die Nase herauszupusten. Denn dieser Kerl vor ihm schien zwar mit seinem Telefonat, aber noch lange nicht mit ihm fertig zu sein.
»Mein Auftraggeber möchte wissen, wo er ist.« Der schwarze Riese hatte sein Handy wieder in die Tasche zurückverfrachtet. Seine Worte klangen, als erkundigte er sich im Fundbüro nach einem verlorenen Regenschirm.
»Wo was ist? Und wer will das wissen?« Böhme schnaubte. Ein weiterer Schwall des roten Safts quoll aus seiner Nase. Ohne zu zögern, nahm er seinen Hemdsärmel und wischte damit über sein Gesicht. Was war schon ein neues Hemd im Vergleich zu einem Leben?
Der Riese hingegen hatte sich halb weggedreht. Er schaute zum Fernseher, auf dem die Sieben-Uhr-Nachrichten anfingen. Der Sprecher berichtete von einem Bombenanschlag in Jerusalem. Hunderteinundzwanzig Tote, weil es ausgerechnet einen Marktplatz mitten im Zentrum erwischt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben dachte Markus Böhme darüber nach, wie gleichgültig man mit Nachrichten dieser Art umging. Wenn in Paris, Istanbul, Brüssel oder noch näher dran eine Bombe explodierte, dann war alles in heller Aufregung. Wochenlang! Nach einer vergleichbaren Hiobsbotschaft aus Ankara, Beirut oder Bagdad fragte man sich kurz darauf nur, wie morgen wohl das Wetter würde. Danach plagten einen bestenfalls Gedanken, ob man mit der dünnen oder doch lieber mit der dicken Jacke das Haus verlassen sollte.
Der Medienmann lachte in sich hinein. Vielleicht entwickelte man solche Sensibilitäten erst, wenn man höchstselbst dem Tod ins Angesicht blickte.
»Wo hast du ihn versteckt?«, wiederholte der Riese seine Frage. Mittlerweile hatte er sich wieder gänzlich auf sein Opfer fokussiert. Seine eiskalten Augen bohrten sich regelrecht in Böhmes Schädel.
»Tut mir leid … ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Eine weitere Faust, dieses Mal die linke, raste durch die Luft. Ein Wunder, dass es keinen lauten Knall beim Durchbrechen der Schallmauer gab. Dafür ertönte ein weiteres Krachen, das von Böhmes rechtem Jochbein stammte. Sein Auge brauchte keine zehn Sekunden, um vollständig zuzuschwellen. »Wo?« Die Fragen des Riesen wurden immer kürzer, der Ton zunehmend ungeduldiger.
»Wo und was?«, spie Böhme an Blut, Rotz und Schmerzen vorbei. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen!«
Anstelle einer Antwort spürte der Medienmann eine Hand – nein! – eine riesige Pranke, die sich wie ein Schraubstock um seinen Hals legte. Sein Kehlkopf knackte unter der Umklammerung und es raubte ihm augenblicklich sämtliche Luft. Markus Böhme hatte sein unversehrtes Auge längst geschlossen. Trotzdem war ersich sicher, dass alles rundherum schwarz geblieben wäre, selbst wenn er es geöffnet hätte. Tausend Bilder auf einmal schossen durch seinen Kopf, bevor ihn der finstere Schlund vollständig verschluckte. Seine letzten Gedanken galten Natascha, seiner ersten Liebe, damals im Kindergarten. Seine Eltern hatten ihm seinerzeit weiteren Kontakt mit dem Mädchen untersagt, weil sie die Tochter russischer Flüchtlinge war. Verrückt! Das Leben war schon komisch – der Tod scheinbar noch komischer.
***
»Sie waren seit zwei Wochen nicht mehr im Dienst, Cheffe. Können Sie mir vielleicht sagen, was los ist?«
Detlef Busch hatte dutzende Male an Wegners Wohnungstür geklingelt, bevor der endlich aufmachte. Danach war der Hauptkommissar ohne ein Wort ins Wohnzimmer zurückgeschlurft und wieder aufs Sofa gefallen. Busch stand noch immer mitten im Raum und musterte das Chaos rundherum. »Was ist los?«, fragte er ein weiteres Mal und ließ sich vorsichtig im Sessel nieder, nachdem er einen Haufen Unrat und Schmutzwäsche vom Sitzpolster entfernt hatte. »Irgendwas ist doch. Keine Angst … Sie können mir alles erzählen.«
Statt zu antworten, drehte sich Wegner auf die Seite. Ein paar Sekunden später rollte er sich allerdings wieder auf den Rücken zurück. »Sie hat ihn Papa genannt.« Ein einzelner Satz. Fünf Worte, die augenscheinlich schon seine gesamte Kraft verbraucht hatten.
Busch hingegen zögerte kurz. Er brauchte einen Moment, bis sein Verstand ihm ein erstes Ergebnis liefern wollte. »Reden Sie von Lennie?« Er schluckte schwer und schnaufte. »Nennt Ihre kleine Tochter einen anderen Papa?«
Wegner nickte träge und schaute Busch jetzt zum ersten Mal richtig an. Seine Miene wirkte wie versteinert, wobei das nicht der Fall sein konnte, denn seine Lippen zitterten. »Das ist ein Gefühl, als ob einem das Herz rausgerissen wird.«
Mittlerweile wusste Busch, wann man im Beisein seines ehemaligen Chefs lieber den Mund hielt. Deshalb sah er ihn nur mitleidvoll an und fiel ins Kopfschütteln mit ein.
»Ich gönne Vera und meiner Lütten alles Glück der Welt«, fuhr Wegner schnaufend fort. »Aber ich hätte nie gedacht, dass Loslassen so schmerzhaft sein kann.«
»Wollen Sie darüber reden?«
»Was gibt es denn da noch zu reden?«, fauchte Wegner wütend zurück. »Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich geschieden, und …«
»Hat Vera immer noch vor, mit ihrem neuen …« Busch zögerte einen kurzen Moment und zog den Kopf ein bisschen ein, als er fortfuhr. »Also, will sie mit ihrem neuen Freund und Lennie immer noch nach Spanien übersiedeln?«
»Ich hab keine Ahnung!« Wegner griff nach einer Zigarettenschachtel und holte den letzten Glimmstängel heraus. Das Feuerzeug lag neben einem überquellenden Aschenbecher, der von zwei Whiskyflaschen flankiert wurde. »Außerdem will ich es gar nicht wissen. Sonst stehe ich dem Glück der beiden irgendwann im Weg.«
Detlef Busch erhob sich träge. »Ich räum erst mal ein bisschen auf, Cheffe.« Er hatte schon die beiden leeren Flaschen in der einen und den übervollen Aschenbecher in der anderen Hand. Vorsichtig balancierte er damit, um nicht die Hälfte auf dem Weg zu verlieren.
»Halt! In einer der Buddeln ist noch ein kleiner Schluck drin«, protestierte Wegner und gestikulierte aufgeregt.
»Über den wird sich der Abfluss freuen!«
»Sind Sie verrückt geworden, Busch?« Wegner deutete auf seine Dienstwaffe, die mitten auf dem Wohnzimmertisch lag. »Ich hab schon Leute für weniger getötet«, brummte er und warf sich böse lachend in seine Sofakissen zurück.
»Tun Sie sich keinen Zwang an, Cheffe!« Busch war bereits auf dem Weg in Richtung Küche. »Schießen Sie mir am besten in den Rücken, dann sehe ich die Kugel wenigstens nicht kommen.«
Seine Sinne kehrten, einer nach dem anderen, widerwillig zurück. Schon ein seltsames Gefühl, dachte Markus Böhme, denn eigentlich hatte er doch bereits mit seinem Leben abgeschlossen. Als Erstes erwachten seine Ohren. Er hörte es krachen und scheppern. Irgendwann konnte er sogar die Richtung lokalisieren, aus der der Lärm kam. Sein Besucher hatte offensichtlich damit begonnen, sein Büro in Kleinholz zu verwandeln. Irgendwie logisch! Wo sonst würde jemand etwas verstecken, das in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Arbeit stand?
Mit aller gebührenden Vorsicht versuchte Böhme, sein unversehrtes Auge zu öffnen. Hinter dem anderen Lid pochte es, als wäre der Augapfel am liebsten herausgesprungen. Im Wohnzimmer war es fast dunkel. Der Kerl hatte sämtliche Lampen gelöscht. Einzige Lichtquelle war Böhmes Laptop, dessen Display sich erst nach zwei Stunden automatisch abschaltete. Vielleicht versprach sich sein unerwünschter Besucher von der Dunkelheit zusätzlichen Schutz. Wobei hier – am nördlichsten Zipfel Hamburgs, mitten im Wohldorfer Wald – vermutlich nicht einmal eine gütige Laune des Schicksals reichte, um für unverhoffte Hilfe zu sorgen. Seitdem sich Martina die Kinder, den größten Teil ihrer gemeinsamen Ersparnisse und sogar den Hund geschnappt hatte, glich dieses Haus mitten im Wald einem Friedhof. Wenn er spät abends aus dem Büro nach Hause kam, wartete keine Familie mehr auf ihn. Stattdessen begrüßten ihn nur Tiefkühlpizza, Fernsehen und munter wachsende Tristesse. Die Arbeit hatte ihm immer Spaß gemacht, solange er wusste, wofür er sich den Hintern aufriss. Aber nachdem seine Frau und der Rest seiner Familie das Weite gesucht hatten, war von seinem Leben nichts mehr übrig. Letztendlich würde dieser Kerl, der nebenan noch immer lautstark in seinem Büro wütete, nur eine Sache beenden, die längst zu Ende war.
Aber bedanken würde er sich trotzdem nicht!
Wie es wohl mit Natascha, seiner Kindergartenliebe, gelaufen wäre?
Irgendwann hörte Markus Böhme die Geräusche von Gummisohlen, die sich rasant über den Fliesenboden näherten. Dann beugte sich der Riese über ihn und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass sein Opfer wieder bei Bewusstsein war. »Gut geschlafen?«, erkundigte sich der Kerl ohne eine Spur von Gefühl oder ehrlichem Interesse.
»Sie können mein ganzes Haus auf den Kopf stellen – was Sie suchen, ist nicht hier.« Böhme hatte nicht vor zu kuschen. Das Ende dieser Vorstellung stand ohnehin fest. Darüber war er sich schon klar geworden, nachdem die zweite Faust sein Gesicht getroffen hatte. Dieser Typ war nicht gekommen, um ihn einzuschüchtern, die Wahrheit aus ihm herauszupressen oder ihn einfach nur zu verprügeln. Hier ging es nicht darum, einen Denkzettel zu hinterlassen. Der Riese hatte ganz klare Instruktionen. Und die sahen zweifellos vor, dass Markus Böhme den kommenden Sonnenaufgang nicht mehr erleben sollte. Als letztes Problem blieb jedoch, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, wovon der Riese überhaupt redete. Wonach suchte der Kerl? Und wenn er es gefunden hätte, was würde dann passieren? Trotzdem schien es sinnvoll zu sein, die Sache hinauszuzögern. Schließlich dürfte es nur noch ein paar Minuten dauern, bis sein geplanter Besuch eintreffen würde. Sollte der den Braten riechen, könnte er sich vielleicht davonmachen und mit Hilfe zurückkehren. Körperlich gewachsen wäre der Wicht dem Riesen keinesfalls.
Trübe Aussichten! Aber warum sollte sich der Medienmann Vorwürfe machen? Gut – er hatte in den vergangenen Monaten hoch gepokert, das war klar. Schon in den nächsten Tagen würden spektakuläre Nachrichten die Schlagzeilen füllen. Danach müssten einige Manager ihre Hüte nehmen. Auch zahlreiche Politiker würden abdanken, um so schnell wie möglich aus der Schusslinie zu kommen. Manch einer dürfte sogar den Freitod vorziehen, als letzte Ausflucht vor der unausweichlichen Blamage. Aber so bitter wie er selbst müssten vermutlich nur wenige lernen, dass das Streben nach Wahrheit und Aufklärung eigentlich niemandem half – ihm auf jeden Fall nicht mehr.
Der Riese knipste eine Stehlampe neben dem Sofa an und ließ sich ganz entspannt in die Polster fallen. »Wenn es nicht hier ist, wo ist es dann?«, fragte er in seiner gewohnt knappen Art und riss damit seinen unfreiwilligen Gastgeber aus den Gedanken.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Böhme. Er versuchte noch, ein entschuldigendes Lächeln hinterherzuschicken, scheiterte allerdings kläglich an den Schmerzen. »Und übrigens: Selbst wenn ich es wüsste, würde es Ihnen ohnehin nicht helfen. Sie sind zu spät dran – viel zu spät!«
Der Riese wollte zuerst noch etwas sagen, griff dann jedoch, ohne lange zu überlegen, in seine Manteltasche. Seine Hand kehrte mit einer breiten Rolle Klebeband zurück. Nachdem er einen langen Streifen abgerissen hatte, kniete er sich auf das Sofa hinunter und verschloss damit Böhmes Mund. Routiniert, als würde er den ganzen Tag nichts anderes tun. Und bei dieser Vorsichtsmaßnahme ging es ihm vermutlich nicht um eventuelle Zuhörer, sondern vielmehr darum, sich selbst den bevorstehenden Lärm zu ersparen. »Das wird wehtun«, zischte er und verzog den Mund zu einem Grinsen. »Willst du vielleicht doch lieber reden?«
Markus Böhme schüttelte entschlossen den Kopf und zuckte dazu mit den Schultern. Er war an Händen und Füßen gefesselt, seine Beweglichkeit also erheblich eingeschränkt.
»Wenn du es weißt, dann wirst du es mir verraten.« Der Riese griff in seine andere Manteltasche und holte ein kleines Fläschchen daraus hervor. Als er es gegen das Licht der Stehlampe hielt, konnte Böhme einen Aufkleber darauf erkennen. Ein gelbes Dreieck mit schwarzer Schrift. In diesem Moment erinnerte er sich an die Schule und den Chemieunterricht. »Ätzend!«, hatte der Chemielehrer sie gewarnt und damit das seltsame Symbol erklärt. »Nur ein kleiner Tropfen von der Säure, und ihr habt ein Loch in der Hand. Also Vorsicht!«
Pauker! Jahrelang hatten sie über ihre Lehrer geschimpft und geflucht. Und heute? … verging kaum ein Tag, an dem man sich nicht die unbeschwerten Zeiten von damals zurückwünschte.
***
»Ich kann Sie ja verstehen, Cheffe. Aber es muss doch irgendwie weitergehen.« Detlef Busch hypnotisierte Wegners Dienstwaffe, die noch immer mitten auf dem Wohnzimmertisch lag. Er zeigte darauf und schüttelte wortlos den Kopf.
»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich mich umbringen will, oder?«
»Können Sie mir dann vielleicht verraten, warum das Ding dort liegt?«
Wegner deutete zum Fußboden. »Unter mir wohnt ein junges Ehepaar.«
»Bei mir wohnt sogar eines direkt gegenüber auf dem Flur. Was soll das bedeuten, Cheffe?«
»Der Kerl wirkt nach außen wie der freundliche Typ von nebenan …«
»Und? Ist er Ihnen blöde gekommen oder warum die Waffe?«
»Er schlägt sie!«
»Wer schlägt wen?« Busch schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie meinen, der Typ verprügelt seine Frau?«
»Genau, Sie Schlauberger!« Wegner fiel ins Kopfschütteln mit ein. »Fast jeden Abend. Und solche Sachen muss ich nicht sehen, da reichen schon meine Ohren.«
»Inwiefern?«
»Erst brüllen sie sich eine Weile gegenseitig an, dann folgt ein lautes Klatschen, manchmal gleich mehrere Male.«
»Und dann?«
»Völlige Stille! Stundenlang …«
Busch ließ sich wieder in den Sessel fallen und deutete erneut auf die Waffe. »Aber Sie sind hoffentlich nicht da runter und haben dem Kerl …?«
»Doch, hab ich.«
»Wann?«
»Heute.«
»Mist! Das riecht nach Ärger, Cheffe.«
Markus Böhme musterte den Riesen, der noch immer neben ihm auf dem Sofa saß. Der Kerl betrachtete das Fläschchen in seiner Hand und tätschelte es liebevoll, als würde er angenehme Erinnerungen damit verbinden. Wenn es überhaupt noch einen Ausweg gab, dann musste Böhme schnell handeln. Sofort! Seine Kräfte schwanden ebenso rasant wie seine Zuversicht. Es wurde Zeit, alles auf eine Karte zu setzen!
Als der Riese kurz wegschaute, versuchte sich Böhme – trotz der Fesseln – auf die Seite zu drehen. Er rieb seinen Kopf immer wieder am Sofakissen, um den Klebestreifen auf seinem Mund loszuwerden.
»Willst du mir doch etwas sagen?« Sein Peiniger hatte ihn erneut anvisiert und lachte. Trotzdem schien er zu überlegen. »Du kriegst wohl langsam Schiss ... kann ich mir vorstellen.«
Im nächsten Moment war Böhmes Mund frei. Es schmerzte und seine Lippen brannten wie Feuer, dennoch fühlte er sich, als hätte ihn jemand vom Galgen abgeschnitten. »Vielleicht kann ich Ihnen doch etwas sagen!«, stammelte er keuchend.
»Und das wäre?« Der Kerl hatte das Fläschchen auf dem Wohnzimmertisch abgestellt. Böhme fiel ein weiterer zentnerschwerer Stein vom Herzen.
»Es müsste jeden Moment einer kommen, der hoffentlich mehr weiß als ich.«
»Wer soll das denn sein?« Der Riese verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Aber irgendetwas schienen die letzten Worte verändert zu haben. Irgendwo ganz weit hinten, zwischen Zweifeln und Gleichgültigkeit, blitzte ein Hoffnungsschimmer auf. »Red schon! Wer ist der Typ und was weiß er?«
Bevor Böhme antworten konnte, klingelte es an der Haustür. Der Riese warf ihm einen Blick zu, der ausreichte, um sich besser auf Schweigen zu beschränken.
***
»Wir müssen Sie irgendwie aus diesem Loch herausbekommen.« Busch hatte mittlerweile den Geschirrspüler beladen, den Müll entsorgt und sogar den Staubsauger geschwungen. Schweißgebadet hockte er wieder auf dem Sessel und versuchte, erneut Wegner aufzumuntern. »Cheffe … das Leben geht weiter!«
»Welches Leben?«
Busch schnaufte geräuschvoll, um damit seinen Unmut zu verkünden. Zeit für härtere Geschütze: »Darf ich Sie vielleicht daran erinnern, dass Sie fast fünfzehn Jahre lang die Hamburger Mordkommission geleitet haben?«
»Und darf ich Sie im Gegenzug daran erinnern, dass man mich mit Schimpf und Schande davongejagt hat? Erklären Sie mir mal, was die fünfzehn Jahre in dem Sauhaufen heute noch wert sind.«
»Mein Gott, Sie sind doch nicht der Einzige, der so was erlebt?«
»Was wollen Sie denn damit sagen?« Wegner lachte und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder was?«
»Nein! Ich will damit sagen, dass es andere auch geschafft haben.«
»Was geschafft haben?«
»Na, nach solch einem Rückschlag wieder auf die Beine zu kommen. Ich rede von Lebensfreude, Weitermachen … nennen Sie es von mir aus, wie Sie wollen.«
Wegner lachte und richtete sich ein Stück auf. »Wissen Sie was … Sie sind wirklich einmalig.«
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Busch misstrauisch.
»Ich meine Ihren grenzenlosen Optimismus. Dazu Ihre Naivität und …«
»Fangen Sie jetzt nicht wieder von Geld an, Cheffe! Dann werde ich zum ersten Mal richtig wütend.«
»Aber auch nur, weil Sie mit der Wahrheit nicht umgehen können.« Wegner lachte und schlug sich auf die Schenkel. »Sie sind gestopft, Busch! Endlos gestopft …«
»Jaja … und mein Job bei der Polizei ist nur ein Hobby. Ich weiß.« Der junge Kommissar atmete schwer und holte zum letzten Streich aus: »Ich war gestern übrigens im Dezernat Nichtstun …«
»Und?«
»Kollege Grimm und Rex sind wohlauf, falls es Sie interessiert.« Busch lachte kurz auf. »Ich weiß nicht, wer von beiden weniger tut. Auf jeden Fall lassen es sich die zwei gutgehen und schnarchen um die Wette.«
Wegner nickte nur und schaute sich suchend um.
»Was ist? Suchen Sie was, Cheffe?«
»Zigaretten!«
»Sie sollten lieber mit der Qualmerei aufhören. Das bekommt Ihnen nicht.«
»Ja, Mama!«
»Ich habe übrigens den Porsche verkauft«, sagte Busch und hob schon abwehrend die Hände. »Das Teil stand nur noch rum. Letzte Woche hat einer in der Tiefgarage die Spiegel abgebrochen.«
»Haben Sie das Handschuhfach leer gemacht?«
»Glaube schon … warum?«
»Da war noch ’ne halbe Schachtel Kippen drin, Sie Torfkopp.«
***