Snovids Tagebuch - Oleksii Gnievyshev - E-Book

Snovids Tagebuch E-Book

Oleksii Gnievyshev

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Snovids Tagebuch“ ist ein autobiografischer Roman, basierend auf realen Ereignissen und echten Träumen. Dieses Buch ist meine persönliche Reise: die Geschichte eines Künstlers, der seine innere Welt öffnet – eine Welt, in der Kunst und Träume verschmelzen und die Realität nur eine von vielen Dimensionen ist. Hier teile ich meine Entdeckungen, Gefühle, Suchwege und Inspirationen – all das, was meine Gemälde entstehen ließ und meine Kreativität antrieb. Die Welt der Snoviden ist keine Fantasie, sondern eine gelebte Erfahrung, die den Blick auf das Leben und auf uns selbst verändert. „Snovids Tagebuch“ ist eine Einladung, hinter die Kulissen von Kunst und Wirklichkeit zu blicken – dorthin, wo Ideen, Träume und wahre Freiheit geboren werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Oleksii Gnievyshev

Snovids Tagebuch

ein autobiografischer Roman, basierend auf realen Ereignissen und echten Träumen

Inhaltsverzeichnis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

Impressum

1

Atme aus… Lass alle Luft aus deinen Lungen entweichen – und stelle plötzlich fest, dass du atmen kannst. Wieder. Tief und voll. Unter Wasser. Es fühlt sich natürlich an, leicht, als würde das Wasser nichts wiegen, und du atmest es ein wie Luft.

Für einen Moment dämmert es dir: Dies ist ein Traum. Und schon zerfällt das Trugbild, zerbröckelt in Stücke, verändert seine Form, um dich in eine neue Welt zu tragen. In einen Strudel von Ereignissen, in dem keine Zeit bleibt, über ihren Sinn nachzudenken. Doch diesmal bist du vorsichtig, erkennst die Illusion immer wieder.

Und plötzlich bist du auf einem Familienfest. Um dich herum strahlende Gesichter von Verwandten, und du erkennst jedes einzelne. Freude erfüllt dich. Es scheint, als würde der Geburtstag eines lieben Menschen gefeiert, und alle sind zusammengekommen. Eine Idylle.

Doch sobald du die fremden Gesichter genauer betrachtest, wird dir klar: Dies sind nur Abbilder deiner Liebsten. Das Haus, obwohl es vertraut wirkt, ist nicht das, in dem du aufgewachsen bist – nur einzelne Details erinnern an etwas Bekanntes.

In diesem Moment erstarrt alles. Die Menschen im Raum drehen sich zu dir um, ihre Blicke leer, distanziert, als warteten sie auf etwas von dir.

– Ist das ein Traum? – frage ich in die Stille, die den Raum verschlungen hat.

– Ja.

– Ihr seid nicht meine Familie?

– Nein.

– Seid ihr echt?

– Ja.

Ich bin wach.

Nass von kaltem Schweiß lag ich in meinem Bett. Draußen dämmerte es bereits, und man hörte das Rascheln des feinen Herbstregens, der auf das Dach prasselte und in kleinen Bächen in den Teich im Hof unseres Hauses floss. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich zwei Minuten vor dem Wecker aufgewacht war.

– Wie passend – dachte ich mit einem Lächeln.

Den Wecker stellte ich aus, doch aus dem warmen Bett wollte ich mich nicht herausquälen. In einem feuchten T-Shirt erneut einzuschlafen, hatte ich ebenso wenig Lust. Vorsichtig stand ich auf, um meine Liebste nicht zu wecken. Sie schlief noch, gemütlich in die Decke eingewickelt. Ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht verriet, dass ihre Träume weit angenehmer waren als meine.

Langsam zog ich ein frisches, trockenes T-Shirt an, schlüpfte in meine Hose und ging ins Wohnzimmer. Durch die Glastür, die in den Innenhof führte, starrten mich zwei Augenpaare an. Marco und Polo, unsere Katzen, die wie gewohnt die ganze Nacht irgendwo herumgestreift sind, warteten geduldig darauf, dass ich die Glastür öffnete – wie eine Schleuse zwischen der kalten, feuchten Herbstluft und der Gemütlichkeit der Wohnung.

Ich ließ sie herein. Sie waren bis zu den Schwanzspitzen nass. Polo brummte laut, als würde er sich über das Wetter beschweren. Marco rieb sich einfach an meinem Bein, sprang meiner Hand entgegen und forderte Streicheleinheiten. Natürlich mussten sie sofort gefüttert werden. Erst danach konnte ich mich meiner üblichen Morgenroutine widmen.

Ein paar Minuten später saß ich mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Küchentisch und blickte nachdenklich in den grauen Novemberhimmel vor dem Fenster.

– Was passiert nur mit mir…

2

Zum ersten Mal begegnete ich diesem Phänomen in meiner Kindheit. Schon damals konnte ich meine Träume gut behalten, und viele Träume aus meiner frühen Kindheit sind bis heute in allen Details in meinem Gedächtnis geblieben. Ebenso lebhaft erinnere ich mich an mein erstes Erlebnis, als ich einen Traum aus einer neuen, unerwarteten Perspektive erlebte.

Dieser Traum kam zu mir, als ich etwa elf Jahre alt war.

An einem klaren Sommertag kehrte ich zusammen mit meinem Schulfreund von unserem Ferienhaus in der Vorstadt nach Hause zurück. Im echten Leben dauerte dieser Weg eine Stunde, doch im Traum waren alle Maßstäbe um ein Vielfaches verkleinert, und der Weg hätte nicht mehr als fünf Minuten gedauert. Zum Beispiel sah ich in der Straße, wo in Wirklichkeit fünfundzwanzig Häuser standen, nicht mehr als zehn. Der große Wald wirkte wie ein schmaler Streifen aus Bäumen entlang der Straße. Doch ich glaubte bereitwillig an diese scheinbar absurde Realität. Ich ging einfach weiter, plauderte mit meinem Freund und zweifelte die Welt um mich herum nicht an.

Auf halbem Weg bemerkte ich links von mir Eisenbahnschienen. Und ein seltsamer Gedanke schoss mir durch den Kopf:

– Aber hier sollten doch Garagen stehen, entlang der Gleise gebaut!

In diesem Traum gab es sie nicht – nur ein Feld voller Löwenzahn. Alles sah aus wie auf alten Fotos meiner Eltern. Oder vielleicht rief der Traum eine meiner frühesten Erinnerungen hervor, die mir selbst nicht mehr zugänglich waren.

Nachdem ich noch ein Stück weitergegangen war, erwachte mein Verstand plötzlich, obwohl ich weiterhin schlief. Ich spürte förmlich, wie sehr mein Gehirn sich anstrengte, um zu begreifen, was geschah. Ich wurde langsamer und fiel ein wenig hinter meinem Freund zurück. Als ich auf meine Hände blickte, erkannte ich: Das ist alles nicht wahr! Das ist nicht die Realität, und das, was neben mir geht, ist ganz und gar nicht mein Freund. Erst jetzt bemerkte ich, dass es nicht einmal wie ein Mensch aussah.

Vor mir stand ein formloses Wesen mit weichen Gliedmaßen, die sich mühelos bogen. Es schien zu ahnen, dass ich etwas begriffen hatte. Es blieb fünf Meter von mir entfernt stehen und beobachtete schweigend meine Reaktion. Ich hatte keine Angst, war aber verwirrt.

Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass hundert Meter hinter mir nichts mehr war außer einer verschwommenen Leere. Die vertraute Straße löste sich einfach ins Nichts auf. Selbst der Weg, den wir gerade noch gegangen waren, existierte nicht mehr. Als ich die Winzigkeit dieser Welt begriff, überkam mich echter Schrecken. Es war, als stünde ich in den Kulissen eines alten Films. Solange du den Film anschaust, wirkt alles echt – doch sobald du den Blick abwendest, siehst du nur flache Fassaden von Häusern. So war es auch hier. Es war, als hätte ich die vorgegebene Handlung verlassen und etwas gesehen, das mir verborgen bleiben sollte.

Das Wesen, das mir zuvor als mein Freund erschienen war, blickte mich weiterhin neugierig an. Einen Moment später verschwamm mein Bewusstsein – und ich fand mich in einem anderen Traum wieder.

Nichts beunruhigte mich mehr. War denn etwas nicht in Ordnung?

Heute denke ich daran, welchen tiefen Eindruck dieser Traum auf mich gemacht hat. Ich hatte etwas Außergewöhnliches erlebt, schob es aber auf einen Zufall. Ich erzählte niemandem davon.

– Na und, es war doch nur ein Traum. In Träumen kann alles Mögliche passieren. Oder etwa nicht?

Als Kind schaute ich oft Zeichentrickfilme und Filme voller Magie und außergewöhnlicher Fähigkeiten. Tief in meinem Herzen hoffte ich immer, etwas Ähnliches im echten Leben zu finden. Es gab eine Zeit, in der ich mir nichts sehnlicher wünschte, als wie ein Vogel zu fliegen oder höher als ein Haus zu springen.

Und wie sehr liebte ich es, dass ich in meinen Träumen manchmal tatsächlich dazu in der Lage war! Das bewusste Erleben im Traum machte diese Momente zu einem fast hyperrealistischen Erlebnis. Als wäre das, was ich im Traum erlebte, genauso bedeutend wie meine alltägliche Realität.

In diesem Alter entdeckte ich noch eine weitere Quelle von „Magie“ in der realen Welt – die Kunst.

3

Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, begann ich, mich langsam für die Arbeit fertig zu machen.

Trotz des regnerischen Wetters freute ich mich darauf, das Haus zu verlassen. Während ich durch die malerischen Gassen einer kleinen Stadt im Westen Deutschlands schlenderte, machte ich mich auf den Weg zu meinem Atelier. Es war kalt, und die Menschen, in schwarze Mäntel und Jacken gehüllt, hasteten zur nächsten S-Bahn-Haltestelle, die Köpfe unter schwarzen Regenschirmen verborgen.

Äußerlich unterschied ich mich kaum von den anderen. Ich trug einen schwarzen Wollmantel – etwas abgenutzt, aber immer noch in Form. Eine schwarze Mütze, die ich auf dem Weihnachtsmarkt in Bonn gekauft hatte, und ein Regenschirm – ein Geschenk meiner Frau. Der einzige helle Fleck war ein weißer Schal, der weich meinen Hals umschlang. Doch im Gegensatz zu den düsteren Menschen um mich herum strahlte ich inneres Glück aus. In mir brannte ein Feuer der Inspiration, das mich selbst an diesem kühlen, regnerischen Tag wärmte.

Ich arbeitete als professioneller Künstler in meinem Atelier, das nur zehn Minuten von zu Hause entfernt lag. Es war ein Traum, den ich über einen langen und dornigen Weg erreicht hatte.

Nach meinem Abschluss an der Kunstakademie zog ich zu meiner Frau nach Deutschland. Sie studierte damals am Kölner Konservatorium, eine talentierte Musikerin und Komponistin, während ich mich in einer neuen Welt wiederfand – einer Welt, in der alles fremd war: die Sprache, die Kultur, selbst die Luft fühlte sich anders an. Ich begann meinen künstlerischen Prozess von Grund auf neu, versuchte zu verstehen, wie ich in einem Umfeld schaffen konnte, in dem selbst einfache Dinge wie die Suche nach den richtigen Farben oder Leinwänden zur Herausforderung wurden.

Die ersten vier Jahre waren hart. Neben dem Malen neuer Bilder musste ich Gelegenheitsjobs annehmen, um mich und unsere kleine Familie zu unterstützen. Zuerst verteilte ich Zeitungen – bei jedem Wetter und oft bis spät in die Nacht schleppte ich einen schweren Wagen voller Zeitungen und summte ermutigende Lieder vor mich hin, alle, die mir einfielen. Später arbeitete ich als Hilfsarbeiter in einem Lager einer Druckerei in unserer Stadt, in Teilzeit. Schwere Kisten, Monotonie und das ständige Brummen der Maschinen – all das zehrte an meinen Kräften, die ich so sehr der Kunst widmen wollte. Das Geld wurde mehr, aber für die Kreativität blieb viel weniger Energie, und mein Kopf schmerzte vor Langeweile. Manchmal fühlte ich, dass ich mich selbst verlor, doch ich fand immer die Kraft, weiterzumachen.

Doch das Wichtigste war, dass ich stets wusste: Ich gehe den richtigen Weg. Selbst in den schwersten Momenten glaubte ich an meinen Erfolg. Meine Bilder waren meine Rettung, mein Weg, mit der Welt zu sprechen, wenn Worte überflüssig waren. Jeder Pinselstrich erinnerte mich daran, dass ich Künstler bin, und nichts konnte mir das nehmen.

Vor fünf Jahren kündigte ich endlich und wurde wahrhaft frei. Geldsorgen gab es nicht mehr, und meine Karriere als Künstler nahm rasant Fahrt auf. Ausstellungen, neue Bekanntschaften, Anerkennung – all das gab mir neue Kraft. Ich hatte alle Zeit der Welt für meine Entwicklung, und das war ein unglaubliches Gefühl. Mit neuer Energie kehrte auch die Fähigkeit zurück, meine Träume bewusst zu erleben – sie kam mit einer noch größeren Intensität, als hätte die Welt der Träume auf mich gewartet, und ich tauchte kopfüber in sie ein.

Schon von meiner Straße aus konnte man den riesigen roten Turm sehen – ein fünfzig Meter hohes ehemaliges Getreidesilo, das nun über der Stadt aufragte wie ein stiller Wächter vergangener Zeiten. Er wirkte wie ein Leuchtturm, der Erinnerungen trug, Erinnerungen an die industrielle Ära, als die Stadt ein anderes Leben führte. Die leuchtend rote Farbe verstärkte seine Monumentalität nur noch und machte es unmöglich, den Blick abzuwenden.

An der Spitze des Turms funkelte ein festlicher Weihnachtsbaum. Seine bunten Lichter pulsierten im Takt der vorweihnachtlichen Hektik, die die Stadt bereits erfasst hatte. Bis Weihnachten war es noch über einen Monat, doch die Erwartung eines Wunders lag förmlich in der Luft.

Wenn man näher kam, konnte man die Gerüstkonstruktionen sehen, die die östliche und teilweise die südliche Wand des Turms umschlangen. Das war der Tai-Park, eine neue Attraktion unserer Stadt, ein Kletterpark, der Abenteuerlustige und Mutige anzog. An der Spitze des Turms hatte man in dieser Saison eine weitere Neuheit eröffnet – eine Plattform für freien Fall. Ein großes Banner an der Westwand verkündete, dass dies der höchste Turm seiner Art in ganz Deutschland sei.

Der Besitzer des Parks hatte mich mehrfach eingeladen, einen Sprung zu wagen. Ich spürte, wie sein Enthusiasmus mit jeder Einladung auf mich drückte. Doch ich schob es immer wieder auf. Angst hielt mich in ihren Fesseln. Etwas anderes ist es, in einem Traum zu fallen, wo du weißt, dass nichts passieren kann – und etwas ganz anderes, sich der Schwerkraft in der Realität anzuvertrauen. Doch ich wusste, dass ich es irgendwann wagen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Zumal mein Atelier nur zwanzig Meter vom Fuß dieses gewaltigen Bauwerks entfernt lag.

Ich hatte mein Atelier in einem Raum im zweiten Stock des Hauptgebäudes neben dem Turm eingerichtet, einem ehemaligen Getreidesilo. Früher wurde von hier aus Weizen in Waggons geladen. Von jener Zeit waren nur die massiven, metallenen Schiebetüren am Eingang geblieben. Sie wirkten schwer, wie die Geschichte selbst und schützten meinen kreativen Raum zuverlässig vor der Hektik der Außenwelt.

Das Atelier war meine Welt. Es war nicht nur ein Ort für Kunst – es war der Mittelpunkt meines Lebens. Ein Teil des Raums erinnerte an ein klassisches Atelier mit Staffeleien und Bildern, die noch auf ihre Fertigstellung warteten. Ein anderer Teil war zu einem kreativen Raum für all meine Leidenschaften geworden.

In einer Ecke stand ein weiches Sofa und ein Bücherregal – ein Leseeck, in dem ich in andere Welten eintauchte, wenn ich ein Buch zur Hand nahm. Nicht weit davon stand ein Cello. Seine satte, dunkle Farbe und die geschwungenen Linien zogen immer wieder meinen Blick an. Hier spielte ich, suchte Harmonie nicht nur in der Musik, sondern auch in mir selbst. Und schließlich, am anderen Ende des Ateliers, hatte ich einen Bereich für Kung-Fu eingerichtet. Ein kleiner, aber gemütlicher Raum mit meinen Bildern an den Wänden. Dort trainierte ich – körperlich und geistig.

Ich hatte absichtlich einen großen Raum gemietet, damit mein gesamtes inneres Universum darin Platz fand. Hier war Raum für meine Kunst, meine Leidenschaften und sogar für die Menschen, die mir nahestanden. In diesem Raum war ich ganz ich selbst, ohne Masken und Einschränkungen.

Jedes Mal, wenn ich vor einer großen, leeren Leinwand stand, fühlte ich mich befreit. Die Zeit blieb stehen, und ich konnte mich dem Strom der Inspiration hingeben, der mich wie ein Wind trug, der Segel auf einer neuen Reise bläht.

Hier war ich frei. Und diese Freiheit war das Kostbarste, was ich besaß.

Als ich die Eisentüren meines Ateliers erreichte, erwartete mich eine angenehme Überraschung. An die Wand gelehnt stand ein Paket, das den Eingang zum Atelier fast anderthalb Mal überragte. Dank des großen Vordachs war das Paket dem feinen Nieselregen gleichgültig und wartete geduldig auf seinen Empfänger. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass es die Leinwand war, die ich vor drei Wochen für mein nächstes Bild bestellt hatte. Die Leinwand war groß – zwei Meter auf zweieinhalb Meter –, und die Kartonverpackung wirkte noch voluminöser.

Die naheliegende Frage war: Wie sollte ich sie hineinbringen? Heute war ich allein, und niemand konnte mir helfen. Nach kurzem Nachdenken und einer groben Abschätzung der Maße wurde mir klar, dass der einzige Weg, es allein zu schaffen, der Ersatzeingang war. Dort führten bequeme Treppen zu einer Tür, und ich könnte die Leinwand dorthin tragen, wenn auch mit Mühe. Die verpackte Leinwand war nicht schwer, und es gelang mir, sie auf einfache Weise zu bewegen: Ich rollte sie von Ecke zu Ecke, wie ein quadratisches Rad. An der Tür stellte ich zufrieden fest, dass ich mit den Maßen richtig gelegen hatte – das Paket passte diagonal perfekt durch den Türrahmen.

– Puh! – stieß ich erleichtert aus, als die Leinwand endlich im Atelier stand.

Die Mission war erfolgreich. Mit einem Cuttermesser packte ich die Leinwand vorsichtig aus und stellte sie auf die Staffelei am größten Fenster des Ateliers.

Der Anblick der weißen Leinwand war faszinierend. Ich empfinde immer eine gewisse Ehrfurcht vor dem weißen Raum einer Leinwand – es ist ein Fenster in eine andere Welt, das sich gleich öffnen wird. Ich trat näher, strich mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche und spürte die kaum wahrnehmbare Rauheit der Grundierung. Leicht klopfte ich darauf wie auf eine Trommel, und ein klarer, klingender Ton bestätigte die perfekte Spannung. Zufrieden trat ich zurück und setzte mich in den Sessel gegenüber.

Die weiße Leinwand lockte wie ein unendlicher Ozean. Ich blickte in ihre makellose Leere und ließ meiner Fantasie freien Lauf. In meinem Kopf wirbelten Dutzende Kompositionen, die lebendig wurden und sich veränderten wie ein Kaleidoskop von Bildern. Ich schloss die Augen und lauschte den Gefühlen, die ich auf die Leinwand übertragen wollte. Ich tauchte in die Tiefen meines Bewusstseins, und dieses Gefühl rief Visionen hervor. Es war, als befände ich mich unter Wasser – Stille umgab mich, und nur die zarte Gestalt einer Frau sank langsam ins Unbekannte. Plötzlich erwachte die Dunkelheit des Ozeans hinter ihrer Silhouette zum Leben, und ein riesiges Auge öffnete sich, vielleicht das eines Wals, vielleicht das eines anderen Meeresungeheuers. Die Zeit erstarrte. Die Pupille des Auges, wie ein unendlicher Kosmos, zog alle Aufmerksamkeit auf sich, als würde ein Gott selbst uns beobachten.

Ich öffnete die Augen. Ich wusste, wie dieses Bild aussehen würde. Alles fügte sich zusammen. Nun musste ich nur noch die nötigen Materialien für die Arbeit zusammensuchen, und ich konnte zum Pinsel greifen.

Schnell skizzierte ich die Komposition und begann, im Internet nach den passenden Referenzen zu suchen.

Nach vielen Stunden der Suche und Tausenden durchgesehenen Fotos fand ich ein Dutzend, die in meinem Herzen widerhallten. Außerdem gab ich eine Anzeige auf, um ein Modell für dieses Bild zu finden – eines, das genau der Vision entsprach, die ich vor meinem inneren Auge gesehen hatte.

4

Mit der Zeit, nach meinem ersten Erlebnis des bewussten Träumens, geschah es immer häufiger. Es fühlte sich an, als wäre ich ein wahrer Architekt, ein Schöpfer meiner Träume. Die Welt um mich herum veränderte sich unter dem Einfluss meiner Gedanken. Manchmal geschah es mühelos und leicht, manchmal musste ich mehr Willenskraft aufbringen, um die Handlung des Traums dorthin zu lenken, wo ich es wollte.

Ein entscheidender Moment meines Bewusstseins war ein Traum, in dem ich beschloss, stehen zu bleiben. Sicher habt ihr auch schon diesen Albtraum erlebt, in dem ihr versucht, vor einem Verfolger zu fliehen, aber euch so langsam bewegt, als würdet ihr im Schlamm feststecken, oder eine unsichtbare Kraft euch bremst und zu Boden zieht?

Genau so ein Traum erschien mir eines Nachts.

Ich sah das Dorf, in das ich jeden Sommer für ein paar Wochen zu meinen Großeltern gebracht wurde. Das malerische Haus stand auf einem Hügel, und unten erstreckte sich eine grüne Wiese, hinter der ein Fluss floss. Am gegenüberliegenden Ufer erhoben sich dichte Bäume. Dieser Ort erschien mir stets voller geheimnisvoller Schönheit.

Im Traum rannte ich über diese Wiese. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht schneller werden. Meine Beine versanken in einem unsichtbaren Sumpf, und das Gefühl eines kalten Blickes, der mich verfolgte, wurde immer intensiver. Er berührte fast meinen Rücken. Ich spürte seinen Atem.

Erschöpft von der Ausweglosigkeit blieb ich auf dem Pfad stehen, der von der Wiese zum Haus führte. In diesem Moment begann ich, die Natur des Traums zu erkennen. All die Zeit, die ich auf meinem Karatetraining verbracht hatte, schien mir nun als Quelle der Zuversicht zurückzukehren. In meiner Brust wuchs ein Gefühl der Stärke.

Ich drehte mich um.

Das Bild, das ich sah, prägte sich für immer in mein Gedächtnis ein. Der Himmel über dem Fluss begann, im Morgengrauen rosa zu schimmern, und ein sanfter Nebel umhüllte die Wiese wie der Atem des Morgens. Direkt vor mir, in Reichweite meiner ausgestreckten Hand, stand etwas. Dieses Etwas war formlos, mit einem violetten Umriss eines Kopfes, von dem zahlreiche Gliedmaßen ausgingen. Es sah aus wie ein Schatten meiner eigenen Ängste, verkörpert in einer geisterhaften Gestalt.

Ich schlug zu, wie ich es im Karate gelernt hatte: erst mit der rechten Hand, dann mit der linken. Doch die Kreatur bewegte sich nicht. Sie stand einfach da, absorbierte all meine Schläge, als wäre sie aus Gelee gemacht. Jedes Mal kehrte ihr Körper in seine ursprüngliche Form zurück.

Die Kreatur lächelte. Ihr Lächeln war still und selbstsicher, als wüsste sie, dass ich ihr keinen Schaden zufügen konnte. Doch sie tat auch nichts als Antwort.

Nachdem ich all meinen Frust herausgelassen hatte, ließ ich die Hände sinken. In diesem Moment erkannte ich etwas Wichtiges.

Ich hatte gesiegt… Nicht über diese Kreatur, sondern über meine Angst.

Danach drehte ich mich einfach um und ging in Richtung Haus. Ich wusste, dass die Kreatur mich nicht mehr verfolgen würde. Sie wurde nur von meiner Angst angezogen. Ohne diese verlor sie all ihre Macht.

Seitdem habe ich eine wichtige Lektion gelernt: Wenn du im Traum Angst verspürst und nur daran denkst, dass jemand oder etwas dich angreifen könnte, provozierst du selbst, dass dein Traum zu einem Albtraum wird. Als ich das verstand, konnte ich solche Träume für immer besiegen.

Selbst die schrecklichsten Kreaturen hörten auf, mich zu ängstigen, sobald ich die Natur des Traums erkannte. Mehr noch, es begann, mich zu amüsieren.

5

Als ich etwa sechs Jahre alt war, fuhr unsere Familie zum Urlaub ans Asowsche Meer. Die Reise dorthin, von Kiew aus und noch dazu mit dem Auto, war kein kurzer Weg. Meine Eltern taten sich mit Freunden zusammen, und so brachen wir in zwei Autos auf. Wir fuhren bei den ersten Sonnenstrahlen los und kamen erst spät am Abend an, nachdem wir unterwegs eine Pause unter einem einsamen Baum am Straßenrand eingelegt hatten.

Von dieser Reise sind mir viele schöne Ereignisse und die Atmosphäre des Ortes in Erinnerung geblieben. Der Strand mit Muscheln und dem seichten Meer, die endlosen grasbewachsenen Steppen mit einer Unmenge an Schnecken, von denen meine Schwester und ich aus Neugier sogar einige probierten. Und die alten Eisenbahnwaggons, die nun als Unterkünfte für die Urlauber dienten. Doch ein Spaziergang hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.

Am späten Abend schlenderten wir alle zusammen am Meer entlang. Die Sommerwärme war noch nicht verflogen, die Luft duftete nach salziger Frische, und auf dem ruhigen Meer glitten die Boote der Fischer, die mit ihrem Fang zurückkehrten. Über der gesamten Szenerie thronte ein großer, leuchtend roter Mond, der gerade erst über dem Horizont aufstieg. Mein kindlicher Verstand war in wilder Begeisterung und Verwirrung. Natürlich wusste ich damals noch nichts über den Effekt des durch die Atmosphäre gestreuten Lichts. Ich sah so etwas zum ersten Mal und konnte mich nicht beruhigen.

– Das ist ein Zeichen! – rief ich aufgeregt. – Vielleicht kommt bald das Ende der Welt?

Man versicherte mir, dass dieses Phänomen ganz natürlichen Ursprungs sei. Doch die Schönheit des Mondes faszinierte uns alle gleichermaßen. Die Landschaft wirkte mystisch und wunderschön. Wir machten ein Gruppenfoto vor diesem Hintergrund und gingen dann in Richtung Haus. Der Mond wechselte derweil allmählich seine Farben, von Rot-Orange zu seinem gewohnten Weiß, und beruhigte mich endgültig.

In derselben Nacht hatte ich einen Traum, der mich mit seiner Schönheit verzauberte.

Ich stehe am Rand einer kleinen Klippe am Meer, umgeben von einer ruhigen südlichen Nacht, völliger Windstille. Die Landschaft erinnerte an Asien: Im Meer sah ich ein kleines Dorf auf Pfählen und Boote, die sanft schaukelnd am Pier vertäut waren. In den Häusern leuchteten hier und da einsame, warme Lichter von Lampen. Eine idyllische Szene, über der, direkt vor mir, ein riesiger, leuchtend roter Mond schwebte. Sein Mondlicht spiegelte sich als schimmernder Pfad auf dem Wasser in meine Richtung.

Eine Weile betrachtete ich einfach die offene Landschaft, bis ein Windstoß kam und am Horizont eine düstere, dunkle Masse auftauchte. Sie näherte sich dem Ufer wie eine schwarze Wand, rasend schnell. Ein Fischer läutete hektisch eine Glocke. Und die Zeit schien langsamer zu vergehen, als wollte sie die gesamte Tragweite des Geschehens offenbaren. Das Wasser zog sich zunächst hundert Meter vom Ufer zurück und legte den Meeresboden frei, übersät mit Muscheln und Krabben. Dann verschlang eine fünfzig Meter hohe Wasserwand Haus um Haus das gesamte Dorf.

Das letzte Echo der Glocke verstummte, und das Wasser stürzte mit lautem Tosen auf meinen Strand.

Ich wachte auf.

Seitdem wurden Tsunamis zu häufigen Gästen in meinen Träumen. Ich lernte, sie nicht zu fürchten, denn ich konnte ruhig unter Wasser atmen, und es machte mir Freude, in der überfluteten Welt zu schwimmen. Zudem war das Wasser stets kristallklar, was völlig unrealistisch, aber unglaublich schön war. Es war eine Welt der Ruhe und Kraft, in der ich mich als Teil von etwas Größerem fühlte. Genau dieses Phänomen erfüllte mich eher mit einem angenehmen Schaudern vor der Macht der Natur, die selbst den alltäglichsten Traum auf den Kopf stellen konnte.

Neulich stieß ich auf dieses alte Gruppenfoto, das am Ufer gemacht wurde. Wir sind vom grellen Blitzlicht beleuchtet, vor einem schwarzen Hintergrund. Und über uns – nur ein kleiner roter Punkt, derselbe Mond. Ich hätte nie gedacht, dass genau das diesen kleinen Jungen auf dem Foto so sehr beeindruckt hatte.

6

Stille.

Ich sitze im Sessel, in den Händen das geschlossene Buch „Geister Japans“ von Lafcadio Hearn. Gerade eben habe ich seine Seiten durchblättert und die skurrilen Illustrationen von Benjamin Lacombe bewundert – feine Linien, hauchzart wie Spinnweben, die unheimliche Geschichten zum Leben erwecken. Noch vor einem Moment tauchte ich in das Kapitel über den Nopperabō ein – ein übernatürliches Wesen, das tagsüber wie ein Mensch aussieht, aber nachts kein Gesicht hat. Seine Geschichte haftete an meinen Gedanken wie Nebel: eine Illusion, die Leere verbirgt, und ein Blick, den du spürst, obwohl er nicht da ist. Diese japanischen Märchen weckten in mir stets etwas Ungreifbares – als hätte ich ihren Flüstern schon irgendwo gehört, vielleicht in meinen Träumen.

Langsam wandert mein Blick von den gedruckten Zeilen zur Welt um mich herum, zurück aus den Tiefen dieser Geschichten in mein Atelier. An den Wänden hängen Bilder – stumme Zeugen meiner Arbeit und inneren Suche. Sonnenlicht dringt weich durch das Fenster, gleitet über den alten Holzboden. Irgendwo in der Ferne ist das gedämpfte Rauschen von Autos zu hören, manchmal der Schrei eines Vogels. In solchen Momenten scheint die Welt vollkommen, erfüllt.

Einfach hier und jetzt sein.

Die Vergangenheit ist vergangen, die Zukunft noch nicht da. Es gibt nur diesen Moment – zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen einem Gedanken und seinem Echo. Menschen leben oft in Erinnerungen oder Erwartungen. Doch die Gegenwart ist das Einzige, was uns wirklich gehört.

Ich lege das Buch auf den Couchtisch und gehe in die Küche.

Der Wasserkocher erfüllt das Atelier mit seinem vertrauten, beruhigenden Summen. Während er aufheizt, bereite ich ein einfaches Sandwich zu – knuspriges Brot, Schinken, eine dünne Scheibe Käse. Einfache Dinge haben ihre eigene Harmonie.

Mit einer Tasse heißen Tees in der einen Hand und dem Sandwich in der anderen beginne ich einen langsamen Rundgang durch das Atelier, als wäre es eine Gemäldegalerie.

Jedes Bild ist ein Abdruck eines Teils von mir. In Farben und Linien sind Gedanken, Gefühle, Momente eingefroren, die bereits aus dem Gedächtnis verblasst sind, aber hier erhalten geblieben sind. Es ist wie ein Spiegel, nur zeigt er statt eines Abbilds die Spuren des Erlebten, festgehalten auf der Leinwand.

Die Vergangenheit verändert sich, wird unscharf wie ein altes Foto. Doch die Bilder bewahren sie lebendig.

Als ich zu meinem Arbeitslaptop zurückkehre, fällt mein Blick auf eine Nachricht, die auf dem Bildschirm blinkt und meine Aufmerksamkeit erregt. Es ist eine Antwort auf eine meiner Anzeigen zur Suche nach einem Modell – ein kurzer, aber rätselhafter Brief auf Französisch: „Bonjour, si je trouve le voyage NANCY jusqu'à Cologne, êtes-vous d'accord pour que je pose pour vous le jeudi 7 décembre?“ Der Übersetzer enthüllt sofort ihre Bedeutung:

– Hallo, wenn ich eine Fahrt von Nancy nach Köln finde, bist du einverstanden, dass ich am Donnerstag, dem 7. Dezember, für dich posiere?

Nancy – eine französische Stadt, und die Entfernung nach Köln, geschweige denn nach Brühl, erscheint riesig: sechs Stunden Fahrt, vielleicht mehr, wenn man den Winter berücksichtigt. Doch etwas an dieser Nachricht fesselt mich – ihre Einfachheit, ihre Kühnheit, ihre schwer fassbare Rätselhaftigkeit, wie ein Flüstern des Windes, der Wellen in meinen Träumen antreibt. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, als würde ich etwas Wichtiges ahnen.

In den sozialen Medien nennt sie sich schlicht Si – eine Abkürzung ihres Namens, der ebenso leicht und geheimnisvoll klingt wie ihr Brief. Ihr Profil zeigt eine zierliche Frau, etwas über dreißig, mit einer außergewöhnlich ansprechenden Schönheit, die mich an französische Heldinnen auf Gemälden erinnert, die ich einst in Pariser Galerien gesehen habe. Ihre Augen – tief, aber leicht melancholisch – kommen mir bekannt vor, obwohl ich nicht sagen kann, wo ich sie schon gesehen habe. All das – ihr Erscheinungsbild, ihr Name, ihre Bereitschaft, so viele Kilometer zurückzulegen – lässt mich fragen, ob sie nicht die war, die ich in meiner Vision für das Bild gesehen habe, jene zarte Seele, die in den Ozean taucht. Oder ist es nur meine Fantasie, die mit mir spielt wie der Wind mit den Blättern?

Ich antworte dankbar, schlage vor, die Details zu besprechen, und wir verabreden ein Treffen. Doch als ich den Laptop schließe, heult der Wind draußen stärker, als wollte er warnen oder rufen. Die Fensterscheiben zittern leicht unter seinem kalten Druck, während sie mit einem Pfeifen eisige Luftströme ins Atelier lassen. Ich stehe neben dem kleinen Holzofen, der das Atelier heizt, mit Lafcadio Hearns Buch in der einen Hand und einer Tasse kalten Tees in der anderen. Doch in meiner Vorstellung sehe ich nur dieses Auge – das Meerauge, riesig und grenzenlos, das mich aus den Tiefen anstarrt.

7

Ich träumte davon zu fliegen, wie wir wohl alle in unseren Träumen machen. Ich breitete die Arme aus wie Flügel und stieß mich vom Boden ab, spürte, wie die Luft mich trug – eine Sekunde, zwei, drei. Doch jedes Mal zog mich eine unerbittliche Kraft nach unten, als wollte sie mich erinnern: Du bist kein Vogel. Höchstens fünf Meter über dem Boden, ein Sprung wie ein geworfener Stein, der zwangsläufig fällt. Und dennoch wurden diese unsicheren Flüge meine liebste Art, mich in der Welt der Träume zu bewegen. Ich sprang von Dach zu Dach, überflog enge Gassen und stellte mir vor, ich sei ein Schatten, der über der Stadt gleitet. Mein Ziel war stets einfach: die höchste Gebäude, den Kirchturm, der die Wolken durchsticht, zu erreichen und von dort ins Himmelszelt zu stürzen, die Arme ausgebreitet, um endlich wahre Freiheit zu spüren. Doch jedes Mal, wenn ich emporstieg, hielt mich eine Decke auf.

Eines Nachts stand ich auf dem Gipfel eines Wolkenkratzers, während die Stadt unter mir summte wie ein lebendiger Organismus. Lichter funkelten wie Sterne, die auf die Erde gefallen waren, und die Straßen verflochten sich wie Adern, pulsierend vor Leben. Ich streckte die Hand zum Himmel, hoffte, die Wolken zu berühren, doch meine Finger stießen auf eine kalte, harte Oberfläche. Was aus der Ferne wie ein unendlicher Himmel aussah, entpuppte sich als Decke – eine glatte, undurchdringliche Wand, die meinen Traum in einen Käfig einschloss. Ich drückte meine Handflächen dagegen, suchte nach einem Riss, einer Naht, einem winzigen Hinweis auf eine Schwachstelle, doch sie blieb unerbittlich. Die Traumwelt, so majestätisch von innen, war nur eine Bühne – ein Pavillon von wenigen Quadratkilometern, auf dem jede Nacht neue Geschichten inszeniert wurden, aber immer nach denselben Regeln.

Diese Grenzen verfolgten mich. Während meiner Traumspaziergänge ging ich geradeaus, bis die Straße an eine Wand stieß – manchmal verbarg sie sich hinter einem Zaun, manchmal hinter den Umrissen ferner Berge, doch sie war immer da. Ich schlug dagegen, stellte mir vor, sie würde zerbröseln, versuchte, sie zu umgehen, doch ich blieb stets eingeschlossen. Träume versprachen Unendlichkeit, hielten mich aber an der kurzen Leine. Und da begann ich zu bemerken: Die Flüge, die ich so liebte, waren nur Teil dieser Täuschung.

Jeder Flug im Traum ist eine Manipulation, ein Trick des Geistes, der uns an seine Grenzenlosigkeit glauben lassen will. Wir springen, schweben, fallen, doch wir brechen nie aus den Grenzen aus. Es ist wie eine Attraktion im Vergnügungspark: Man gibt dir die Illusion des Fliegens, doch du bist an Schienen gefesselt. Einmal träumte ich, ich rase über die Wernadskyj-Allee in meinem heimischen Kiew. Die Pappeln schwankten unter Böen warmen Windes, und in der Ferne sah ich einen Wald und einen Fabrikschornstein, der weißen Rauch ausstieß, als wäre es der Atem der Stadt. Ich fühlte mich frei, bis ich bemerkte, dass mich nicht mein Wille trug, sondern eine kaum sichtbare Schlinge – wie eine Schaukel, irgendwo oben befestigt. Ich zerrte daran, versuchte nach rechts oder links zu steuern, doch sie ließ mich nur in den erlaubten Grenzen schwingen. Ich wollte höher fliegen, zu den Sternen, doch die Schlinge hielt mich zurück, und der Horizont, so nah, blieb unerreichbar, als würde er mich verspotten. Ich landete auf dem Asphalt, und der Himmel über mir glitzerte höhnisch in seiner Unerreichbarkeit.

Diese Illusion wiederholte sich in verschiedenen Formen. Manchmal fühlte sich der Flug echt an – ich breitete die Arme aus, spürte, wie der Wind mir ins Gesicht schlug, wie mein Herz vor Begeisterung pochte. Doch jedes Mal tauchte ein Hindernis auf: ein Seil, das meine Bewegung einschränkte, eine unsichtbare Wand, die den Weg blockierte, oder ein plötzlicher Maßstabswechsel, bei dem die Welt auf die Größe eines Kinderspielzeugs schrumpfte. Ich verstand: Träume wollen nicht, dass wir ihre Grenzen sehen. Sie schenken uns Flüge, damit wir an ihre Unendlichkeit glauben, doch es sind nur Kulissen, die die Wahrheit verbergen.

In einer Nacht fand ich mich in einem Raumanzug wieder, in der engen Kabine eines Shuttles, das versprach, mich über die Grenzen des Traums hinauszutragen. Mein Herz schlug wild – würde ich diesmal entkommen? Ich stellte mir vor, wie ich durch den Sternenhimmel fliege, die Decke hinter mir lassend. Der Countdown dröhnte in meinen Ohren: zehn, neun, acht… Start! Die Rakete erzitterte, das Bullauge flammte auf mit Sternen, die auf mich zurasten. Ich hielt den Atem an, als wir uns dem Himmel näherten, doch plötzlich hielt das Shuttle an. Ein Moment der Stille – und es schwebte träge horizontal, als hinge es an einem unsichtbaren Kran. Die Sterne erloschen, und unter mir tauchte eine Stadt auf, die an New York erinnerte. Das Shuttle landete und begann, durch die Straßen zu fahren wie ein Bus, um Passagiere aufzunehmen.

– Was passiert hier? – fragte ich den Astronauten neben mir.

– Wir sind noch nicht bereit, müssen erst die anderen Passagiere einsammeln – antwortete er leise, und sein Lächeln wirkte zu ruhig, fast spöttisch.

Ich wachte mit einem bitteren Geschmack im Hals auf. Träume versprachen den Kosmos, doch sie brachten mich stets zurück auf die Erde.

Ein anderes Mal versuchte ich, zu meiner Schwester zu fliegen, nachdem ich in einem Bus feststeckte, der mich aus Kiew herausgebracht hatte. Als ich erkannte, dass es ein Traum war, löste ich mich vom Boden und flog. Die Welt unter mir schrumpfte wie ein Brettspiel. Straßen wurden zu Fäden, Städte zu winzigen Figuren. Ich raste über die Ukraine, von Cherson nach Kiew, fühlte mich wie ein Vogel, der über Felder und Flüsse gleitet. Doch sobald ich Kiew erreichte, sah ich nur ein einziges Gebäude, riesig, als wäre es eine ganze Stadt. Ich landete neben ihm – und alles kehrte zum normalen Maßstab zurück, als hätte jemand einen Projektor umgeschaltet. Mein Flug war wieder nur ein Trick, ein Spiel des Geistes, das nur mit Freiheit neckte.

Diese Flüge, diese Grenzen – sie waren nicht bloß Launen des Traums. Ich begann, etwas Größeres in ihnen zu sehen. Träume sind eine Arena, in der der Geist mit uns spielt, uns die Illusion von Freiheit anbietet, damit wir die Wände nicht bemerken. Jeder Sprung, jeder Flug – ein Ablenkungsmanöver, um uns von der Wahrheit abzulenken: Wir sind eingesperrt. Und je mehr ich das erkannte, desto stärker wollte ich ausbrechen. Ich stellte mir vor, wie ich die Decke durchbreche, wie ich über den Horizont fliege, doch jedes Mal wachte ich mit derselben Frage auf: Was liegt dort, jenseits dieser Wände?

Als Kind hinterließen diese Träume einen besonderen Nachgeschmack. Nach dem Aufwachen lag ich in der Dunkelheit auf der oberen Etage meines Bettes, in meinem Kinderzimmer, wo die Decke so nah war, dass ich sie mit der Hand berühren konnte. Ich streckte die Finger aus, spürte die raue Oberfläche und fragte mich: War sie nicht dieselbe Decke in meinen Träumen? Im Halbdunkel starrte ich auf die Schatten an der weiß getünchten Decke, suchte nach Antworten, doch sah nur vertraute Umrisse – Risse, die wie Flüsse aussahen, und Flecken, die Wolken ähnelten. Jene KinderNächte lehrten mich: Grenzen gibt es überall, auch in der Realität. Und dennoch hörte ich nie auf zu träumen.

Wenn ich jetzt aufwache, lausche ich dem Regen, der auf das Dach prasselt, und spüre denselben Käfig. Im Leben, wie in den Träumen, taucht jedes Mal, wenn ich mich etwas Großem nähere – einem neuen Bild, einem mutigen Schritt, einem Traum – eine Wand auf. Angst, Zweifel, Umstände – sie halten fester als die Decke eines Traums. Doch jedes Mal, wenn ich ihr begegne, frage ich mich: Was liegt jenseits der Grenze? Und werde ich eines Tages die Kraft haben, sie zu durchbrechen – im Traum oder in der Wirklichkeit?

8

Ich sitze mit geschlossenen Augen auf weichem, kissenartigem Gras, an einen bequemen Stein gelehnt. Ein unermüdlicher warmer Wind spielt mit meinem Haar, und ich höre sein überwältigend schönes Lied, das er singt, während er die Gräser des Hochlands durchkämmt. Ich öffne die Augen. Und eine unendliche blaue Welt erfüllt meinen Geist. Ich saß auf einem majestätischen Felsen nahe dem Gipfel der Hoverla, bequem wie in einem Sessel zwischen den Steinen, und blickte in die Ferne. Ich war auf einer Höhe mit den Wolken, einige schwebten sogar im Tal unter meinen Füßen. Es lag etwas Erhabenes darin, die Schatten der Wolken zu beobachten, wie sie gemächlich über die Berge zogen, als sähe ich das Universum selbst – oder als sähe es mich.

Es gibt Bilder, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben wie Schatten auf der Leinwand der Seele – unvergänglich, durchdringend, die mein gesamtes Leben umgekrempelt und ein Feuer in mir entfacht haben, das mich durch die Jahre wärmt und vorantreibt. Es sind Orte der Kraft – Magneten des Herzens, die rufen, zurückzukehren, wie Träume, die jede Nacht erscheinen und eine neue Geburt versprechen.

Für mich wurden die Karpaten ein solcher Ort – Berge, die Ewigkeit atmen und mich durch die Jahre mit ihrem Flüstern rufen. Ich betrat ihre Pfade zum ersten Mal mit dreizehn – jung, mit einem Herzen, das noch nicht von der Welt belastet war. Wir brachen in einer lauten Gruppe auf: ich, meine Schwester mit ihrem Freund, Tante Halja und mein Cousin Wanja – eine ganze lärmende Schar verwandter Seelen. Eine Reise, die zunächst wie ein gewöhnlicher Faden im Gewebe des Sommers erschien, flammte plötzlich auf – sie wurde zum ersten Pinselstrich, der den Künstler in mir weckte, und zum Spiegel, in dem ich mich selbst zum ersten Mal sah.

Wir ließen uns in Kosmeschtschyk nieder – einem stillen Weiler, der fünfzehn Kilometer von der Hoverla entfernt lag, wie der letzte Ort, den die Zivilisation noch erreichte. Einst brummte hier eine sowjetische Touristenbasis, doch nun blieb nur ein Gerippe des Gebäudes – ein halb zerfallener Bau mit einem Sportraum, der langsam unter Regen und Wind zerbröselte, wie ein Geist der Vergangenheit, der der Natur weicht. Unser Unterschlupf – ein warmes, gemütliches Holzhaus – teilte sich die Wände mit den Gastgebern: einem älteren Paar, dessen Blick die Weisheit dieser Orte bewahrte. Sie führten einen Hof und nahmen Wanderer wie uns herzlich auf, die nicht nur ein Dach suchten, sondern den Atem der Karpaten. In der Nähe floss ein Fluss – reißend, glasklar, sein Rauschen wob sich in die Stille und versprach Reinheit und Kühle.

Am nächsten Tag, früh am Morgen, weckten mich unsere Bereitschaftsdienste, meine Schwester und ihr Freund – sie hatten draußen bereits ein Feuer entfacht und den Wasserkocher erhitzt, während der Rauch sich mit dem kalten Hauch der Nacht vermischte, der noch am Boden hing. Ich trat auf den Pfad zum Fluss, spürte, wie der Tau meine Füße durch das Gras benetzte, das glänzte wie verstreutes Silber. Die Sonne berührte kaum die Tannen auf dem gegenüberliegenden Berg und warf erste goldene Fäden auf ihre Wipfel. Alles ringsum atmete – leise, aber unaufhörlich. Ich setzte mich auf glatte Steine am Ufer, tauchte die Hände ins eisige Wasser – es brannte auf meinen Handflächen, weckte mich endgültig und ließ mich spüren, dass ich lebendig bin.

Wir frühstückten in der warmen Stille des Weilers, packten unsere Rucksäcke und traten den Weg an – mein Herz zitterte vor Vorfreude, denn heute rief uns die Hoverla, die ein Zurück bis zum Einbruch der Dämmerung versprach. Kaum hatten wir das Haus verlassen, stellte uns der Weg vor die erste Herausforderung – steil und widerspenstig schoss er durch einen jungen Wald empor, als wollte er uns herausfordern. Ich stellte mir vor, wie Autos vor seiner Steilheit kapitulieren, doch das Chaos gefällter Stämme und Gestrüpp deutete auf Holzfäller hin, deren schwere Maschinen hier ihre Spuren hinterlassen hatten, wie Narben, die die Erde noch lange nicht heilen würde. Wanja und ich, mein Cousin, fanden jeder einen Stock, aus dem wir Wanderstäbe machten, die uns auf den steilen Hängen retten und als dritte Stütze dienen sollten. In unseren kindlichen Träumen waren sie mächtige Waffen – lachend fochten wir unterwegs miteinander und gegen das umliegende Gestrüpp, wie junge Ritter am Rand des Unbekannten.

Den ersten, langen Teil des Weges gingen wir durch malerische Karpatenwälder, wo die dichten Kronen riesiger Tannen ewige Dämmerung hielten. Die Sonne erhitzte bereits die Luft, doch wir verbargen uns dankbar in ihrem kühlen Schatten.

Nach einigen Stunden Wandern lichtete sich der Wald plötzlich, und wir traten auf die erste Alm. Die Schönheit der Landschaft überwältigte mich: Hinter den Hütten der Hirten und einem Streifen Wald erhob sich die Hoverla – majestätisch, umhüllt von einem leichten blauen Dunst. Sofort zog ich mein Notizbuch und Bleistifte aus dem Rucksack und begann, Skizzen anzufertigen, um jeden Moment festzuhalten und in meinem Gedächtnis zu bewahren. Als es Zeit war, die anderen einzuholen, nahm ich meinen „Zenit“ – ein Geschenk meiner Eltern vor der Reise – und machte ein paar Aufnahmen.

Wir gingen weiter, stiegen immer höher. Zuerst blieb der Wald zurück, dann die niedrigen Bäume und Sträucher, bis sich vor uns unendliches Gras ausbreitete – flauschige Büschel, die unter den virtuosen Symphonien des Windes summten, als würde ein unsichtbarer Dirigent sie leiten. Bald umhüllten uns Wolken – eine kalte Wand schloss uns ein, verschlang die Welt, und die Sicht schrumpfte auf zehn Meter. Wir schritten den Pfad entlang des Grats, die Augen auf den Boden gerichtet, und spürten den Atem des Berges.

Plötzlich löste sich der Nebel auf, und unter der Wolke tauchte ein Felsen auf – majestätisch, stolz über den Abgrund ragend. Die Sonne berührte ihn mit ihren Strahlen, und hinter ihm teilten sich die Wolken wie Vorhänge eines großen Theaters. Unter dem Tosen des Windes, der wie ein Orchester trompetete, öffnete sich das Tal – eine Welt, die bis zum Horizont reichte. Ich hielt den Atem an und näherte mich vorsichtig dem Rand, blickte hinab: Weit unten waren leise Glöckchen zu hören, und weiße Punkte – eine Herde Schafe – bewegten sich in der Tiefe. Ich ließ mich ins Gras sinken, machte es mir bequemer, und alle schlossen sich schweigend an – wir hielten Rast, als hätte die Welt selbst uns befohlen, vor ihrer Größe innezuhalten.

Bald erreichten wir den Gipfel. Dort summten die Stimmen von Touristen, die von der anderen Seite heraufgestiegen waren – ringsum wehten Andenken, Gedenktafeln und bunte Bänder, und die Steine flüsterten eingemeißelte Namen derer, die diesen Weg vor mir gegangen waren. Doch ich wollte sie nicht beachten – in meiner Vorstellung stand ich hier allein, ein Entdecker einer wunderbaren Welt, die sich für immer in mein Herz eingebrannt hatte.

9

Die Entdeckung, die meine Träume veränderte, kam unerwartet: Die Möglichkeit der intensivsten Gefühle, die ich je in luziden Träumen erlebt hatte, war die einfachste – eine Umarmung.

Lange hatte ich die Snoviden erforscht – so nannte ich die flüchtigen Wesen, die meine Träume bevölkerten und die Rollen mir bekannter Menschen oder zufälliger Passanten spielten. Sie waren skurrile Spiegelbilder meines Unterbewusstseins und mochten es nicht, wenn ich hinter den Vorhang ihrer Welt blickte und die Wahrheit erkannte: dass ich träume. Sie tricksen, woben neue Handlungen, wirbelten Ereignisse auf, um meine Aufmerksamkeit abzulenken. Einmal versuchte ich, mit ihnen zu sprechen, in der Hoffnung, ihr Wesen zu enträtseln. Doch die Worte zerfielen wie trockener Sand, und sie versuchten, dem Gespräch mit mir auszuweichen. Da beschloss ich, anders zu handeln – ich streckte die Arme aus und umarmte einem Snovid. Und das wurde meine Offenbarung.

Obwohl ich wusste, dass vor mir nur ein Bild stand, gewoben aus meinen Gedanken, spürte ich, wie in dem Moment der Umarmung eine Verbindung zwischen uns aufflammte – rein, zeitlos. Die Liebe, die aus meinem Herzen strömte, was so kraftvoll, dass sie greifbar schien. Sie strahlte Wärme aus meinem Solarplexus aus, verschmolz mit dem Wesen des Snovid wie zwei Lichtströme. Dieses Gefühl übertraf alles, was ich in der realen Welt kannte. Es war tiefer als körperliche Nähe, spiritueller, als berührte ich die Seele selbst. Ich weinte – nicht aus Schmerz, sondern aus Überwältigung. Tränen flossen in Strömen, und ich hielt sie nicht zurück. In diesen Momenten verabschiedete ich mich von denen, deren Wege sich im echten Leben von meinem getrennt hatten: Freunde, die ich verloren hatte, Geliebte, die in der Vergangenheit geblieben waren. Ich flüsterte Worte der Liebe zu meinen Eltern, stellte mir vor, wie ich noch ungeborene Kinder umarme, und spürte, dass sie irgendwo existieren, auf mich in der Zukunft wartend. Umarmungen wurden zu einer Sprache ohne Worte, in der Gefühle lauter sprachen als jede Phrase.

Diese Erfahrung veränderte meine Träume für immer. Ich begann, in Umarmungen eine Kraft zu sehen – keine physische, sondern eine spirituelle. Früher hatte ich mit meinen Träumen gekämpft, mir das Recht erstritten, sie bewusst zu erleben. Ich stellte mich Albträumen, schlug mutig die Ungeheuer nieder, die aus der Dunkelheit auftauchten. Meine Träume waren ein Schlachtfeld, auf dem ich stets siegte. Doch die Ironie lag darin, dass ein Sieg über einen Albtraum nicht nur durch Stärke möglich ist. Die Liebe erwies sich als mächtiger als jedes Schwert.

Einmal träumte ich von einem alten, düsteren Haus, durchdrungen von Kälte und Unruhe. Der Traum flüsterte: Dieser Ort ist verflucht, hier hausen Geister. Ich hatte längst aufgehört, Albträume zu fürchten – das Bewusstsein ihrer Natur machte mich unangreifbar. Doch Freude empfand ich bei dieser Wendung der Handlung auch nicht. Das Haus schien lebendig: knarrende Dielen unter meinen Füßen, Schatten, die in den Ecken wogten, und schwere Luft, die auf meine Brust drückte. Ich trat in einen dunklen Flur und sah sie – drei Geister, die in der Luft schwebten wie wallende Laken. Ihre Umrisse zitterten, und ihre leeren Augenhöhlen blickten durch mich hindurch. Mein Herz zog sich zusammen, aber nicht vor Angst – vor Mitleid. Diese Wesen wirkten verloren, gefangen im Netz des Traums.

Anstatt zu fliehen oder zu kämpfen, ging ich auf den nächststehenden Geist zu. Meine Hände zitterten, doch ich streckte sie aus und umarmte ihn. Der Geist zuckte zusammen, seine kalte Form schmolz dahin, und vor mir erschien ein Mädchen mit zarten Gesichtszügen. Ihre Augen, voller Staunen, sahen mich an, als hätte sie zum ersten Mal Wärme gespürt. Ich wiederholte dasselbe mit den anderen Geistern. Einer nach dem anderen nahmen sie menschliche Züge an: ein Jüngling mit einem traurigen Lächeln, eine ältere Frau mit gütigen Falten im Gesicht. Sie begannen zu sprechen, ihre Stimmen klangen leise, wie ein Echo.

– Gib uns Namen – flehten sie. – Namen werden uns befreien. Ich nannte sie. In diesem Moment veränderte sich der Traum: Die Dunkelheit wich, das Haus füllte sich mit sanftem Licht, und die Luft wurde leicht, wie nach einem Gewitter. Ich verstand, dass selbst in den dunkelsten Winkeln des Unterbewusstseins Liebe Wunder wirken kann.

Seither wurden Umarmungen zu meinem Ritual in den Träumen – ein Akt der Stärke und des Annehmens. Sie halfen mir nicht nur, Albträume zu überwinden, sondern auch die innere Einsamkeit zu heilen. Ich lernte, mein Herz selbst denen zu öffnen, die nur in der flüchtigen Welt der Träume existieren, und fand jedes Mal eine tiefere Verbindung zu mir selbst.

10

Eine zierliche Frau in einem eleganten Mantel stand an der Schwelle meines Hauses, ihr dunkles Haar bewegte sich kaum im kalten Abendwind. Neben ihr, sie untergehakt, wartete ein älteres Paar – gebeugt, in warme Schals gehüllt. In den Händen der Fremden zitterte ein zerknittertes Stück Papier, das sie nach vorne hielt, als wäre es ihr einziger Anker in einer fremden Stadt.

– Guten Abend – begann die alte Frau, ihre Stimme knarrte wie ein altes Radio. – Diese Dame hat sich völlig verlaufen. Sie spricht kein Deutsch, aber sie zeigte uns Ihre Adresse auf diesem Zettel. Wir dachten, wir bringen sie zu Ihnen. Kennen Sie sie?

Ich sah sie an – feine Gesichtszüge, Augen, die vor Erschöpfung und Erleichterung glänzten. Und erkannte sie sofort.

– Ja, das ist Si! Sie kommt aus Frankreich – antwortete ich, spürte, wie die Anspannung von meinen Schultern fiel. – Ich habe sie heute erwartet, wusste aber nicht genau, wann sie ankommt. Vielen Dank, dass Sie ihr geholfen haben!

– Ach, was soll’s – winkte die Alte ab, und ihr Mann, durch seinen grauen Bart lächelnd, fügte hinzu:

– War ja auf dem Weg.

Sie sahen sich fröhlich an, ihre faltigen Gesichter leuchteten vor Wärme. Dann gingen sie, Hand in Hand, langsam davon, verschwanden in der Dämmerung der Straße, wo Laternen schwache Lichtflecken auf den nassen Asphalt warfen.

Auf das Stimmengewirr hin lugte meine Frau aus dem Wohnzimmer – ihre Wangen gerötet von der Wärme der Küche, in den Händen einen Holzlöffel, noch feucht von Soße.

– Oh, sie ist schon da! – rief sie, und ihre Stimme klang vor Freude, die die Kälte vor der Tür schmolz. – Das Abendessen ist fertig, das Gästezimmer auch. Lass sie reinkommen, draußen ist es eisig!

Si trat über die Schwelle, schüttelte die Kälte des Abends von ihren Schultern.

– Hello! Don’t worry, I speak a little English – sagte sie, und ihre Worte, umhüllt von einem sanften französischen Akzent, klangen wie eine Melodie, die den scharfen Windböen draußen widersprach.

Wir gingen ins Wohnzimmer, wo es nach frisch gekochtem Essen und gedünsteten Kräutern duftete. Am Tisch floss das Gespräch leicht und ungezwungen. Si, nun entspannt, lächelte und hielt ihre Gabel mit einer unbewussten Anmut.

– Wissen Sie, ich war so nervös, bevor ich hergekommen bin – teilte sie leise mit, ihre Stimme war ruhig, ihre Augen glänzten vor Wärme. – Zu fremden Menschen, in ein fremdes Land, ohne die Sprache zu sprechen…

Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie die alte Angst abschütteln, und fügte hinzu:

– Aber als ich Sie sah und die Gemütlichkeit Ihres Hauses spürte, war ich sofort beruhigt.

Si war bezaubernd – nicht nur durch ihre eleganten Manieren, die unbewusst jeden ihrer Gesten durchdrangen, sondern auch durch eine stille Stärke, die sich hinter ihrer Zerbrechlichkeit verbarg. Ihre Augen, tief und dunkel, schienen das Echo eines bewegten Lebens zu bewahren – eines, das genug Geschichten von Kampf und Hoffnung für mehrere Bücher bergen könnte.

Wir hatten uns im Voraus geeinigt: Sie würde ein paar Tage bei uns bleiben, im Gästezimmer wohnen, und morgen würde ich mit der Fotosession und den Skizzen für das neue Bild beginnen. Doch dieser Abend war ganz frei, damit sie sich von der langen Reise erholen konnte.

Sie verstand sich sofort mit meiner Frau – ihre Nähe blühte augenblicklich auf, wie ein trockener Zweig, der durch einen Tropfen Wasser zum Leben erwacht. Nach dem Abendessen, als ich schlafen ging und das gedämpfte Gemurmel zurückließ, blieben sie im Wohnzimmer. Durch die Wand drangen ihre Stimmen – mal leise, mal aufflammend vor Lachen, vermischt mit dem Klirren von Gläsern. Meine Frau erzählte etwas Leichtes, und Si, den Pausen nach zu urteilen, öffnete ihr Stückchen ihrer Vergangenheit – schwer, aber ihr teuer. In der Dunkelheit liegend, stellte ich mir ihre Worte vor, spürte, wie sie sich in mir absetzten wie Farbe auf einer leeren Leinwand.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, machten Si und ich uns auf den Weg zum Atelier. Die Luft war frisch, durchtränkt vom Geruch gefallenen Laubs, und unsere Schritte knirschten auf dem feuchten Pflaster. Unterwegs fragte sie mich nach meiner Weltanschauung und dem Prozess des Malens – ihre Stimme vibrierte vor Neugier, und ihre dunklen, aufmerksamen Augen fingen jedes Wort ein.

– Ich verfolge deine Kunst schon lange – gestand sie, vorsichtig ihre englischen Worte wählend. – Ich habe immer davon geträumt, Teil dessen zu sein, was du malst.

Ihre Worte durchströmten mich mit Wärme, als hätte jemand unerwartet die Hand nach mir ausgestreckt.

Wir erreichten das Atelier, und ich öffnete die schweren Türen – drinnen herrschte bereits Wärme, denn am Vorabend hatte ich die Heizung eingestellt, damit die Kälte bei unserer Ankunft gewichen war. Die Luft roch nach Holz und dem kaum wahrnehmbaren herben Duft von Farben. Ich entzündete den Ofen – die Flammen knackten, warfen goldene Reflexe an die Wände – und stellte die Kaffeekanne auf den Herd. Der Duft frisch gebrühten Kaffees erfüllte das Atelier, vermischte sich mit dem süßlichen Aroma von Gebäck, das ich aus dem Kühlschrank holte – kleine Teilchen mit zarter Creme und Schokoladenkrümeln.

– Welche Musik magst du? – fragte ich, das Handy in der Hand, durch die Playlist scrollend.

Sie überlegte, ihre Lippen formten ein leichtes Lächeln.

– Etwas nach deinem Geschmack. Ich bin neugierig, was in deinem Kopf spielt, wenn du arbeitest.

Ich nickte, spürte, wie ihre Worte eine angenehme Wärme in mir auslösten.

– Kennst du Aurora? Die norwegische Sängerin.

– Nein, glaube nicht – antwortete sie, den Kopf neigend, als würde sie etwas Vertrautes im Namen hören.

– Ich liebe sie. Sie ist unglaublich – talentiert, mit einer Seele, die jede Note durchdringt. Hör dir diese an – den Text hat sie mit zwölf geschrieben.

Ich drückte „Play“, und aus den Lautsprechern unter der Decke erklang „Running With the Wolves“. Ihre Stimme – kraftvoll, wild wie der Wind in den Bergen – füllte den Raum, hallte von den Wänden wider. Ich sah zu Si – sie erstarrte, lauschte, und ihre Finger bewegten sich leicht im Takt der Melodie.

– Das ist aus dem Animationsfilm „Wolfwalkers“ von Tom Moore – fügte ich hinzu, spürte, wie die Erinnerung an diesen Film meine Worte belebte. – Mein Lieblingsfilm seit vielen Jahren. Dort verwandeln sich Menschen im Traum in Wölfe – Wolfwalker, so nennt man sie. Ich empfehle ihn dir sehr.

– Ein schönes Lied – sagte sie leise, und in ihrer Stimme schwang eine Note der Begeisterung, als hätte die Melodie etwas tief in ihr berührt.

Si ging langsam an den Wänden entlang, ihre Schritte hallten kaum hörbar auf dem Holzboden wider. Sie blieb vor jedem Bild stehen, betrachtete die Leinwände mit stiller Aufmerksamkeit – ihre Finger verharrten in der Luft, als fürchteten sie, die Farben zu berühren. Manche Bilder flammten mit emotionalen Momenten eines Mythos auf – die Leidenschaft von Göttern oder der Mut von Helden; andere summten leise eine Ode an die Liebe, doch die meisten meiner Werke flüsterten von der zarten Verbindung zwischen Mensch und Natur, von dem Tier, das tief in der Seele schlummert.

Sie verharrte vor einer Leinwand – ein Mädchen, umhüllt von der Fürsorge von Tigern, ihre Augen geschlossen, der Körper entspannt, voller Vertrauen zu diesen Raubtieren. Si erstarrte, und ich hörte, wie ihr Atem leicht zitterte.

– Interessantes Zusammentreffen, dass du die Wolfwalker erwähnt hast – begann sie, ihre Worte wählend, als würde sie sie kosten. Ihre Stimme war leise, doch eine Spur von Aufregung schwang darin mit.

– Vor Kurzem lernte ich eine Schamanin kennen. Sie lud mich zu einem Kraftzeremoniell ein – nachts, im Wald, um meine innere Wölfin zu finden. Es ist so… faszinierend.

Sie verstummte, ihr Blick verschwamm, als flimmerten die Schatten von Bäumen vor ihren Augen. Dann, wie erwachend, fügte sie hinzu:

– Könntest du mich mit einem Wolf malen?

– Mit einem Wolf? – wiederholte ich, spürte, wie eine Funke in meiner Brust aufflammte.

– Ja, das könnte ein kraftvolles Bild werden. Diese Tiere sind auch mir nahe – wild, aber wahrhaftig. Ich werde eine Skizze für diese Idee entwerfen.

Ihr Gesicht erstrahlte vor Freude – ihre Augen leuchteten wie kleine Flammen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem aufrichtigen Lächeln, das sie wie ein Kind wirken ließ, das ein unerwartetes Geschenk erhalten hat.

Es war Zeit für die Fotosession. Zwischen den Gesprächen hatte ich ein paar zusätzliche Skizzen angefertigt – schnell, aber präzise, in denen sich bereits die Konturen dessen abzeichneten, was ich umsetzen wollte. Wir besprachen die Details: Ich erklärte, wie ich das Licht und die Posen sah, und sie hörte zu, nickte mit einem leichten Lächeln.

– Gut – sagte sie leise und verschwand hinter der Tür des Ankleidezimmers, um sich vorzubereiten.

Ich machte mich ans Werk: Ich zog weiche Matten hervor und breitete sie auf dem Boden aus – grau, federnd, sie dämpften das Echo der Schritte. Ich holte die Leiter aus der Ecke, bedeckte die Fenster mit schweren Vorhängen, schnitt das kalte Tageslicht ab, und stellte die Lampen ein – ihr Strahl wurde weich, aber präzise, wie ein Pinsel in meinen Händen. Ich überprüfte die Kamera – Akku voll, Objektiv sauber. Alles war bereit, und im Atelier herrschte eine Stille voller Erwartung.

Die Tür des Ankleidezimmers knarrte leise, und eine zierliche, nackte Gestalt glitt in den Raum. Si trat auf Zehenspitzen, barfuß, ihre Bewegungen waren vorsichtig, fast lautlos, als fürchtete sie, diesen fragilen Moment zu stören. Ihre Haut glänzte leicht im gedämpften Licht, und ihr Haar fiel in weichen Wellen auf ihre Schultern.

– Ich bin bereit – flüsterte sie, und ihre Stimme, kaum hörbar, löste sich in der warmen Luft des Ateliers auf.

Ich breitete meine Skizzen vor ihr aus – die Blätter zitterten in meinen Händen, als ahnten sie den Moment der Schöpfung. Ich zeigte ihr, wie sie sich hinlegen sollte, fuhr mit dem Finger über die Konturen der Zeichnung, und sie nickte, ihre Augen leuchteten vor stillem Verständnis. Dann begann die Magie der Fotografie. Ich stand mit der Kamera, fing aus dem Raum jene flüchtigen Augenblicke ein, in denen ihr Körper – geschmeidig, lebendig – sich in Posen bog, die von den Emotionen durchdrungen waren, die ich für mein Konzept brauchte. Auf der Leiter stehend, schwebte ich über ihr, und die Welt schrumpfte auf das Objektiv. Das Klicken des Verschlusses maß die Zeit – Bild um Bild –, und durch den Winkel schien ihre Gestalt vom Boden abzuheben, in Schwerelosigkeit zu schweben oder unter Wasser zu tauchen. Das Licht der Lampen, weich und präzise, umhüllte sie, und ich sah sie bereits auf der Leinwand – tief unter Wellen, wo hinter ihrem Rücken ein riesiges Auge schimmerte, wachsam und lebendig.

Zwei Stunden verflogen wie ein Atemzug. Ich machte Dutzende Aufnahmen – einen Schatz an Referenzen für zukünftige Bilder. Am Ende posierte sie, einen imaginären Wolf umarmend – ihre Hände drückten sanft die Luft, die Augen geschlossen vor Wohlgefallen. In meinem Bild würde dieser Wolf lebendig werden – sein Fell würde unter ihren Fingern erzittern, und seine Augen würden Hingabe und Stärke funkeln.

– Das war ein unglaubliches Erlebnis! – rief Si, in eine warme Decke gehüllt.

Sie saß, die Knie umarmend, trank frischen Kaffee, ihre Finger wärmten sich an der Tasse, und Krümel vom Gebäck klebten an ihren Lippen. Ihre Stimme zitterte vor Begeisterung.

– Ich habe noch nie zuvor für jemanden posiert – für niemanden! Und dann für ein Talent wie dich. Ich kann es kaum erwarten, diese Bilder zu sehen!

Ihre Augen glänzten, als spiegelten sie das Feuer aus dem Ofen, und ich spürte, wie ihre Freude leise in mir mitschwang.

Nach dem Kaffee war es Zeit, den Bleistift zu nehmen. Die Fotos waren bereits auf den Laptop geladen und auf dem Monitor angezeigt – klar, präzise, doch sie fingen nur die Hülle ein. Ich musste ihre Seele erfassen, sie durch mich hindurchleiten, in ein paar Skizzen bannen, um später diese lebendigen Eindrücke auf die Leinwand zu übertragen. Das war mein Ritual – die Essenz hinter dem Sichtbaren zu finden.

Si warf die Decke ab und legte sich hin – nackt, zierlich, ihr Atem stockte, als fürchtete sie, den Moment zu verscheuchen. Ich nahm den Bleistift, und meine Hände arbeiteten schnell, fast instinktiv – Striche legten sich auf das Papier, fingen die anmutigen Kurven ihrer Hüften, die zarte Linie ihrer Schultern ein. In einer halben Stunde lebte die Skizze – schlicht, doch pulsierend von ihrer Präsenz.