Skyborn – Die Macht des Himmelssteins - Jessica Khoury - E-Book

Skyborn – Die Macht des Himmelssteins E-Book

Jessica Khoury

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Beschreibung

Rückkehr in die Clanreiche »Fliegt mutig und kühn. Und hütet euch vor den Himmeln.« In den Clan-Reichen tragen alle Menschen Flügel, doch gleich behandelt werden sie deshalb noch lange nicht. Ellie vom Spatzen-Clan und Nox, der Krähenjunge, sind mit ihren Gefährten auf der Flucht: vor ihrem eigenen König, der den Himmelsstein, den Nox gestohlen hat, in seine Hände bekommen will. Um ihn zu zerstören. Dabei hat der Stein magische Fähigkeiten und kann die Flügelfäule heilen, an der viele Bewohner der Clan-Reiche erkrankt sind. Und dabei kommt Unglaubliches aus Nox' Vergangenheit ans Licht, was ihn für den König noch viel gefährlicher macht … - Eine vielschichtige Welt, mutige Protagonisten und ein fesselndes Abenteuer - Warmherzig und spannend: Ellie und Nox haben große Herzen und unerschütterlichen Kampfgeist »Gewitzte und mutige Figuren … eine Fülle an aufregenden filmischen Szenen … ein Genuss für jeden Leser!« – Publishers Weekly

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Über das Buch

»Fliegt mutig und kühn. Und hütet euch vor den Himmeln.«

 

In den Clan-Reichen tragen alle Menschen Flügel, doch gleich behandelt werden sie deshalb noch lange nicht. Ellie vom Spatzen-Clan und Nox, der Krähenjunge, sind mit ihren Gefährten auf der Flucht vor ihrem eigenen König, der den Himmelsstein, den Nox gestohlen hat, in seine Hände bekommen will. Um ihn zu zerstören. Dabei hat der Stein magische Fähigkeiten und kann eine bedrohliche Krankheit heilen. Doch die Chance, den Stein zu retten, wird immer kleiner, als plötzlich Unglaubliches aus Nox’ Vergangenheit ans Licht kommt, was ihn für den König noch viel gefährlicher macht …

 

Die grandiose Fortsetzung der Skyborn-Saga

Jessica Khoury

Skyborn

Die Macht des HimmelssteinsBand 2

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Hansen-Schmidt

Für Nancy, meine geliebte Großmutter und eine große Vogelfreundin, so wie ich

1. Corion

Als Kronprinz der Clan-Reiche war Corion an unregelmäßige Schlafenszeiten gewöhnt. Immer wieder kam es vor, dass er von seinem Vater König Garion noch vor dem Morgengrauen gerufen wurde, um die Wachablösung der Soldaten zu kontrollieren. Und manchmal musste er bis spät in der Nacht aufbleiben, weil sein Vater ihm die Namen sämtlicher Adler-Vorfahren einbläuen wollte, die je auf dem Thron von Aeries gesessen hatten. Als Kronprinz musste man stets auf alle möglichen seltsamen Prüfungen, Kampfübungen und Aufgaben gefasst sein.

Aber dass er nachts von einer Klinge an seiner Kehle geweckt wurde, war etwas ganz Neues.

Stocksteif lag Corion im Bett und wartete darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Suchend huschte sein Blick zur Tür und durch das große Zimmer, aber von seiner Leibgarde war weit und breit nichts zu sehen. Da war nur der Schatten des Mannes, der sich über ihn beugte. Seine Augen waren hinter einer Seidenmaske verborgen und die schwarzen Umrisse seiner Flügel verdeckten das wenige Mondlicht, das durch das vergitterte Fenster drang. Sie waren zu voller Länge ausgebreitet und ihre Spannweite war größer als Corions Himmelbett.

»Guten Abend, mein süßes Prinzlein«, zischte der Schatten. Seine Zähne schimmerten bleich, als sich die Lippen zu einem grausamen Grinsen teilten. »Was für ein hübsches kleines Ding du doch bist! Wie es sich wohl anfühlt, so verwöhnt zu werden, dass man sich nicht mal selbst die Stiefel zuschnüren kann?«

Jeder Muskel in Corions Körper verkrampfte sich und er murmelte: »Ich kann meine Stiefel selbst schnüren.«

War der Mann ein Mörder? Ein Entführer? Wenn ja, war er ein Narr. Selbst wenn er Corion die Kehle durchschnitt, würde er niemals aus dem Palast entkommen, ohne dass ein Dutzend Goldflügel-Ritter ihre Schwerter in seinen Bauch bohrten.

Aber wie war der Mann hier hereingekommen? Wie hatte er sich an den zwanzig Wachsoldaten vorbeischleichen können, die zwischen Corions Zimmer und dem nächstgelegenen Palasttor postiert waren?

»Was wollt Ihr?«, flüsterte Corion. »Geld? Nehmt die Klinge weg, dann können wir reden.«

Der Schatten kicherte nur leise.

Da meldete sich eine tiefe Stimme von der Tür. »Er ist hier, um mich zu sehen, Corion.«

Der Prinz schluckte, wodurch sich seine Kehle noch fester gegen die Klinge drückte. »Vater.«

»Leg das Messer weg, Jäger«, befahl König Garion und trat in den Raum. Er hielt eine dünne Kerze in der Hand, die gerade hell genug schien, um sein Gesicht zu beleuchten. »Ich habe deine Botschaft verstanden.«

»Tatsächlich?«, fragte der Schatten. »Vor langer Zeit sagte ich Euch, ich könnte jeden Eurer Gegner mit Leichtigkeit erledigen, Eure Majestät. Trotzdem habt ihr den armen Jäger völlig vergessen und mich jahrelang in Langeweile dahinvegetieren lassen. Ich möchte Arbeit.«

»Warum sonst habe ich dich aus deinem Netz zu mir rufen lassen, du Spinne?« Verachtung lag in der Stimme des Königs. »Und jetzt weg von meinem Sohn oder ich zerquetsche dich mit meinem Stiefel, wie ich es schon vor Jahren hätte tun sollen.«

Mit einem Fauchen zog der Fremde seinen Dolch zurück. Corion holte zitternd Luft und setzte sich auf.

»Was geht hier vor?«, wollte er wissen und musterte den hochgewachsenen Mann, der immer noch drohend vor seinem Bett aufragte. Wer war dieser Unbekannte, der mit dem König der Clan-Reiche sprach, als stünde er weit über ihm? Eine derartige Unverschämtheit bestrafte Garion gewöhnlich mit einer Woche Pranger – oder noch Schlimmerem.

Doch sein Vater kam lediglich ein paar Schritte näher und stellte die Kerze auf einen Eisentisch. Ihr Lichtkegel schien zu schrumpfen, sodass das Gesicht des Fremden weiter verborgen blieb.

»Dieser Mann wird der Jäger genannt«, erklärte König Garion seinem Sohn, ohne dabei auch nur eine Sekunde die Augen von dem Eindringling abzuwenden. »Und er ist hier, weil ich ihn gerufen habe. Das ganze Theater hätte er sich sparen können.«

»Wie lautet Euer Auftrag?«, sagte der Jäger. »Wen soll ich für Euch jagen? Wer stört den Frieden Eures Reichs? Es ist schon so lange her, König, zu lange. Ihr habt mir Arbeit versprochen, so viel es mir beliebt. Aber mir ist langweilig. Ihr habt Euren Jäger sträflich vernachlässigt. Meine Klingen haben Durst!«

»Ja, ja.« Garion wedelte abwehrend mit der Hand. »Widerliche Kreatur, du sollst deine Jagd bekommen.«

»Er ist der Meuchelmörder«, flüsterte Corion und betrachtete den Jäger mit neu erwachtem Interesse. »Oder, Vater? Jener geheime Attentäter, von dem du immer sagst, du hättest ihn noch in der Hinterhand, falls eine Stunde höchster Not über uns kommen sollte?«

»Niemand hat mich in seiner Hand!«, protestierte der Jäger.

»Falsch«, blaffte Garion. »Du gehörst mir mit Haut und Haaren. Oder hast du vergessen, was du mir an dem Tag geschworen hast, an dem ich dein Leben verschonte?« Der König wandte sich an Corion. Die goldenen Federn seiner Flügel schimmerten im Kerzenlicht. »Vor fast einem Jahrzehnt hat dieser Unhold ein Haus in Brand gesetzt – nur um sich an den Flammen zu ergötzen. Er ist kein Mensch, sondern ein Killer, der sich vom Tod ernährt wie die Biene von der Blume.«

»Und du hast ihn dafür nicht verurteilen lassen?«, rief Corion erschrocken.

Der Jäger kicherte.

»Was die Öffentlichkeit betrifft, habe ich das durchaus.« Garion grinste selbstgefällig. »Nimm das als Lehre, mein Sohn: Verschwende niemals die Talente eines bissigen Hundes. Binde ihn an, bringe ihm Gehorsam bei, und der Tag wird kommen, an dem er dir nützlich sein wird. Mein Hund hier ist eine Geheimwaffe, er kann Aufgaben erledigen, zu denen selbst meine Goldflügel nicht imstande sind – oder bei denen sie zumindest nicht gesehen werden sollten.«

»Genug geschwatzt!«, bellte der Jäger. »Wie lautet Euer Auftrag? Ist es ein Lord? Eine ganze Garnison voller Rebellen?«

»Ein Junge«, sagte der König. »Ich will einen Jungen, der auf den Namen Nox Hatcher hört, obwohl er früher Tannox Corvain gerufen wurde. Bislang ist es meinen Rittern nicht gelungen, ihn zu mir zu bringen. Wir vermuten, dass er in die Berge geflohen ist.«

Corion unterdrückte ein Seufzen.

Schon wieder.

Viele Wochen waren seit dem Großen Himmelsrennen vergangen, das als Feier und Festmahl begonnen hatte und damit endete, dass sein Vater ein ganzes Stadtviertel niederbrennen ließ, um einen berüchtigten Dieb aus dem Krähen-Clan zu fangen. Seitdem war sein Vater wie besessen auf der Suche nach dem Jungen. Jeden Tag forderte er einen Bericht von seinen Rittern und jeden Tag brachten sie ihm die gleiche Nachricht: Von der Krähe namens Nox Hatcher war noch nicht mal eine Feder zu finden. Gleiches galt auch für die drei Kinder, mit denen er auf seiner Flucht aus Thelantis gesehen worden war: ein Schecke mit einem braunen und einem weißen Flügel, ein Falkenmädchen und ein Spatz.

An das Spatzenmädchen konnte Corion sich gut erinnern, weil er sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Ellie Meadows. Wahrhaftig ein bemerkenswertes Mädchen. Sie hatte beim Großen Himmelsrennen gewonnen, was noch keiner aus einem der niederen Clans je versucht, geschweige denn geschafft hatte. Und dann hatte sie sich außerdem als Diebin entpuppt, die eine Festung ausgeraubt und die Soldaten des Königs angegriffen hatte. Und nun war sie zusammen mit der Krähe und zwei weiteren Verbrechern auf der Flucht und die gesamte Streitmacht der Goldflügel-Ritter war hinter ihnen her.

Und dieser Jäger offenbar auch.

Corin erschauderte. Er kannte ihn zwar erst ein paar Minuten, aber einen so furchterregenden Mann hatte er noch nie getroffen. Er rieb sich die Kehle und musterte den Dolch. Hoffentlich war die Leine, von der sein Vater gesprochen hatte, wirklich so stabil, wie er behauptete. Corion jedenfalls würde nach diesem Erlebnis in nächster Zeit nicht mehr ruhig schlafen können.

»Ein Junge«, höhnte der Jäger. »Hier stehe ich vor euch und habe mehr Leben auf dem Gewissen als alle Eure erbärmlichen Ritter zusammen, und Ihr wollt, dass ich ein Kind jage?«

»So ist es«, erwiderte der König. »Beseitige seine Helfer und bringe ihn zu mir, vorzugsweise lebend, aber wenn das nicht möglich sein sollte … Nun, das Entscheidende ist, dass ich ihn aus dem Weg haben will. Und zwar für immer.«

Der Jäger legte den Kopf schief, als würde er nachdenken, ob er diesen Auftrag tatsächlich annehmen sollte, anstatt mit einem »Jawoll, Eure Majestät« strammzustehen, wie es jeder vernünftige Untertan tun würde.

Schließlich nickte er. »Also gut. Ich willige in dieses Kinderspiel ein, und sei es nur, um meine Flügel ein wenig zu bewegen. Danach aber, oh mächtiger und edler König, verlange ich einen richtigen Auftrag.«

»Du nimmst, was ich dir gebe, und bist gefälligst dankbar dafür«, knurrte Garion. »Und nun raus aus meinem Palast. Du verpestest mit deinem Gestank die Luft.«

Fauchend faltete der Jäger seine Flügel zusammen und wich zurück. Corion beobachtete seinen Rückzug verwirrt – die Tür befand sich auf der anderen Seite des Zimmers.

Doch der Mann schob sich rückwärts in das winzige Fenster und faltete sich so geschmeidig durch das Eisengitter, als wären seine Knochen aus Papier. Er ließ sich in die nächtliche Dunkelheit fallen, nur um einen Herzschlag später auf breiten, lautlosen Flügeln davonzugleiten. Geier-Clan, dachte Corion, der das Federkleid des Mannes endlich erkannt hatte.

»Wie …?« Er starrte auf das Fenster. Es war gebaut worden, um Eindringlinge fernzuhalten, und die schmalen Öffnungen zwischen den Stäben waren kaum groß genug für eine Katze, ganz zu schweigen von einem ausgewachsenen Mann.

»Ich glaube, er hat als Schlangenmensch beim Zirkus gearbeitet, bevor er zum Auftragsmörder wurde«, bemerkte der König und rieb sein unrasiertes Kinn.

»Er hat mir ein Messer an die Kehle gehalten!«, rief Corion. Er schwang sich aus dem Bett und trat vor seinen Vater. Seine Hände zitterten immer noch. »Und du hast so getan, als wäre das nicht weiter schlimm!«

»Ach was.« Garion winkte ab. »Er hätte es niemals gewagt, dir etwas anzutun. Er weiß, dass ich die Zügel in der Hand habe. Ein Wort von mir und er hat sein Leben verwirkt.«

Corion war nicht wirklich besänftigt.

»Jedenfalls«, fuhr Garion zufrieden fort, »hat sich mein kleines Problem jetzt erledigt. In ein paar Tagen gehört der Krähenjunge mir.«

Während der König seine Kerze nahm und das Zimmer verließ, dachte Corion daran, dass sein Vater seine Ritter mit den gleichen Worten losgeschickt hatte, um den Krähenjungen und seine Freunde zu finden.

In einer Woche wird er mir gehören!

Doch seitdem war schon fast ein Monat vergangen.

Wer auch immer diese Krähe war, er schien kein gewöhnlicher Junge zu sein. Corion konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals ein Verbrecher den Goldflügeln so lange entkommen war.

Aber dann dachte er an die Entschlossenheit in den Augen des Spatzenmädchens und seine Verwunderung verflog.

Wenn sie in die Sache verwickelt war, stand dem Jäger die Jagd seines Lebens bevor – so viel war sicher.

2. Ellie

Tschack!

»Aua!«, jaulte Ellie. Sie wich stolpernd zurück und landete unsanft auf ihrem Hintern. Als sie sich an die Stirn fasste, spürte sie schon die Beule, die dort anschwoll. »Du hast geschummelt!«

Auf der anderen Seite des gepflasterten Hofs stand ein hochgewachsener Junge in einem blauen Hemd und drehte lachend einen Stock in den Händen. Genau wie Ellies Stab hatte auch dieser zwei Haken an jedem Ende, einen großen und einen kleinen. Die dunklen Haare des Jungen waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und seine Flügel schimmerten in dem leuchtenden Weiß des Schwanen-Clans. »Nein, du hast schon wieder über die beste Verteidigung nachgedacht. Wenn du das tust, bist du immer zu langsam.«

Mit einem frustrierten Schnauben ergriff Ellie die Hand, die er ihr entgegenstreckte, und sprang wieder auf. Sie schüttelte ihre rotbraunen Flügel, um Staub und Blätter loszuwerden.

»Noch mal«, drängte sie.

»Wir trainieren schon den ganzen Vormittag«, seufzte der Junge. »Willst du nicht mal eine Pause machen?«

Ein kleiner, sommersprossiger Junge, der ein Stück entfernt auf einer Bärenstatue saß, lachte bei diesen Worten heiser. Seine Flügel, einer braun und der andere weiß, waren ausgebreitet, und aus seinem Hemdkragen spähte ein kleines, felliges Gesicht mit zwei weißen Hörnern hervor. »Pause? Ellie Meadows? Das Wort kennt sie gar nicht!«

»Dich hat keiner gefragt, Twig!«, rief Ellie. Sie pustete sich eine Haarsträhne aus den Augen, senkte den Hakenstock wie ein Schwert und nahm wieder ihre Verteidigungshaltung ein. »Komm schon, Charlo. Probieren wir es noch mal. Diesmal werde ich bereit sein.«

»Ich bin müde«, meinte Charlo. »Und hungrig!«

Mit diesen Worten setzte er sich hin, zog mit dem Haken seines Stocks einen Beutel zu sich her und holte Haferbrot, Ziegenkäse und Lavendelhonig heraus. Ellie rollte nur mit den Augen und übte alleine weiter, indem sie den Hakenstock durch die Luft schwingen ließ.

Das kleine Dörfchen Cloudstone lag so gut versteckt in den Bergen, dass Ellie immer noch Schwierigkeiten hatte, wieder zurückzufinden, wenn sie ihren Morgenflug machte. Ihre Freunde und sie hatten großes Glück gehabt, dass sie die Siedlung entdeckt hatten, als sie auf der Flucht vor den Goldflügel-Rittern gewesen waren. Später erzählten ihnen die Bewohner, dass normalerweise Wolken zwischen den Berghängen trieben und Cloudstone vor Blicken schützten. Aber in jener Nacht war der Himmel klar gewesen und die Lichter in den Fenstern hatten Ellies kleiner Schar den Weg zu diesem Zufluchtsort gewiesen.

Sie hatten nicht gewusst, was sie bei ihrer Landung vorfinden würden, und Ellie war anfangs zutiefst beunruhigt gewesen, als sie feststellten, dass fast alle Bewohner Cloudstones zum Orden der Ruhelosen gehörten.

Kurz zuvor hatten sie nämlich schon einmal ein Mitglied dieses Ordens getroffen – eine alte Frau namens Granny Tam, die Ellie und ihre Freunde ausrauben wollte und die Kinder dabei fast bei lebendigem Leibe verbrannt hätte. Doch wie sich herausstellte, war sie eine Ausnahme. Die anderen Mönche der Ruhelosen waren überaus gastfreundlich. Tatsächlich waren die meisten von ihnen Flüchtlinge. Menschen, die aus tausend verschiedenen Gründen dem Leben in den Clan-Reichen entflohen waren. Hier im Schutz der Berge waren sie vor dem Zugriff König Garions sicher.

Ellie schoss durch die Luft und katapultierte sich mithilfe ihrer Flügel noch weiter in die Höhe, dann landete sie geduckt in einer Ecke des Hofs vor einer großen Steintür, in die ein spiralförmiges Muster eingraviert war.

»Und wann lasst ihr mich hier endlich mal rein?«, fragte sie.

»Das ist nicht meine Entscheidung«, erklärte Charlo. »In das Allerheiligste kann dich nur die Älteste Rue einladen.«

»Was versteckt ihr da drin bloß?« Ellie klopfte mit ihrem Stock gegen die Tür.

»Skelette und Goldschätze.«

»Lügner.« Seit Wochen schon trieb sie sich vor der großen düsteren Tür herum und versuchte ihr Geheimnis zu ergründen. Denn ihrer Erfahrung nach verbarg sich hinter allem, was verschlossen war, etwas, das sich zu entdecken lohnte, und ihre Neugier wurde von Tag zu Tag größer.

Charlo lachte. »Die anderen werden gleich zur Mittagsmeditation kommen. Willst du diesmal mitmachen?«

Ellie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe diese ganzen Ordensbräuche nicht. Wie könnt ihr das nur aushalten – dieses ganze Stillsitzen und Ins-Nichts-Starren?«

»Wir starren nicht ins Nichts. Wir betrachten die Natur.«

»Aber … das ist so langweilig.«

»Nur, weil du nicht richtig hinsiehst.«

Der Hof war von kleinen, knorrigen Bäumen umgeben. An ihren Zweigen flatterten unzählige weiße Bänder und erfüllten die Luft mit einem leisen Wispern. Ringsum ragten steile Berge auf, ihre felsigen Hänge waren übersät mit geschickt versteckten Eingängen, die zu den Wohnungen der Dorfbewohner führten.

Ellie fuhr herum, hob drohend ihren Hakenstock und richtete ihn auf einen unsichtbaren Feind. Tadelnd rief Charlo: »Schon wieder zu langsam! Wenn du schon unsere Waffe und unsere Kampfweise nutzen willst, dann versuche wenigstens, es richtig zu tun.«

»Ich versuche es ja!« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und führte die Bewegung ein weiteres Mal aus.

Gerade als sie losfliegen und sich selbst etwas zu essen besorgen wollte, kam eine ganze Truppe von Mönchen zur Mittagsmeditation in den Hof geflogen und versperrte ihr den Weg. Alle waren mit den gleichen blauen Tuniken und weißen Beinlingen bekleidet. Und jeder von ihnen besaß einen Hakenstock und führte ihn mit geübter Leichtigkeit. Ellie hielt inne und bewunderte das Geschick, mit dem sie im Flug die Haken ihrer Stöcke an Stangen einhängten, die in den Felsen verankert waren, und so blitzschnell die Flugrichtung änderten. Obwohl sie diesen Trick schon seit Wochen übte, war sie längst nicht so flink wie die anderen.

Twig hüpfte fröhlich von der Statue und gesellte sich zu den Ruhelosen. Sie nickten Ellie höflich zu und setzten sich im Kreis in den Hof, die Gesichter voneinander abgewandt. Jeder konzentrierte sich auf einen anderen Gegenstand – einen Stein, ein Blatt, einen krummen Baum, der aus dem Fels herauswuchs –, dann wurden ihre Blicke leer und sie begannen zu meditieren.

Ellie hatte nach wie vor keine Ahnung, was genau die Mönche da taten oder warum. Aber sie schätzte ihren effektiven Kampfstil und ihre besondere Waffe, die Hakenstöcke. Mittlerweile hatte sie gelernt, dass diese scheinbar schlichten Stäbe vielen verschiedenen Zwecken dienten: der Verteidigung oder dem Angriff, um einen Gegner blitzschnell zu entwaffnen, für Wendemanöver beim Fliegen und allerlei mehr.

Sobald der Himmel über dem Platz wieder frei war, schwang sich Ellie in die Luft und überließ die Ordensleute ihrem Ritual. Charlo, der im Schneidersitz zwischen den anderen saß, winkte ihr noch hinterher.

Ellie schraubte sich in die Höhe und glitt von einer Windböe zur nächsten. Die Winde in den Bergen waren wie dünne Bänder und wechselten ständig. Auf ihnen zu fliegen war, als würde man über Baumstämme hüpfen, die auf einem Fluss trieben. Aber sie hatte recht schnell den Dreh herausgehabt, die Luftströme um sich herum zu lesen und sich von ihnen mittragen zu lassen.

Auf einem Felssims entdeckte sie Gussie, die wie gewöhnlich an ihrer Sammlung von merkwürdigem Krimskrams herumwerkelte. Ihr zu winken war sinnlos: Wenn Gussie beim Erfinden war, ließ man sie besser in Ruhe. Sonst riskierte man nur, dass sie einem den Kopf abriss.

Auf dem Gipfel des höchsten Berges fand sie schließlich Nox.

Der Krähenjunge saß an einen zerklüfteten Felsen gelehnt, der ihn wenigstens ein bisschen vor dem kalten Wind schützte.

Ellie landete vorsichtig neben ihm. Er sagte nichts und schaute sie auch nicht an. Stattdessen starrte er so konzentriert auf den östlichen Horizont, dass seine schwarzen Augen zu glühen schienen wie Kohlen, die jeden Moment zerspringen und ein verborgenes Feuer enthüllen würden. Aus Gewohnheit warf sie einen Blick auf seinen Rücken, wo seine schwarzen Flügel aus einer Öffnung im Hemd hervorragten. An einem der Gelenke prangte eine frische rote Narbe – kurz vor ihrer Flucht aus Thelantis wäre ihm dort fast der Flügel abgeschnitten worden.

In seiner Hand lag der blaue Himmelsstein, der ihnen den ganzen Ärger überhaupt erst eingebracht hatte. Dieser magische Kristall war einst das Auge eines Gargols gewesen, eines der Steinmonster, die an bewölkten Tagen den Himmel heimsuchten. Und er war auch der Grund dafür, warum sie auf der Flucht waren. Und warum sie alles verloren hatten. Seine geheimnisvolle Fähigkeit, wie eine Seifenblase in der Luft zu schweben und die schreckliche Krankheit namens Flügelfäule zu heilen, machte ihn zum wertvollsten Edelstein der Welt. Trotzdem würde König Garion ihn ohne zu zögern zerstören, wenn er ihn in seine Finger bekäme.

»Ich habe heute Morgen mit Gussie darüber gesprochen, ob wir weiterziehen sollen«, sagte sie. »Sie meint, es ist noch zu früh.«

Nox’ Hand schloss sich fester um den Himmelsstein. »Wir hätten schon vor Wochen aufbrechen sollen.«

Ellie zupfte an ihrem Daumennagel. »Ich hab nachgedacht. Dieser Ort hier ist wirklich etwas Besonderes. Er … ist wie ein eigener Clan, mit Menschen aller Federn.«

Nox’ Gesicht wurde noch verkniffener, aber er schwieg.

»Charlo sagt, wenn wir wollen, würden sie uns aufnehmen.«

»Dann bleibst du also hier.«

»Ich … hab mich noch nicht entschieden.« Warum hatte sie nur so ein schlechtes Gewissen? Wie konnte sie ihm begreiflich machen, dass sie anders als er nicht dazu geboren war, ohne Clan zu fliegen? »Aber ich denke darüber nach.«

»Und was ist mit dem Himmelsstein? Du hast gesagt, du willst ihn benutzen, um Menschen zu heilen.«

»Das will ich auch! Ich weiß nur noch nicht, wie das gehen soll, ohne die Aufmerksamkeit des Königs zu erregen. Er ist fest entschlossen, den Stein zu zerstören. Deshalb … ach, ich weiß auch nicht. Ich denke, ich möchte mich einfach wieder irgendwo zu Hause fühlen.«

Betrübt dachte sie an ihr Heimatdorf Linden und an den Spatzen-Clan. Nachdem man sie in der Hauptstadt als Diebin angeklagt und in den Kerker gesperrt hatte, würde sie nie wieder dorthin zurückkehren können.

»Tu, was du willst«, meinte Nox steif. »Mir egal. Aber ich bleibe nicht mehr lange hier.«

»Ich weiß, was du vorhast. Und ich verstehe das auch. Aber es ist schrecklich gefährlich und deine Wunde ist immer noch nicht ganz verheilt.«

»Ich habe meiner Mutter ein Versprechen gegeben. Und ich habe es noch nicht gehalten.« Endlich sah er sie an. »Ich muss sie aus diesem Gefängnis holen, Ellie.«

»Ich weiß.«

Ein paar Minuten lang saßen sie schweigend da und lauschten dem Wind, der über die Gipfel pfiff. Nox starrte wieder auf den Horizont, dorthin, wo die Gefängnisinsel lag, auf der seine Mutter seit Jahren gefangen gehalten wurde.

Ellie konnte ihn nur zu gut verstehen. Und sie scheute ganz sicher nicht vor Gefahren oder einer schwierigen Aufgabe zurück – ganz im Gegenteil. Aber diese Mission … sie kam ihr einfach zu groß vor und zu früh. Die Teufelsklippe war das sicherste Gefängnis in den Clan-Reichen. Sie hatten Glück gehabt, dass sie nicht dort gelandet waren.

Plötzlich zog eine Bewegung Ellies Blick auf sich. Es war Charlo, der eilig zu ihnen geflogen kam.

»Oh, schau, dein neuer Freund«, säuselte Nox mit schmalen Augen und ließ hastig den Himmelsstein unter seinem Hemd verschwinden.

»Er ist nicht mein – ach, halt die Klappe.« Sie gab dem Krähenjungen einen Schubs und schwang sich in die Luft, um Charlo entgegenzufliegen.

»Was ist los?«, fragte sie.

Er keuchte, die starken Flügel gegen den Wind ausgebreitet. »Die Älteste Rue! Sie will dich sehen!«

»Mich? Aber warum?« Obwohl sie schon viele Wochen in Cloudstone waren, hatte Ellie die Anführerin vom Orden der Ruhelosen erst zweimal gesehen. Sie wirkte wie eine humorlose alte Frau, der man besser aus dem Weg ging. Was nicht weiter schwer war, da sie die meiste Zeit in ihrem Allerheiligsten saß und mit was auch immer beschäftigt war.

»Es gibt nur einen Grund, warum die Älteste nach jemandem schickt, der noch kein Novize ist«, erwiderte er außer Atem. »Sie muss eine Vision von der Zukunft gehabt haben – eine Vision von dir.«

3. Ellie

Mit klopfendem Herzen landete Ellie im Hof, den Hakenstock fest an sich gedrückt. Hinter ihr versammelten sich neugierig die Mönche. Offenbar war eine Vision etwas so Ungewöhnliches, dass sie dafür sogar ihre Meditation unterbrachen.

Gussie, Nox und Twig hielten sich im Hintergrund. Das Falkenmädchen schaute Ellie mit hochgezogener Augenbraue an. Gussie stand dem Orden und seiner vermeintlichen Gabe, die Zukunft vorhersagen zu können, eher skeptisch gegenüber.

Twig dagegen, der ein überzeugter Anhänger der Ruhelosen war, zeigte Ellie freudestrahlend seinen erhobenen Daumen.

Nachdem sie tief Luft geholt hatte, wandte sich Ellie zu der Steintür, die sie schon die ganze Zeit neugierig gemacht hatte. Nun stand sie endlich offen und enthüllte einen dunklen Gang, der in den Berg hineinführte.

»Beeilung, Mädchen!«, blaffte ein alter Mönch hinter ihr mürrisch und fuchtelte mit den Händen, als wollte er sie vorwärtsschieben. »Es ziemt sich nicht, die Älteste warten zu lassen!«

»Ist ja gut«, murmelte Ellie. Sie reichte Twig ihren Stock und betrat den Tunnel.

Kälte empfing sie. Schaudernd warf sie einen Blick zurück und sah, wie die Tür knirschend zufiel. Ein lauter Rumms und Ellie war von Finsternis umgeben.

Wie ein bedrohlicher Trommelschlag hallte das Krachen durch den Gang.

»Na gut.« Entschlossen hob sie den Kopf und schüttelte die Flügel. »Das hier ist bestimmt keine Gruft, auch wenn es sich so anfühlt.«

Kraftlos flatterte ihr nervöses Lachen durch die Dunkelheit.

Sie folgte dem Tunnel, indem sie mit der Hand die Wand entlangstrich, und überlegte, wie viele Menschen hier wohl schon voller Nervosität entlanggegangen waren. Und was war überhaupt von diesen Visionen zu halten? Charlo hatte erzählt, dass nur die ältesten und frömmsten Mönche diese Eingebungen hatten. Aber wer wusste schon, ob der Verstand eines Menschen, der sein Leben lang nur auf Felsen gestarrt hatte, noch richtig funktionierte?

Die Dunkelheit war so undurchdringlich, als wäre sie in einem Traum gelandet. Vor zwei Monaten erst hatte Ellie ihre Heimat Linden und ihren Clan verlassen, um sich den Goldflügel-Rittern anzuschließen. Und vor einem Monat dann hatte sie erleben müssen, dass diese Ritter doch nicht so heldenhaft waren, wie sie gedacht hatte, und dass der König, den sie beeindrucken wollte, in Wirklichkeit ein Monster war. Und nun war sie hier gelandet, als Flüchtling, und marschierte mitten ins Innere eines Berges, um sich die Vision einer alten Seherin über ihre Zukunft anzuhören.

Bei dem Gedanken musste Ellie unwillkürlich kichern.

Als sie kurz darauf um eine Ecke bog und plötzlich ein Licht vor sich schimmern sah, gluckste sie immer noch vor sich hin. Nicht weil es hier im Berg besonders lustig gewesen wäre, sondern weil diese ganze Situation so nervenzerreißend und seltsam war. Als wäre sie in der Geschichte eines anderen Menschen gelandet, an einem Ort, wo sie nicht hingehörte.

Aber wo gehöre ich dann hin?, fragte sie sich.

Lange war sie dieser Frage ausgewichen. Es war wie ein Loch in ihrem Herzen, in das sie seit ihrer Flucht aus Thelantis nicht mehr hineingeschaut hatte. Zwar hatte sie eine vage Vorstellung davon, was sie tun wollte: mit dem Himmelsstein Menschen heilen, die an dieser schrecklichen Krankheit namens Flügelfäule litten. Aber sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte oder ob ein einziger kleiner Stein wirklich etwas bewirken konnte, wo doch mittlerweile so viele Menschen an der Krankheit litten. Und sie war sich immer noch nicht sicher, wie sich dieser Plan umsetzen ließ. Sollte sie den Stein nehmen und verkleidet durch die Lande ziehen, die Kranken aufsuchen und sie mit seiner Zauberkraft heilen? Oder sollte sie in Cloudstone bleiben und diese Aufgabe jemandem überlassen, der älter und erfahrener war als sie selbst – und der nicht wie ein Schwerverbrecher gesucht wurde? Charlo wollte sie zum Bleiben überreden, obwohl sie ihm nichts von dem Himmelsstein erzählt hatte. Er hatte gesagt, das Dorf sei eine Heimat für Heimatlose … und das beschrieb Ellies Situation ziemlich genau.

Die letzten sechs Jahre hatte sie genau gewusst, wo sie hingehörte. Oder zumindest, wo sie hingehören wollte: zu den Goldflügel-Rittern. Aber dieser Traum hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst und nun hatte sie das Gefühl, über ein endloses weites Meer zu fliegen, ohne zu wissen, wo sie landen könnte.

Vielleicht konnte die Älteste Rue ihr helfen.

Und vielleicht war das der Grund, warum Ellie weiter durch die Dunkelheit ging, trotz ihrer Zweifel an diesen angeblichen Zukunftsvisionen.

Die Antwort auf diese Frage – Wohin soll ich als Nächstes gehen? – könnte gleich hinter der nächsten Biegung liegen. Vielleicht hatte die Älteste eine Vision von Ellie gehabt, wie sie sich dem Orden der Ruhelosen anschloss, eine blaue Tunika überzog und auf einem Berggipfel meditierte. Schon bei der Vorstellung wurde ihr ganz flau.

Nach einer langen Wanderung erreichte sie schließlich eine große Höhle und blieb staunend stehen.

Vor ihr zogen sich lange Rinnen über den felsigen Boden, sie waren offenbar mit Öl gefüllt, auf dem blaue Flammen tanzten. Die Furchen bildeten ein spiralförmiges Muster um den Mittelpunkt der Höhle herum, wo dicke Säulen aus weißem Kristall aus dem Boden aufragten. Die glatten Seiten der Kristalle glänzten im Schein des Feuers und tief in ihnen funkelte ein helles Licht. Auch die Höhlendecke war mit einem Muster geschmückt, es bestand aus dem gleichen Symbol, das Ellie schon überall in Cloudstone gesehen hatte: ein umgekehrtes Dreieck mit einer Spirale darin.

Vor den Säulen kauerte eine einsame Gestalt, sie war in das blaue Gewand der Ruhelosen gekleidet und sah ihr entgegen.

»Älteste Rue«, rief Ellie ihr zu, »Ihr wolltet mich sprechen?«

Die alte Frau schwieg und schaute sie nur auffordernd an.

Seufzend machte Ellie sich auf den Weg zur Höhlenmitte, indem sie dem kreisförmig verlaufenden Pfad zwischen den Feuergräben folgte. Die Flammen brannten nur kniehoch und strahlten keine Wärme aus, sodass es Ellie in der Kälte der Höhle fröstelte. Während sie mehrmals in immer kleiner werdenden Kreisen die Höhle umrundete, wartete die Älteste ernst und schweigend auf einem Fellteppich auf sie.

Endlich hatte Ellie das Zentrum der Spirale erreicht und stand winzig klein vor den hohen Kristallpfeilern. Nach einem kurzen Moment der Unsicherheit kniete sie sich langsam nieder, wie sie es bei den Mönchen gesehen hatte, wenn sie sich zur Meditation niederließen, und setzte sich vor die Älteste Rue.

»Ihr, äh, habt nach mir geschickt?«

Die alte Frau musterte sie aus schmalen Augen. Als Ellie die Alte nun erstmals genauer betrachtete, erschrak sie. Die dunkle Haut und die dunklen Flügel, die krausen grauen Haare … der Anblick kam ihr beängstigend bekannt vor.

»Seid Ihr vielleicht mit Granny Tam verwandt?«, fragte sie.

Die Frau blinzelte und zog eine Grimasse. »Hmm. Ich habe schon gehört, dass du meiner Schwester unten im Flachland begegnet bist.«

»Eure Schwester!«, rief Ellie entsetzt.

»Man kann sich seine Familie nicht aussuchen«, seufzte die Älteste Rue. »Meine Schwester hat den Pfad der Wahrheit schon lange verlassen. Aber kommen wir zu dem, weshalb ich dich rufen ließ.« Sie hob die Hand und deutete auf die Kristalle hinter sich. »Als Älteste der Ruhelosen ist es meine Pflicht, jeden wachen Augenblick vor dem Herzen des Berges zu meditieren, um möglichst viel über die Zukunft zu erfahren.«

Ellie nickte und ihre klammen Finger ballten sich zu Fäusten.

»Manchmal dauert es Monate, um einen kurzen Ausblick auf das, was kommt, zu erhaschen. Monate, in denen ich schaue, überlege, warte … und gelegentlich auch ein paar Stunden lang einnicke.« Die Älteste kicherte. »Selbst wenn es uns gelingt, etwas zu sehen, ist die Vision oft zu verschwommen, um ihre Bedeutung zu verstehen, oder es geht um einen Menschen, den wir nie getroffen haben und nie treffen werden. Aber mit viel Glück sehen wir ungefähr einmal in zehn Jahren etwas, das wir verstehen.«

»Ihr habt etwas über mich erfahren?«, flüsterte Ellie.

Die Älteste Rue nickte. »Über dich, ja. Das Spatzenmädchen, das einen unserer Hakenstöcke trägt – damit kannst nur du gemeint sein. Ich habe deine Zukunft gesehen, mein Kind, oder zumindest ein Abbild davon.«

»Und was ist mit meiner Zukunft?«

»Unsere Visionen sind nicht immer wörtlich zu verstehen.« Die Alte zuckte mit den Schultern. »Manchmal muss man sie … deuten.«

»Aber was habt Ihr gesehen?«

Die Älteste schloss die Augen und murmelte mit tiefer Stimme: »Du wirst eine Flamme durch die Dunkelheit tragen, um ein großes Feuer zu entzünden. Aber wenn du sie fallen lässt oder die Flamme erlischt … wird der Himmel einstürzen.«

Mit einem tiefen Seufzen öffnete sie die Augen wieder, als hätten diese beiden Sätze sie zutiefst erschöpft.

Ellie blinzelte. »Das … ist alles? Aber das könnte alles Mögliche bedeuten!«

»Ob dir die Vision gefällt, ist hier nicht von Belang, mein Kind«, erklärte die Älteste steif. »Das ist kein Wirtshaus, wo du bekommst, was du bestellt hast.«

»Tut mir leid. Ich weiß, Ihr bekommt nur alle paar Jahre eine Vision und so. Aber … könntet Ihr Euch nicht ein bisschen klarer ausdrücken?«

»Ich kann dir nur sagen, was ich gesehen habe, und das habe ich getan.« Verärgert wandte sich die Alte ab und starrte wieder auf die Kristalle. »In Anbetracht meines Alters wird es vermutlich meine letzte Vision gewesen sein. Hmmpf! Die Jugend von heute! Immer so undankbar.«

»Ich wünschte nur, ich wüsste, was das heißen soll.« Enttäuscht ließ Ellie die Schultern hängen. Sie hatte nicht erwartet, präzise Anweisungen zu bekommen wie Geh an genau diesem Tag an genau jenen Ort, dort wird sich dein Schicksal erfüllen … Aber etwas in der Art hatte sie sich schon erhofft. Stattdessen hatte sie ein Gleichnis bekommen. Sie wusste nichts über Flammen oder einstürzende Himmel. Wie sollte ihr das weiterhelfen?

»Ja, also … das war’s dann wohl, schätze ich«, meinte sie betrübt und stand auf. »Danke.«

Rue sagte leise: »Ich weiß, was dein Krähenfreund um den Hals hängen hat.«

Ellie erstarrte. »Ich, äh … keine Ahnung, wovon Ihr redet.«

Nachdem der Himmelsstein ihnen überall nur Ärger eingebracht hatte, hatten die Kinder niemandem im Dorf davon erzählt. Tatsächlich hatten sie kaum etwas über ihre Vergangenheit verraten, außer dass sie wegen Diebstahls gesucht wurden, was der Orden der Ruhelosen kommentarlos akzeptiert hatte. Die Menschen hier hatten keine Sympathien für König Garion, nachdem seine Vorfahren den Orden mit solcher Brutalität verfolgt hatten, dass die Ruhelosen sich schließlich in die Berge zurückziehen mussten.

Ellie und ihre Freunde hatten vereinbart, den Himmelsstein geheim zu halten, aber offenbar war ihnen das nicht gelungen. Oder vielleicht hatte die Älteste ihn auch in ihren Kristallen gesehen.

Ohne sich umzudrehen, fuhr die Alte fort: »Es gibt Legenden über die Himmelssteine in unserem Orden, weißt du. Sie sind sehr selten und heilig und besitzen eine große Macht. Es heißt, vor einem solchen Stein zu meditieren, kann einen Menschen sogar in die Himmelsheimat bringen.«

»Die Himmelsheimat?«, murmelte Ellie. »Ist das nicht der Ort, wo Ihr Ruhelosen alle hinwollt? Und der Grund, warum Ihr so viel meditiert? Dieses Symbol hier steht doch dafür, oder?« Sie deutete auf die Dreiecke mit den Spiralen an der Höhlendecke.

Die Älteste nickte. »Die Himmelsheimat ist ein Geisteszustand – eine Klarheit in deinen Gedanken und die Überwindung weltlicher Grenzen, die einem eine vollkommene Freiheit bringt. Wenn du diese Klarheit findest, entdeckst du auch dein wahres Selbst. Danach suchen wir Ruhelosen unser Leben lang. Und deshalb meditieren wir auch so viel – es ist die Hingabe an das Ziel, endlich unsere wahre Heimstatt zu finden.«

Diesen letzten Teil zumindest konnte Ellie nachvollziehen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl zu verstehen, warum ein Mensch seine Tage in diesem Gebirge verbrachte und dabei auf Blätter und Felsen starrte in der Hoffnung herauszufinden, was er tun und wohin er gehen sollte. Aber Ellies Weg war das nicht. Irgendwo würde sie eine Heimat finden, da war sie sich sicher, aber sie würde diesen Ort selbst entdecken und nicht auf irgendeine Offenbarung angewiesen sein, die sich im Prasseln der Regentropfen versteckte.

»Habt Ihr in Eurer Vision auch den Himmelsstein gesehen?«, fragte Ellie. »Ist er die Flamme, die ich tragen soll?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ähm … könnte es so sein?«

»Vielleicht.«

Ellie unterdrückte ein frustriertes Stöhnen und schaute zum Höhleneingang. Von der Alten war offenbar keine weitere Hilfe zu erwarten. Ellie würde selbst herausfinden müssen, was diese Vision bedeutete und was der Himmelsstein damit zu tun hatte. Oder vielleicht hatte Gussie ja recht und niemand konnte die Zukunft vorhersagen. Vielleicht brauchte die Älteste einfach mal wieder eine Woche frische Luft und Sonnenschein, um wieder einen klaren Verstand zu bekommen. Tag für Tag in dieser Höhle zu sitzen – das musste einen ja verrückt machen.

Die Älteste war bereits wieder in ihren tranceartigen Zustand versunken. Ellie nahm das als Zeichen, den kreisförmigen Weg zurückzugehen und den Berg wieder durch den dunklen Tunnel zu verlassen.

Nach ihrer Rückkehr fragte keiner der Mönche nach der Vision, nicht mal Charlo, obwohl ihm seine Neugier anzusehen war. Bestimmt gab es eine Regel, dass über die Visionen nicht laut gesprochen werden sollte, so, wie man auch keinem erzählen durfte, was man sich beim ersten Stern der Wintersonnenwende wünschte, weil der Wunsch sonst nicht in Erfüllung ging.

Aber als sie nachts in dem Zimmer lagen, das Charlos Familie ihnen zur Verfügung gestellt hatte, löcherten Gussie und Twig sie unerbittlich. Endlich gab sie nach und wiederholte die Worte der Ältesten, während sie sanft in ihrer Hängematte hin- und herschaukelte.

»Eine Flamme durch die Dunkelheit tragen?«, wiederholte Gussie. »War ja klar, dass sie so was in der Art sagen würde. Diese angeblichen Wahrsager drücken sich immer so vage aus, dass die Worte fast alles bedeuten können. Das ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass ihre Visionen völliger Blödsinn sind.«

»Oder«, meinte Twig, »Ellie muss tatsächlich irgendwann eine superwichtige Flamme tragen und ein superwichtiges Feuer anzünden und superwichtig die Welt retten!«

Nox schnaubte nur. Ellie drehte sich zu ihm um. Er lag in seiner Hängematte, seine Flügel hingen rechts und links herab und streiften träge am Boden.

»Und, Klugscheißer, was denkst du?«

»Ich glaube, niemand beherrscht die Zukunft – außer mir!«

»He, vielleicht hat die Prophezeiung ja auch mit dir zu tun«, rief Twig. »Das mit der Flamme und dem Feuer … ich meine, würde doch passen, oder?«

Das war eine Anspielung auf Nox’ wundersame Eigenschaft, immun gegen Feuer zu sein. Ein weiteres Geheimnis, das sie dem Orden verschwiegen hatten – noch größer als der Himmelsstein. Ellie bemerkte, dass Nox’ Flügel ganz steif geworden waren. Er redete nicht gerne über seine seltsame Unverwundbarkeit gegen Feuer; und hätte ihnen wahrscheinlich nie davon erzählt. Allerdings hatte er keine andere Wahl gehabt – sie hatten alle drei mit eigenen Augen gesehen, wie er durch eine Feuerwand gegangen und ohne eine angesengte Feder wieder herausgekommen war.

Aber vielleicht hatte Twig ja recht.

Sie sah nur nicht, wie Nox in die Vision der Ältesten hineinpassen sollte. Und er selbst würde ihr da bestimmt nicht weiterhelfen.

Sie seufzte. »Vermutlich werden wir einfach abwarten müssen und …«

»Psst!«, zischte Twig.

Die anderen hörten den warnenden Unterton in seiner Stimme und verstummten sofort. Ellies Augen und Ohren bemühten sich zu erkennen, was Twig gehört hatte. Aber der Junge hatte noch einen weiteren Sinn, eine Art »inneres Ohr«, mit dem er die Gefühle und Absichten eines Menschen erspüren konnte.

»Da ist jemand«, wisperte Twig.

Die Haare an Ellies Armen stellten sich auf. »Charlo?«

»Nein, es ist …«

Ellie schrie auf, als ein Schatten aus der Dunkelheit hervorstürzte, eine Gestalt, die viel größer war als Charlo. Es war der Schatten eines Mannes, der mit einem freudigen Zischen seine dunklen Flügel öffnete und Ellie an den Haaren packte.

In seiner Hand blitzte ein Dolch.

4. Nox

Nox sprang sofort auf. Er breitete die Flügel aus, stürmte vor und rammte seinen Kopf in den Angreifer, als dieser mit dem Dolch nach Ellie stechen wollte.

Stöhnend krümmte sich der Mann, kippte aber nicht um. Stattdessen ließ er sich fallen, rollte sich unter Ellies Hängematte hindurch und sprang auf der anderen Seite flink wieder auf. Die ganze Zeit über grinste er, als wäre das alles ein Riesenspaß.

»Wollt ihr mit dem Jäger spielen, Kinderchen?«, trällerte er mit unheimlicher Stimme. Der Dolch tanzte in seiner Hand. »Ein kleines Todesspiel, hmm?«

Nox zog Ellie aus der Hängematte. Sie schnappte sich ihren Hakenstock aus der Ecke und streckte ihn abwehrend vor.

»Wer seid Ihr?«, fragte Nox.

Der Mann lachte nur. Dann schoss er so schnell zu Gussies Hängematte, dass Nox nicht mal mehr Zeit für einen Warnruf hatte, und schlug mit dem Messer zu.

Doch das Mädchen war bereit und zeigte nun, was sie in ihrem jahrelangen Falken-Clan-Training gelernt hatte: Sie riss die Hängematte hoch, sodass sich das Messer in dem Gewebe verfing. In der Zwischenzeit war Twig aus seiner Schlafstatt geklettert und rannte schreiend aus dem Zimmer.

Kurz darauf war der ganze Haushalt wach und Laternen wurden entfacht. Charlo und seine Eltern stürmten in den Raum, alle mit einem Hakenstock bewaffnet.

»Wo ist er?«, fragte Charlos Vater, ein stämmiger Schlossschmied.

»Da!« Nox zeigte auf eine Zimmerecke.

Aber dort stand der Eindringling schon nicht mehr.

Bei allen Himmeln, der Mann konnte sich wirklich schnell bewegen. Schon war er wieder im Schatten verschwunden und tauchte hinter Charlo auf. Sein Hieb traf den Flügel des Jungen und Charlo schrie vor Schmerz.

»Aufhören!«, brüllte Ellie. Gemeinsam mit Charlos Eltern drang sie mit wirbelnden Stöcken auf den Jäger ein, doch der duckte sich nur und rollte beiseite.

Nox erkannte, dass es sinnlos war, gegen ihn zu kämpfen. Der Angreifer war allein, doch er bewegte sich wie flüssiges Metall, und in diesen engen Räumlichkeiten waren sie eine leichte Beute für sein Messer.

»Alle raus hier!«, brüllte er. »Raus aus dem Haus!«

Sie eilten aus der Höhlenwohnung ins Freie. Charlo, der wegen seiner Wunde nicht fliegen konnte, sprang in geübten Sätzen von Felssims zu Felssims, obwohl sein Flügel sehr schmerzen musste.

»Kennt ihr den Mann?«, fragte Charlos Vater, während seine Mutter den Berg hinaufflog, um die Alarmglocke zu läuten.

»Nein«, sagte Nox. »Aber er ist ganz eindeutig hinter uns her.«

Er wechselte einen Blick mit Ellie, dann suchten beide die Dunkelheit ab, während sie mit den anderen in einem Kreis über dem Berghang schwebten. Der Angreifer musste hier irgendwo sein. Sicher war er nicht den ganzen Weg gekommen, um einfach aufzugeben.

»Bestimmt hat König Garion ihn geschickt«, meinte Ellie und flog näher zu Nox.

Er nickte grimmig. »Er weiß, wo wir sind.«

»Und er wird noch mehr Leute schicken. Wir bringen Cloudstone in Gefahr.«

Nox atmete tief ein, als ihm die Bedeutung von Ellies Worten bewusst wurde. Sie mussten gehen. Und zwar heute noch. In den Schatten könnten noch hundert weitere Attentäter verborgen sein.

Wenn sie blieben, war keiner im Dorf mehr sicher. Charlo war ihretwegen schon verletzt worden und sie durften nicht riskieren, dass dem Orden noch Schlimmeres zustieß.

Die Alarmglocke hallte laut durch die Nacht, die Mönche der Ruhelosen strömten herbei, entzündeten Laternen, die an Seilen hingen, und ließen ihre Hakenstöcke wirbeln. Eines immerhin war sicher – nur wenige Dörfer waren so gut auf einen Kampf vorbereitet wie dieses hier. Aber Nox wollte nicht, dass diese Menschen ihr Leben für ihn und seine Freunde riskierten.

»Ihr vier geht zum Allerheiligsten«, sagte Charlos Vater. »Wir schließen euch ein, dann kann euch nichts passieren. Und wir kümmern uns um diesen Abschaum.«

»Nein«, seufzte Nox. »Es wird Zeit, dass wir weiterziehen. Dadurch locken wir ihn und andere Verfolger von hier weg.«

Er schaute zu seinen Freunden. Gussie und Twig nickten zustimmend. Nox’ Brust zog sich zusammen, als er die entschlossenen Gesichter seiner Truppe sah. Sie waren genauso müde und verängstigt wie er, trotzdem waren sie sofort bereit aufzubrechen.

Nur Ellie wirkte hin- und hergerissen.

Aber sie hatte ja gestern erst gesagt, dass sie überlegte, vielleicht auf Dauer hierzubleiben. Diese Worte waren ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

»Ellie?«, fragte er.

Schließlich nickte auch sie. »Du hast recht. Wir dürfen den Leuten hier nicht noch mehr Ärger machen.«

Bei diesen Worten löste sich ein Knoten in Nox’ Brust, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Einen Moment lang hatte er tatsächlich befürchtet, Ellie könnte sie allein weiterziehen lassen.

Nicht dass ihn das scherte. Das Spatzenmädchen gehörte nicht mal richtig zu seiner Truppe. Sie war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und eigentlich gab es nun keinen Grund mehr, warum sie bei ihnen bleiben sollte.

Aber ihre kurze Erholungspause in Cloudstone war vorüber. Und vermutlich würde es lange Zeit keine Möglichkeit mehr geben, irgendwo Schutz zu suchen.

»Seid ihr sicher?«, fragte der Schmied. »Die Ruhelosen haben eine eiserne Regel: Wir dulden es nicht, dass unseren Gästen Leid zugefügt wird.«

»Wir haben auch eine Regel«, erklärte Nox. »Sich verstecken ist nur so lange gut, bis man gefunden wird.«

Das war einer der Lieblingssprüche der Kralle gewesen, dem früheren Gaunerkönig von Thelantis. Nox erschauderte, als er sich an den Mann erinnerte, der sein Mentor gewesen war – und der ihn fast getötet hätte. Aber immerhin hatte er Nox beigebracht, wie man überlebte.

»Wartet wenigstens bis zum Morgengrauen, bis der Himmel klar ist«, erklärte der Schmied entschieden. »Wir werden euch sicher nicht in die Krallen eines Gargols fliegen lassen.«

In den nächsten Stunden durchsuchten die Mönche das Dorf nach dem Attentäter, fanden aber keine Spur von ihm. Nox, Ellie, Gussie und Twig saßen unterdessen schweigend und nervös auf einem der hochgelegenen Felssimse und beobachteten besorgt die Schatten um sich herum. Sie mussten nicht nur lautlos zuschlagende Mörder fürchten, sondern auch die Gargols. Zwar waren die Wolken über ihnen dünn und zogen schnell dahin, aber die Monster waren berüchtigt dafür, bei Dunkelheit auch in weiter Entfernung zu jagen.

»Wer war dieser Verrückte?«, flüsterte Ellie. »Er klang nicht wie ein Goldflügel.«

»Er klang eher wie ein Monster«, grunzte Gussie.

»Nicht dass da ein großer Unterschied wäre«, meinte Nox.

»Und wie er sich bewegt hat«, sagte Ellie. »Habt ihr das gesehen? Als würde er aus Schlangen bestehen.«

»Ich kenne ihn«, murmelte Twig.

Nox, Ellie und Gussie drehten sich zu ihm.

»Was?«, rief Nox erstaunt.

Twig senkte den Blick. Sein Zackenmarderweibchen Lirri lag ausgestreckt in seinem Schoß und ließ sich von ihm zwischen den Hörnern kraulen. »Es geht mir schon die ganze Zeit im Kopf herum und jetzt ist es mir endlich wieder eingefallen. Ich kenne seine Stimme, aber es ist Jahre her, seit ich sie zuletzt gehört habe.«

»Und wer ist der Mann?«, fragte Ellie ungeduldig.

»Er war auch bei dem Zirkus, für den ich gearbeitet habe. Seinen richtigen Namen weiß ich nicht, dort wurde er Twist genannt, weil er als Schlangenmensch aufgetreten ist. Keiner konnte ihn leiden. Er war richtig unheimlich, hat immer mit Messern herumgespielt und den Leuten nachspioniert. Dann eines Tages …« Twig verzog das Gesicht. »Ganz plötzlich hat er einen Akrobaten angegriffen, ohne jeden Grund. Ist einfach mit dem Messer auf ihn los. Dann ist er geflohen und wir haben ihn nie wieder gesehen.«

»Von solchen Leuten habe ich schon gehört«, erklärte Gussie. »Sie haben Spaß daran, anderen Menschen wehzutun. Und sie denken nicht mal wie normale Menschen, was sie doppelt gefährlich macht. Sie sind einfach unberechenbar.«

Nox wurde ganz schlecht. Er hatte gedacht, dass er mit so ziemlich jeder Bedrohung fertigwerden würde, sogar mit Goldflügeln, aber bei denen konnte man wenigstens die nächsten Schritte vorhersagen.

Doch dieser Schlangenmensch – oder Jäger, wie er sich selbst nannte – könnte sich als eine viel größere Gefahr erweisen.

»Glaubt ihr, der König hat ihn geschickt?«, fragte Ellie.

Nox zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Was spielt das schon für eine Rolle? Er ist hinter uns her, so viel ist sicher.«

»Und glaubt mir«, sagte Twig und erschauderte, »wir wollen auf keinen Fall, dass er uns noch mal findet.«

Allmählich färbte sich der Himmel rosa und die Sonne ging auf, auch wenn es hier in den Bergen noch ein paar Stunden dunkel und kalt sein würde.

Mit einem halben Dutzend Ruheloser als Schutz gingen sie zurück ins Haus und packten ihre Sachen. Nox kam es so vor, als würde er aus einem Traum erwachen und in die echte Welt zurückkehren. Was er nicht wirklich bedauerte. Natürlich hatte er Cloudstone nicht auf diese Weise verlassen wollen, aber es lockte ihn schon seit einer Weile, sich wieder in den Himmel aufzuschwingen.

Nach Osten zu fliegen, zu seiner Mutter.

Ellie hatte Tränen in den Augen, wollte das aber in ihrer dickköpfigen Art nicht zeigen.

»Ich muss mich noch von Charlo verabschieden«, sagte sie, nachdem sie ihr Bündel geschnürt hatte.

Nox nickte. Sie hatte sich mit dem Schwanenjungen angefreundet und fast jeden Tag mit ihm im Hof trainiert. Es war Nox ziemlich auf die Nerven gegangen, dass sie miteinander kämpften und lachten, als wären sie schon seit Jahren befreundet. Ob das der wahre Grund war, warum sie bleiben wollte? Klar, der Junge konnte mit dem Hakenstock umgehen, aber Nox’ Meinung nach erforderte es deutlich mehr Geschick, um ein Schloss zu knacken. Nur hatte Ellie ihn noch nie darum gebeten, dass er ihr das beibrachte.

Es war definitiv Zeit weiterzuziehen.

»Danke für alles«, sagte er zu dem Schmied.

Der Mann legte seine schwere Hand auf Nox’ Schulter. »Fliegt mutig und kühn. Und hütet euch vor den Himmeln.«

»Hütet euch vor den Himmeln«, entgegnete auch Ellie. Sie weinte nicht mehr und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck wilder Entschlossenheit, als könnte sie durch die Berge selbst fliegen, wenn sie es nur wollte.

Das war die Ellie, die Nox kannte … und vor der er sich ein bisschen fürchtete.

Nachdem die letzten Abschiedsworte gesagt waren, war es höchste Zeit loszufliegen.

Auch wenn sie den Jäger von Cloudstone weglocken wollten, waren sie keineswegs scharf darauf, ihm nochmals zu begegnen. Aber mit etwas Glück konnten sie ihn vielleicht im Labyrinth der Berghänge und Täler abschütteln.

»Bleibt dicht zusammen«, rief Ellie. Sie flogen Richtung Osten, zwischen zwei hohen Berggipfeln hindurch. Der Wind trieb sie vorwärts und auf offenem Gelände wehte er sogar noch stärker. »Er darf uns nicht einen nach dem anderen vom Himmel holen.«

Trotz der aufgehenden Sonne gab es noch jede Menge schattiger Verstecke, in denen sich der Attentäter verbergen konnte. Deshalb flogen sie möglichst weit oben, auf einem kräftigen Westwind, der ihre Flügel wie Segel blähte und sie vorwärtstrieb.

Weiter unten füllten sich die Schluchten zwischen den Bergen mit einem blauen Nebel. Winde zogen durch den Dunst, sodass er wie Wasser durch die Täler strömte. Die Sonne stieg immer höher und die Gipfel fingen an zu leuchten wie Kronen aus goldenem Licht. Die Morgensonne ließ die felsigen Kuppen erstrahlen und wanderte langsam die Hänge hinunter, als würden sich die Berge selbst erheben, um den Tag zu begrüßen. Im Osten wartete bereits ein blauer Himmel auf sie.

Der Angriff des Jägers kam aus dem Nebel unter ihnen. Er schoss so schnell und unvermittelt in die Höhe, dass keine Zeit blieb, sich eine Verteidigungsstrategie zu überlegen.

»Achtung!«, schrie Nox.

Er rollte sich zur Seite und entging in letzter Sekunde dem Dolch, mit dem der Mann nach ihm stach. Der Jäger schoss nach oben an ihnen vorbei, breitete die Flügel aus und schwenkte in einem großen Bogen zu ihnen zurück.