Smalltalk - Alexander Graf von Schönburg - E-Book
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Beschreibung

Sokrates' Satz «Ich weiß, dass ich nichts weiß» ist die zentrale philosophische Erkenntnis der Menschheit. Wie recht er hatte! Doch das Leben lässt sich meistern, auch wenn man mal nicht den wirklichen Durchblick hat. Solange Sie in der richtigen Situation das Richtige sagen. Mit Witz und scharfem Blick führt Alexander von Schönburg in die Königsdisziplin der Konversation ein – den Smalltalk. Als Experte für alle Fragen des stilvollen Auftritts lautet sein dringender Rat: Halten Sie sich an die geeigneten Themen! Nach der Lektüre dieses Buches plaudern Sie ganz nonchalant über das Gottesteilchen, schütteln dann ein paar flockige Sätze über den neuen Tarantino aus dem Ärmel und räsonieren anschließend wie selbstverständlich über die Lehren des Buddhismus. Alexander von Schönburg liefert eine charmante Handreichung für die Kunst der Konversation – und zugleich ein heiteres Glossar der Gegenwart. Er zeigt: Smalltalk ist als Kulturtechnik kaum zu überschätzen.

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Seitenzahl: 352

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Alexander von Schönburg

Smalltalk

Die Kunst des stilvollen Mitredens

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sokrates’ Satz «Ich weiß, dass ich nichts weiß» ist die zentrale philosophische Erkenntnis der Menschheit. Wie recht er hatte! Doch das Leben lässt sich meistern, auch wenn man mal nicht den wirklichen Durchblick hat. Solange Sie in der richtigen Situation das Richtige sagen.

Über Alexander von Schönburg

Alexander von Schönburg, Jahrgang 1969, hat u.a. für die «Vanity Fair» und die «Vogue» geschrieben. Er war Redakteur der «FAZ

Inhaltsübersicht

MottoDie Eleganz der IgnoranzDie PauschalthemenDas GenderproblemEssenFußballInternetKapitalismusKriminalfälleLuxushotelsModerne KunstPromisSoziale GerechtigkeitWitzeDie JokerthemenAdelBuddhismusErfolgFranzosenGottesteilchenHomosexualitätJagdPferderennenSexZeitZigeunerDie ChloroformthemenAmerikanische AußenpolitikApokalypseDas FAZ-FeuilletonFernsehserienHelmut SchmidtHundeNew YorkQuentin TarantinoSkifahrenSteuermoralZukunftAbschließende RatschlägeStatt einer Bibliographie

The fool doth think he is wise,

but the wise man knows

himself to be a fool.

William Shakespeare, «As You Like It»

Es ist eben nicht mehr möglich,

eine Meinung zu haben.

Christian Kracht, «Tristesse Royale»

Die Eleganz der Ignoranz

Was man alles nicht wissen muss, um mitreden zu können

Sie haben dieses Buch gekauft, um in Gesellschaft den richtigen Ton zu treffen? Sie wollen wissen, wie man miteinander ins Gespräch kommt? Das ist schnell gesagt. Fragen Sie nie «Waren Sie schon im Urlaub?» oder «Was machen Sie beruflich?». Das ist an Spießigkeit nicht zu übertreffen. «Wo leben Sie?» geht eigentlich nur in Berlin. Hier unterhalten sich manche fast ausschließlich über diese Frage. Es hat immer noch ein wenig mit Weltanschauung zu tun, ob man im Osten, Norden oder Westen der Stadt wohnt (die aus dem Süden sieht man nie).

Unbedingt zu meidende erste Sätze sind außerdem:

«Welches Sternzeichen sind Sie?»

«Wann kommt denn Ihr Baby?»

«Entschuldigen Sie, hatten wir schon einmal Geschlechtsverkehr?»

«Kann man eine Geschlechtsumwandlung rückgängig machen?»

«Haben Sie Kokain?»

Sonst ist fast alles erlaubt. Es kommt nur auf die Haltung an.

So. Nachdem nun der Ratgeberteil des Buches abgehakt ist, kann ich mich endlich seinem wahren Zweck widmen. In akademischen Kreisen kursiert ein Witz, der mir zu denken gibt: Erwischt ein String-Forscher seine Frau mit einem Professorenkollegen im Bett. Darauf der Kollege: «Ich kann alles erklären!»

Das Problem ist: Wir leben in einer Zeit, in der alles ständig erklärt wird und wir dennoch zunehmend ahnungslos sind. Sie wollen den Durchblick behalten? Geben Sie es auf! Mehr als das, was auf den folgenden dreihundert Seiten steht, müssen Sie nicht wissen. Dieses Buch ist ein im Zeitalter vollkommener Unübersichtlichkeit längst überfälliges Kondensat all der Themen, bei denen man heute mitreden können muss.

Wir sind wissdumm geworden. Überinformiert und doch ahnungslos. Es ist nicht nur die Menge der Informationen, es ist das Ausmaß von fundiertem Wissen, das langsam lästig wird. Vor ein paar Jahren war es noch etwas Besonderes, am Bahnhof oder Flughafen eine halbwegs aktuelle Ausgabe des «Economist» in die Hand zu bekommen. Heute schicken uns Apps die besten Hintergrundanalysen der Welt aus den seriösesten Quellen im Minutentakt aufs Handy. Und dann all die klugen Podcasts und Blogbeiträge. Und all die doofen Tweets, die man aber trotzdem immer wieder lesen will. Gerade läuft im Radio ein phantastisches Feature über Karl den Großen. Jede Woche erscheinen mindestens fünf Bücher, die man unbedingt haben will. Man kann sie per Mausklick bestellen, aber wann wird man sie lesen? Wir wissen, wann unsere Sonne zu scheinen begann und wann sie verglühen wird, wir kennen die Geschichte unseres Universums, die Beschaffenheit der Botenstoffe im Gehirn, wir wissen Bescheid über die Details der Politik in der Levante oder der Südukraine. Aber wir sind doch komplett ahnungslos. Es kommt ein Punkt, an dem man einsehen muss, dass man nicht unendlich viel Wissen anhäufen kann, dass man nicht alles, was interessant ist, erfahren wird.

«Wie der Körper nur eine bestimmte Menge von Nahrung verdauen kann, so kann unser Kopf nur eine bestimmte Menge von Wissen in sich aufnehmen.» So in etwa hat mir einmal Paris Hilton erklärt, warum das Informationszeitalter sie frustriert. Der Gedanke stammt aber nicht von ihr, sondern von einem anderen bedeutenden Denker – von Friedrich Nietzsche. Er (oder war es Paris Hilton?) sagte auch folgende Worte: «Um das Leben zu begreifen, muss man die Last des Allzuvielwissens abwerfen.»

Interessanterweise deckt sich das mit den neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung. Ein Neugeborenes hat etwa doppelt so viele vernetzte Gehirnzellen wie ein Erwachsener. Lange haben Wissenschaftler gerätselt, warum uns die Natur in diesem Frühstadium des Lebens mit so einem Übermaß von Synapsen beschenkt – und sie ungefähr ab dem dritten Lebensjahr systematisch wieder kappt. Heute weiß man: Dadurch können Kinder in den ersten Lebensjahren besonders viel und schnell lernen. Spätestens ab dem vierten oder fünften Lebensjahr würden allzu viele Informationswege aber zur Belastung werden. Erst wenn sie unterbrochen werden, begreifen wir die Zusammenhänge und ordnen die Dinge ein. Erst die Priorisierung, die Beschränkung, befähigt uns zum Denken.

Wir sollten also endlich von dem zwanghaften Gedanken ablassen, immer Neues erfahren zu müssen. Die Sorge, irgendetwas Wichtiges zu verpassen, stammt noch aus einer Zeit, als Informationen rar und wertvoll waren. Heute muss unser Ziel sein, Informationswege stillzulegen, weniger zu wissen. Stattdessen sollte man versuchen, mehr zu verstehen. Christian Kracht hat recht, wenn er sagt, dass die Welt zu komplex geworden ist, um noch zu irgendetwas eine fundierte Meinung haben zu können. Paradoxerweise folgt daraus aber, dass wir wohl zu allem eine Meinung haben müssen – nur eben mit einer Demut, die uns jede Rechthaberei verbietet. Eine Haltung, die exakt der eines guten Smalltalkers entspricht. Nie recht behalten wollen, aber doch halbwegs originelle Thesen vertreten, um damit spielerisch Widerspruch herauszufordern, darum geht es beim Smalltalk, der, im amüsantesten Fall, von der Lust an der Zuspitzung lebt. Die Vereinfachung ist das einzig probate Mittel, mit den Ungereimtheiten unseres Daseins umzugehen.

Muss man gebildet sein, um gut parlieren zu können? Im Gegenteil, es ist eher hinderlich. In England ist «clever» so etwa das Unfreundlichste, was man über einen Menschen sagen kann. Wir auf dem Festland sind nicht ganz so streng, aber im Grunde gilt auch hier: Leute, die einen mit ihrer Klugheit und Bildung quälen, sind lästig.

Trotzdem: Smalltalk, Chit-Chat, la petite conversation de la table, das zweckfreie Plaudern, hat in Deutschland einen schlechten Ruf. Aber nur, weil man nicht einsehen will, dass es einen Unterschied zwischen Podiumsdiskussionen und gesellschaftlichem Geplauder gibt. Hier erstickt man sich entweder gegenseitig mit geisttötender Banalität, oder man ist versessen darauf, alles bis ins letzte Detail zu erörtern. Bei einer gelungenen Unterhaltung in gesellschaftlichem Kontext – bei einem Abendessen, auf einer Cocktailparty, einem Empfang – darf man jedoch getrost kühne Thesen aufstellen und damit andere zum Widerspruch auffordern. In anderen Situationen wiederum ist es angebracht, über nichts zu reden – und das mit großer Emphase, ganz im Sinne von Lord Goring in Oscar Wildes «Ein idealer Gatte»: «Ich liebe es, über nichts zu reden. Das ist das Einzige, wovon ich etwas verstehe.» Das Reden über nichts wird zu Unrecht geringgeschätzt. Dabei ist es eine lebenswichtige Fähigkeit. Ohnehin neigen wir dazu, die Bedeutung des gesprochenen Wortes in der menschlichen Kommunikation zu überschätzen. Das hat mir eine bereits erwähnte Person beigebracht, einer der gescheitesten Menschen, die mir je begegnet sind, Paris Hilton.

***

Es war jener Tag, an dem ich vielleicht mein schlimmstes Smalltalk-Desaster erleben musste. Als Gesellschaftsjournalist war ich zum ersten Mal in Hollywood. Die deutsche «Vanity Fair» hatte mich beauftragt, über die Oscar-Verleihung zu berichten. Ich kannte niemanden in der Stadt, landete aber – was ich zunächst als unfassbares Glück betrachtete – auf der legendären Pre-Oscar-Gartenparty der Modekönigin Diane von Furstenberg. Ich hatte meinen schönsten Sommeranzug an, trug meine Lieblingskrawatte, die Schuhe blitzten – und ich kannte keine Sau.

Je mehr ich mich bemühte, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, desto mehr merkte man mir genau dies an: dass ich mich bemühte. Dort drüben stand Rupert Murdoch. Ich schlich mich an, wartete auf einen passenden Moment und brabbelte etwas von der «Los Angeles Times», die damals zum Verkauf stand, und fragte keck, ob das nicht etwas für ihn sei. Er würdigte mich eines kurzen Blickes und antwortete knapp: «Nur Idioten kaufen heute noch Zeitungen!» Dann drehte er mir den Rücken zu, und ich sah Peter O’Toole. Die Rettung, dachte ich, der ist sicher nett. «I loved Lawrence of Arabia», sprach ich ihn an. «And?», gab er zurück, sah gelangweilt an mir vorbei und wandte sich ab. Ich versuchte es von da an mit Leuten, deren Gesichter ich nicht aus dem Fernsehen oder von der Leinwand kannte (was schwer war an diesem Nachmittag). Aber es half nichts. Alle gingen mir aus dem Weg oder ließen mich auflaufen. Am Ende fragte ich tatsächlich so idiotische Dinge wie «Where did you go on holiday?». Ich muss gewirkt haben wie Peter Sellers in «The Party» – ein etwas verlorener Idiot, nur dass ich nicht wie er im Film für Chaos und Aufruhr sorgte, sondern schlicht fürchterlich unsicher war. Die wesentlichen Dinge des Lebens vermitteln sich nun mal leider nonverbal. Unsicherheit wirkt in Gesellschaft toxisch. Keiner will mit dir zu tun haben – aus Angst, angesteckt zu werden.

Meine Rettung an diesem Nachmittag war ausgerechnet die große Philosophin Paris Hilton. Sie saß auf einer Bank mit ein paar schnatternden Freundinnen und war, als ich mich näherte, derart unbekümmert, dass sie sich nicht einmal an meiner Unsicherheit störte.

Mir war inzwischen alles egal, also ging ich auf die berühmteste Blondine der Welt zu und sagte: «Ich vergesse nie ein Gesicht, aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen.» «My name is Paris Hilton», sagte sie leicht amüsiert, mit gespielter Empörung. «Ah, Hilton? Ich werde nächste Woche in New York sein und habe in einem Hilton ein Zimmer gebucht, dem Waldorf Astoria. Gibt es Zimmer, die ich meiden sollte?» Sie: «Im Waldorf Astoria? Da bin ich aufgewachsen. Ich würde jedes der Zimmer dort meiden.» Unversehens waren wir in eine Plauderei geraten. Und daraus wurde ein Gespräch. Die Verächter des Smalltalk verkennen gern: Chit-Chat ist oft nur ein Auftakt. Es steht einem frei, tatsächlich miteinander ins Gespräch zu kommen, wenn das Eis einmal gebrochen ist. In diesem Fall schüttete ich Paris – wie gesagt, mir war inzwischen alles egal – mein Herz aus. Ich erzählte ihr von meiner Unsicherheit. Und diese reizende Person? Verriet mir einige ihrer persönlichen Tricks.

Den ersten, sagte sie, hatte ich bei ihr bereits angewandt (wohl unbewusst und aus lauter Verzweiflung): «Be cheeky. And don’t try too hard!» Frech sein und sich ja nicht bemühen, alles richtig zu machen. «Wenn du auf einer Party bist und dich unsicher oder unwohl in deiner Haut fühlst, dann ist es das Beste, du machst dir genau das bewusst. Nimm’s hin! Dann hat es dich nicht mehr in der Hand, du kannst es beobachten und irgendwann darüber kichern, denn das Lustige ist, dass jeder manchmal unsicher ist, sogar eine Michelle Obama. Alle Menschen sind so. Der Trick ist schlicht, erst einmal zum Beobachter zu werden, die Situation auf sich wirken zu lassen.»

Ihr Ratschlag wäre eines Diogenes würdig gewesen. Der stand am Marktplatz von Athen und blickte großmütig oder spöttisch, jedenfalls interessiert auf die Szenerie, die sich ihm bot, wissend, dass er nicht dazugehörte. Genau das mache ich seither auf Partys, auf denen ich mich unwohl fühle. Ich spiele den Beobachter. Aber eben nicht mehr zögerlich und nach Anschluss suchend, sondern in Diogenes-Paris-Hilton-Haltung. Das hilft tatsächlich.

Wichtig sei außerdem, sagte Paris dann, dieses doofe Lächeln zu vermeiden, das unsichere Menschen von weitem verrät. Ich zum Beispiel hätte sie schon angelächelt, lange bevor ich überhaupt ein Wort rausbrachte. «Ein Fehler!», sagte sie. «Use your smile cleverly.» Voreiliges Lächeln wirke dämlich und unaufrichtig, bemessenes Lächeln hingegen klug. Richtig wirksam sei es, einen Moment zu zögern und dann zu lächeln.

Die zweite wichtige Technik: «Be calm!» Ruhe bewahren. Niemals in Eile sein («Das dürfen nur Kellner!»). Es sei wichtig, dass der gesamte Körper Gelassenheit ausstrahle. Das fange mit der richtigen Wirbelsäulenhaltung an und reiche über ruhige Handbewegungen bis hin zu langsamen Blicken: «Du wirkst unglaublich ernsthaft, intelligent und übrigens auch sexy, wenn du deinen Blick nicht abwendest, sogar dann nicht, wenn die Person, mit der du in einer Gruppe stehst, in dem Moment gar nicht spricht. Die Augen gaaaanz langsam nur wegbewegen.»

***

Als ich ein junger Mann war und mich noch von meinen Eltern statt von Paris Hilton belehren ließ, hatte man mir freilich andere Dinge beigebracht. In Familien wie meiner wurde zum Beispiel die Fähigkeit perfektioniert, langweiligen und einschläfernden Monologen mit gespielter Hingerissenheit zu folgen. Wir hatten ja über Generationen hinweg nicht sehr viel mehr zu tun, als auf die Jagd zu gehen und im Salon beisammenzusitzen. Die Kunst des gelegentlichen Kopfnickens, des gehorsamen Lächelns, des scheinbar interessierten Gesichtsausdrucks ist in unser Erbgut eingebrannt worden, ebenso wie die Begabung, ein Gespräch bis ins Unendliche vor sich hin plätschern zu lassen – was eine gewisse Sprunghaftigkeit erfordert, schließlich muss man in der Lage sein, schnell zum nächsten Thema zu wechseln, wenn einem zum ersten nichts mehr einfällt. Abertausende Stunden im Salon haben uns auch gelehrt, jeden Menschen grundsätzlich mit der gleichen Herzlichkeit zu behandeln, sogar wenn’s Nervensägen sind, ja, unangenehmen Personen sogar noch ein wenig herzlicher zu begegnen, um ihre Charmedefizite auszugleichen. Die Jahrhunderte haben außerdem wertvolle Strategien hervorgebracht, um Langeweile zu bekämpfen. Daher die Lust am Bonmot und der zarten Provokation, die in diesen Kreisen erfreulicherweise weit verbreitet ist. Von meinen Eltern wurde mir natürlich auch beigebracht, kleine Fehltritte meiner Mitmenschen gar nicht erst zu bemerken und sich für eigene niemals zu entschuldigen, weil man damit erst die Aufmerksamkeit darauf lenke («qui s’excuse, s’accuse», hieß es bei uns immer, wer sich entschuldigt, beschuldigt sich). Und mir wurde eingebläut, dass es bestimmte Themen gäbe, die in der Konversation verboten sind. Alles irgendwie Religiöse, Politik und natürlich Sex. Das gilt, finde ich, heute längst nicht mehr. Ich werde also in den folgenden Kapiteln auch Themen behandeln, die lange als tabu galten. Das Einzige, was wirklich tabu ist, sind Tabus.

Warum hat Smalltalk in Deutschland so einen schlechten Ruf? Ich fürchte, dass das viel mit der Marginalisierung der alten Eliten zu tun hat. Das Ideal, wonach nicht Herkunft und Geburt, sondern allein die Leistung für den gesellschaftlichen Aufstieg zählt, ist eine gute Sache. Es hatte aber den Preis, dass Kulturtechniken verloren gingen, die früher jedem geläufig waren und die wir bei anderen Nationen bewundern. Der Elitewechsel im 20. Jahrhundert war in Deutschland radikaler als anderswo. Im wilhelminischen Zeitalter hatten Adel und großbürgerliche Eliten sich so gründlich diskreditiert, dass zu Recht niemand mehr sein wollte wie «die da oben». Und nach dem Niedergang der alten Eliten folgte die endgültige Tabula rasa des völkischen Gleichheitsversprechens der Nazis. Wir Deutschen sind das einzige Land in Europa, dem es weitgehend gelungen ist, ganze Eliteschichten zu beseitigen.

Auch bei unseren europäischen Nachbarn hat es sozialen Wandel gegeben. Aber dort gaben sich die nachrückenden Schichten immer Mühe, den Stil der alten Eliten nachzuahmen. Bei uns hingegen galt nach dem Krieg (verständlicherweise!) das meiste, was irgendwie nach Adel und Bürgertum roch, als rückständig und piefig. Jeder wollte so fortschrittlich und modern wie möglich sein. Das macht Deutschland heute in vielerlei Hinsicht zu einem so lebenswerten Land. Was jedoch die Kulturtechniken des gesellschaftlichen Miteinanders betrifft, sind wir Deutschen kein sehr reiches Volk.

Langsam, langsam scheint sich das zu ändern. Wir sind insgesamt entspannter geworden. Und die Angehörigen der ehemaligen Eliten werden inzwischen wieder mit etwas mehr Wohlwollen betrachtet.

***
Zur Handhabung dieses Buches:

Verschiedene Situationen verlangen unterschiedliche Tonarten. Manchmal muss man blitzschnell entscheiden: Muss ich mitreden können, um nicht als ahnungslos dazustehen? Ist es angebracht, Eindruck zu schinden? Manchmal wiederum ist es am schlausten, einfach Zeit zu überbrücken und mitzuquasseln, ohne aufzufallen. Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind deshalb in drei Bereiche aufgeteilt: Erstens die Pauschalthemen – Themen also, über die man pauschal mitreden können muss. Dann folgen die Jokerthemen, die ein wenig wie Rauchbomben funktionieren: Sie lenken ab und verschaffen Zeit. Selbst wenn man auf verlorenem Posten steht, wenn man vom Thema eigentlich keinen blassen Schimmer hat, mit einem Joker schafft man es fast immer, sich eine Weile über Wasser zu halten oder einen einigermaßen würdigen Abgang hinzulegen. Schließlich folgen die Chloroformthemen, mit denen man sein Gegenüber hervorragend einlullen kann.

Natürlich habe ich all die Themenfelder, die ich in diesem Buch behandle, nicht bis in den allerletzten Winkel ausgeleuchtet. Ich maße mir nicht an, ein Bescheidwisser zu sein. Ich finde Bescheidwisser im Gegenteil sehr anstrengend. An manchen Stellen lasse ich daher sicher eine gewisse Akkuratesse vermissen und vereinfache die Dinge grob. Aber, wie ich schon sagte: Vereinfachung ist die einzige Möglichkeit, mit den Ungereimtheiten unserer Welt zurechtzukommen. Den Mut zur Vereinfachung habe ich mir zum Teil von Leuten abgeschaut, deren Namen ich in diesem Buch immer wieder fallenlasse, um ein bisschen anzugeben. Dank meiner Familie (aber auch dank meines Berufs) hatte ich das Glück, viele großartige und berühmte Menschen zu treffen. Ich durfte Isaiah Berlin in seinem Cottage in Oxford besuchen, ich bin mit Marion Dönhoff Porsche gefahren und stritt mit ihr dabei über das Ideal der Freiheit. Ich durfte Lord Rothschild über das Kreditwesen, Franz Beckenbauer über Fußball und Allen Ginsberg über Drogen ausfragen. Der alte Heini Thyssen war sich nicht zu schade, mir als Fünfzehnjährigem seine Sicht auf den Kunstmarkt zu erklären, und Henry Kissinger legte mir seine Interpretation des Kalten Krieges dar. Zugegeben, jetzt habe ich wirklich ein wenig angegeben. Sie werden das bei Ihrer Konversation natürlich viel raffinierter und subtiler machen – ein bisschen rausgerutschtes Namedropping gehört schließlich dazu.

Vor allem soll dieses Buch einen Beitrag dazu leisten, eine Kulturtechnik zu konservieren, die in unserem Selfie-Zeitalter, in unserer Epoche der Selbstdarstellung zunehmend in Vergessenheit gerät: die Kultur der Konversation. Das Wort Konversation impliziert ein Interesse am Gegenüber – und das ist immer weniger selbstverständlich in einer Zeit, in der jeder nur noch sein eigenes Leben plakatiert. Heutzutage trifft man häufiger auf Leute, die mit großer Begeisterung von sich und ihren Errungenschaften erzählen – aber sobald sie damit fertig sind, in ein seltsam autistisches Schweigen verfallen. Die Menschen reden zwar immer noch miteinander, aber dabei führen sie seltener Konversation, sie verhalten sich eher so, als würden sie ihren jeweiligen LinkedIn-Status miteinander vergleichen. Alle reden über sich. Kaum einer hört wirklich zu. Weil wir unser Gegenüber nur als Empfänger unserer selbstdarstellerischen Ergüsse betrachten. Dabei ist es ein Geheimnis des gesellschaftlichen Miteinanders, dass jeder, wirklich jeder, etwas Interessantes zu erzählen hat. Wenn man ihn nur lässt! Um wirklich zuhören zu können, sollte man idealerweise über eine relativ große Spannweite von Interessengebieten verfügen. Wenn Sie auf jemanden treffen, der mit Begeisterung über sein Hobby erzählt – egal, ob Astrophysik, Buddhismus oder abstrakte Kunst –, sollten Sie fähig sein, zumindest so zu tun, als seien Sie interessiert, und dann etwas sagen können wie: «Ach, darüber habe ich neulich etwas Spannendes gelesen, nämlich …»

Und noch etwas: Wir leben in den demokratischsten, duldsamsten, liberalsten Zeiten, die dieser Globus je erlebt hat. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der man sich «im Salon» auf eine bestimme Weise, «wie es sich gehört» («comme il faut»), zu benehmen hatte. Das ist heute vorbei. Heute ist das gesellschaftliche Parkett der demokratischste Ort schlechthin. Ob Dame mit Bart, ob gepierct oder im gestärkten Hemd und mit perfekt gebundener Fliege, ob im Schlabberhemd oder im Abendkleid, ob als Clown verkleidet oder brav und spießig, heutzutage darf jeder so sein, wie er ist.

Man muss, um heutzutage auf gesellschaftlichem Parkett bestehen zu können, weder über große Weltkenntnis verfügen noch allzu gewandt im Umgang sein. Jeder ist willkommen. Je bunter, desto besser. Es gibt Platz für Maschmeyer- und Klitschko-Figuren, für Diogenes- und Paris-Hilton-Typen, für zerstreute Professoren, für Monologisten und Schweiger, Schönlinge und graue Mäuse, sogar Tölpel und Mauerblümchen erfüllen auf jeder Party einen wichtigen Zweck. Wenn Sie aussehen wie Maschmeyer oder auftreten wie Klitschko, ist das völlig in Ordnung. Peinlich wird es nur, wenn ein Maschmeyer einen auf Berthold Beitz macht oder ein Klitschko so tut, als sei er Henry Kissinger. Sei, wer du bist, dann hast du die Chance, der zu werden, der du sein kannst. Das war jetzt sehr hochtrabend. Ein guter Moment, abzubrechen und zur Praxis überzugehen.

Die Pauschalthemen

Gibt es Themen, die man in Gesellschaft unbedingt meiden muss? Jein. Vor ein paar Jahren noch war es unvorstellbar, offen über Pornographie zu sprechen. Heutzutage erzählen Mittdreißiger lachend bei Tisch, dass sie vergessen haben, den Verlauf ihres Internetbrowsers zu löschen, und die Freundin später anstatt auf Youtube unversehens auf Youporn landete.

Und dann all die regionalen Unterschiede. In Amerika redet man völlig unbefangen über Geld («How much are you worth?»), in Frankreich gilt das als zutiefst vulgär, und in der Schweiz gibt es nichts, worüber man entspannt reden kann. In Bern gilt man schon als geschwätzig, wenn man zu emphatisch «Grüezi» sagt. Statt uns nun also mit Tabuthemen und regionalen Besonderheiten aufzuhalten, lassen Sie uns feststellen: Ja, es gibt Themen, die in den meisten Situationen unangebracht sind, Religion zum Beispiel, Verdauung, überhaupt alles, was weitestgehend mit Gesundheit zu tun hat …

Aber ist es nicht viel sinnvoller, sich mit jenen Themen zu befassen, um die man auf gar keinen Fall herumkommt?

Die folgenden Kapitel haben die Funktion eines Navigationssystems. Es führt durch jene Themen unserer Zeit, derer man sich nicht erwehren kann, zu denen man eine Meinung haben muss. Die Pauschalthemen sind also Pflichtlektüre, so wie auch die Rundfunkpauschale bezahlt werden muss, egal, ob Sie das Programm der Öffentlich-Rechtlichen interessiert oder nicht. Bevor ich aber auf einzelne Themen eingehe, noch ein paar grundsätzliche Ratschläge.

Dass man mit seinem Lächeln sparsam umgehen und auf das richtige Timing achten sollte, um in Gesellschaft eine gute Figur zu machen, habe ich schon erwähnt. Auch der Tipp mit den «langsamen Augen» und den geruhsamen Bewegungen fiel schon.

Eine wichtige Technik habe ich aber noch nicht verraten: Begegne jedem Menschen so, als sei er ein alter Bekannter! Das heißt natürlich nicht, dass Sie, wenn Sie auf einer Party Claudia Schiffer oder Gerhard Schröder sehen, einfach hingehen und ihnen auf die Schulter hauen sollten. Aber die Vorstellung, man würde sie schon lange kennen, entspannt ungemein. Der Astronaut Chris Hadfield hat einmal in einem Interview gesagt: «Ich habe die Erde schon so oft von außen aus dem Weltall betrachtet, egal, wem ich begegne, ich bin eigentlich immer total entspannt, weil ich das Gefühl habe, ich hab sie schon mal gesehen.» Wir können das alle, das ist eine Frage der Einstellung. Wir sind niemandem fremd. Und dennoch fremdeln die meisten. Wer das nicht tut, ist a priori im Vorteil. Man muss sich dafür nur eines klarmachen: Egal, ob Supermodel, Superkanzler oder Supermarktbedienung, tief drinnen ist eine menschliche Essenz, die uns verbindet. Wir sind tatsächlich alle gleich und uns dadurch vertraut. Wer sich diese Tatsache bewusstmacht, bewegt sich entspannter in Gesellschaft und strahlt Gelassenheit aus.

Und: Wenn Sie dann mit jemandem ins Gespräch gekommen sind, schenken Sie ihm die volle Aufmerksamkeit! Wenden Sie sich der Person auch körperlich zu. Leute, die den Raum bereits nach dem nächsten Gesprächspartner abscannen, während sie noch mit dem ersten reden, gelten zu Recht als grob unhöflich.

Das allerallerallerwichtigste Smalltalk-Gesetz lautet aber:

DU SOLLST NICHT LANGWEILEN!

Smalltalk hat grundsätzlich mit Nichtigkeiten zu beginnen. Diese Phase ist unerlässlich, damit man sich gegenseitig beschnüffeln kann. Wir tauschen Zigtausende Informationen pro Sekunde aus, die unsichtbaren Drähte glühen, das Gesagte ist jetzt völlig nebensächlich. Wie man hergekommen ist, wie lang man schon da ist, man kann in solchen Momenten sogar erzählen, dass man sich verspätet hat, weil man erst noch seine Schwiegermutter ermorden musste, es kriegt sowieso niemand mit. Wer gleich beim ersten Satz witzig ist, zeigt damit nur, dass er dringend Anschluss sucht – frei nach dem Diktum, dass, wer beim Lunch schon geistreich ist, nur noch keine Einladung zum Abendessen hat. Aber nach dem einleitenden Geplänkel muss einem dann schon etwas einfallen. Am besten etwas Kurzes. Nichts langweilt Ihre Mitmenschen mehr als Langatmigkeit. Meiden Sie unnötige Details.

Außerdem wäre es ganz, ganz toll, wenn Sie nicht alles ganz, ganz toll finden würden. Dieses Alles-wunderbar-und-schön-und-super-Finden ist wirklich geisttötend. Wenn Ihnen schon nichts zum Thema Kunst einfällt, sagen Sie nicht, wie sehr Sie schöne Dinge lieben! Sagen Sie lieber so etwas wie: «Kunst? Das versuche ich mir gerade abzugewöhnen …» Jeder Beitrag sollte idealerweise einen kleinen Haken haben. Statt von «schönen Hotels» zu schwärmen, sollten Sie lieber erzählen, warum Luxushotels riesenhafte Bordelle sind. Statt über die «Milchkuh Sozialstaat» zu lamentieren, sollten Sie erklären, warum es die Aufgabe des Staates ist, seine Bürger zu verhätscheln. Lieber (in gesittetem Ton!) etwas Kontroverses behaupten, als mit Allerweltskonformismus zu quälen.

Zwei Dinge sind aber unter allen Umständen zu vermeiden: Klugscheißerei. Und Moralscheißerei. Beides sind absolute Konversationskiller. Smalltalk ist ein Spiel. Es lebt vom Hin und Her. Alles, was man sagt, muss Raum für Gegenrede bieten. Moralische Binsenweisheiten – die Alten sollten mehr respektiert werden, am wichtigsten sind die Kinder (oder war es die Gesundheit?) – verhindern jeden Widerspruch. Und damit verletzen sie die Spielregeln. Genau wie Klugscheißerei. Es darf im Smalltalk nie darum gehen, recht zu behalten. Man sollte, im Gegenteil, alles behaupten und jede Position halbwegs geistreich vertreten können. Ein Smalltalk-Profi aber hat kein Problem damit, sich widerlegen zu lassen. In England sagt man in solchen Situationen gern: «I stand corrected.» Eine vergleichbare Redewendung auf Deutsch gibt es nicht. Das lässt tief blicken. Aufrecht zu stehen, trotz des Eingeständnisses, Unrecht zu haben, ist scheinbar nur schwer mit unserer Mentalität vereinbar. Egal, das lässt sich ändern. Viele von den Engländern erfundene Spiele sind inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet. Manche (Fußball zum Beispiel!) beherrschen wir inzwischen vortrefflich. Es gibt keinen Grund, warum uns das nicht auch im Ballsport Smalltalk gelingen sollte.

Und noch etwas. Ich weiß, es tut weh. Dennoch: Bitte, bitte, bitte keine Witze erzählen! Ich habe dem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem ich zu erklären versuche, warum Witze die Insolvenzverschleppung des Smalltalk sind. Eine andere – ebenso verzweifelt wirkende – Methode, Gespräche zu beleben, ist die Aufforderung: «Erzähl doch mal von deinem peinlichsten Erlebnis!» Das ist allein schon deshalb abwegig, weil einem parkettsicheren Menschen nichts peinlich ist. Tritt ein selbstbewusster Mensch ins Fettnäpfchen, dann mit Wucht.

Wenn Ihnen also auf diese Frage keine Antwort einfällt, liegt das an Ihrem Selbstbewusstsein. Es hat ohnehin niemand ernsthaftes Interesse an peinlichen Details aus Ihrem Leben. Was hingegen jeder mag, sind gute Geschichten. Sie sind die unterhaltsamste Methode, um ein kaum noch atmendes Gespräch wiederzubeleben. Sie brauchen auch kein Apropos. Es genügt ein völlig unvermitteltes «Neulich ist mir etwas Unfassbares geschehen …», und jeder wird aufmerksam.

Hier zum Beispiel eine der Geschichten, die bei mir immer wieder als Smalltalk-Defibrillator Anwendung findet. Sie können Sie sich gern bei Bedarf ausleihen. Das ist im Preis dieses Buches inbegriffen. Die Geschichte geht so:

Ein Bekannter meines Freundes betreibt in Guildford, außerhalb von London, ein kleines Internet-Start-up und war auf der Suche nach Geldgebern. Eines Nachmittags hatte er einen wichtigen Termin bei potenziellen Investoren in London. Er hatte einen verdorbenen Magen an jenem Tag, genauer gesagt: Er litt an Diarrhö, vulgo Dünnpfiff. Aber der Termin war zu wichtig, um ihn abzusagen. Auf dem Weg zum Bahnhof in Guildford merkte er, dass ihm ein kleines Malheur passiert war. Er trug eine helle Hose. Das Risiko, dass irgendetwas durchsickerte, war zu groß. Also machte er rasch bei Marks & Spencer halt. Dort kriegt man alles, auch Hosen. Er schnappte sich eine Hose, raste zur Kasse, zahlte – alles noch rechtzeitig, um knapp den Zug nach London-Waterloo zu erwischen. Er schloss sich auf dem Klo ein, zog die beschmutzte Hose aus, warf sie aus dem Fenster, griff in die Einkaufstüte, nur: Statt der erstandenen Hose zog er ein rosa Ballettröckchen hervor. Er hatte an der Kasse bei Marks & Spencer in der Eile die falsche Tasche gegriffen. Mit seinen potenziellen Geldgebern war er am Bahnsteig von Waterloo verabredet. Was sollte er tun? Den Termin platzen lassen? Er zog sich das Tutu an, verließ den Zug unter den staunenden Blicken der Mitreisenden und suchte entschlossenen Schrittes nach seinen Geschäftspartnern.

Wie sie reagierten, ist nicht überliefert, wohl aber, dass er sich auf keinerlei Erklärungen einließ – und dass er am Abend mit einem Megadeal nach Guildford zurückkehrte. Die Investoren waren von seiner Geschäftsidee überzeugt. Und wahrscheinlich auch von ihm selbst. Denn er hatte sich schlicht geweigert, sich zu schämen.

Ob die Geschichte stimmt? Se non è vero, è ben trovato, wie man in Brooklyn sagt. Sollte sie nicht wahr sein, ist sie jedenfalls gut ausgedacht. Und hat eine großartige Moral. Wenn du schon etwas falsch machst, dann tu es nicht genierlich, sondern mit Grandezza!

Das Genderproblem

Ein deutscher Bundespräsident hat im Interview einmal etwas Bemerkenswertes gesagt. (Das allein ist ja keine Selbstverständlichkeit.) Es ging in dem Gespräch unter anderem darum, wie traurig es ist, wenn ältere Herren sich in Gegenwart von Damen aufplustern. Anlass war ein Vorfall, bei dem ein Politiker der FDP (das war damals eine einflussreiche politische Partei) durch anzügliche Bemerkungen auffällig geworden war. Nachdem sich die Wogen geglättet hatten, erschien besagtes Interview mit dem Staatsoberhaupt (es war übrigens Joachim Gauck). Und dort fiel dann der Satz, der über den Tag und den Anlass hinauswies und auf Anhieb einem Klassiker unter den Smalltalk-Themen neues Futter gab. Der Bundespräsident sagte, die Frauenfrage sei noch nicht gelöst. Wörtlich: «Es gibt sicher in der Frauenfrage bei uns noch einiges zu tun.»

Was genau der Präsident mit «der» Frauenfrage meinte, blieb – wie es sich für einen Bundespräsidenten gehört – schwammig. Klassische Frauenfragen sind ja:

«Wo sind meine Autoschlüssel?»

«Passe ich in die Parklücke?»

«Gibt’s die Louboutins auch in 37?»

Aber was ist «die» Frauenfrage? Über Generationen verstand man darunter die Frage, ob Frauen klüger sind als Männer oder Männer klüger als Frauen. Das ist inzwischen aber geklärt. Bei Frauen sind Teile des Hippocampus, jenes Teil des Gehirns, der für kognitive Fähigkeiten zuständig ist, kleiner. Dafür arbeiten weibliche Gehirne deutlich effizienter. Frauen brauchen quasi weniger Gehirnschmalz, um die gleichen intellektuellen Aufgaben zu lösen.

Die neue Frauenfrage, für die man heute gerüstet sein muss, lautet: Gibt es das überhaupt? Frauen? Und Männer? In Berliner Hipsterbezirken wie Friedrichshain hat die Frage sich erübrigt, hier müssen die Mädchen draußen auf dem Bolzplatz toben, während die Jungs mit Puppen spielen. In rückständigeren Regionen wird über Gender-Mainstreaming aber angeblich noch diskutiert.

In wirklich fortschrittlichen Kreisen wird jegliche geschlechtliche Kategorisierung bereits als reaktionär abgelehnt. Sogar die Möglichkeit, die Facebook seinen Nutzern bietet, sich nämlich statt als «Herr» oder «Frau» als «Gender Fluid», «Trans Person» und «Neutrois» anzumelden, gilt in der Avantgarde als reaktionär.

Gerät man versehentlich in eine Diskussion über Gender-Mainstreaming, hilft es eigentlich nur noch, mit den Achseln zu zucken und sich im Disput ein wenig zurückzunehmen. Erstaunlicherweise weiß ja oft gerade der Meinungsstarke, der unerschütterlich zu seinen Ansichten steht, besonders wenig von den Dingen, um die es geht. Keine Meinung zu haben hingegen, ist häufig die Folge von sehr großem Wissen. Damit Sie also möglichst kompetent schweigen können, hier ein Blitzkurs in Gender-Mainstreaming.

Zugrunde liegt dem Ganzen das seit den fünfziger Jahren an philosophischen Fakultäten Amerikas vorherrschende postmoderne Weltbild. Für Konstruktivisten und Relativisten gibt es das, was wir umgangssprachlich «Tatsachen» nennen, im streng philosophischen Sinne nicht. Sie sind in ihren Augen entweder sozial gewachsen (wie eben die Rollenunterschiede zwischen Mann und Frau) oder erst durch willkürliche, menschliche Kategorisierung entstanden. Für Konstruktivisten sind die Namen, die wir den Dingen geben, willkürlich. Ein Baum wird erst dadurch ein «Baum», ein Berg erst dadurch ein «Berg», dass wir ihn als solchen bezeichnen. Für eine Amöbe ist ein Sandkorn vielleicht ein Berg und ein Baum schlicht «die Welt»? Demnach ist unsere Sicht zutiefst menschlich-subjektiv. Tatsachen sind menschliche Konstruktionen. Als ich davon übrigens meiner zwölfjährigen Tochter berichtete, sagte sie entwaffnend: «Was ist mit dem Mond? Den gab’s schon vor den Menschen, und es ist ihm wahrscheinlich egal, wie wir ihn nennen.» Genügt ein einziges Kind, um ganze Generationen postmoderner Philosophen bloßzustellen? Auch mit reiner Logik lässt sich der Konstruktivismus in Bedrängnis bringen. Wenn es keine absoluten Tatsachen gibt, dann wäre das ja, wenn es stimmen würde, bereits eine absolute Tatsache.

Egal. Relativismus und Konstruktivismus haben unser Denken in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt. Insbesondere die Sozialwissenschaften. Begierig aufgegriffen wurde das neuartige Denken auch von dem Harvard-Psychologen John Money. Als er in den Sechzigern an der John Hopkins University lehrte, Amerikas renommiertester Medizinhochschule, machte er sich daran, folgende These zu belegen: Geschlechterrollen sind menschliche Erfindungen und durch die Biologie nicht zu begründen. 1967 führte er ein Experiment durch, das als epochal in die Medizingeschichte einging. An der Klinik der Hopkins University unterzog er einen zweijährigen Jungen namens Bruce Reimer einer geschlechtsverändernden Operation. Der Junge war Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers, bei dem sein Penis verstümmelt worden war. Nun wurden dem Jungen die noch vorhandenen Hoden entfernt, aus der Haut seines Hodensacks Schamlippen geformt. Auf Drängen Moneys stimmten die Eltern zu, ihren Sohn als Mädchen zu erziehen. Er wurde nicht mehr Bruce, sondern Brenda genannt. Ab dem zwölften Lebensjahr wurde «Brenda» zusätzlich mit weiblichen Hormonen behandelt. Money rühmte sich seines Experiments in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Vorträgen, bezeichnete «Brenda» als «normales, glückliches Mädchen» und wurde von Sozialwissenschaftlern als Pionier der Sexualforschung gefeiert. Alice Schwarzer pries Money als einen herausragenden Wissenschaftler, der dem «aufklärenden Auftrag der Forschung gerecht» wird, und lobte sein Experiment, weil es endlich beweise, dass «die Gebärfähigkeit der einzige Unterschied ist, der zwischen Mann und Frau bleibt. Alles andere ist künstlich aufgesetzt.» Während «Brenda» in wissenschaftlichen Texten als «ausgeglichen» beschrieben wird, empfanden ihn seine Familie und Freunde freilich als unglückliches Kind mit sozialen Problemen. Angeblich weigerte er sich, mit Mädchensachen zu spielen. Mit fünfzehn erfuhr «Brenda», dass er als Junge geboren worden war, und er bestand darauf, wieder als einer zu leben, nannte sich fortan David. Reimer unterzog sich erneuten Operationen, Mitte der Neunziger entschloss er sich, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Zusammen mit John Colapinto schrieb er 1997 für den «Rolling Stone» einen spektakulären Artikel: «The Boy Who Was Raised as a Girl». Am 4. Mai 2004 beging David Reimer Selbstmord. Er wurde achtunddreißig Jahre alt.

Inzwischen gilt Professor Money auch unter Gendertheoretikern eher als Doktor Frankenstein denn als Pionier (dennoch verlieh ihm die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung noch 2002 die Magnus-Hirschfeld-Medaille).

Heute beruft sich die Genderforschung lieber auf die Philosophin Judith Butler, die zunächst ebenfalls an der Johns-Hopkins-Universität lehrte und seit Anfang der neunziger Jahre einen Lehrstuhl an der Universität in Berkeley (Kalifornien) innehat. Während sich Money noch mit den angeblich nicht existenten Unterschieden zwischen Männlein und Weiblein befasste, betrachtete Butler jegliche geschlechtliche Kategorisierung als sozial aufgezwungen. Vor zwanzig Jahren galten die Thesen Judith Butlers noch als gewagt, heute ist Gender-Mainstreaming – wörtlich die Einebnung der Geschlechter – als Ziel der Sozialpolitik vollkommen unumstritten. Allenfalls leise regt sich noch Widerstand. So lieferte zum Beispiel die feministische Aktivistin Naomi Wolf mit ihrem 2013 erschienenen Buch «Vagina» eine leidenschaftliche Verteidigung der Weiblichkeit, fand damit aber erstaunlich wenig Gehör.

Seit den Amsterdamer Verträgen von 1997 steht Gender-Mainstreaming sogar offiziell auf der politischen Agenda der Europäischen Union. Ursprünglich sollten damit die Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt gefördert und sämtliche politischen Entscheidungen auf mögliche Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis und die Gleichberechtigung geprüft werden. Doch weil das Ganze von Anfang an vage formuliert war, verselbständigte sich die Chose. Inzwischen werden mit EU-Fördergeldern Schulbücher, öffentliche Broschüren, Formulare und alle möglichen Druckerzeugnisse umformuliert und neu aufgelegt, um der «gender diversity» Rechnung zu tragen. In Schulen, Ministerien, Landratsämtern und Stadtverwaltungen werden eigens entwickelte Seminare angeboten, um «stereotype Geschlechterrollen» aufzudecken, in Gender-Werkstätten können Beamte ihre geschlechtsspezifischen Handlungsmuster durchspielen und sich versuchsweise im Verhalten des anderen Geschlechts üben. Außerdem gab es die Idee, öffentliche Toiletten umzubauen, damit jenen Menschen, die sich nicht der klassischen Kategorisierung in Mann und Frau unterwerfen wollen, künftig ihr eigenes stilles Örtchen zur Verfügung steht.

Wie mit allen Postulaten der Political Correctness verhält es sich auch mit dem Gender-Mainstreaming: Sie eifrig zu verteidigen, ist genauso spießig, wie dagegen zu wettern. Das Orwell’sche Neusprech der Gesinnungspolizisten nervt genauso wie der Zorn der ach so freien Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-Dürfer-und-jetzt-endlich-mal-auf-den-Tisch-Hauer. Es ist ein bisschen wie beim Pelztragen. Allein um die Nervensägen von PETA zu ärgern, müsste man sich einen Zobel umwerfen. Aber dann sieht man die neureichen Russinnen und weiß: Pelztragen ist leider auch fürchterlich peinlich. Wir haben es also mit einem klassischen Dilemma zu tun.

Natürlich wäre es absolut töricht, sich in gesellschaftlichem Kontext auf Diskussionen über Sinn und Unsinn des Konstruktivismus einzulassen. Und wer wollte jemandem, der eilig zum Klo rennt, sich aber weder als Frau noch als Mann fühlt, übelnehmen, dass er nicht jedes Mal aufs Neue eine schwierige Wahl treffen will. (Außerdem wären bei Großveranstaltungen die Menschenschlangen vor Neutrum-Toiletten vermutlich um einiges kürzer.) Aber, wie gesagt, die Grundlagen jener Debatten zu kennen, an denen man sich nicht beteiligt, ist besser, als über Dinge zu reden, zu denen man nur ressentimentgetriebene, sarrazinmatussekhafte Argumentationsfetzen parat hat.

Möglich ist auch, sich mit einem literarischen Zitat aus der Affäre zu ziehen. Es gibt eine Passage aus «Alice im Wunderland», die beschreibt, warum die Weigerung, Dinge verbindlich zu benennen, so beängstigend ist. Es führt zu völliger Verwirrung. Am Ende gilt gar nichts mehr. Liebe, Treue, Freundschaft – irgendwann hat nichts mehr irgendeine Bedeutung. In Lewis Carrolls Roman begegnet Alice dem arroganten Humpty Dumpty. Die beiden geraten in einen Streit um die Bedeutung eines der schönsten Worte der englischen Sprache, nämlich: glory. Es bedeutet Ehre, aber auch Pracht. Humpty Dumpty sitzt also auf seiner Mauer, in Anzug und Krawatte, schaut verächtlich auf Alice herab und sagt: «Wenn ich ein Wort benutze, heißt es genau das, was ich will. Nicht mehr und nicht weniger.» Alice antwortet perplex: «Aber wie kann denn ein Wort unterschiedliche Dinge bedeuten?» Der eitle Ei-Mann schroff: «Die Frage ist doch, wer hier der Meister ist, so einfach ist das!»

Um eine unselige Genderdebatte zu beenden, sagen Sie einfach, dass Sie keine literarischen Figuren kennen, die den verheerenden Nihilismus des zwanzigsten Jahrhunderts perfekter verkörpern als die Fuckfaces des Künstlerduos Chapman Brothers, die Teletubbies und ebenjener Humpty Dumpty. Und dass es doch bemerkenswert sei, dass die gerade Erwähnten allesamt englische Schöpfungen sind, was Sie in Ihrem Urteil bestärken würde, dass die Söhne Albions besonders hellsichtige Erkunder unserer Zeit seien. Sie werden wahrscheinlich in verwirrte Gesichter blicken, was Ihnen die Möglichkeit eröffnet, das Thema – oder die Party – zu wechseln.

Essen

Mit vollem Mund spricht man nicht. Jeder weiß das. Allerdings hat sich eine andere fürchterliche Unkultur breitgemacht: über Essen zu sprechen. Betrachtet man die Sinnesgenüsse, rangiert Essen zu Recht vor Schlaf und Sex. Vom Schlaf kriegen wir (im Idealfall) wenig mit. Und selbst wenn man alle Orgasmen eines Lebens zusammenzählt, kommt man insgesamt (im Idealfall) auf ein knappes Stündchen. Wenn man aber von drei Mahlzeiten am Tag ausgeht, verbringt der moderne Mensch knapp siebzehn Jahre seines Lebens mit Essen.

Mit der sinnlichen Verwandtschaft von Essen und Sex kennen sich die Franzosen am besten aus. Dort werden Brotlaibe und die weiblichen Brüste mit dem gleichen Begriff bezeichnet, «les miches», und «aller aux fraises» ist eine von zig schönen Umschreibungen für den Geschlechtsakt selbst. Dennoch: Während es vollkommen akzeptabel ist, über Sex zu sprechen, gibt es kaum Spießigeres, als beim Essen über das Essen zu reden. Wer das tut, ist entweder ein Langweiler («ganz vorzüglich», «der Koch hütet das Rezept wie einen Schatz») oder ein Wichtigtuer («ausgezeichnet, aber es bleibt doch ein leicht nussiger Nachgeschmack auf der Zunge»). Bestenfalls handelt es sich um eine intellektuelle Kapitulation.

Am schlimmsten sind die sogenannten Connaisseurs, die das Servierte im Mund zergehen lassen und dabei womöglich noch leicht schmatzen («damit Sauerstoff drankommt, nur so entfaltet sich der Geschmack»). Sie verletzen Artikel 1 des Savoir-vivre-Kodexes: Je größer der Genuss, desto beiläufiger muss er sein. Das gilt übrigens überall auf der Welt. Aber mit besonderer Schärfe in Deutschland. Für Franzosen ist Essen ja wirklich das Wichtigste auf der Welt. Als einziges abendländisches Kulturvolk haben sie aus der banalen Notwendigkeit, sich zu ernähren, eine Kunst gemacht. Wenn ein Franzose über Essen spricht, muss man ihm das also nachsehen. Jedoch würde es ihm auch nicht in den Sinn kommen, während des Essens darüber zu sprechen. Man philosophiert ja auch nicht beim In-die-Erdbeeren-Gehen über den Sex, allenfalls davor oder danach. Wenn Deutsche aber über Essen sprechen, hat das etwas Mühsames, Parvenuhaftes, so als würde jemand, der vor fünf Minuten zum ersten Mal ein Pferd gesehen hat, mit Reitstiefeln in der Fußgängerzone herumlaufen. Er redet wie der sprichwörtliche Blinde von der Farbe. In den östlichen Bundesländern – ich darf das sagen, meine Familie kommt von dort – empört man sich gern über polnische LKW-Fahrer, weil sie mit ihren mangelhaft gewarteten Lastern auf unseren wunderschönen, neuen Autobahnen regelrechte Rennen veranstalten und damit unser Leib und Leben gefährden. Was man dabei vergisst: Sie gefährden damit vor allem sich selbst, und zwar aus berechtigter Panik vor dem, was auf ostdeutschen Autobahnraststätten hochpreisig als «Mahlzeit» verkauft wird. Die armen Brummifahrer, die von zu Hause keine feine, aber eine ehrliche Küche gewohnt sind, wollen Ostdeutschland so schnell wie möglich hinter sich lassen und Bayern erreichen, eine der wenigen Regionen Deutschlands, wo auch an schlichten Raststätten rudimentäre Reste von Esskultur bestehen.

Wer versehentlich in ein Gespräch über Essen verwickelt