Smegma - Karin Suer - E-Book

Smegma E-Book

Karin Suer

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Beschreibung

Eine geheimnisvolle junge Frau trifft auf neue Freunde und Feinde an einem Ort, an dem die einzige Freiheit die Narrenfreiheit ist. Wo Regeln alles sind und man nur übersteht, indem man sie ab und zu bricht. An dem Vertrauen alles ist, und zugleich das größte Risiko. Wo bald klar wird, dass Begierde allein im Auge des Betrachters liegt. Und dem man scheinbar nur entkommt, wenn man eigentlich bleiben will.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ohhmmm.......

Oh Ja. Oh bitte, ja.

Ooohhhhh.... Oh ja!?

Jahh!

Ohh, ohh, ohhhh ooohhhh....

Oh ja, ja, ja, jah, Gib's mir bitte!

Ohhhh

Ohh, ohh,

ohh.

INHALT

Unterbringung

Zombiepille

Johna

Fickende Zebras

Diagnostition

Tochter

Smegma

Heutetag

Notdurft

Getrennt

Prinzip Hoffnung

Toxische Dynamik

Versprecher

UNTERBRINGUNG

„Hey du Penner!! Wohl 'ne Dunkelrot-Grünschwäche??!”

Die Radfahrerin schafft es gerade noch lebend zurück auf den Bürgersteig, als der silbergraue BMW-Bolide an ihr vorbeibrettert, energisch hupend, obwohl er rot hat und sie grün. Der SUV-Fahrer heizt unbeeindruckt weiter, die Frau reißt mit einem hilflosen Blick ihren Kopf nach allen Seiten herum, aber niemand scheint den Vorfall bemerkt zu haben. Oder davon Notiz nehmen zu wollen.

Doch die warme Sommerluft trägt die wütenden Geräusche quer über die Schönhauser Allee und durch ein halb geöffnetes Fenster, an das Ohr einer Schlafenden. Das heißt, bis eben hat sie geschlafen. Aufgestört durch den Krach da draußen, reibt sie sich mit einer Hand das Gesicht, dann öffnet sie die Augen. Hebt den Kopf, wirft einen Blick auf die Uhr neben ihrem Bett, es ist halb eins. Sie lässt den Kopf wieder ins Kissen sinken, schließt die Augen, öffnet sie jedoch gleich wieder. Besser nicht wieder einschlafen. Ihr Blick wandert hinauf zur Zimmerdecke. Die hohen Wände des geräumigen Schlafzimmers sind in verschiedenen, helleren und dunkleren Malventönen angestrichen, die Decke strahlt in hellem Weiß. Sie ist in opulenten Stuck gesäumt, und auch über dem Kronleuchter, der für den Raum fast ein wenig zu klein geraten scheint und ein bisschen wirkt wie aus dem Versandhandel, prangt eine ausladende, fein gearbeitete Stuck-Rosette.

Es vergehen einige stille Minuten, die junge Frau liegt, mit starr zur Decke gerichtetem Blick, auf dem großen Bett. Die Kissen sind mit weißem Satin bezogen, und lediglich ein übergroßes Tuch aus Satin dient als Bettdecke, doch heute ist es selbst für das bisschen Stoff zu warm. Nur ein Zipfel bedeckt halb ihr Becken und ihre Scham, abgesehen davon ist sie nackt. Sie mag um Dreißig sein, und sie ist von einer natürlichen Schönheit, mit hohen Wangenknochen und der Nase eines russischen Fotomodells. Ihr halblanges, blondes Haar schimmert gesund, und die Makeup-Reste um ihre großen, blauen Augen könnten so auch als gewollt durchgehen. An ihren tadellos gepflegten Finger- und Fußnägeln trägt sie klassisches Chanel-Rot.

Mit einem Mal, von plötzlichem Harndrang getrieben, richtet sie sich im Bett auf, wirft einen kurzen Blick durch das Fenster nach draußen in den blauen Himmel, dann geht sie unvermittelt ins Bad und setzt sich auf die Toilette. Auch hier hängt ein Kronleuchter von der hohen Decke, noch kleiner und noch billiger als der im Schlafzimmer. Über den weißen Kacheln sind die Wände blau gestrichen, mit kleinen, goldenen Verzierungen, von Hand gemalt. Die freistehende Badewanne wirkt auf ihren Löwenfüßchen irgendwie deplatziert, als würde sie sich einen größeren Raum wünschen, doch mit den vielen, halb abgerannten Kerzen auf dem goldenen Tischlein daneben und dem flauschigen, dunkelblauen Teppich hat dieses Badezimmer beinahe etwas von einem Wohnzimmer.

Nachdem die junge Frau ihre Blase erleichtert hat, bleibt sie für einen kurzen, unschlüssigen Augenblick vor der Badewanne stehen, dann entscheidet sie sich, doch erstmal Kaffee zu machen. Sie schlendert in die Küche, bestückt den italienischen Kaffeekocher aus Alu-Guss mit Wasser und Kaffeepulver, setzt ihn auf den Herd und geht zurück ins Schlafzimmer. Dort, auf einem schönen, alten Ohrensessel direkt unter dem Fenster, hängt ein seidener Kimono, in Pastellfarben bedruckt und mit hauchzarter Spitze an den Säumen. Sie wirft ihn sich über, dann öffnet sie weit beide Flügel des Fensters, beugt sich nach vorn über den Sims und schaut die Straße entlang. Dort unten herrscht buntes Treiben. Es ist Sommer in Berlin.

Von der her Küche ertönt das Brodeln der Kaffeemaschine, sie geht hin, nimmt den Kocher von der Platte, schüttet sich Kaffee in eine rosenverzierte Tasse mit Goldrand. Mit der Tasse in der Hand begibt sie sich zurück an das Fenster in ihrem Schlafzimmer und macht es sich auf dem Sessel bequem. Gleich neben ihr steht ein runder Biedermeier-Tisch auf schlanken Beinchen, schwarz lackiert und, genau wie der im Bad, mit lauter Kerzen darauf. Und einem Aschenbecher, in dem noch ein halb gerauchter Joint liegt. Als ihr Blick auf den Joint fällt und auch auf die immer noch fast volle Flasche Bourbon daneben, setzt sie die Kaffeetasse ab, schüttet einen guten Schuss von dem Bourbon hinein und zündet sich den Joint an. Zieht den Rauch tief ein, wendet sich dem Fenster zu, dann lässt sie ihn ganz langsam wieder ausströmen. Nimmt einen Schluck von dem Heißgetränk, lässt ihre Schultern sinken und die Blicke schweifen. Von dort, wo sie sitzt, den Sessel dem Fenster zugewandt, hat sie freie Sicht auf den Himmel, der heute ungewöhnlich blau erstrahlt. Gegenüber, auf der anderen Seite der breit angelegten Schönhauser, sieht sie auf die Dächer und oberen Stockwerke der uralten Gebäude, auf üppig begrünte Dachterrassen und die Glasfassaden der schicken Penthouse-Wohnungen. Dafür, dass die Straße so belebt ist, herrscht hier oben ungemein angenehme Ruhe. Das Summen und leise Quietschen der im Drei-Minutentakt in den nahegelegenen Bahnhof einfahrenden S-Bahn hört sie längst nicht mehr.

Die junge Dame raucht ihren Joint, genießt den Kaffee und die relative Ruhe, bis ein Geräusch vom Nachttisch neben dem Bett sie aufschreckt. Es ist der Nachrichtenton ihres Handys. Wer schreibt mir denn jetzt noch?, überlegt sie kurz, dann rafft sie sich auf, um nachzusehen.

Heute, 02:34 „Schatzi, das war mal wieder sehr geil mit dir. Bis zum nächsten Mal.”

04:16 „Hi.”

04:48 „Geht auch halbe Stunde?”

08:19 „Hey Süße, bin am Wochenende wieder in Berlin und musste an deine heiße Muschi denken, sehen wir uns?”

11:23, ein Dick pick, dessen Absender sie nicht zuordnen kann... Sie schließt die App und wirft das Telefon im hohen Bogen aufs Bett. „Was für Idioten”, zischt sie leise und gießt noch etwas Bourbon nach. Ihr Blick fällt auf die Zeiger der Uhr, schon gleich Zwei. So langsam sollte sie sich fertig machen. Noch einen Augenblick zögert sie widerwillig, dann leert sie mit einem Zug die Tasse und geht rüber ins Badezimmer. Dort lässt sie den Kimono auf den Boden fallen und stellt sich in die Wanne, zieht den Vorhang zu und dreht das Wasser auf. Es ist kalt und herrlich erfrischend. Sie nimmt den Brausekopf aus der Halterung und lässt das Wasser über ihr Gesicht und ihre Brüste laufen, dann stellt sie die Temperatur doch ein wenig höher. Als es ungefähr Körpertemperatur hat, nimmt sie etwas von der flüssigen Intimseife, die neben einigen anderen Pflegemitteln auf einem Brett an der Wand steht, und schäumt damit ihre Scham ein. Dann hält sie den Brausekopf direkt davor, so dass der Schaum an ihren inneren Schenkeln herunterläuft.

Sie schiebt erst einen, dann zwei Finger in ihre Scheide, tief hinein und immer wieder raus und wieder rein, der Wasserstrahl gleitet zwischen ihren Fingern mit. Anschließend hängt sie die Brause wieder ein und beginnt mit ihrer Haar-Routine. Kur, Shampoo, Spülung. Während letztere einwirkt, ist die Rasur dran. Zuerst unter den Achseln, dann im Schritt. Sie beginnt oben im Bikinibereich, dann stellt sie einen Fuß auf den Wannenrand und arbeitet sich sorgsam zu den Schamlippen vor, zieht sie mit zwei Fingern zur Seite, um mit dem Rasierer auch in die kleinen Falten zu gelangen, in die sie eingebettet sind. Lässt die Klinge weiter gleiten bis zur Gesäßfalte, um auch nicht ein Härchen auszulassen. Zum Schluss rasiert sie sich die Beine. Das hat sie gestern auch getan, da sind keine Haare. Aber so sind sie eben richtig glatt.

Kurz darauf steht sie, im Kimono und mit um den Kopf gewickeltem Handtuch, mitten im Schlafzimmer und schaut sich unentschlossen um. Wenn es nach der Uhr ginge, wäre eigentlich noch Zeit für ein Tütchen. Ach, warum denn nicht? Rasch marschiert sie zu dem kleinen Tisch neben ihrem Bett und holt aus der Schublade darunter eine kleine Schachtel hervor. Darin befindet sich das Utensiliar: Tabak, Blättchen, Filter und natürlich das Gras. Mit wenigen, geübten Handgriffen ist der Joint fertig. Dazu mischt sie sich noch einen Drink, aber diesmal im umgekehrten Verhältnis, Bourbon mit Kaffee, und wirft auch noch einen Eiswürfel in die Tasse. Das erscheint ihr so viel adäquater für die Tageszeit.

Zurück in ihrem gemütlichen Sessel, den Joint in der einen, den Drink in der anderen Hand, geht sie in Gedanken den weiteren Plan für den Tag durch. Viel ist nicht mehr zu tun. Eigentlich muss sie nur noch ihren Kulturbeutel packen, ein paar T-Shirts, Pullover und die Sporthosen, die sie sich eigens für heute gekauft hat. Und den wenigen Schmuck, den sie nicht verkauft hat. In der Hoffnung, dass er ihr nicht geklaut wird.

Die Wohnung ist, wie sie ist. Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Aber sie könnte sich noch kurz beim Vermieter verabschieden, so viel Anstand muss wohl sein. Bei dem Gedanken an Abschied von dieser Wohnung wird ihr wehmütig zumute. Hier hat sie so viele unglaubliche Dinge erlebt, manche sehr schöne Zeit verbracht, und sich meistens sicher gefühlt. Renoviert hat sie alles selber, und alle Gäste, die kamen, haben ihren guten Stil bewundert. In jeder Ecke und in jedem Möbel stecken Erinnerungen. Sicher, auch schrecklich schmerzhafte Erinnerungen. Es mag Leute geben, die in dieser Wohnung nichts weiter als einen Tatort sehen würden. Doch für sie ist es ihr Zuhause. Sie seufzt leise und nippt an der Kaffeetasse. Auch die wird sie vermissen. Da war sie noch im Studium, als sie diese hübsche Tasse auf dem Mauerpark-Flohmarkt entdeckt hat. Danach hat sie noch einige Zeit nach einer dazu passenden, zweiten gesucht, sie doch nie gefunden, und darum blieb es dieses einzelne Tässchen, aus dem sie immer dann ihren Kaffee trank, wenn sie alleine war. Für Besucher gab es die Ikea-Tassen, aber normalerweise kam keiner von ihren Gästen zum Kaffeetrinken. Sie seufzt erneut. Von denen wird sie nicht einen vermissen.

Der Drink ist ausgetrunken, der Joint aufgeraucht, die Haare an der warmen Luft bereits getrocknet, es ist an der Zeit. Die Schöne rafft sich auf und begibt sich in ein anderes, kleineres Zimmer, das so etwas ist wie ein begehbarer Kleiderschrank. In einem Regal hängen auf mehreren Kunstköpfen verschiedene Perücken. Eine mit langen, glatten, schwarzen Haaren und Pony, ein blonder Bubikopf, rote Strähnen, braune Locken, ungefähr eine Frisur für jeden Tag der Woche. Auf der langen Seite des Raumes sind Kleiderstangen auf Regalwinkeln befestigt, an denen nur ein paar wenige Kleider hängen. Es wirkt, als wäre ein Mitbewohner ausgezogen. Die Frau schnappt sich aus einem herumstehenden Pappkarton eine Valentino-Tasche, den einzigen Markenartikel, den sie noch besitzt, und wirft wahllos einen Großteil der Unterwäsche, die sich in einer Schublade unterhalb der Perücken befindet, hinein. Den Inhalt einer kleinen Schmuckschatulle kippt sie ebenfalls in der Tasche aus. Darauf stopft sie die Sporthosen, noch mit Schildern vom Kaufhaus daran, ebenfalls ein paar Shirts, und zu guter Letzt ihre liebste Strickjacke. Der Sommer wird nicht ewig währen. Was fehlt noch? Ja, der Kulturbeutel. Sie eilt ins Bad, will gerade alle Pflegeartikel in das Täschchen stecken, da fällt ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Sie muss sich ja selbst erst noch zurechtmachen.

Gute zwanzig Minuten später lässt sie sich erneut schnaufend in den Sessel sinken. Die Haare sind gekämmt und glattgeföhnt, sie trägt ein dezentes Makeup, nur die Augen etwas betont und einen Hauch von Rouge. Der seidene Kimono ist einem luftigen, hellblauen Kleid gewichen. Als einzigen Schmuck trägt sie eine silberne Brosche, in der Form eines Schmetterlings. Der hübsche Seidenfummel befindet sich nun zusammen mit dem ganzen Rest ihres Lebens in der Valentino-Tasche, die, noch geöffnet, auf dem Fußende des Bettes steht. Daneben liegt ein Brief, Absender ist das Amtsgericht Berlin Mitte.

Die junge, doch bei näherer Betrachtung auch irgendwie alt erscheinende Frau starrt eine Weile auf die Tasche, dann auf den Brief, dann sieht sie wieder aus dem Fenster, als wolle sie den Blick für immer einfangen. Dann irgendwann schaut sie sich wie suchend um, als ob sie noch irgendwas vergessen hätte. Das Gras! Einen Letzten kann sie sich noch bauen, aber das sind bestimmt noch fünf Gramm. Sie dreht sich eine Tüte mit nur ganz wenig Tabak darin, bloß nichts verschwenden. Mit dem Rest geht sie erst ins Bad, überlegt es sich dann doch anders, für die Toilette ist das viel zu schade. Sie will es gerade in der kleinen Reisetasche verstauen, da fällt ihr der Nachbar von einem Stockwerk tiefer ein. Das ist die beste Idee, der freut sich bestimmt. Um auch den Bourbon nicht unnötig verkommen zu lassen, und um sich auf ihre bevorstehende Reise noch ein bisschen gründlicher vorzubereiten, kippt sie die die Tasse bis obenhin voll davon und nimmt einen ordentlichen Schluck. Seufzt. Zündet den Joint an.

„Anna! Was für eine nette Überraschung!” Der Nachbar von unten ist sofort an der Tür, muss wohl gerade daran vorbeigelaufen sein, oder schon dahinter gestanden haben.

„Timo, hi!”

„Mirko. Aber macht nichts. Was kann ich für dich tun?”

Du, eigentlich gar nichts. Ich wollte dir das hier nur vorbeibringen.” Sie hält ihm das Beutelchen mit dem herb duftenden Inhalt hin.

„Ja, krass nett von dir, aber ich hab gerade kein Bares hier.”

„Nee du, lass mal gut sein, schenk ich dir.”

Er stottert ihr noch ein „Danke” hinterher, aber da ist sie schon auf dem Treppenabsatz. „Ciao, Anna...”

Der Vermieter ist ein Arschloch, aber es gibt wahrscheinlich nur wenige Vermieter, über die das noch niemals jemand gesagt hätte. Immerhin wohnt er im selben Haus. Nicht ganz, Anna muss zum Hintereingang aus ihrem Vorderhaus und den Innenhof überqueren, um zu ihm ins Hinterhaus zu gelangen. Dort gibt es sogar einen Aufzug. Sie drückt den obersten Klingelknopf, es dauert einen Augenblick, und eine Stimme ertönt über die Gegensprechanlage.

„Ja?”

„Ellrich hier. Ich wollte ihnen nur kurz den Schlüssel zu 3B bringen.”

„Oh, das passt im Moment nicht gut. Können sie in zwei, drei Stunden wiederkommen?”

„Dann bin ich nicht mehr hier.”

„Gut, kommen sie hoch. Sie wissen ja, einfach einsteigen, nichts machen.” Die Tür des Fahrstuhls öffnet sich. Anna geht hinein, die Tür schließt sich, und als sie sich erneut öffnet, steht ein rundlicher Mann in Jogginghosen und mit freiem Oberkörper vor ihr. Das Brusthaar kringelt sich bis runter um seinen Bauchnabel.

„Tach. Was soll das heißen, sie wollen mir den Schlüssel bringen? Ihnen ist schon klar, dass sie eine dreimonatige Kündigungsfrist einzuhalten haben? Und die Schlüsselübergabe erfolgt dann ordnungsgemäß bei gemeinsamer Begehung, das Protokoll dazu haben sie selbst unterschrieben.”

„Meine Güte, jetzt tun sie nur nicht so überrascht. Ich wette, sie haben längst ein kleines Album angelegt mit allen Zeitungsausschnitten zu meinem Fall. Und sich schön daran aufgegeilt, dass so etwas ausgerechnet in ihrer hochgeschätzten Immobilie passiert ist. Und geben sie es doch zu, ihr zweiter, wenn nicht erster Gedanke war die mögliche Wertsteigerung. Ist doch eine echte Sensation, das alles.”

„Sie haben sie doch nicht mehr alle, Frollein. Hätte ich gewusst, was sie auf meinem Grund und Boden treiben, hätte ich sie unverzüglich und fristlos gekündigt. Sie sind Abschaum!” Bei dem Wort allerdings schäumt sich Speichel in seinen Mundwinkeln. Ihr ist das zu doof, sie gibt ihm den Schlüssel in die Hand und drückt auf den Knopf für „Erdgeschoss”. „Glauben sie bloß nicht, dass sie auch nur einen Cent von ihrer Kau -”, doch da ist sie schon auf dem Weg nach unten.

Am Späti um die Ecke kauft sie noch eine Stange Zigaretten, dann läuft sie die Treppe des Bahnhofs Schönhauser Allee hinunter zu ihrem Gleis. Erstes Ziel: Ostbahnhof. Die S-Bahn ist gerammelt voll, sie findet nur einen Stehplatz. Sofort bereut sie, nicht wenigstens für das erste Stück ein Taxi genommen zu haben. Die Bahn ist einfach nichts für sie. Zu viele Menschen, zu viel Lärm, viel zu viele Gerüche und sonstige Eindrücke. Zum Glück ist sie wenigstens nicht mehr ganz nüchtern, und der letzte, kräftig gebaute Joint hilft auch ein wenig dabei, das zu überstehen. Es sind nur ein paar Stationen.

Endlich im Ostbahnhof angekommen, kauft sie sich eine Fahrkarte für den Regionalzug und macht sich auf die Suche nach ihrem Gleis. Dann versichert sie sich, ob sie rechtzeitig angekommen ist, um ihren Zug noch zu erwischen, und ist selbst überrascht, fast stolz auf sich, denn sie ist noch knappe zehn Minuten vor der Zeit. Und das alles ohne Stress. Gut gemacht, Anna. Sie kramt eine Zigarette aus einer der zehn Schachteln in ihrem Gepäck hervor, zündet sie sich an und bewegt sich in Richtung der durch gelbe Linien auf dem Boden ausgewiesenen Raucherzone. Zieht ein paarmal daran, doch dann schnippt sie sie weg, pustet den Rauch aus und inhaliert stattdessen die Luft um sie herum. Berliner Luft. Die wird sie am allermeisten vermissen.

Der Zug rauscht heran, hält, Menschen steigen aus, andere ein, aber nicht so viele wie in der Straßenbahn zuvor. Es scheint genug Platz für alle zu geben, Anna sucht sich ein freies Abteil und freut sich schon auf eine ruhige Fahrt, da setzt sich ein Paar mit Kind direkt zu ihr. Sie atmet kurz aus, gerade eben nicht so heftig, dass die Leute es bemerken müssen, senkt den Blick und hebt ihn dann wieder, streckt ihren Oberkörper leicht, so dass sie einen besseren Ausblick über den Wagon hat, doch ihre Chancen stehen schlecht. Alles ist mittlerweile voll besetzt. Sie fühlt, wie sich ihr Herzschlag erhöht. Die besänftigende Wirkung der vertrauten Berliner Luft ist auf einmal wie verblasen und der Joint wirkt plötzlich alles andere als entspannend. Beklommenheit steigt in ihr auf, und sie will am liebsten ihre Tasche greifen und aus dem Zug springen, aber da schließen sich bereits die Türen und die Wagen rollen an. Kein Entkommen mehr.

Anna lässt sich, so gut es geht, in den starren, unbequemen Plastiksitz sinken, schlägt die Beine übereinander und legt die rechte Hand so über die linke, dass ihr rechter Daumen genau auf der Pulsader über ihrem linken Handgelenk zu liegen kommt. Scheinbar unbekümmert, fühlt sie ihren Puls. Die Ader hämmert unter ihrem Daumen. Sie atmet, bewusst langsam, tief ein, lang aus. Versucht, einen Punkt zu finden, den sie fokussieren könnte. Etwas, auf dem ihr Blick ruhen kann. Bloß irgendein Ruhepunkt. Irgendwas, das sie ablenken kann von dem ganzen Tohuwabohu, in dem sie ihre Mitte finden kann. Ach Quatsch, kommt ihr der Gedanke, das ganze Gerede von innerer Mitte, und der Bourbon meldet sich auch nochmal zu Wort: Ja, völliger Quatsch! Deine Mitte ist genauso selbstgemacht wie Kartoffelauflauf, und hält sich im Kühlschrank auch nicht viel länger. Hä? Sie schiebt den Gedanken weg und blickt aus dem Fenster, findet schließlich ihren Fokus in den vorbeirauschenden Bäumen entlang der Bahntrasse.

Allmählich dämmert ihr, dass sie das beste Abteil weit und breit erwischt hat. Während überall um sie herum laut telefoniert, gelacht und geblödelt wird, verhalten sich ihre Platznachbarn so still, als wären sie bei einer Beerdigung. Die Eltern scheinen nicht von dieser modernen Sorte zu sein, die ihr Kind als ebenbürtigen Verhandlungspartner ansehen und alles mit ihm durchdiskutieren, bis das Kind am Ende doch seinen Willen bekommt. Anna löst ihren Blick von den vorbeifliegenden Baumkronen und schaut sich die Leute an. Untere Mittelschicht, er wahrscheinlich Arbeiter, sie Hausfrau oder mit Halbtagsjob. Beide starren auf ihre Handys, das kleine Mädchen, sie mag fünf oder sechs sein, auf ihre Schmetterlingsbrosche. Als sie sich von Anna dabei ertappt fühlt, lächelt sie sie verlegen an. Anna lächelt zurück.

Da steht die Kleine auf, geht auf Anna zu und tippt mit ihrem winzigen Zeigefinger auf die Brosche. Der Vater schreitet direkt ein und herrscht das Kind an, sich sofort wieder hinzusetzen und die Frau nicht zu belästigen. Die Frau fühlt sich aber gar nicht belästigt und will das auch am liebsten gleich zum Besten geben, doch dann besinnt sie sich darauf, dass man sich nicht in Anderer Angelegenheiten mischen sollte. Die Eltern widmen sich wieder ihren Handys, Anna wendet sich erneut den Bäumen zu, die Kleine schaut bedröppelt zu Boden und spielt mit ihren Fingern. Nach einer Weile wird das Anna zu blöd, sie nimmt die Brosche ab und gibt sie dem Kind. Das reißt die Augen auf und strahlt sie an, als hätte sie da Scheinwerfer eingebaut. Die Mutter des Mädchens widerspricht: „Das müssen sie nicht tun”, doch Anna entgegnet nur „Ich möchte aber,” und zu dem Kind: „Ich brauche die Brosche nicht mehr, du kannst sie behalten. Pass gut darauf auf, die gehört jetzt dir.”

„Aber...” will der Vater noch dagegenhalten, doch Anna winkt mit einer Handbewegung ab.

„Nein, das ist in Ordnung. Ich brauche sie nicht mehr.”

Sie und die Kleine lächeln sich an, dann schauen beide aus dem Fenster. Das Mädchen spielt mit der Brosche, Annas Augen ruhen wieder auf den grünen Wipfeln, es wird eine angenehme Fahrt. Der Weg führt durch die Wälder der Priegnitz, vorbei an Tümpeln und kleinen Seen, hält an Bahnhöfen kleiner Ortschaften. An einem dieser Bahnhöfe steigt die Familie aus, und das Mädchen, das die ganze Zeit über nicht ein Wort hervorgebracht hatte, strahlt Anna noch ein letztes Mal an und sagt „Danke”. Anna würde sie am liebsten in die Arme nehmen, ihr ins Ohr flüstern, dass sie wertvoll ist und darum alles Schöne der Welt verdient. Stattdessen lächelt sie nur zurück.

Am nächsten Dorfbahnhof steigt auch sie aus. Bis zu ihrem Ziel sind es aber noch gute drei Kilometer. Es gibt einen Bus, doch der nächste käme erst in einer guten Stunde. Bis dahin ist sie auch zu Fuß längst da. Und wer weiß, wann sie ihren nächsten ausgedehnten Spaziergang unternehmen können wird. Hier draußen ist es lange nicht so heiß wie in der Stadt, noch dazu weht ein leichter Wind, Anna fragt sich, warum es überhaupt erst ein Gerichtsurteil brauchte, um sie hierher aufs Land zu locken.

Sie kramt ihr Handy aus einem Seitenfach ihrer Tasche und ruft die Zieladresse in der Karte auf. Dreht sich halb im Kreis, bis der Pfeil über ihrem Standort in die richtige Richtung zeigt, zoomt raus - okay, im Grunde nur am nächsten Dorf vorbei und dann links. Sie steckt das Handy wieder ein und macht sich auf den Weg. Zum Glück hat sie ihre gut eingelaufenen Ballerinas an. Die Tasche könnte noch schwer genug werden.

Der Weg ist wirklich schön. Er führt vorbei an goldenen Weizenfeldern, die sich im Wind wiegen, an Wiesen, auf denen Kühe grasen, und überall an den Rändern stehen Klatschmohn und leuchtend blaue Kornblumen. Anna läuft mitten auf dem schmalen, fast unbefahrenen Landweg, mit ihrem knielangen, auf Taille geschnittenen Kleidchen in Hellblau passt sie wie gemalt in dieses Bild, und mit ihrem aufrechten, elegant anmutenden Gang macht sie die Straße zu ihrem Laufsteg. Auf einmal kommt ihr der Einfall, ein paar von den Blumen zu pflücken. Es kann doch nicht verboten sein, ein bisschen was von dieser Schönheit mitzunehmen? Die bunten Farben würden ihr bestimmt den Start erleichtern.

Gerade hat sie ein hübsches Sträußchen zusammengestellt, noch ein paar Weizenähren dazugetan, um es abzurunden, da kommt ein erstes Auto von hinten auf sie zugefahren. Sie geht weiter ihres Weges, diesmal am linken Straßenrand, der Wagen fährt langsam an ihr vorbei, hupt kurz und sie denkt schon, was, wegen der Blumen?, da hält er ein paar Meter vor ihr an. Die Rücklichter leuchten auf, das Fahrzeug kommt rückwärts auf sie zugerollt. Das Fenster auf der Fahrerseite wird heruntergelassen.

„Hey, schöne Frau, wenn sie nicht zufällig die alte Eiche da drüben besuchen wollen, müssen sie es noch ziemlich weit haben. Kann ich sie irgendwohin mitnehmen?”

„Nein, danke, ich laufe gerne.” Sie geht weiter, den Blick nach vorne gerichtet, er rollt in seinem schwarzen Mercedes neben ihr her.

„Ich nehme sie wirklich gerne mit. Sie verbrennen sich sonst noch ihre zarte Haut.” Anna sieht den Mann kurz an, kann in seinem Gesicht nicht einen einzigen Grund finden, darauf zu antworten, wendet sich ab und läuft unbeirrt weiter. Der Mercedesfahrer tritt aufs Gaspedal, ruft noch „Blöde Schlampe”, dann braust er davon. Sie bleibt von nun am linken Wegesrand.

Allmählich tauchen vereinzelte Bauernhäuser auf, sie nähert sich dem Dorf. Da sind rot verklinkerte, moderne Häuser mit gepflasterten Hofeinfahrten und alte Fachwerkhäuser mit verwitterten Jägerzäunen davor, an denen gelbe und pfirsichfarbene Bauernrosen hoch emporwachsen. Hühner gackern in den Vorgärten entspannt vor sich hin, weiße Laken hängen zum Trocknen an Wäschespinnen. Alles wirkt ungemein friedlich und still. In der kleinen Ortschaft gibt es nicht viel, außer einer unscheinbaren Kirche, einem Krämerladen, der auch als Poststelle dient und fünf Straßenlaternen. Ein paar Omis schauen aus ihren Fenstern und begaffen den Fremdling, der durch ihren Ort spaziert. Kaum zweihundert Meter nach dem Ortsausgang kommt ihre Abbiegung. Der Weg ist von hohen Bäumen gesäumt, fast wie die Zufahrt zu einem Schloss. Anna hat im Internet herausgefunden, dass das hier früher eines der größten Kinderheime der DDR war. Von weitem kann sie es schon sehen. Tatsächlich, denkt sie, während sie dem Gebäude immer näher kommt, es hat was von diesen alten Berliner Oberschulen. Hier also haben sie die guten, anständigen DDR-Bürger gezüchtet.

Sie erreicht den Vorplatz des symmetrisch angeordneten, schmucklosen Kastens und geht die breite Treppe zum Portal hinauf. Rechts daneben an der Mauer befindet sich eine Klingel mit einem kleinen Schild, darauf steht „Besucher” geschrieben. Sie drückt den Knopf, ein Sicherheitsmann kommt an die Tür, öffnet sie aber nicht. Er schaut sie nur fragend an, durch ein kleines Fenster in dieser riesigen, massiven Holztür. Sie fummelt eilig den Wisch vom Gericht aus ihrer Tasche und hält ihn hoch. Der Mann zeigt nur nach rechts und bedeutet ihr, in die Richtung zu gehen. Anna leistet dem Folge, geht halb um das Gebäude herum und kommt zu einem drei Meter hohen Zaun aus Metall. Wieder eine Klingel. Nach einer ganzen Weile dröhnt der Türöffner, und ein anderer Sicherheitsmann wartet an einer kleinen Pforte zum Nebengebäude. Das ist also ihr Trakt. Mit plötzlich ganz weichen Knien bewegt sie sich, wie von einem Seil gezogen, in seine Richtung. Zeigt auch ihm den Brief, und ihren Personalausweis. So, wie es in dem Brief gefordert wird.

„Anna Ellrich. Ich sollte -”

„Sollte!! Ganz genau, du solltest vor fünfundzwanzig Minuten hier sein. Dir ist schon klar, dass dit fast einen Haftbefehl jegeben hätte? Abendessen kannst du dir jedenfalls abschminken. So, aber nun komm erstmal rein.” Er spricht in seine Handfunke: „Franziska, komm mal bitte an die Schleuse, Neuzugang”, dann wendet er sich wieder Anna zu, „ick bin der Sven. Wir duzen uns hier.

„Dann bin ich Helena.”

„Helena? Hier steht Anna Ellrich.”

„Das mag ja sein, aber fremde Typen, die mich duzen, nennen mich Helena.”

Eine Tür im hinteren Bereich des Raums öffnet sich, eine untersetzte, kleine Frau mit dicker Brille kommt herein. Die dunklen Haare mit grauen Strähnen hat sie zum Zopf geflochten, sie trägt graue, verwaschene Schwesternbekleidung und Gummilatschen.

„Wen haben wir denn hier?

„Dit ist Lady Helena. Janz hoher Besuch heute.”

„N'Abend Helena, ich bin Franziska, den Sven hast du ja schon kennengelernt, wir sind hier die beiden, mit denen du keinen Ärger haben willst. Einmal bitte hier entlang...”, Anna folgt Franziska in einen komplett mit Fliesen ausgekleideten Nebenraum, Sven bleibt dicht hinter ihr, „und hier alles ablegen.” Sie zögert. „Na das wird für dich ja wohl nicht das erste Mal sein. Ausziehen, heute noch.” Anna zieht ihr Kleid aus, nach einem drohenden Blick der Schwester schließlich auch den BH und ihr Höschen. Franziska zieht sich einen Latexhandschuh über die rechte Hand.

„So, nun brav die Beine auseinander und nach vorne beugen.” Die Frau stochert mit ihren spitzen Fingern in ihrer Vagina herum und sucht auch anal nach heimlichen Mitbringseln, und dabei geht sie nicht gerade zimperlich vor. Dann gibt sie Anna einen Plastikbecher und weist auf eine weitere Tür. „Da bitte eben rein für die Urinprobe, und dann gehst du hier”, wobei sie auf eine Duschvorrichtung im selben Raum zeigt, „duschen. Gründlich, schlepp uns hier ja nichts rein. Anziehen wirst du heute erstmal das hier, deine persönlichen Sachen werden morgen erst noch von der Oberschwester durchgesehen und die entscheidet dann, was du behalten kannst.” Anna sieht auf den kleinen Stapel Kleidung, der den Klamotten der Schwester ziemlich ähnlich sieht.

„Was ist mit den Blumen, darf ich die mit aufs Zimmer nehmen?”

„Keinerlei mitgebrachten persönlichen Gegenstände, dit ist so Vorschrift.” Sven öffnet mit dem Fuß den Deckel eines Mülleimers und befördert die Blumen dort hinein. Anna verschwindet mit dem Urinbecher im WC. Wenigstens beim Duschen schaut Sven nicht zu, er hat höflicherweise den Raum verlassen. Doch Franziska lässt sie nicht eine Sekunde aus den Augen, steht da wie eine Wachsfigur, mit verschränkten Armen und beobachtet jede ihrer Bewegungen. Noch nie in ihrem Leben hat sich Anna so nackt gefühlt.

Nachdem Franziska sie dann noch um drei volle Kolben mit ihrem Blut erleichtert hat und die Aufnahmeprozedur endlich vorbei ist, führt sie Sven aus der „Schleuse”, hinaus in ihr neues Zuhause. Anna kriegt das alles gar nicht mehr so richtig mit, ist völlig benommen, ihr Körper mag hier drin, in dieser absurden Situation sein, aber sie ist irgendwo anders. Die beiden gehen irgendwelche Gänge entlang, eine Treppe hinauf, kommen an unzähligen geschlossenen Türen vorbei, durch weitere Gänge, bis sie zu einer offenen Tür kommen.

„Bitte sehr. Mach et dir jemütlich. Franziska kommt nachher nochmal nach dir sehen.” Die schwere Eisentür fällt krachend hinter Anna ins Schloss, sie steht mitten in der kleinen Zelle und schaut sich um. Gemütlich ist es hier nicht. Grauer Linoleum-Boden, grau lackierte Wände. Es riecht antiseptisch. In der Ecke steht ein schmales Bettgestell aus Metall mit einer Gummimatte anstelle einer Matratze darauf, das Fenster ist aus bruchsicherem, drahtverstärkten Glas und vergittert. Aber immerhin gibt es ein Fenster. Sie geht darauf zu, stellt zu ihrer Freude fest, dass es sich sogar öffnen lässt, und sieht dieselben Felder, durch die sie eben noch gewandert ist. Alle Achtung, wer will schon ein Zimmer, wenn er eine Zelle mit dieser Aussicht haben kann? Anna kann ihrem Gesicht ein schwaches Lächeln abringen. So bleibt sie da am Fenster stehen, eine geschlagene Ewigkeit, bis ihre Beine müde werden. Schließlich setzt sie sich auf das, was ihr also ab jetzt als Schlafplatz dienen soll. Wie soll man denn auf sowas schlafen können? Sie muss an ihre Satin-Bettwäsche denken, und die dicken, weichen Kissen, aus denen sie manchmal den ganzen Tag nicht herauskam, so gemütlich waren die. Wenigstens die Zigaretten hätten sie ihr lassen können. Und was gäbe sie jetzt für einen kräftigen Drink und einen schönen, fetten Joint.

Mit einem Mal öffnet sich die Luke und Franziska steht vor ihr, mit einer Wasserflasche in der einen und einem kleinen Becher in der anderen Hand, in dem eine einzige, rote Pille liegt.

„Das Abendessen hast du ja leider verpasst, aber hier habe ich wenigstens etwas Wasser für dich. Und die nimmst du bitte.”

„Was ist das? Den Scheiß nehme ich nicht.”

„Das ist ein schöner Gruß vom Doktor, und muss ich etwa Sven erzählen, dass du mir hier Ärger machst? Mund auf.” Anna schluckt die Pille, so schlimm wird's wohl nicht sein, wahrscheinlich hatte sie eh schon bessere Drogen. Franziska kontrolliert Annas Mundhöhle um sich zu versichern, dass sie die Tablette auch wirklich geschluckt hat.

„Das ist hier nicht das Hilton, schon klar, aber diese Maßnahme ist nur für den Anfang. Bis wir dich ein bisschen besser kennen und du zu den anderen verlegt werden kannst. So weit alles klar? Frühstück ist um sechs, Mittagessen um halb eins, Abendessen um achtzehn Uhr, und wer zu spät kommt – aber das hast du ja schon mitbekommen. Du hast morgen Vormittag eine Verabredung mit dem Chefarzt, wir holen dich dann. Also, gute Nacht.” Und weg ist sie. Anna nimmt das dünne Kissen vom Kopfende und legt es ans Fußende, so kann sie im Liegen aus dem Fenster schauen, in den immer noch blauen Himmel. Hier drinnen haben sie schon die Lichter ausgeschaltet, dort draußen würde ihr Tag gerade erst beginnen.

ZOMBIEPILLE