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SO GUT WIE TOT (DAS AU-PAIR—BUCH #3) ist der dritte Band der neuen Psycho-Thriller-Reihe der Nr. 1 Bestseller-Autorin Blake Pierce. Nach ihrer desaströsen Anstellung in England will die 23-jährige Cassandra Vale ihr Leben normalisieren. Eine geschiedene Mutter aus gehobenen Kreisen im sonnigen Italien scheint die Lösung zu sein. Aber ist sie das wirklich? Neue Familie, neue Kinder, neue Regeln und neue Erwartungen: Cassandra ist entschlossen, ihre neue Anstellung durchzuziehen – bis eine schreckliche Entdeckung sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt. Als das Unvorstellbare geschieht, stellen sich zwei Fragen. Ist es zu spät für Cassie? Und was ist aus ihr geworden? Eine fesselnde Mystery-Geschichte mit komplexen Figuren, verdeckten Geheimnissen, dramatischen Wendungen und einer unglaublichen Spannung: SO GUT WIE TOT ist das dritte Buch der spannungsgeladenen Psycho-Thriller-Serie, die man gar nicht aus der Hand legen möchte. Buch #4 der Serie wird ebenfalls bald erhältlich sein.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
SO GUT WIE TOT
Blake Pierce
Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.
Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!
Copyright © 2020 durch Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie im US-amerikanischen Urheberrechtsgesetz von 1976 erlaubt, darf kein Teil dieser Veröffentlichung in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen werden oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem ohne die vorherige Genehmigung des Autors gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Genuss lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch für eine andere Person freigeben möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre Verwendung erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Ereignisse sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig. Buchumschlagsbild Copyright Mimadeo
BÜCHER VON BLAKE PIERCE
DAS AU-PAIR
SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)
SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)
SO GUT WIE TOT (Band #3)
ZOE PRIME KRIMIREIHE
GESICHT DES TODES (Band #1)
GESICHT DES MORDES (Band #2)
GESICHT DER ANGST (Band #3)
JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE
DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)
DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)
DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)
DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)
DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)
CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE
NEBENAN (Band #1)
DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)
SACKGASSE (Band #3)
STUMMER NACHBAR (Band #4)
HEIMKEHR (Band #5)
KATE WISE MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (Band #1)
WENN SIE SÄHE (Band #2)
WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)
WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)
WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)
WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (Band #1)
WARTET (Band #2)
LOCKT (Band #3)
NIMMT (Band #4)
LAUERT (Band #5)
TÖTET (Band #6)
RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (Band #1)
GEFESSELT (Band #2)
ERSEHNT (Band #3)
GEKÖDERT (Band #4)
GEJAGT (Band #5)
VERZEHRT (Band #6)
VERLASSEN (Band #7)
ERKALTET (Band #8)
VERFOLGT (Band #9)
VERLOREN (Band #10)
BEGRABEN (Band #11)
ÜBERFAHREN (Band #12)
GEFANGEN (Band #13)
RUHEND (Band #14)
GEMIEDEN (Band #15)
VERMISST (Band #16)
EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE
EINST GELÖST
MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (Band #1)
BEVOR ER SIEHT (Band #2)
BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)
BEVOR ER NIMMT (Band #4)
BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)
EHE ER FÜHLT (Band #6)
EHE ER SÜNDIGT (Band #7)
BEVOR ER JAGT (Band #8)
VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)
VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)
VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)
VORHER NEIDET ER (Band #12)
VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)
AVERY BLACK MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (Band #1)
LAUF (Band #2)
VERBORGEN (Band #3)
GRÜNDE DER ANGST (Band #4)
RETTE MICH (Band #5)
ANGST (Band #6)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (Band #1)
EINE SPUR VON MORD (Band #2)
INHALT
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
Cassandra Vale lief hastig übers Pflaster. Kalter Regen schlug ihr ins Gesicht und sie blinzelte. Es war spät, dunkel und sie glaubte, sich verlaufen zu haben. Dieser Teil Mailands war anders, als sie es erwartet hatte. Sie war in einer der Haupteinkaufsstraßen gelandet. Menschen in dunklen, eleganten Mänteln und Einkaufstaschen in den Händen drängten sich über den breiten Fußgängerweg.
Auf dem Weg zum Zebrastreifen schielte Cassie in die Schaufenster und fragte sich, ob sie in einem der Geschäfte nach dem Weg fragen sollte. Die hell erleuchteten Verkaufsflächen waren Oasen der Annehmlichkeit und Wärme, aber ihre schäbige Jacke und ihre nassen Turnschuhe würden ihr vermutlich keinen Einlass verschaffen. Emilio Pucci, Dolce & Gabbana, Moschino - die Namen über den Türen waren ein Inbegriff der Modeindustrie. Die Kleider selbst schienen genauso weit weg zu sein wie ihre Preisschilder.
Sie würde sich mit ihrer Karte begnügen müssen, die sich im Regen immer schneller aufzulösen schien. Sie hielt an der Straßenüberquerung an, um sie auseinanderzufalten. Ihre Lippen und Wangen fühlten sich taub an. Das feuchte Papier riss, als sie es öffnete und während sie die Einzelteile zusammendrückte, versuchte sie, das komplizierte Straßenmuster mit unbekannten - und mittlerweile fast unleserlichen - Namen zu verstehen.
Sie war zu weit gegangen, hätte bereits vor vier Häuserblöcken abbiegen sollen. Ihre Orientierung war abhandengekommen und sie hatte nicht früh genug versucht, ihre Position festzumachen. Ihre Hände zitterten nun, als sie die Karte umdrehte und versuchte, ihren Weg zurückzuverfolgen. Wo musste sie hin? Links abbiegen, dann drei Häuserblocks weiter – nein, fünf – dann wieder nach links in das verwirrende Labyrinth aus Gassen und Straßen. Dort musste sie hin.
Cassie faltete die Kartenstücke so gut sie konnte zusammen und steckte sie in ihre Tasche zurück, obwohl sie wusste, dass die Karte vermutlich keinen weiteren Einsatz überleben würde. Sie musste sich konzentrieren und die Panik unterdrücken, zu spät zu kommen. Was, wenn es bereits geschlossen hatte? Was, wenn ihre Reise in nichts als hoffnungsloser Enttäuschung enden würde?
Dies war ihre einzige Chance, ihre Schwester Jacqui zu finden. Es war der einzige Hinweis, den sie hatte.
Sie bemühte sich, ihre Route nicht zu vergessen und rannte fast die Straßen entlang. Als sie Mailands Fashionzentrum hinter sich ließ, wurden die Fußgängerwege schmäler und die Schaufenster weniger einschüchternd. Günstigere Produkte und Imitate wurden ausgestellt und die Preise sanken mit jedem Häuserblock. Aktionsschilder mit den Worten ‚Frühjahrsschlussverkauf‘ hingen hinter den heruntergekommenen Fenstern.
Sie erkannte sich selbst in dem abgedunkelten Glas. Ihre Haut war bleich, ihre Wangen von der Kälte gerötet. Sie zog sich ihre limettengrüne Mütze über das schulterlange, kastanienbraune Haar. Hauptsächlich der Wärme wegen, aber auch, um die rebellischen Locken zu kontrollieren. In ihrem alten, blauen Mantel mit kaputtem Reißverschluss wirkte sie in der Modehauptstadt unglaublich fehl am Platz. Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin inmitten der makellos gekleideten Einheimischen mit ihrem perfekt geschniegelten Haar, ihren teuren Stiefeln und ihrem angeborenen Sinn für Stil.
Als Kinder hatten sie und Jacqui oft kaputte Second-Hand-Kleidung zur Schule getragen, die nicht richtig passte. Ihr verwitweter Vater hatte darauf bestanden, dass es kein Geld gab, um etwas Besseres zu kaufen. Cassie hatte ihr Schicksal williger akzeptiert als Jacqui, die es gehasst hatte, schäbig und arm auszusehen.
Es machte Sinn, dass ihre Schwester von dieser Fashion-Metropole angezogen worden war, wo jedes Kleidungsstück hier doch trendy, neu und wunderschön war.
Während sie nach Atem rang, sah Cassie, dass ihr der Name der Straße vor ihr bekannt vorkam.
Es war die Straße, nach der sie gesucht hatte. Jetzt musste sie lediglich den kleinen Laden finden.
Er hieß Cartolería, sie wusste aber nicht, ob das der tatsächliche Name oder eine Beschreibung war. Bei ihrem Telefonat mit der Angestellten war die Sprachbarriere ein großes Problem gewesen. Cassie hatte es geschafft, der immer ungeduldiger werdenden Frau zumindest den Straßennamen aus der Nase zu ziehen. Das war nicht einfach gewesen, schließlich waren deren Englischkenntnisse auf ‚wir schließen‘ beschränkt gewesen, was sie mehrere Male wiederholt, schließlich ‚addio‘ gekeift und aufgelegt hatte.
Cassie hatte entschlossen, den Laden persönlich aufzusuchen.
Eine Woche hatte sie gebraucht, um ihre Angelegenheiten zu klären und von Edinburgh nach Mailand zu fahren. Sie hatte wesentlich früher ankommen wollen, war aber auf dem Weg in die Stadt im Stau gestanden und hatte sich auf der Suche nach einem billigen Parkplatz mehrere Male verfahren. Ihr Navi hatte nicht richtig funktioniert und der Akku ihres Handys war fast leer. Zum Glück hatte sie daran gedacht, die Karte auszudrucken. Wann machten die Geschäfte hier zu? Um achtzehn Uhr? Später?
Sie wurde immer nervöser, als im Geschäft vor ihr bereits das Schild in der Tür umgedreht und das Licht ausgeschaltet wurde.
„Entschuldigung. Cartolería. Welche Richtung?“, fragte sie mit der Ahnung, dass jede Sekunde zählen könnte.
Der Mann runzelte die Stirn, deutete die Straße herunter und murmelte etwas auf Italienisch, das sie nicht verstehen konnte. Zumindest hatte er sie davon abgehalten, in die falsche Richtung zu gehen.
„Danke“, sagte sie.
„Signorina!“, rief er ihr nach, aber Cassie hielt für niemanden an.
Die Aufregung nahm ihr den Atem. Es bestand die Chance, wenn auch noch so klein, dass Jacqui tatsächlich in diesem Laden arbeitete. Cassie stellte sich vor, das Geschäft zu betreten und ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Sie fragte sich, was Jacqui tun würde. Sie selbst würde vor Freude schreien und sie so fest umarmen wie sie konnte. Hoffentlich hätten sie dann die Möglichkeit, sich zu unterhalten. Sie wollte herausfinden, was geschehen war und warum Jacqui sich so lange nicht gemeldet hatte.
Und obwohl es sehr unwahrscheinlich war, konnte Cassie nicht anders, als zu träumen.
Da war es. Sie sah das Schild, Cartolería, und rannte los. Der Laden musste offen sein, er musste es einfach. Das war ihre Chance, sich mit der einzigen Familie zu vereinen, die sie noch hatte.
Sie rannte platschend über die nassen Pflastersteine und flocht sich durch die langsameren Fußgänger, die unter ihren monströsen Schirmen Schutz suchten.
Dann blieb sie stehen und starrte ungläubig ins Schaufenster.
Die Cartolería war geschlossen.
Nicht nur für den Tag, sondern für immer.
Die Fenster waren vernagelt, durch eine Lücke konnte sie die dunklen Räumlichkeiten sehen. Das ramponierte und schäbige Schild über der Tür war die einzige Erinnerung daran, was sich einst hinter den Schaufenstern befunden hatte.
Cassie starrte in die trostlose Leere und verstand nun, dass sie die ungeduldige Angestellte missverstanden hatte, als sie vor einer Woche dort angerufen hatte. Die Frau hatte versucht, ihr mitzuteilen, dass der Laden für immer geschlossen wurde. Hätte sie das sofort realisiert, hätte sie zurückrufen, weitere Fragen stellen und aufdringlicher sein können.
Stattdessen war sie viele hundert Kilometer gefahren, um vor der Sackgasse aller Sackgassen zu stehen.
Ihre einzige Spur war verschwunden, zusammen mit ihren Hoffnungen und Träumen. Sie hatte die einzige Chance verloren, ihre Schwester wiederzufinden.
Cassie starrte in die leeren Ladenräume und fühlte, wie die Enttäuschung über sie hereinbrach. Sie wusste, dass sie sich auf den langen Rückweg zu ihrem Wagen begeben sollte, hinaus in die dunkle und feuchte Nacht, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden.
Sich jetzt wegzudrehen war wie für immer aufzugeben und allein bei dem Gedanken fühlte sie, wie ihre Füße sich fester auf den Boden drückten. Sie konnte die Gewissheit nicht abschütteln, dass es hier noch immer etwas gab, das sie ihr irgendwie zu Jacqui führen würde.
Sie sah sich um und sah, dass eines der Nachbargeschäfte – ein Café und Bistro – noch immer offen war. Vielleicht wusste dort jemand, wo der Besitzer der Cartolería hingegangen war und wo er oder sie sich nun aufhielt.
Cassie betrat das Bistro, erleichtert, Schutz vor den Regenböen zu finden. Innen roch es köstlich nach Kaffee und Brot und sie erinnerte sich daran, heute noch nichts gegessen zu haben. Auf dem Holztresen stand stolz eine große Cappuccino-Maschine aus Chrom.
Nur vier Tische fanden in dem Café Platz und sie waren alle besetzt. An der Bar jedoch war ein leerer Stuhl und sie setzte sich.
Ein erschöpft wirkender Kellner eilte zu ihr.
„Cosa prendi?“, fragte er.
Cassie vermutete, dass er ihre Bestellung aufnehmen wollte.
„Sorry, ich spreche kein Italienisch“, entschuldigte sie sich und hoffte, dass er sie verstehen würde. „Wissen Sie, wem der Laden nebenan gehört hat?“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern und wirkte verwirrt.
„Ich kann Essen bringen?“, fragte er in brüchigem Englisch.
Cassie begriff, dass die Sprachbarriere ihre Befragung beendet hatte, also scannte sie schnell die Speisekarte, die auf die schwarze Kreidetafel an der Wand geschrieben worden war.
„Kaffee, bitte. Und ein Panini.“
Sie blätterte ein paar Scheine aus ihrer schrumpfenden Notreserve. Die Preise in Mailand waren noch höher als erwartet, aber es wurde spät und sie war am Verhungern.
„Bist du Americana?“, fragte der Mann neben ihr.
Beeindruckt nickte Cassie.
„Ja, das bin ich.“
„Mein Name ist Vadim“, stellte er sich vor.
Er hörte sich nicht italienisch an, aber ihr Ohr für Akzente war bei weitem nicht so gut wie seins. Sie vermutete, dass er irgendwo aus Osteuropa oder sogar Russland stammen könnte.
„Ich bin Cassie Vale“, antwortete sie.
Er schien einige Jahre älter zu sein als sie, also Ende zwanzig, und trug Lederjacke und Jeans. Vor ihm stand ein halbvolles Glas Rotwein.
„Machst du Urlaub hier? Arbeit oder Universität?“, fragte er.
„Ich bin tatsächlich hier, um jemanden zu finden.“
Dieses Geständnis schmerzte, jetzt wo Cassie fürchtete, genau das niemals erledigen zu können.
Er zog seine dicken Augenbrauen hoch.
„Was meinst du mit finden? Jemand bestimmtes?“
„Ja. Meine Schwester.“
„Ist sie verschwunden?“, fragte er.
„Das ist sie. Ich bin einer Spur nachgegangen, in die ich viel Hoffnung investiert hatte. Vor einiger Zeit hat sie eine Freundin in den Vereinigten Staaten angerufen und wir haben die Nummer verfolgt.“
„Du hast also den Anruf zurückverfolgt und bist hier gelandet? Das ist gute Detektivsarbeit“, sagte Vadim bewundernd, während der Kellner ihren Kaffee über den Tresen schob.
„Nein, ich war zu langsam. Weißt du, sie hat mich zwei Mal angerufen. Die erste Nummer hat überhaupt nicht funktioniert. Und erst letzte Woche ist mir eingefallen, dass der zweite Anruf möglicherweise von einer anderen Nummer aus gemacht worden war.“
Vadim nickte mitfühlend.
„Und jetzt ist die Cartolería geschlossen“, erklärte Cassie weiter.
„Das Geschäft nebenan?“
„Ja. Von dort aus hat sie mich angerufen. Ich hoffe, herauszufinden, wem der Laden gehört hat.“
Er runzelte die Stirn.
„Ich weiß, dass die Cartolería zu einer Ladenkette gehört. Es gibt noch andere in Mailand. Es ist ein Internet-Café, das auch Stifte, Kugelschreiber und solche Dinge verkauft.“
„Schreibwaren“, schlug Cassie vor.
„Ja, genau. Vielleicht kannst du einen anderen Laden der Kette anrufen, um den Manager dieser Filiale ausfindig zu machen.“
Der Kellner kehrte zurück und stellte einen Teller vor ihr ab. Cassie machte sich hungrig darüber her.
„Bist du alleine unterwegs?“, fragte Vadim.
„Ja, ich bin alleine hergekommen, um Jacqui zu finden.“
„Warum suchst du nach ihr und sie nicht nach dir?“
„Wir hatten eine schwere Kindheit“, erklärte sie. „Meine Mutter starb, als wir noch klein waren und mein Vater kam ohne sie nicht klar. Er wurde sehr wütend und schien unserer aller Leben zerstören zu wollen.“
Vadim nickte.
„Jacqui war älter als ich und ist eines Tages einfach gegangen. Ich glaube, sie kam nicht mehr damit klar. Mit seiner Wut, seinem Schreien, den Glasscherben auf dem Boden. Er hatte viele verschiedene Freundinnen und oft waren Fremde in unserem Zuhause.“
Eine dunkle Erinnerung drückte sich an die Oberfläche – ihr Versteck unter dem Bett, die schweren Schritte auf der Treppe, das Öffnen ihrer Türe. Jacqui hatte sie gerettet. Sie hatte so laut geschrien, dass die Nachbarn angerannt gekommen waren und der Mann sich aus dem Staub gemacht hatte. Cassie erinnerte sich an die Angst, die sie verspürt hatte, als er an ihrer Schlafzimmertür gerüttelt hatte. Jacqui war ihre Beschützerin gewesen, bis sie weggerannt war.
„Als Jacqui weg war, bin ich ausgezogen. Mein Dad wurde zwangsgeräumt und musste eine neue Unterkunft finden. Ich habe ein neues Handy, er hat ein neues Handy. Sie kann uns unmöglich kontaktieren. Aber ich glaube, dass sie es versucht. Doch sie scheint Angst zu haben und ich weiß nicht, warum. Vielleicht denkt sie, dass ich wütend bin, weil sie mich alleine gelassen hat.“
Vadim schüttelte den Kopf.
„Du bist also ganz allein auf dieser Welt?“
Cassie nickte und fühlte sich unglaublich traurig.
„Kann ich dir einen Wein spendieren?“
Cassie schüttelte den Kopf.
„Vielen Dank, aber ich muss fahren.“
Ihr Wagen war fünfundvierzig Gehminuten von hier entfernt. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie hinsollte, da sie keine Unterkunft gebucht hatte. Sie hatte gehofft, früher anzukommen, in dem Geschäft einen Hinweis auf Jacquis Aufenthaltsort zu finden und von dort ihre Suche weiterzuführen. Doch jetzt war es dunkel und sie hatte keine Ahnung, wo sich die bezahlbaren Inns und Hostels der Stadt befanden. Vermutlich würde sie im Parkhaus in ihrem Wagen schlafen müssen.
„Hast du eine Unterkunft für heute Abend?“, fragte Vadim, als könne er Gedanken lesen.
Cassie schüttelte den Kopf.
„Das muss ich noch klären.“
„Ganz in der Nähe befindet sich eine Backpackers Lodge. Eine pensione, wie sie es hier in Italien nennen. Das könnte genau das Richtige für dich sein. Ich komme auf meinem Nachhauseweg daran vorbei und kann dich hinbringen.“
Cassie lächelte zögernd. Sie machte sich Sorgen um den Preis und die Tatsache, dass sich ihr Gepäck noch immer im Wagen befand. Trotzdem klang eine Unterkunft in der Nähe besser als der lange Rückweg zum Parkhaus. Es bestand sogar die Chance, dass Jacqui auch dort untergekommen war; sie sollte sich die Lodge also zumindest ansehen.
Sie trank ihren Kaffee und aß die letzten Krümel ihres Paninis, während Vadim sein Weinglas leerte und einige Nachrichten auf seinem Handy tippte.
„Komm mit mir. Hier entlang.“
Draußen regnete es noch immer, doch Vadim öffnete einen großen Schirm. Cassie lief dicht neben ihm und war dankbar für den Schutz vor dem Regen. Er machte große und eilige Schritte und sie musste sich bemühen, Schritt zu halten. Sie war froh, dass er nicht trödelte, aber gleichzeitig fragte sich, ob das Gästehaus für ihn einen Umweg darstellte.
Sie erhaschte kurze Blicke auf die Gebäude, die sie passierten und versuchte, herauszufinden, wo sie waren. Namen von Restaurants, Läden und Geschäften blinkten und leuchteten im Regen und die unbekannte Sprache überforderte Cassie.
Sie überquerten eine Straße und sie bemerkte, dass der Verkehr ruhiger geworden war. Obwohl sie schon länger nicht mehr auf die Uhr gesehen hatte, glaubte sie, dass es bereits weit nach neunzehn Uhr war. Sie fühlte sich erschöpft und fragte sich, wie weit entfernt die Backpackers Lodge war und was sie tun würde, wenn kein Bett mehr frei war.
Zu ihrer Rechten befand sich ein Supermarkt, dessen war sie sich sicher. Links war eine Art Unterhaltungsestablishment angesiedelt. Das Schild blinkte in Neonfarben. Es war kein Rotlichtbezirk, wenn es so etwas in Mailand überhaupt gab, aber es war auch nicht zu weit davon entfernt.
Plötzlich wurde klar, dass sie zu schnell und zu weit gegangen waren und zwar ohne ein Wort zu sprechen.
Sie hatten fast eineinhalb Kilometer zurückgelegt und kein vernünftiger Mensch würde das als ‚in der Nähe‘ bezeichnen.
Dann holte ihre Erinnerung auf.
Nach den ersten Kreuzungen hatte sie einen Blick nach links geworfen. Abgelenkt und mit Regentropfen in den Augen hatte sie das Schild nicht wahrgenommen – ein bescheidenes Schild mit schwarzen Buchstaben statt den blinkenden Tafeln, die sie jetzt umringten.
„Pensione.“
Das war das Wort, das auch Vadim benutzt hatte. Das italienische Äquivalent für eine Backpackers Lodge.
„Warum wirst du langsamer?“, fragte er und sein Ton wurde schärfer.
Weiter vorne sah Cassie die wartenden Scheinwerfer. Ein weißer Van parkte auf der anderen Straßenseite und Vadim schien direkt darauf zuzusteuern.
Zu spät wurde Cassie klar, dass sie zu naiv, zu gesprächig und zu gutgläubig gewesen war. In ihrem Bedürfnis nach Gesellschaft hatte sie mit einem Fremden geteilt, dass sie ganz alleine auf dieser Welt war und niemand ihren Aufenthaltsort kannte.
Horrorszenarien spielten sich nun in ihrem Kopf ab – Kidnapping, Menschenhandel und Missbrauch. Sie musste entkommen.
Als Vadims Hand ihrem Handgelenk näherkam, sprang sie abrupt zurück und er erwischte stattdessen nur ihren Jackenärmel.
Der ausgetragene, dünne Stoff riss und er hielt lediglich ein Stück Polyester in den Händen. Dann war sie frei.
Cassie drehte sich um und rannte in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Mit gesenktem Kopf floh sie durch den Regen und über die Straße, während die Ampel bereits auf Rot schaltete. Hinter ihr fluchte Vadim und sie wusste, dass der große Schirm ihn nun mehr behinderte als ihm nützte. Sie bog links in eine Seitengasse ein, während hinter ihr ein Bus vorbeifuhr und sie hoffte, dass Vadim ihren Richtungswechsel nicht gesehen hatte. Aber ein Rufen hinter ihr belehrte sie eines Besseren – er war ihr noch immer auf den Fersen.
Sie bog rechts auf eine geschäftigere Straße ab und während sie sich an langsamer gehenden Fußgängern vorbeischlängelte, zog sie sich sowohl Jacke als auch Mütze aus, um mit deren grellen Farben nicht aufzufallen. Sie knüllte die Jacke unter ihrem Arm zusammen und als sie die nächste Kreuzung erreichte und dort links abbog, warf sie einen schnellen Blick nach hinten.
Niemand schien ihr zu folgen, aber er konnte sie noch immer einholen – oder, noch schlimmer, sie an ihrem Ziel erwarten.
Vor ihr sah sie ein Leuchtfeuer der Hoffnung und Sicherheit: das ‚Pensione‘-Schild, an dem sie zuvor vorbeigegangen waren. Vadim war nirgends zu sehen.
Cassie sprintete darauf zu und betete, rechtzeitig aus der Gefahrenzone hinaus und ins Innere zu gelangen.
*
Die Musik des Gästehauses war auch von der Straße aus hörbar. Das wackelige, weiß gestrichene Tor stand nur angelehnt.
Cassie drückte es auf und stampfte die schmale Holztreppe hinauf. Stimmen, Gelächter und Zigarettenrauch hießen sie willkommen.
Sie warf einen Blick nach hinten, doch der Treppenaufgang war leer.
Vielleicht hatte er die Jagd nach ihr aufgegeben. Jetzt, nachdem ihr die Flucht gelungen war, fragte sie sich, ob sie die Bedrohung aufgebauscht hatte. Der geparkte Van war möglicherweise nur ein Zufall gewesen. Vielleicht hatte Vadim sie lediglich mit zu sich nach Hause nehmen wollen.
Doch wie dem auch sei – er hatte sein Versprechen nicht gehalten und sogar versucht, sie zu packen, als sie gezögert hatte. Wieder überkam sie die Angst, als sie sich daran erinnerte, wie knapp sie ihm entkommen war.
Es war so idiotisch gewesen, hinauszuposaunen, dass sie alleine war, niemand wusste, wo sie sich aufhielt und sie sich auf einer hoffnungslosen Suche nach einer möglicherweise für immer verschwundenen Person befand. Schwer atmend schalt sich Cassie für ihre entsetzliche Dummheit. Es war so erleichternd gewesen, Jacquis Geschichte mit einem Fremden zu teilen, der sie nicht verurteilte. Dabei hatte sie nicht realisiert, auch andere Informationen preisgegeben zu haben.
Das Sicherheitstor am Ende der Treppenstufen war geschlossen. Es führte in ein kleines Foyer, das nicht besetzt war, doch unter einem Knopf an der Wand hing ein Schild.
Die Worte waren auf mehrere Sprachen übersetzt worden und Englisch stand ganz oben.
„Bitte klingeln.“
Cassie klingelte und hoffte, gehört zu werden, wo die Musik doch laut durch das Haus schallte.
Hoffentlich hört mich jemand, betete sie.
Dann öffnete sich die Tür auf der anderen Seite des Foyers und eine rotblonde Frau in Cassies Alter betrat den Raum. Sie wirkte überrascht, Cassie dort stehen zu sehen.
„Buono sera“, begrüßte sie sie.
„Sprichst du Englisch?“, fragte Cassie und hoffte, dass die Frau zweisprachig war und verstand, dass sie schnell hereingelassen werden musste.
Zu Cassies Erleichterung antwortete sie auf Englisch. Sie schien einen deutschen Akzent zu haben.
„Wie kann ich dir helfen?“
„Ich brauche dringend eine Unterkunft. Habt ihr freie Zimmer?“
Die rotblonde Frau dachte kurz nach.
„Keine Zimmer“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Cassie war am Boden zerstört. Sie blickte über die Schulter nach hinten und fürchtete, Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Aber es musste das Dröhnen der Musik im Gästehaus gewesen sein.
„Kann ich wenigstens reinkommen?“, fragte sie.
„Natürlich. Ist alles in Ordnung?“
Die Frau betätigte den Tür-Buzzer. Cassie fühlte die Vibration des kalten Metalls in ihren Händen, als das Schloss aufsprang. Energisch drückte sie die Tür hinter sich zu.
Endlich war sie sicher.
„Ich habe draußen eine schlechte Erfahrung gemacht. Ein Mann wollte mich herbegleiten, hat aber dann eine andere Richtung eingeschlagen. Als ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt, hat er mich am Arm gepackt, doch ich habe es geschafft, mich zu befreien.“
Die Frau runzelte die Stirn und sah erschrocken aus.
„Ich bin froh, dass du dich befreien konntest. Dieser Teil Mailands kann nachts gefährlich sein. Bitte, komm mit ins Büro. Ich glaube, deine Frage missverstanden zu haben. Wir haben keine freien Zimmer; alle Einzelzimmer sind belegt. Aber wir haben ein Bett in einem der Gemeinschaftsräume, wenn das für dich in Ordnung ist.“
„Vielen Dank, das ist es.“
Erleichtert, nicht erneut die dunklen Straßen Mailands betreten zu müssen, folgte Cassie der Frau durch das kleine Foyer in ein winziges Büro. An der Tür hing ein Schild: ‚Hostel Manager‘.
Dort bezahlte Cassie für die Unterkunft. Wieder wurde ihr klar, wie hoch die Preise waren. Mailand war ein teures Pflaster und es schien keine Möglichkeit zu geben, günstig zu leben.
„Hast du Gepäck?“, fragte sie.
Cassie schüttelte den Kopf. „Das ist im Auto, mehrere Kilometer von hier entfernt.“
„Dann möchtest du bestimmt das Notfallset kaufen.“
Zahnbürste, Zahnpaste, Seife und Baumwollshirt waren wahre Lebensretter und Cassie gab der Frau dafür noch mehr Euros aus ihrem Portemonnaie.
„Das Zimmer befindet sich am Ende des Korridors und dein Bett ist das neben der Tür. Außerdem gehört dir ein Schließfach.“
„Danke.“
„Die Bar ist dort drüben. Wir bieten unseren Gästen das billigste Bier Mailands.“ Sie lächelte, als sie den Schließfachschlüssel auf den Tresen legte.
„Mein Name ist Gretchen“, fügte sie hinzu.
„Ich bin Cassie.“
Sie erinnerte sich an den Grund ihres Besuchs. „Was ist mit einem Telefon? Oder Internet?“
Sie hielt den Atem an, während Gretchen nachdachte.
„Gäste dürfen das Hostel-Telefon nur in Notfällen benutzen“, sagte sie. „Aber es gibt mehrere Einrichtungen in der Nähe, wo man telefonieren oder einen Computer verwenden kann. Die Adressen stehen an der Pinnwand neben dem Bücherregal, dort befindet sich auch eine Karte.“
„Danke.“
Cassie sah sich um. Sie hatte die Pinnwand beim Betreten des Hostels gesehen, sie hing über einem Regal. Das große Brett war mit den Zetteln übersät.
„Wir hängen auch Jobs an dem Board aus“, erklärte Gretchen. „Wir suchen täglich die Stellenanzeigen raus. Manche kontaktieren uns sogar direkt, wenn sie Hilfe beim Kellnern, Regale einräumen oder Putzen brauchen. Jobs wie diese werden normalerweise tagesweise und in bar bezahlt.“
Sie lächelte Cassie mitfühlend an, als verstünde sie das Dilemma, in einem fremden Land ohne Geld dazustehen.
„Die meisten unserer Gäste finden Arbeit, wenn sie danach suchen. Lass mich wissen, wenn ich dir dabei helfen kann“, sagte sie.
„Nochmals danke“, sagte Cassie.
Sie ging direkt zur Pinnwand.
Fünf Einrichtungen, die Telefone und Internet zur Nutzung anboten, waren darauf ausgeschrieben. Cassie hielt kurz den Atem an, als sie den Namen Cartolería sah, aber der Eintrag war kürzlich durchgestrichen und mit der Notiz ‚geschlossen‘ versehen worden.
Das war ein gutes Zeichen, also entschied sich Cassie, Gretchen nach der Gästeliste zu fragen. Sie ging zur Lounge, wo die Managerin sich gerade ein Bier geöffnet hatte und inmitten von lachenden Menschen auf einem Sofa saß.
„Hier ist noch eine Kundin.“
Ein großer, schlanker Mann mit britischem Akzent, der noch jünger aussah als Cassie, sprang auf und öffnete den Kühlschrank.
„Ich bin Tim. Was kann ich dir bringen?“, fragte er.
Als er ihr Zögern sah, fügte er hinzu: „Heineken sind im Angebot.“
„Danke“, sagte Cassie.
Sie bezahlte und er überreichte ihr eine eiskalte Flasche. Zwei dunkelhaarige Mädchen, vermutlich Zwillinge, rutschten auf das andere Sofa, um ihr Platz zu machen.
„Ich bin eigentlich nur hier, weil ich gehofft hatte, meine Schwester zu finden“, sagte sie und wurde nervös.
„Vielleicht kennt ihr sie oder sie ist hier untergekommen. Sie hat blondes Haar – oder zumindest war es blond, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ihr Name ist Jacqui Vale.“
„Seid ihr schon lange getrennt?“, fragte eines der dunkelhaarigen Mädchen interessiert.
Als Cassie nickte, meinte sie: „Das ist sehr traurig. Ich hoffe, du findest sie.“
Cassie nahm einen Schluck Bier. Es war kalt und malzig.
Die Managerin scrollte durch ihr Handy.
„Wir hatten im Dezember keine Jacqui hier. Und im November auch nicht“, sagte sie und Cassies Herz wurde schwer.
„Warte“, sagte Tim. „Ich erinnere mich an jemanden.“
Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, während Cassie ihn aufgeregt beobachtete.
„Wir haben hier nicht viel Amerikaner, ich erinnere mich aber an den Akzent. Sie selbst war kein Gast, sondern hat einen Freund hier besucht. Sie hatte einen Drink und ist dann gegangen. Aber sie war nicht blond, sondern braunhaarig, aber sehr hübsch und dir ein bisschen ähnlich. Vielleicht ein paar Jahre älter.“
Cassie nickte ermutigend. „Jacqui ist älter.“
„Ihre Freundin nannte sie Jax. Wir haben geplaudert, während ich sie bedient habe und sie hat mir erzählt, in einer kleinen Stadt zu wohnen. Ich glaube, ein oder zwei Stunden von hier entfernt. Natürlich kann ich mich aber nicht mehr an den Namen der Stadt erinnern.“
Cassie blieb der Atem stehen, als sie daran dachte, dass ihre Schwester tatsächlich hier gewesen war, einen Freund besucht und ihr Leben gelebt hatte. Sie schien weder pleite noch verzweifelt zu sein, war nicht drogensüchtig und wurde nicht missbraucht – Cassie hatte viele Worst-Case-Szenarien entworfen, als sie an Jacqui gedacht und sich gewundert hatte, nie von ihr gehört zu haben.
Vielleicht war ihr Familie einfach nicht so wichtig gewesen und sie hatte nicht das Bedürfnis verspürt, sich zu melden. Ja, sie hatten eine enge Beziehung geführt, aber es war die Not gewesen, die sie zusammengebracht hatte, während sie die Wutanfälle des Vaters und das unstabile Familienleben überlebten. Vielleicht hatte Jacqui diese Erinnerungen hinter sich lassen wollen.
„Ich wusste nicht, dass du dich so gut an Gesichter erinnern kannst, Tim“, neckte ihn Gretchen. „Oder funktioniert das nur bei hübschen Mädchen?“
Tim grinste und wirkte beschämt. „Hey, sie war umwerfend. Ich wollte mich sogar mit ihr verabreden, habe dann aber herausgefunden, dass sie nicht in Mailand lebt und mir gedacht, dass sie vermutlich sowieso nicht an mir interessiert ist.“
Die anderen Mädchen protestierten lauthals und im Chor.
„Dummerchen! Du hättest sie fragen sollen“, meinte das Mädchen neben Cassie beharrlich.
„Sie hätte vermutlich nein gesagt. Aber Cassie, wenn du mir deine Handynummer gibst, kann ich mich bei dir melden, wenn mir der Name der Stadt wieder einfällt.“
„Danke“, sagte Cassie.
Sie gab Tim ihre Nummer und leerte ihr Bier. Die anderen schienen bereit für die nächste Runde zu sein und würden vermutlich bis nach Mitternacht weiterplaudern, aber sie war erschöpft.
Sie stand auf, wünschte allen eine gute Nacht, nahm dann eine heiße Dusche und kletterte ins Bett.
Erst als sie die Bettdecke über sich zog, fiel ihr mit Schrecken ein, dass sich ihre Medikamente noch in ihrem Koffer befanden.
Schon mehrmals hatte sie die Konsequenzen einer vergessenen Dosis ausbaden müssen. Es fiel ihr schwer, zu schlafen, wenn sie nicht regelmäßig ihre Tabletten nahm und sie wurde immer wieder von lebhaften Albträumen geplagt. Manchmal schlafwandelte sie sogar und Cassie fürchtete sich davor, dass in dem Schlafsaal zu tun.
„Schnell, steh auf. Wir müssen gehen.“
Jemand tippte Cassie an der Schulter an, aber sie war müde – so müde, dass sie kaum die Augen öffnen konnte. Gegen ihre Erschöpfung ankämpfend, wachte sie langsam auf.
Jacqui stand an ihrem Bett, ihr Haar glänzend und braun. Sie trug eine stylische, schwarze Jacke.
„Du bist hier?“ Aufgeregt setzte Cassie sich auf, um ihre Schwester zu umarmen.
Aber Jacqui drehte sich weg.
„Beeil dich“, flüsterte sie. „Sie sind hinter uns her.“
„Wer denn?“, fragte Cassie.
Sofort dachte sie an Vadim. Er hatte sie am Ärmel gepackt, ihre Jacke zerrissen. Er hatte Pläne für sie gehabt. Ihr war es gelungen, ihm zu entkommen, aber jetzt hatte er sie entdeckt. Sie hätte es wissen müssen.
„Ich weiß nicht, wie wir entkommen können“, sagte sie nervös. „Es gibt nur eine Tür.“
„Über die Feuerleiter. Komm, ich zeig es dir.“
Jacqui führte sie den langen, dunklen Korridor entlang. Sie trug modische, kaputte Jeans und rote Sandalen mit hohen Absätzen. Cassie trottete in ihren ausgetragenen Turnschuhen hinter ihr her und hoffte, dass Jacqui recht hatte und es tatsächlich einen Fluchtweg gab.
„Hier entlang“, sagte Jacqui.
Sie öffnete die stählerne Tür und Cassie schreckte zurück, als sie die klapprige Feuerleiter sah. Die Metallstufen waren rostig und kaputt. Außerdem sicherte die Treppe nur die Hälfte des Gebäudes ab. Danach folgte in endloser, schwindelerregender Tiefe die Straße.
„Wir können nicht hier runter.“
„Doch. Und wir müssen.“
Jacquis Lachen war schrill und als Cassie sie entsetzt ansah, erkannte sie, dass ihr Gesicht sich verändert hatte. Das war überhaupt nicht ihre Schwester. Es war Elaine, die Freundin ihres Vaters, die sie am meisten gefürchtet und gehasst hatte.
„Wir gehen hier runter“, schrie die teuflische, blonde Frau. „Runter, du zuerst. Zeig mir, wie es geht. Du weißt, dass ich dich immer gehasst habe.“
Cassie fühlte, wie das rostige Metall unter ihrer Berührung bebte und begann, ebenfalls zu schreien.
„Nein! Bitte nicht. Hilf mir!“
Elaine lachte weiter, während die Feuerleiter nachgab und unter ihr zusammenbrach.
Und dann rüttelten andere Hände an ihr.
„Bitte, wach auf! Wach auf!“
Sie öffnete die Augen.
Das Licht im Schlafsaal war an und die Gesichter der dunkelhaarigen Zwillinge über ihr. In ihren Augen sah sie sowohl Sorge als auch Verärgerung.
„Du hast wohl schlecht geträumt und geschrien. Geht es dir gut?“
„Ja, alles okay. Tut mir leid, ich habe manchmal böse Träume.“
„Es ist sehr verstörend“, sagte die andere Schwester. „Kannst du etwas dagegen tun? Es ist uns gegenüber nicht fair, wir arbeiten tagsüber und haben heute eine Zwölf-Stunden-Schicht.“
Cassie litt unter Gewissensbissen. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Albträume in dem Gemeinschaftszimmer für Störungen sorgen würden.
„Wie spät ist es?“
„Es ist halb fünf.“
„Dann bleibe ich wach“, entschied sich Cassie.
„Bist du sicher?“ Die Zwillinge sahen einander an.
„Ja. Tut mir leid, dass ich euch geweckt habe.“
Sie kletterte aus dem Bett. Aufgrund des Schlafmangels war sie desorientiert und wackelig auf den Beinen. Schnell zog sie sich im Dunkeln um. Dann nahm sie ihre Handtasche, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Die Lounge war leer und Cassie setzte sich auf eines der Sofas, wo sie sich einrollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun oder wohin sie gehen sollte.
Es wäre rücksichtlos, den Schlaf ihrer Zimmergenossen erneut zu riskieren, aber selbst, wenn ein Einzelzimmer frei werden sollte, würde sie es sich nicht leisten können.
Vielleicht, wenn sie sich Arbeit suchen würde? Sie hatte zwar kein Arbeitsvisum, aber laut den anderen Hostelgästen schien sich in Italien niemand an einem Touristenvisum zu stören, wenn die Arbeitsdauer drei Monate nicht überschritt.
