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Seit Streaming-Dienste das lineare Fernsehen abgelöst haben, kennen wir die schöne Funktion, in einem Film zehn Sekunden in der Handlung zurückzuspringen. Während für uns die Zeit linear weiterläuft, werden die Figuren in der Zeit zurückversetzt, ohne es zu merken. Sie spielen die Handlung einfach noch einmal, während wir bereits wissen, was passieren wird. Wie wäre es, wenn so etwas auch in unserem vermeintlich realen Lebensfilm, quasi in echt, möglich wäre? Für Eddie ist das so! Eddie ist dreißig, hat sich in seinem Leben verlaufen und leidet unter akuter Daseinsermüdung. Unerwartet nimmt sein Leben eine entscheidende Wendung, als er auf dem Flohmarkt ein kleines hölzernes Kästchen kauft, mit dem er die Zeit um zehn Sekunden zurückdrehen kann. Von nun an gelingt ihm alles, und sein Leben strebt von einem Höhepunkt zum nächsten. Zumindest so lange, bis ihm das Kästchen abhandenkommt. Damit beginnt eine rasante Jagd nach dem Kästchen und dem Phänomen der Zeit, die ihn letztlich zu sich selbst führt.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2025
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für Randolf & Heinz
„Let's do the Time Warp again”
Richard O’Brian
PROLOG
KAPITEL 1 Das Kästchen
Ein dreiviertel Jahr zuvor – Samstag, 15. Juni 2024
KAPITEL 3 „Drück mich!“
Sonntag
KAPITEL 4 Bride of Pin-Bot
Montag
KAPITEL 5 Etwas geht doch noch
Dienstag
KAPITEL 6 Valerie
Mittwoch
KAPITEL 7 Im Intershop
Donnerstag
KAPITEL 8 Pärchenabend
Sonntag
KAPITEL 9 Camus für Germanisten
Die folgende Woche
KAPITEL 10 Plank-Zeit & Kausalität
Drei Wochen später – Samstag
KAPITEL 11 Theaterfest
Zwei Monate später – Samstag
KAPITEL 12 Milena
Einige Tage später – wieder Samstag
KAPITEL 13 Verpfiffen
Eine halbe Stunde zuvor
KAPITEL 14 In der Schwebe
Der folgende Tag
KAPITEL 15 Unter Beobachtung
Etwa zur selben Zeit
KAPITEL 16 Die Offenbarung
Einige Wochen später – Freitag
KAPITEL 17 Ein folgenschwerer Verlust
Die nächsten Wochen bis Ende November
Das Kästchen ist weg!!!
KAPITEL 18 Steiler Aufstieg
Adventszeit
KAPITEL 19 Gelebte Tristesse & ein Fest
Die Tage bis Weihnachten
KAPITEL 20 Gründlich schiefgegangen
Karneval in Hamburg
KAPITEL 21 Das Wesen der Kunst
Das beginnende Jahr bis Karneval
KAPITEL 22 Auf der Spur
Fastenzeit
KAPITEL 23 Hoffnungserwachen
Die Zeit nach Ostern
KAPITEL 24 Eine folgenreiche Begegnung
Tags darauf – Sonntag
KAPITEL 25 Wein und Wahrheit
Eine Stunde zuvor
KAPITEL 26 Eine mysteriöse Zusammenkunft
Tags darauf
INTERMEZZO Reflexionen
Am folgenden Dienstag – um die Mittagszeit
KAPITEL 27 Keine Kompromisse
Freitag
KAPITEL 28 Im Escape-Room
Tags darauf – Samstag
KAPITEL 29 Verwirrte Gefühle
Samstag
KAPITEL 30 Slingshot Back
Sonntag, 15. Juni 2025
KAPITEL 1 Reprise Das Kästchen
Zur selben Zeit?
KAPITEL 2 und folgende Déjà-vu
Sonntag und die folgende Zeit
Nachwort
Playlist
Personen
Postcredit
Ein Schuss, gefolgt von einem Gepolter dicht neben ihm, reißt ihn aus einem dämmrigen Halbschlaf. Noch bevor er die Augen öffnet, zerreißt ein weiterer Schuss die stickige Luft in dem Zimmer. In dem Moment der folgenden Stille erkennt er die junge blonde Frau neben sich und das Blut, das zwischen ihren Fingern einen Weg aus ihrem Körper sucht.
Er kennt sie erst seit gestern Abend, als er sie an der Bar aufgegabelt hat. Sie bedeutet ihm nichts, aber dass sie hier und jetzt in seiner Suite sterben könnten, das kann er nicht zulassen. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Koks in seinem Kopf, ist er sehr klar und fokussiert.
Vorsichtig tastet er mit der linken Hand unter das Kopfkissen. Blitzschnell greift er nach dem Kästchen, drückt den Knopf, stürzt sich auf den Mann und verpasst ihm einen Kinnhaken, der leider nicht viel ausrichtet. Das irre Entsetzen, das sich in den Augen des Angreifers spiegelt, lässt ihn jedoch taumeln, bevor ein Tritt in den Magen, den Kerl in die Knie zwingt.
Er blickt sich zu der Frau um und stellt erleichtert fest, dass sie starr vor Entsetzen, jedoch unversehrt auf dem Bett sitzt. Eilig schlüpft er in Hose und Schuhe, streift Hemd und Sakko über, läuft auf den Balkon und stürzt sich in die Tiefe.
Die ist zum Glück nicht ganz so tief, da sich die Suite im ersten Stockwerk des Hotels befindet, und er auf der Pergola vor dem Eingangsportal landet. Während er von dieser sicher und unverletzt auf den Gehweg gleitet, entdeckt er zwei weitere finstere Gestalten, die sich zielgerichtet auf ihn zu bewegen. Kurzerhand schlägt er einen Haken und biegt in die schmale Gasse neben dem Hotel. Ziellos läuft er weiter, direkt auf den Fluss zu, der eine Barriere bildet, während sich der Abstand zu seinen Verfolgern deutlich verringert.
Ihm ist bewusst, dass sie nicht schießen, sondern versuchen werden, ihn unversehrt einzufangen. Sie wollen keinen Krieg, sondern nur etwas sehr Kleines, was ihm wichtig ist. Inzwischen hat er keine Idee mehr, wo er sich befindet und wohin er laufen soll. Nicht weit entfernt entdeckt er den Eingang zu einem kleinen Park.
Kurz darauf ist die Verfolgungsjagd vorbei. Gerade als er den winzigen Spielplatz, auf dem er gerade kurz verharrt und Luft geholt hat, verlässt, kommen sie von drei Seiten auf ihn zu. Schnell haben sie ihn erreicht und zu Boden geworfen. Vier grobe Hände durchsuchen ihn fachmännisch.
„Nichts“, zischt einer der beiden frustriert.
„Wir nehmen ihn mit“, antwortet einer der anderen.
So hat er sich seinen Ausflug nach Hamburg nicht vorgestellt und ihm ist klar, dass nun eine harte Zeit für ihn beginnt.
„Ich will rutschen“, quengelt der kleine Junge bereits zum dritten Mal. Aber sie sind spät dran auf ihrem Weg zum Regenbogen-Kindergarten. Sie fasst seine Hand ein wenig fester, als sie den kleinen Park mit dem winzigen Spielplatz durchqueren. In zehn Minuten schließen sie dort die Tür, und dann muss sie wieder bitten und betteln, dass man sie doch noch hineinlässt. Aber er ist unerbittlich und inzwischen kullern Tränen über sein Gesicht, die sie nicht ignorieren kann.
„Also gut, aber nur einmal“, spricht sie ihn freundlich an.
Mit dem Ärmel wischt er sich durchs Gesicht und ist bereits oben auf der Rutsche. Mit viel Schwung und lautem Gejohle landet er im Sand und verharrt für einen Moment.
Da er keinerlei Anstalten macht, sich zu erheben, läuft sie in schnellen Schritten auf ihn zu. Beim dritten Schritt bleibt sie im Sand stecken und verliert ihren rechten Schuh. Als sie den Absatz aus dem Sand zieht, entdeckt sie einen Gegenstand darunter, der nun halb aus dem Sand ragt. Neugierig geworden schiebt sie zwei Handvoll Sand bei Seite, bis es frei liegt. Sie erkennt ein kleines hölzernes Kästchen, hebt es auf und betrachtet es genauer. Inzwischen ist er bei ihr und schaut neugierig auf das Ding in ihrer Hand.
Das Kästchen scheint sehr alt, ist aus einem edlen Holz, das sie nicht kennt und fühlt sich sehr weich und angenehm an. Es misst vielleicht vier mal drei Zentimeter, scheint fast nichts zu wiegen und hat weder ein Schlüsselloch noch ein Scharnier. Stattdessen befindet sich in einer kleinen Vertiefung in der Mitte der Oberseite ein winziger Knopf. In einer feinen geschwungenen Schrift stehen darüber die Worte: Drück mich!
Der eine, alles entscheidende Tag, an dem Edgar Lüdemanns Leben eine fundamentale Wendung nehmen wird, beginnt nicht sehr anders als die letzten dreizehn Samstage, seit seine Exfreundin Felice ihn verlassen, und er sein altes Studentenleben wieder aufgenommen hat.
Ein Sonnenstrahl kitzelt Edgar, den, mit Ausnahme seiner Eltern, alle Menschen, die ihn kennen, nur Eddie nennen, an der Nase und schiebt ihn vorsichtig über die Schwelle zwischen einer sanft elegischen Traumwelt und der nur für ihn bestimmten Realität. Leise verabschieden sich die Gefühle, die ihn im Traum begleiteten, und gemächlich diffundiert in sein Gehirn, was sich gestern und in der Nacht zugetragen hat.
Wieder einmal war er mit seinen Kumpels irgendwo versackt. Im Gontscharow hatten sie ein paar Mädels aufgegabelt und waren mit ihnen um die Häuser gezogen. Georg war bereits ordentlich abgefüllt und hatte die drei Blondinen ausgiebig vollgequatscht, ohne sie in irgendeiner Weise zu beeindrucken. Kalle hatte seinen Charme spielen lassen und mit der Gießkanne unpassende Komplimente über ihnen ausgegossen. Am Ende war es der zurückhaltende Max, den eine der drei mit zu sich nahm, während die anderen beiden Frauen sich verabschiedeten, ohne ihre Telefonnummern zu verraten.
Georg, Kalle und Eddie waren daraufhin in die Havanna-Bar gewechselt, deren Cocktails ihnen den Rest gegeben hatten. Eddie weiß nicht mehr, wie er nach Hause und in sein Bett gekommen ist, aber das ist eigentlich auch egal, denn es ist Samstag und er hat das Wochenende über nichts weiter vor, als seinen Rausch auszuschlafen.
Sein Handy zeigt den 15. Juni 2024, 10:42, also quasi noch mitten in der Nacht. Folgerichtig dreht er sich auf die andere Seite und versucht, noch einmal einzuschlafen. Er liebt diese Rekelzeit, in der er zwischen Traumfetzen und ungelenken Gedanken hin und her wankt. Nur halb bewusst fällt ihm ein, dass morgen Bloomsday ist, als ein schrilles Klingeln brachial in sein Ohr dringt. Er schreckt hoch und bemerkt, wie sich ein diffuser Ärger in ihm ausbreitet. ‚Was soll das? Wer stört ihn hier mitten in der Nacht?‘, fragt er sich und vernimmt, wie nun jemand an die Tür hämmert und seinen Namen ruft.
„Eddie mach auf, sonst holen wir ein Sondereinsatzkommando!“, hört er die Stimme.
Als er sein Bett verlässt, fühlt er sich wie ein alter Mann, der sich mühsam zur Tür schleppt. Zu seiner Überraschung trifft er dort auf seine Kumpels Georg und Kalle, die beide ausgesprochen munter, aufgeräumt und ausgeschlafen wirken.
„Haben wir uns nicht eben erst verabschiedet?“, fragt Eddie an Georg gerichtet.
Dieser nickt freundlich, antwortet jedoch nicht. Stattdessen schlendert er zum Kühlschrank, nimmt sich einen Joghurt und lässt sich auf einem der Hocker am Tresen nieder.
Kalle setzt sich daneben, jedoch ohne einen Joghurt. Beide zeigen ein breites Grinsen und sagen nichts.
Eddie kennt die beiden seit seinem ersten Tag am Gymnasium. Sie waren von derselben Grundschule gekommen und kannten sich bereits ihr halbes Leben. Die beiden waren damals die coolsten Sextaner und Eddie hatte sich schnell mit ihnen angefreundet. In der Untertertia war noch Max aus der Stufe über ihnen dazugekommen und so waren sie seitdem meist zu viert unterwegs.
Während er in die Gesichter seiner Freunde schaut, dämmert es Eddie, warum sie hier sind. Es ist der dritte Samstag des Monats, an dem sie seit Alters her gemeinsam den örtlichen Flohmarkt besuchen. Ein wenig theatralisch schlägt er sich vor die Stirn, murmelt etwas Unverständliches und verschwindet ins Bad.
Als er zurückkehrt, haben die beiden es sich auf dem alten Sofa gemütlich gemacht.
„Alter, du musst hier echt mal Ordnung schaffen! Seit Feli weg ist, verlotterst du richtiggehend“, bemerkt Georg, und Kalle nickt zustimmend, wie eigentlich immer, wenn Georg etwas Bedeutungsschweres von sich gibt.
„Hast du mal wieder etwas von ihr gehört?“, schiebt Kalle nach.
Eddie nickt. „Vor drei Wochen war sie nochmal hier. Zusammen mit ihrem Modekasper hat sie die letzten Sachen abgeholt.“
„Und hast du schon was Neues gefunden?“, fragt Georg.
Eddie weiß, dass Georg nicht die Wohnung meint und ihn nur aufziehen will. Er beschließt, sich nicht darauf einzulassen, schüttelt den Kopf und antwortet: „Ne, das hat keine Eile. Feli war so freundlich, die Miete für das Loft bis zum Jahresende zu bezahlen. Sicher wegen des schlechten Gewissen, weil sie mich für diesen Poser einfach hat sitzen lassen.“
Kalle erhebt sich und mahnt zur Eile. „Wir sollten los. Max treffen wir an der Kirche, zusammen mit der Blonden von gestern.“
Die drei machen sich auf den Weg, treffen Max und seine neue Freundin Elsa und schlendern gemeinsam über den Flohmarkt.
Georg kauft eine alte mechanische Brotschneidemaschine, nach der er schon lange gesucht hat, weil seine Eltern noch so eine hatten, die jedoch von deren Putzfrau kaputt gemacht worden war. Eddie hingegen durchstöbert den Stand mit den alten Jazz-Platten. Zu seiner Freude entdeckt er eine besondere Rarität von Duke Ellington, eine frühe und gut erhaltene Pressung von „Take the A Train“. Später findet er noch eine Originalpressung von Robert Fripps „North Star“ aus dem Jahre 1979.
An einer der Pommesbuden am Rand des Flohmarktes treffen sich alle wieder und genießen jeder eine Currywurst und schauen dem Treiben rund um das Rathaus zu. Am frühen Nachmittag leert sich der Markt und die Ersten beginnen damit, ihr Stände abzubauen. Max und Elsa verabschieden sich, ebenso Georg und Kalle, die noch etwas erledigen müssen, wie sie sagen. „Bis heute Abend“, rufen sie ihm noch zu.
Eddie hat keine Lust, schon nach Hause zu gehen. Zudem sucht er noch nach einer Kleinigkeit für Valerie, die in der kommenden Woche ihr Auslandsemester in Grenoble beendet haben und zurück nach Hause kommen wird. Valli liebt kleine abseitige und völlig nutzlose Gegenstände und solche gibt es eigentlich nur hier.
Ein wenig ziellos schlendert er herum und verirrt sich an den Rand des Flohmarktes in eine Seitenstraße, wo er zuvor nicht vorbeigekommen ist. Dort entdeckt er einige Stände mit Vintage Klamotten sowie allerlei Krimskrams.
Am Ende der Straße ist eine junge Frau dabei, ihren Kram in Kartons zu packen. Sie wirkt ein wenig entrückt, als wäre sie nicht ganz bei der Sache. In ihr braunes Haar hat sie zwei schmale Zöpfe geflochten, die ihr immer wieder ins Gesicht fallen, während sie ihre Kisten packt.
Der Hippietyp vom Nachbarstand hat bereits alles in seinem Kombi verstaut. Während er in das Auto einsteigt, hebt er lässig die Hand und ruft herüber: „Tschüss Julie, mach‘s gut bis nächsten Monat.“
Die Frau schaut zu ihm rüber, winkt ihm zu und erwidert etwas, das Eddie nicht versteht, obwohl er nun direkt vor ihrem Tisch steht und sich den restlichen Tüddelkram ansieht.
Während sie eine weitere Kiste hervorholt und auf den Tisch hievt, murmelt sie unfreundlich etwas vor sich hin.
Eddie räuspert sich. „Was hast du gesagt?“
„Ist geschlossen“, erwidert sie, ohne ihn dabei anzusehen.
„Ich wusste nicht, dass es hier Öffnungszeiten gibt“, hört Eddie sich sagen und fragt sich, wie sein Gehirn jetzt darauf kommt.
Aber sie scheint ihn nicht gehört zu haben oder tut zumindest so. Der seichte Wind spielt mit ihrem Haar und er fragt sich, wie sie wohl aussieht, wenn sie lächelt.
Während sie weiter einpackt, schaut er sich die restlichen Dinge an, weniger aus Interesse, sondern um sie unauffällig zu beobachten, was sie sicher längst bemerkt hat.
Gerade als ihre Hand danach greifen möchte, entdeckt er das Kästchen. Es ist sehr klein, aus einem edlen Holz mit kaum sichtbaren Verzierungen und einer winzigen Schrift drauf. Sie hält es bereits in der Hand, als er seine Hand auf ihren Arm legt und sie bittet, ihm das Kästchen zu zeigen. Sie zeigt ihm ein mürrisches Gesicht und hält kurz inne.
„Bitte Julie, ich will es nur kurz anschauen.“
Vorsichtig öffnet sie die Hand und reicht ihm das Kästchen. Eddie staunt darüber, wie weich es sich anfühlt und irgendwie warm und es scheint ihm, als würde es fast nichts wiegen. Er schaut es genauer an, bestaunt die Verzierungen, wiegt es in der Hand hin und her und entdeckt einen winzigen Knopf in der Mitte der Oberseite. Darüber befindet sich eine Inschrift, die er nur mit Mühe entziffern kann. Er hält sich das Kästchen dicht vor die Augen und liest Drück mich!
Eddie fällt nicht ein, woran ihn das erinnert, aber er hat den Eindruck, dass es ihn und nur ihn damit meint.
Julie steht immer noch vor ihm, wippt ungeduldig hin und her und fragt: „Was ist nun, willst du es kaufen oder nicht?“
Er nickt und fragt zögerlich: „Was willst du dafür haben?“
„Zehn Euro“, entfährt es ihr. „Soll ich es einpacken?“
Eddie schüttelt den Kopf, kramt zwei Geldscheine aus seiner Hosentasche hervor und reicht sie ihr. „Was passiert, wenn man auf den Knopf drückt?“, fragt er und schaut direkt in ihr, von Sommersprossen übersätes Gesicht.
Sie zuckt mit den Schultern. „Weiß nicht, probier’s aus.“
Eddie glaubt ihr kein Wort, aber er lässt es auf sich beruhen und das Kästchen vorsichtig in seine Hosentasche gleiten. Ohne ihn noch zu beachten, packt sie weiter ihre Sachen ein und ist auch bald damit fertig, während er immer noch vor dem Tapeziertisch steht und ihr zusieht. Mit einem gekonnten Handgriff klappt sie den Tisch zusammen und verstaut ihn in ihrem Kombi. Bevor sie einsteigt, haucht sie ein leises „Tschüss“ und zeigt ihm doch noch ein angedeutetes Lächeln.
Eddie hebt lässig die Hand und ruft herüber: „Tschüss Julie, mach‘s gut bis nächsten Monat.“
Auf dem Weg nach Hause fühlt er sich irgendwie benommen und er weiß nicht, ob es das Kästchen, Julies Lächeln oder doch nur der Restalkohol ist.
In seinem Loft angekommen, kramt er das Kästchen hervor und überlegt kurz, ob er den Knopf drücken soll. Irgendetwas sagt ihm, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist. Daher legt er es auf seinen Nachttisch. Im Kühlschrank findet er noch einen Zitronenjoghurt und einen Eisbergsalat, die zusammen eine kleine Zwischenmahlzeit für ihn sind.
Georg hatte heute Morgen gemeint, er solle mal Ordnung schaffen, und wenn er sich so umschaut, muss er ihm wohl Recht geben. Seit Felice weg ist, sieht es hier wirklich ziemlich übel aus. Ungefähr so ähnlich wie in seiner Seele.
Das Loft, das nur aus einem weitläufigen hohen Raum besteht, hat bodentiefe breite Fenster, an zwei Seiten mit Vorhängen aus tiefrotem Samt, die in letzter Zeit meist zugezogen waren. Nicht weit von dem breiten Doppelbett aus weiß gestrichenem Buchenholz befindet sich eine altertümliche Badewanne mit vier Füßen aus weißer Emaile. In der anderen Ecke gibt es eine moderne Küchenzeile und davor einen sehr langen hölzernen Esstisch mit jeweils zehn antiken Stühlen an jeder Seite sowie einem Sessel vor Kopf. In der hinteren Ecke hat er sich einen Arbeitsbereich eingerichtet und schräg gegenüber zwei Sofas über Eck platziert. Lediglich Toilette und Dusche sind in einem kleinen Raum neben dem Eingang abgetrennt.
Früher einmal diente das Haus als Fabrik für was auch immer. Später hatten findige Architekten die Halle entkernt, Zwischendecken eingezogen und drei Luxuslofts daraus gemacht.
Als Felice ihn damals nach ihrem ersten Rendezvous hierhin zu sich mitgenommen hatte, war er sofort überaus fasziniert gewesen, von diesem Raum, der ihre Wohnung bildete. Wenige Monate später war er zu ihr gezogen. Seine wenigen Sachen hatten genügend Platz gefunden und so lebten sie zwei Jahre lang gemeinsam hier und verbrachten eine gute Zeit.
Bis der Modekasper in ihr, und damit auch in sein Leben einbrach, ihr den Kopf verdrehte und sich als ihr neuer Lover förmlich aufdrängte. Felice hatte nur kurz gezögert, sich entschieden und war dann zu ihm in sein schickes Reihenhaus am Stadtrand gezogen.
Eddie hätte den Kasper am liebsten um die Ecke gebracht, aber wenn er ehrlich zu sich war, und manchmal war er das, so war die Beziehung mit Felice bereits seit längerem in einer tiefen Krise gewesen. Und so war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sie oder er den Abflug gemacht hätte. Dass sie es war, fuchste ihn zwar, aber irgendwie war das auch egal. Bis zum Jahresende konnte er noch hier wohnen und bis dahin musste er sich etwas Neues suchen oder einen sehr, wirklich sehr lukrativen Job finden. Aber auch wenn seine letzten achtzehn Bewerbungen nicht mit Absagen geendet wären, so wäre es trotzdem sehr unwahrscheinlich, dass er sich das Loft weiterhin leisten könnte.
Um seinen trüben Gedanken keinen weiteren Raum zu geben, greift er nach seinem aktuellen Lieblingsbuch und macht es sich auf einem der Sofas bequem.
Später am Abend macht er sich auf den Weg zum Puvogel, wo die anderen bereits auf ihn warten und die vier alten Flipperautomaten belagern. Der Puvogel ist eigentlich eine Kneipe, aber zugleich so etwas wie ihr Vereinsheim, indem sie dem Flippersport frönen. Tatsächlich haben sie vor einigen Jahren den Verein Tilt42 gegründet und seitdem nehmen sie regelmäßig an Flipperturnieren in der Region teil.
Dabei treten sie in zwei Mannschaften mit je vier Spielerinnen oder Spielern an. Seit Gründung des Vereins war Eddie fast immer in der ersten Mannschaft, aber seit Felice ihn verlassen hat, ist seine Spielstärke drastisch abgestürzt. Und so ist es auch heute wieder. Er spielt so schlecht, während die andern kopfschüttelnd danebenstehen.
Irgendwann beginnen die Ersten zu maulen. „Mensch Eddie, seit Feli weg ist, spielst du wie ein Amateur. Konzentrier dich doch mal!“
Eddie verzieht sein Gesicht und möchte etwas antworten, als ihm auch die letzte Kugel mittendurch rauscht. Ein Blick auf die Punktzahl bestätigt ihm, was die anderen bereits wissen. Und so wundert es ihn nicht, als Georg plötzlich neben ihm steht. „Nimm es nicht persönlich, aber ich glaube, es ist besser, wenn du mit Max tauschst und für ihn in die Zweite gehst.“
Ausgerechnet Max, der eigentlich nur der Geselligkeit wegen dabei ist, wie er einmal sagte. Aber heute hat er einen Lauf, muss Eddie zugeben. Sicherlich weil Elsa als Gästin dabei ist und er sie beeindrucken möchte, was ihm auch vortrefflich gelingt.
Eddie nickt nur. „Wer ist in der Zweiten noch dabei?“
Georg, der selbst die Erste anführt, tut so, als müsste er nachsehen. „Valerie führt die Zweite, Randolf und Heinz sind noch dabei, und du bist an vier gesetzt.“
Eddie verzieht sein Gesicht und weiß nicht, was ihn mehr entsetzt. Er braucht einen Moment, sich zu fassen. „Echt jetzt? Du hast Valli in die Zweite versetzt? Was soll das denn?“
„Mann Alter, Valerie war mehr als ein halbes Jahr weg. Wer weiß, wie sie heute spielt?“, antwortet Georg trocken.
Eddie hat keine Lust auf dieses Gespräch. Valli war immer die Beste von ihnen allen gewesen und hatte die erste Mannschaft angeführt. Mit ihr als Kapitänin hatten sie viele Pokale gewonnen, die in einer Ecke des Puvogel in einer staubigen Vitrine stehen. Aber vielleicht ist es besser so und irgendwie freut er sich darauf, mit ihr zusammen in einer Mannschaft zu spielen, auch wenn es die Zweite ist, die noch nie irgendetwas gewonnen hat.
Später beschließen die anderen, noch in die Stadt zu gehen, aber Eddie ist müde, hat keine Lust, verabschiedet sich und läuft durch die laue Nacht nach Hause zu seinem Loft.
Dort angekommen trinkt er noch ein Bier auf der Loggia und schaut in den Sternenhimmel. Dabei wird ihm mehr und mehr blümerant zu Mute. Seine Gedanken verirren sich immer wieder in denselben Schleifen, wie Fäden, die sich zu einem Knäuel verdichten, das sich nicht mehr entwirren lässt. Jeder dieser Fäden steht für eine andere Facette seines unsteten Lebens, die in jedweder Hinsicht in einer Sackgasse endet.
Seine einzige längere Beziehung ist gerade eben, mit einem mächtigen Theaterdonner, zu ihrem Ende gekommen, seine Karriere ist bereits gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hat, sein dreißigster Geburtstag, der allgemein als große Zäsur in einem Leben angesehen wird, liegt gerade hinter ihm, demnächst wird er kein Dach mehr über dem Kopf haben und nun spielt er auch noch in der zweiten Mannschaft.
Bei einem zweiten Bier versucht er, seine Gedanken in eine positive Richtung zu lenken, was ihm nicht wirklich gelingen mag. Bis ihm das Lächeln der Frau auf dem Flohmarkt in den Sinn kommt. Während das Bild in seinem Kopf ihm ein leicht wohliges Gefühl schenkt, fällt ihm das Kästchen wieder ein, das immer noch unberührt auf seinem Nachttisch liegt.
Kurzerhand holt er es, setzt sich wieder in seinem Liegestuhl und betrachtet es ausgiebig von allen sechs Seiten. Er kann kaum glauben, wie leicht es sich anfühlt. Eine besondere, plastisch intensive Maserung lässt es sehr alt erscheinen.
Andererseits finden sich keinerlei Beschädigungen oder Gebrauchsspuren daran, so dass es frisch und neu wirkt. Das Holz sieht wertvoll und exotisch aus und er hat keine Idee, um welche Holzart es sich handelt.
Die Schrift ist auf eine vornehme Weise verschnörkelt, jedoch deutlich lesbar. Eddie wundert sich, dass es zwei deutsche Worte sind, obwohl das Kästchen den Eindruck zu vermitteln versucht, von weit her zu stammen. Drück mich!
Das klingt unverhohlen fordernd wie gleichermaßen geheimnisvoll, da in keiner Weise ersichtlich ist, warum irgendjemand den Knopf drücken soll, und schon gar nicht, was dann passiert. Und das leicht schräge Ausrufungszeichen verleiht der Aufforderung den nötigen Nachdruck.
Mit einem Mal fällt Eddie wieder ein, woran ihn die Inschrift erinnert: Nachdem Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau gefolgt und in dem Raum mit den vielen Türen gelandet ist, die allesamt zu niedrig sind, um hindurch zu gelangen, findet sie das Fläschchen mit der Aufschrift Trink mich!
Auch für Alice ist in keiner Weise ersichtlich, was passiert, wenn sie der Anweisung Folge leistet. Mit kindlicher Unbefangenheit zögert sie keinen Moment, aus dem Fläschchen zu trinken. Der Rest ist bekannt.
Eddie fragt sich, ob ihm Ähnliches passieren könnte, wie Alice in ihrem Wunderland und ob es ein ebensolches Durcheinander auslösen könnte, wie in dem Kinderbuch.
Einem unausgegorenen, fast spontanen Impuls folgend, legt er den kleinen Finger seiner rechten Hand auf das winzige Loch, in dem sich der Knopf befindet. Die widerstreitenden Stimmen in seinem Kopf werden übertönt von seinem, nun deutlich pochenden Herzen. Zaghaft zögernd und zugleich von drängender Neugier getrieben, kratzt er eine hinreichende Portion Mut zusammen, lässt seine Fingerkuppe in das Loch gleiten, berührt den Knopf und übt einen leichten Druck aus, dem der Knopf sogleich nachgibt, als hätte er schon lange drauf gewartet.
Erfüllt von gespannter Neugier starrt Eddie auf seinen Finger und auf das Kästchen in seiner Hand. Ein, zwei, drei Sekunden vergehen und dann geschieht etwas, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hat, nämlich rein gar nichts!
Er braucht einen Moment, es zu begreifen. Er hatte mit allerlei Möglichem gerechnet, Wahrscheinlichem, wie Unwahrscheinlichem, jedoch nicht damit. Eddie spürt, wie sich eine zähflüssige Enttäuschung in ihm breitmacht, über die er sich sogleich zu wundern beginnt. Hatte er wirklich geglaubt, das Kästchen hätte irgendeine Bedeutung, und es würde irgendetwas geschehen, wenn man den Knopf drückt? Ganz offensichtlich hat sich jemand einen Spaß erlaubt, als er diesen Scherzartikel gebaut hat.
In diffuser Weise frustriert, knallt er das Kästchen auf den kleinen Tisch neben die beiden leeren Bierflaschen. Dann beschließt er, diesem absurden Tag ein Ende zu setzen und ins Bett zu gehen. Beim Zähneputzen betrachtet er sein Gesicht im Spiegel und sucht nach einer Veränderung darin. Erneut schallt er sich einen Narren, wegen seines kindlichen Gemüts. Nicht viel später fällt er in einen tiefen Schlaf.
Bevor er die Augen schließt und sich auf seine Einschlafseite dreht, kommt ihm kurz die Idee, dass vielleicht doch etwas passiert sein könnte, von dem er jedoch nichts mitbekommen hat. Dieser, wie sich später herausstellen wird, kluge Gedanke ist jedoch am kommenden Morgen bereits wieder vergessen.
Hinweis: Falls jemand Kapitel 2 vermisst. Das lassen wir hier mal aus, aber holen es später nach, denn es birgt einige Geheimnisse, die hier noch nicht verraten sein wollen.
Eddie erwacht aus einem traumlosen Schlaf und fühlt sich ordentlich wischi-waschi, wie Valli jenen Zustand des Gemüts nennt, bei dem man nicht genau weiß, ob es gut oder schlecht, normal oder meschugge, verheißungsvoll oder illusionslos ist, wie man sich fühlt. Er dreht sich auf die andere Seite, erkennt jedoch, dass er wohl nicht wieder einschlafen wird.
Nach einem kargen Frühstück macht er sich auf den Weg zu seinen Eltern, bei denen er an jedem zweiten Sonntag zu Mittag isst. Weil das Wetter so schön ist, wie seine Mutter zur Begrüßung verkündet, hat sein Vater den alten Grill aus dem Keller geholt, und gemeinsam schleppen sie das schwere Ding nach hinten in den Garten.
Während der Vater versucht, das Feuer zu entfachen, trägt die Mutter eine Schüssel nach der anderen zum Gartentisch. Eddie liegt derweil in einem Liegestuhl unter der mächtigen Trauerweide und lässt seine Gedanken umherfliegen.
„Hilf deiner Mutter doch mal“, fordert der Vater, doch die Mutter winkt nur ab: „Ach lass doch den Jungen, der hat doch sonst immer so viel zu tun, dann kann er sich doch heute am Sonntag mal ein wenig entspannen.“
Bei ‚viel zu tun‘ schnauft der Vater verächtlich, sagt jedoch erst einmal nichts weiter dazu. Damals, nach dem bestandenen Abitur, hatte er Eddie aufgefordert, nun auch etwas daraus zu machen und mit ‚etwas‘ hatte er etwas gemeint, mit dem sich ordentlich Geld verdienen ließe, so wie er selbst in seiner Bank, die genau genommen gar nicht seine war. Seitdem hatte es häufig Streit gegeben, der meist damit endete, dass der Vater ihm vorwarf, nichts aus seinen Talenten gemacht zu haben. Selbst sein Doktortitel, auf den die Mutter sehr stolz ist, kann den Vater nicht beeindrucken, da Eddie ja kein Arzt und damit auch kein richtiger Doktor ist, wie er schon häufig verkündet hat.
Später sitzen sie zu dritt an dem Gartentisch, auf dem sich verschiedene Salate, ein Dutzend frische Brötchen, Senf & Ketchup sowie ein riesiger Fleischteller mit Steaks und Würstchen tummeln.
„Erwartet ihr noch Besuch?“, fragt Eddie, scheinbar unbefangen.
Die Mutter lacht. „Du bist mir einer. Wer soll denn noch kommen?“ Dann blickt sie auf den Fleischteller und ergänzt: „Falls nachher noch etwas übrig ist, packe ich es dir ein.“
Dann stoßen sie miteinander an. Die Mutter verteilt das Fleisch und die Salate auf die Teller, und dann genießen sie schweigend das Essen. Zwischen zwei Würstchen fragt der Vater: „Und?“
Eddie kennt seinen Vater lange genug, um solche sehr kurzen und unspezifischen Fragen gewohnt zu sein, jedoch offenbar noch nicht lange genug, um zu wissen, was er meint.
Wie sonst auch, springt die Mutter ein und erklärt: „Dein Vater meint, ob du schon jemand Neues hast.“
Der Vater nickt, und Eddie schüttelt den Kopf, woraufhin auch der Vater seinen Kopf schüttelt.
„Felice war eine gute Frau! Du hättest sie nicht vergraulen sollen“, spricht der Vater zwei ungewohnt lange Sätze.
Eddie weiß, dass es keinen Zweck hat, sich irgendwie zu rechtfertigen.
„Sie war eine blasierte Pute“, mischt die Mutter sich ein und verschränkt die Arme vor ihrer Brust. „Ich bin sehr froh, dass Edgar sie los ist und wir hier einträchtig und zu dritt beisammen sein können.“ Mit der Hand deutet sie auf das Fleisch auf ihrem Teller und ergänzt: „Mit ihrem Vegetarierinnen-Getue hätte sie heute nur wieder lustlos auf ihren Tofu-Würstchen herumgekaut und uns allen die Laune verdorben.“
Eddie muss innerlich schmunzeln, da sie beide in gewisser Weise Recht haben. Der Vater hatte Felice geliebt, vor allem da sie aus gutem Haus kommt, ihre Eltern sehr wohlhabend sind, und sie einen gutbezahlten Job hat, mit dem sie sich sogar das Loft leisten konnte.
Ihre vornehme, wie manchmal hochnäsige Art hatte seine Mutter immer geärgert, was sie oft mit spitzen Be merkungen zum Ausdruck brachte. Nach den sonntäglichen Mittagessen bei seinen Eltern hatte es meist Streit mit Felice gegeben, da er sie, ihrer Meinung nach, nicht hinreichend unterstützt hatte.
„Immerhin bist du schon dreißig und irgendwann wollen wir ja auch mal Enkelkinder“, erklärt der Vater.
Eddie überlegt, wie er das Gespräch in eine andere Richtung lenken kann. „Valli kommt diese Woche nach Hause.“
Der Vater nickt, während die Mutter ihr Gesicht verzieht.
„Sie wohnt für ein paar Tage bei mir, da sie ihr Zimmer in der WG bis Ende des Monats noch vermietet hat“, ergänzt er.
„Valerie war auch eine gute Frau!“, brummt der Vater.
Der Vater hatte auch Valli geliebt, auch wenn sie keineswegs aus gutem Hause kam. Obwohl sie alles andere als blasiert oder vornehm und auch keine Vegetarierin ist, kann die Mutter sie noch weniger leiden als Felice, da Valerie anders ist, wie die Mutter es ausdrückt. ‚Anders auf eine schlechte Weise‘, wie sie einmal sagte.
„Und?“, wechselt der Vater offenbar das Thema.
„Diesmal meint er, ob du einen Job hast?“, hilft die Mutter.
Der Vater nickt, und Eddie schüttelt den Kopf, woraufhin auch der Vater seinen Kopf schüttelt.
„Junge, wo soll das noch mit dir enden?“
Das fragt sich Eddie neuerdings auch des Öfteren, ohne darauf eine Antwort zu wissen.
Wieder zu Hause nimmt Eddie ein ausführliches Bad und versucht die Patina der Vergangenheit, die sich bei jedem Besuch in seinem Elternhaus in dicken Schichten auf ihn legt, so gut es geht abzuwaschen.
Den Nachmittag verbringt er mit einer Kanne edlen Darjeeling-Tee, second flush aus dem Teegarten Jungpana und einem Buch auf seinem Sofa. Irgendwann später bemerkt er, wie seine Gedanken immer wieder abschweifen und er den einen Satz bereits zum dritten Mal gelesen hat, ohne etwas von seinem Inhalt mitbekommen zu haben: ‚Was hat Bloom gerade gemeint? Und was soll das überhaupt alles?‘
Offensichtlich hat er für Geistreiches nicht mehr das notwendige Aufmerksamkeitslevel und so landet er schließlich auf Netflix beim Witcher, seiner derzeitigen Lieblingsserie.
Nachdem Gerald und Rittersporn versehentlich den Dschinn befreit haben, ist Rittersporn schwer erkrankt. Zu ihrem Glück erreichen sie noch rechtzeitig Yennefer, die sich vorübergehend in einem alten Gemäuer am Rande einer kleinen Stadt eingerichtet hat. Es bedarf einiger Überredungskunst, sowie Geralds eigentümlichem Charme, sie zu überzeugen, zu helfen. Tatsächlich gelingt es ihr, Rittersporn zu heilen. Aber Yennefer führt Böses im Schilde und versucht, den Dschinn zu fangen und den letzten Wunsch für sich zu haben, wodurch sie sich jedoch in große Gefahr bringt, wie Gerald erkennt.
Eddie schaut gebannt auf den großen Flachbildschirm gegenüber dem Sofa. Tatsächlich versinkt er tief in der Handlung und vergisst dabei die echte Welt um sich herum. Nur hin und wieder nimmt er sich ein paar Erdnüsse aus der Schale auf dem Tisch.
Yennefer hat es inzwischen geschafft, den Dschinn in ihrer Kammer oben in dem Gemäuer gefangen zu halten. Der Dschinn wehrt sich nach Kräften und es kommt zu einem Kampf mit Yennefer, den der Dschinn nicht gewinnen kann.
Gerade als Yennefer glaubt, die Macht über den Dschinn erlangt zu haben und nun ihren Wunsch ausspricht, fallen ein paar Erdnüsse aus Eddies Hand auf den Boden. Er bückt sich danach und sammelt sie auf. Dadurch verpasst er den Schlüsselmoment, in dem Gerald in der Kammer erscheint und Yennefer begreift, dass nicht Rittersporn, sondern Gerald die zwei ersten Wünsche erhalten hat.
Mit der Fernbedienung setzt Eddie die Folge um zehn Sekunden zurück.
Gerade als Yennefer glaubt, die Macht über den Dschinn erlangt zu haben und nun ihren Wunsch ausspricht, geschieht nichts. Im selben Augenblick erscheint Gerald in der Kammer.
Eddie erinnert sich noch zu gut, wie er früher im analogen Fernsehen, so oft die spannendsten Szenen unwiederbringlich verpasst hatte, weil er durch irgendetwas abgelenkt war. Dank der Zehn-Sekunden-Zurück-Taste der Streamingdienste muss man heute nichts mehr verpassen.
Eddie stoppt den Film, geht auf die Toilette und nimmt sich auf dem Rückweg ein Bier aus dem Kühlschrank. Bei einem kurzen Blick aus dem Fenster erkennt er einen Blitz, der den dunklen Himmel kurz erleuchtet, gefolgt von einem Donner. Sogleich beginnt ein Gewitterregen vom Himmel zu fallen.
Für einen kurzen Moment ist Yennefer verwirrt, dann erkennt sie, dass nicht Rittersporn, sondern Gerald die Macht über den Dschinn und auch die beiden ersten Wünsche erhalten hat. Während Yennefer versucht, Gerald seine Macht über den Dschinn zu entreißen, und sie beide miteinander ringen, redet Gerald auf sie ein und versucht, ihr klarzumachen, dass sie den Dschinn nicht besiegen kann und ihn freigeben soll.
Eddie starrt gebannt auf den Bildschirm und ist nun voll und ganz von der Handlung eingenommen. Blitz und Donner in der realen Welt nimmt er kaum wahr. Und so bemerkt er fast nicht, wie er das Kästchen in die Hand nimmt, das neben seinem Buch auf dem Sofa gelegen hat.
Gerald und Yennefer kämpfen miteinander und Eddie weiß, dass Gerald keine Chance hat, gegen die Frau anzukommen. Yennefer ist überzeugt davon, dass der Dschinn ihre letzte Chance ist, und Gerald ist sicher, dass der Dschinn ihr sicherer Tod sein wird, wenn es ihm nicht gelingt, sie zu beschützen, was nicht so leicht ist, während sie einander bekämpfen.
Eddie liebt diese Serie, auch weil er sich voll und ganz in ihr verlieren kann, was ihm heute guttut. Während Yennefer versucht, sowohl den Dschinn als auch Gerald in Schach zu halten und Gerald seine ganze Kraft aufwendet, streicht Eddie über das Kästchen in seiner Hand.
Der Kampf zwischen Gerald, dem Dschinn und Yennefer zieht sich hin, und Gerald spürt, wie die Kraft ihn verlässt und er nicht mehr dagegenhalten kann. Erschöpft sinkt er in sich zusammen. Dann reißt er die Augen weit auf.
Eddies Finger liegt auf der Vertiefung, und in dem Augenblick, wo Gerald versteht, was die Lösung in dieser ausweglosen Situation sein kann und wo er den dritten Wunsch benutzt, um Yennefer zu retten, und sogleich der Dschinn verschwindet, drückt Eddie unbewusst auf den Kopf.
Der Kampf zwischen Gerald, dem Dschinn und Yennefer zieht sich hin und Gerald spürt, wie die Kraft ihn verlässt und er nicht mehr dagegenhalten kann. Erschöpft sinkt er in sich zusammen. Dann reißt er die Augen weit auf.
Überrascht schaut Eddie auf den Bildschirm und braucht einen Moment, zu realisieren, dass er die Szene gerade eben bereits gesehen hat. Er blickt auf das Kästchen in seiner Hand…
… Gerald versteht, was die Lösung in dieser ausweglosen Situation sein kann und wo er den dritten Wunsch benutzt, um Yennefer zu retten, und sogleich der Dschinn verschwindet …
… und erkennt, dass er ohne jede Absicht den Knopf gedrückt hat, was er nach kurzem Zögern erneut tut.
Gerald spürt, wie die Kraft ihn verlässt und er nicht mehr dagegenhalten kann. Erschöpft sinkt er in sich zusammen. Dann reißt er die Augen weit auf.
Nun etwas weniger überrascht bemerkt er, wie es in seinem Gehirn arbeitet und er langsam beginnt, zu verstehen …
… Gerald versteht, was die Lösung in dieser ausweglosen Situation sein kann und wo er den dritten Wunsch benutzt, um Yennefer zu retten, und sogleich der Dschinn verschwindet. Ein heller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner bringt das Gemäuer krachend zum Einsturz!
Und Eddie begreift endlich, was es mit dem Kästchen auf sich hat! Ein wenig enttäuscht schaut er es an und macht sich klar, dass es sich lediglich um eine einfache Fernbedienung für den Fernseher handelt.
Kurz darauf beobachtet Eddie, wie sich Gerald und Yennefer küssen, und er fragt sich, wie es nun dazu gekommen ist. Hat er etwas verpasst? Dass sich zwischen den beiden etwas anbahnt, war schon bei ihrer ersten Begegnung, zu Beginn der Folge klar, aber wie es jetzt so schnell dazu kam, erschließt sich ihm nicht. Kurzerhand lässt er die letzten Erdnüsse in seinem Mund verschwinden und drückt erneut den Knopf.
… wo er den dritten Wunsch benutzt, um Yennefer zu retten, und sogleich der Dschinn verschwindet. Ein heller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner …
Ohne hinzusehen, greift er in die Schüssel mit den Erdnüssen und lässt sie in seinem Mund verschwinden. Es braucht einen kurzen Moment, bis er es bemerkt. Mit einem Mal hört er auf zu kauen, schaut in die leere Schüssel und erkennt, dass diese eben auch schon leer war. Gerald und Yennefer küssen sich schon wieder, und Eddie hat erneut verpasst, wie es dazu kam. Noch einmal drückt er den Knopf …
Ein heller Blitz, gefolgt von einem gewaltigen Donner bringt das Gemäuer krachend zum Einsturz!
Vorsichtig und deutlich aufgeregt schaut Eddie nach unten: In der Schüssel auf dem Tisch befinden sich ein knappes Dutzend Erdnüsse!
Er ist verwirrt, wie lange nicht. Okay, genau genommen, wie seit vor einem halben Jahr, als er den Modekasper Hand in Hand mit seiner damals noch Freundin Felice in der Stadt gesehen hat.
Eigentlich ist er nicht allzu begriffsstutzig, aber das hier will sich ihm nicht erschließen. ‚Was bedeutet das? Wie kann das Kästchen die Erdnüsse wieder herzaubern, die in seinem Bauch sein sollten?‘, denkt er und erkennt sofort, wie absurd allein die Frage ist.
Inzwischen sind Gerald und Yennefer schon wieder in ihren Kuss vertieft, aber das ist Eddie nun tatsächlich egal. Mit der anderen Fernbedienung schaltet er den Fernseher aus und versucht, seine Gedanken zu ordnen.
Spontan kommt ihm ein Gedanke, der beträchtlich ungeheuerlich ist, jedoch die einzig logische Erklärung liefert. Kurzerhand nimmt er das Buch vom Sofa auf und wirft es auf den Boden. Dann drückt er den Knopf und das Buch liegt wieder auf dem Sofa, ohne dass es sich irgendwie dorthin bewegt hat.
Mit dem Kästchen in der Hand läuft er in die Küche, nimmt ein rohes Ei aus der Eierpackung und legt es auf den Tisch. Dann stupst er es an, so dass es vom Tisch herunterrollt, zu Boden fällt und in tausend Teile zerspringt. Während sich das Eigelb über den Boden ergießt und eine ziemliche Sauerei hinterlässt, zögert er einen Augenblick, bevor er den Knopf drückt. Sogleich liegt das Ei unversehrt und reglos auf dem Tisch, und der Boden ist blitzblank, wie zuvor. Eddie kann es immer noch nicht glauben.
Er kramt sein Handy hervor, wählt die Stoppuhr-App aus und startet den Timer, der sofort damit beginnt, blitzschnell Sekunden, Zehntel- und Hundertstelsekunden hochzuzählen.
Als das Display Sekunde dreißig anzeigt, drückt er den Knopf. Das Display zeigt sogleich Sekunde zwanzig und zählt ungerührt weiter.
Schließlich läuft er zu seinem Nachttisch, kramt in der Schublade herum, bis er seine alte mechanische Armbanduhr gefunden hat. Mit dem kleinen Rädchen an der Seite zieht er sie auf, und sofort beginnt der Sekundenzeiger mit einer gleichförmigen Bewegung rund um das Ziffernblatt.
Als der Zeiger oben bei der Zwölf angekommen ist, drückt er erneut den Knopf. Ohne eine sichtbare Bewegung steht der Sekundenzeiger sofort auf der Zehn und bewegt sich in Sekundenschritten auf die Zwölf zu. Zur Sicherheit wiederholt er das Experiment ein halbes Dutzend Mal, ohne etwas anderes zu beobachten.
Eddie setzt sich auf das Sofa, lässt sich nach hinten fallen und starrt eine Weile lang vor sich hin. Dann zwickt er sich in den Arm, wie es die Leute manchmal in Filmen machen, um zu prüfen, ob sie träumen. Es tut ein klein wenig weh, aber er weiß damit immer noch nicht, ob er das Alles nur träumt oder sich vielleicht plötzlich in einem Paralleluniversum befindet; einem in dem man die Zeit zurückdrehen kann.
Vorsichtig legt er das Kästchen auf den Tisch. Dann formuliert er in seinem Kopf einen wahrhaft tollkühnen Gedanken: Offenbar handelt es sich bei dem Kästchen tatsächlich um eine Art Fernbedienung. Allerdings nicht für einen Fernseher, wie er vorhin noch dachte, sondern für das Leben als solches, konkret für sein eigenes Leben! Und bei jedem Knopfdruck springt die Zeit um präzise zehn Sekunden zurück!
Eine lange Weile sitzt er nur reglos da und starrt vor sich hin, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Frau vom Flohmarkt, Julie kommt ihm in den Sinn. Ist sie vielleicht einer Zauberin, wie Yennefer? Sofort schämt er sich für diesen Gedanken. Vielleicht sollte er nicht so viele Fantasyfilme schauen. Möglicherweise ist er aber auch einfach verrückt geworden, ohne es bemerkt zu haben. Vorsichtig wirft er einen verstohlenen Blick auf das Kästchen, das ihm jetzt irgendwie bedrohlich vorkommt. Mit einem Mal fühlt er sich sehr erschöpft.
Das Gewitter und der Regen sind inzwischen vorbei. Er stellt sich kurz auf die Loggia und atmet die frische Luft tief ein.
Später im Bett wälzt er sich hin und her und überlegt, wie er seine neu gewonnene Superkraft einsetzen kann, falls das alles wirklich real ist. Jedoch mag ihm nicht wirklich etwas Sinnvolles einfallen, was ihn frustriert tief in sein Kissen sinken lässt. In dem magischen Augenblick, in dem er in die Schattenwelt hinübergleitet, kommt ihm dann doch noch eine prächtige Idee, die er gleich morgen ausprobieren muss.
Die Woche beginnt täuschend unspektakulär, als wolle sie erst einmal noch verheimlichen, welche Turbulenzen sie für Eddie bereithält. Am Ende dieser Woche wird sein Leben sich vollumfänglich anders anfühlen als in den vergangenen dreißig Jahren.
Eddie erwacht aus bildgewaltigen Träumen und ist für einen Moment ohne Orientierung. Die Nacht über hat er unruhig geschlafen und ist dabei von einer Traumsequenz in die nächste gestolpert. Bruchstücke davon wabern erneut schlaglichtartig durch seinen Kopf und vermischen sich mit dem Lärm, der von draußen an sein Ohr dringt. Als er vorsichtig ein Auge öffnet, erkennt er, dass es noch dämmrig ist. Er dreht sich auf die andere Seite, erkennt jedoch, dass er wohl nicht wieder einschlafen wird.
Nach und nach diffundiert eine besonders prägnante Traumsequenz in sein Bewusstsein, in der es um das Kästchen vom Flohmarkt geht, um eine magische Eigenschaft, die mit der Zeit zu tun hat. Eine Eigenschaft, die er entdeckt und mehrfach ausprobiert hat. Das Ganze kommt ihm mit einem Mal sehr realistisch vor, weniger wie ein Traum und nach und nach dämmert ihm, dass es vielleicht wahr sein könnte. Für eine kurze Weile weiß er wirklich nicht, ob er den gestrigen Abend nur geträumt hat.
Plötzlich hellwach springt er aus dem Bett, greift nach dem Kästchen auf seinem Nachttisch, läuft zum Kühlschrank und wiederholt das Experiment mit dem Ei. Inzwischen nicht mehr überrascht, erkennt er, dass nichts in seinen morgendlichen Gedanken ein Traum war.
Immer noch verwirrt, versucht er die Sache zu verstehen. Hat eine unbekannte Macht ihn in ein Paralleluniversum teleportiert? Hat er aus dem Nichts heraus magische Fähigkeiten entwickelt? Oder treibt irgendjemand einen Scherz mit ihm?
Die Frau vom Flohmarkt kommt ihm in den Sinn. Sie ist seine einzige Verbindung zu dem Kästchen, sie hat vielleicht Antworten. Aber er hat keine Idee, wer und wo sie ist, und der nächste Flohmarkt ist erst im kommenden Monat wieder.
Während das unversehrte Ei auf der Küchenablage eine kontemplative Ruhe emittiert, kommt ihm ein Gedanke in den Kopf, gepaart mit der Verwunderung darüber, dass er sich dies nicht bereits früher gefragt hat: Wird der Weltenlauf für alle um zehn Sekunden zurückgesetzt, also für alle Menschen oder vielleicht sogar für das gesamte Universum, oder etwa nur für ihn?
Bislang war er damit immer allein. Daher weiß er nichts darüber, welche Auswirkungen es außerhalb seiner Wohnung, draußen in der Welt hatte.
Kurzerhand zieht er sich Hose, T-Shirt und Schuhe an, greift nach Einkaufskorb und Geldbörse, steckt das Kästchen in seine linke Hosentasche und verlässt den Loft.
Zwei Straßen weiter befindet sich der Springerplatz, auf dem heute die Marktstände aufgebaut sind. Kurzerhand steuert er auf den Gemüsehändler seines Vertrauens zu und stellt sich in die kurze Schlange.