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SO GUT WIE VERLOREN (DAS AU-PAIR—BUCH #2) ist der zweite Band der neuen Psycho-Thriller-Reihe der Erstlingsautorin Blake Pierce. Ein geschiedener Mann macht Urlaub in der britischen Provinz und sucht per Stellenanzeige nach einem Au-Pair. Cassandra Vale, 23, pleite und noch immer erschüttert über das Ende ihrer letzten Anstellung in Frankreich, nimmt den Job ohne zu zögern an. Ihr neuer Auftraggeber ist wohlhabend, gutaussehend, großzügig und hat zwei niedliche Kinder. Was kann also schief gehen? Als Cassandra Frankreich weit hinter sich lässt und England von seiner besten Seite kennenlernt, wagt sie zu glauben, endlich durchatmen zu können. Doch dann zwingt eine erschreckende Offenbarung sie dazu, die Wahrheit ihrer turbulenten Vergangenheit, ihres Arbeitgebers und ihres eigenen Verstandes zu hinterfragen. Eine fesselnde Mystery-Geschichte mit komplexen Figuren, verdeckten Geheimnissen, dramatischen Wendungen und einer unglaublichen Spannung: SO GUT WIE VERLOREN ist das zweite Buch der spannungsgeladenen Psycho-Thriller-Serie, die man gar nicht aus der Hand legen möchte. Buch #3 der Serie—SO GUT WIE TOT—kann nun vorbestellt werden!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
SO GUT WIE VERLOREN
(DAS AU-PAIR—BUCH ZWEI)
B L A K E P I E R C E
Blake Pierce
Blake Pierce ist der USA Today Bestsellerautor der RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher sechzehn Bücher umfasst. Er ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Mystery-Reihe, die bisher aus dreizehn Büchern besteht, der AVERY BLACK Mystery-Reihe, die aus sechs Büchern besteht, der KERI LOCKE Mystery-Reihe, die in fünf Büchern erhältlich ist, der DAS MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Reihe, die bisher fünf Bücher umfasst, der KATE WISE Mystery-Reihe, von der bisher sechs Bücher erhältlich sind, der spannenden CHLOE FINE psychologischen Suspense-Mystery-Reihe, die bisher aus fünf Büchern besteht, der JESSE HUNT psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, von der es bisher fünf Bücher gibt, der AU PAIR psychologischen Suspense-Thriller-Reihe, die bisher aus zwei Büchern besteht, und der ZOE PRIME Mystery-Reihe, von der bisher zwei Bücher erwerblich sind.
Blake ist selbst ein passionierter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres, weshalb er sich freuen würde, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie doch seine Webseite www.blakepierceauthor.com, um mehr über ihn herauszufinden und in Kontakt zu bleiben!
BÜCHER VON BLAKE PIERCE
DAS AU-PAIR
SO GUT WIE VORÜBER (BAND #1)
SO GUT WIE VERLOREN (BAND #2)
SO GUT WIE TOT (BAND #3)
JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE
DIE PERFEKTE FRAU (BAND #1)
DER PERFEKTE BLOCK (BAND #2)
DAS PERFEKTE HAUS (BAND #3)
DAS PERFEKTE LÄCHELN (BAND #4)
DIE PERFEKTE LÜGE (BAND #5)
CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE
NEBENAN (BAND #1)
DIE LÜGE EINES NACHBARN (BAND #2)
SACKGASSE (BAND #3)
STUMMER NACHBAR (BAND #4)
KATE WISE MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (BAND #1)
WENN SIE SÄHE (BAND #2)
WENN SIE RENNEN WÜRDE (BAND #3)
WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (BAND #4)
WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (BAND #5)
WENN SIE SICH FÜRCHTEN WÜRDE (BAND #6)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (BAND #1)
WARTET (BAND #2)
LOCKT (BAND #3)
NIMMT (BAND #4)
LAUERT (BAND #5)
RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (BAND #1)
GEFESSELT (BAND #2)
ERSEHNT (BAND #3)
GEKÖDERT (BAND #4)
GEJAGT (BAND #5)
VERZEHRT (BAND #6)
VERLASSEN (BAND #7)
ERKALTET (BAND #8)
VERFOLGT (BAND #9)
VERLOREN (BAND #10)
BEGRABEN (BAND #11)
ÜBERFAHREN (BAND #12)
GEFANGEN (BAND #13)
RUHEND (BAND #14)
GEMIEDEN (BAND #15)
VERMISST (BAND #16)
EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE
EINST GELÖST
MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (BAND #1)
BEVOR ER SIEHT (BAND #2)
BEVOR ER BEGEHRT (BAND #3)
BEVOR ER NIMMT (BAND #4)
BEVOR ER BRAUCHT (BAND #5)
EHE ER FÜHLT (BAND #6)
EHE ER SÜNDIGT (BAND #7)
BEVOR ER JAGT (BAND #8)
VORHER PLÜNDERT ER (BAND #9)
VORHER SEHNT ER SICH (BAND #10)
VORHER VERFÄLLT ER (BAND #11)
VORHER NEIDET ER (BAND #12)
AVERY BLACK MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (BAND #1)
LAUF (BAND #2)
VERBORGEN (BAND #3)
GRÜNDE DER ANGST (BAND #4)
RETTE MICH (BAND #5)
ANGST (BAND #6)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (BAND #1)
EINE SPUR VON MORD (BAND #2)
INHALTSVERZEICHNIS
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
KAPITEL VIERZIG
KAPITEL EINUNDVIERZIG
KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
KAPITEL DREIUNDVIERZIG
Cassandra Vale stand in der langen, sich nur schleppend vorwärtsbewegenden Schlange des London Eye. Nach einer halben Stunde konnte sie das gigantische Riesenrad über sich wenigstens sehen – die Stahlkonstruktion ragte in den wolkenbehangenen Himmel hinein. London von oben zu sehen war scheinbar selbst an einem düsteren Novembertag eine beliebte Attraktion.
Sie war alleine, während es so wirkte, als hätte jeder andere Besucher Freunde oder Familienangehörige dabei. Vor ihr stand eine nervöse, blonde Frau, die etwa in Cassies Alter, also Mitte zwanzig, zu sein schien. Sie musste sich um drei ungezogene Jungen mit dunklen Haaren kümmern. Von der Warterei gelangweilt, schrien und zankten die Kinder, schubsten einander und lösten sich aus der Warteschlange. Sie waren so störend, dass die Leute begannen, sich zu beschweren. Ein älterer Mann vor ihr drehte sich um und starrte sie an.
„Könnten Sie Ihre Jungen bitte anweisen, leise zu sein?“, fragte er die Blondine in verärgertem und vornehmen Britisch.
„Es tut mir so leid. Ich versuche es“, entschuldigte sich die junge Frau und war mittlerweile den Tränen nahe.
Cassie hatte die gestresste, blonde Frau bereits als Au-Pair identifiziert. Diese Konfrontation mitanzusehen brachte sie gedanklich zurück zu ihrer eigenen Situation, in der sie sich noch vor einem Monat befunden hatte. Sie wusste genau, wie hilflos die Frau sich fühlte – gefangen zwischen widerspenstigen Kindern, die sich danebenbenahmen und den missbilligenden Blicken der Umstehenden, die sich genervt einmischten. Die Geschichte konnte nur übel ausgehen.
Sei froh, nicht in ihrer Situation zu sein, dachte Cassie. Du hast die Möglichkeit, deine Freiheit zu genießen und die Stadt zu erkunden.
Das Problem war, dass sie sich nicht frei fühlte, sondern ungeschützt und verletzlich.
Ihr ehemaliger Arbeitgeber würde bald wegen Mordes vor Gericht stehen und sie war die einzige, die die ganze Wahrheit kannte. Und – noch schlimmer – er hatte mittlerweile bestimmt herausgefunden, dass sie Beweise zerstört hatte, die er gegen sie hatte verwenden wollen.
Krank vor Angst fürchtete sie, er könnte Jagd auf sie machen.
Wer wusste schon, wie weit die Fühler eines wohlhabenden, verzweifelten Mannes reichten? Sie hatte geglaubt, sich problemlos in einer Millionenstadt verstecken zu können, doch die französischen Zeitungen mit ihren kreischenden Artikelüberschriften lauerten hinter jeder Ecke. Sie war sich der extensiven Kameraüberwachung bewusst, vor allem in der Nähe von Touristenattraktionen. Und die Mitte Londons war nichts anderes als eine große Show.
Cassie blickte nach oben und sah einen dunkelhaarigen Mann auf der Plattform neben dem Riesenrad. Sie hatte schon vor einer Weile seinen Blick auf sich gespürt und bemerkte nun, dass er erneut in ihre Richtung starrte. Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass es sich lediglich um einen Sicherheitsbeamten oder einen Polizisten in Zivil handelte. Aber es funktionierte nicht. Sie gab sich immer größte Mühe, sich von Polizisten fernzuhalten – egal ob in Zivil oder nicht. Genauso fürchtete sie potentielle Privatdetektive oder auch ehemalige Beamten, die sich möglicherweise für eine lukrativere Karriere als bezahlte Verbrecher entschieden hatten.
Cassie erstarrte, als der Mann sein Handy, oder vielleicht war es auch ein Walkie-Talkie, herauszog und mit dringlichem Gesichtsausdruck hineinzusprechen begann. Im nächsten Moment verließ er die Plattform und ging geradewegs auf sie zu.
Cassie entschied sich, London heute nicht von oben sehen zu müssen. Obwohl sie bereits Eintritt dafür bezahlt hatte, würde sie die Attraktion verlassen. Schließlich konnte sie ein anderes Mal zurückkehren.
Sie drehte sich um und bereitete sich darauf vor, die Menschenmenge zu durchqueren, als sie erschrocken sah, dass zwei weitere Polizisten hinter ihr erschienen waren.
Auch die Teenager-Mädchen hinter ihr hatten sich dazu entschlossen, zu gehen. Sie hatten sich bereits umgedreht und schoben sich durch die Warteschlange zum Ausgang. Cassie folgte ihnen, dankbar, dass sie den Weg für sie freimachten. Doch ihre Panik wuchs, als die Beamten ihr weiterhin folgten.
„Warten Sie, Ma’am! Bleiben Sie stehen!“, rief der Mann hinter ihr.
Sie würde sich nicht umdrehen. Nein. Sie würde schreien, sich an den anderen Menschen in der Schlange festhalten, betteln und flehen und sagen, dass sie die falsche Person hatten. Dass sie nichts mit dem mutmaßlichen Mörder Pierre Dubois zu tun und nie für ihn gearbeitet hatte. Sie würde alles tun, um einfach nur wegzukommen.
Aber als sie sich darauf vorbereitete, zu kämpfen, schob sich der Mann an ihr vorbei und packte die zwei Teenager-Mädchen vor ihr.
Die Mädchen begannen zu schreien und zu zappeln – genau wie sie es auch vorgehabt hatte. Zwei weitere Polizisten in Zivil erschienen, schoben die Beistehenden beiseite und packten die Mädchen am Arm, während ein uniformierter Polizist deren Taschen öffnete.
Zu Cassies Verwunderung beobachtete sie, wie der Polizist drei Handys und zwei Geldbeutel aus dem neonpinken Rucksack des größeren Mädchens zog.
„Taschendiebe. Bitte überprüfen Sie Ihre Taschen, meine Damen und Herren. Informieren Sie uns, wenn Ihnen etwas fehlt“, erklärte der Beamte.
Cassie griff nach ihrer Jackentasche und fühlte erleichtert, dass ihr Handy sicher in der Innentasche verstaut lag. Dann blickte sie auf ihre Handtasche und ihr Herz sank Richtung Magengegend, als sie sah, dass der Reißverschluss offen war.
„Mein Geldbeutel fehlt“, sagte sie. „Jemand hat ihn gestohlen.“
Atemlos vor Angst folgte sie den Beamten aus der Schlange heraus und um die Ecke in das kleine Büro der Sicherheitsbeamten. Die zwei Taschendiebe warteten bereits dort und weinten, während die Polizisten ihre Taschen ausleerten.
„Ist es dabei, Ma’am?“, fragte der Beamte in Zivil Cassie und deutete auf die Handys und Geldbeutel auf dem Tresen.
„Nein, das ist es nicht.“
Cassie wollte am liebsten selbst in Tränen ausbrechen. Sie sah zu, wie ein Beamte den Rucksack ausschüttelte und hoffte, ihr abgewetztes Lederportemonnaie herausfallen zu sehen, doch die Tasche war leer.
Der Polizist schüttelte genervt den Kopf.
„Sie geben ihre Beute durch die Schlange nach hinten, um sie zügig aus dem Sichtfeld zu schaffen. Da Sie vor den Dieben in der Schlange standen, wurde Ihr Geldbeutel vermutlich schon vor einer ganzen Weile entwendet.“
Cassie drehte sich um und starrte die Diebe an. Sie hoffte, alle Gefühle und Gedanken in ihren Blick packen zu können. Wäre der Beamte nicht danebengestanden, hätte sie sie beschimpft, sie gefragt, welches Recht sie hatten, ihr Leben zu ruinieren. Sie waren nicht am Verhungern, trugen neue Schuhe und Markenjacken. Vermutlich stahlen sie für den Nervenkitzel oder um Alkohol oder Drogen zu kaufen.
„Tut mir leid, Ma’am“, fuhr der Beamte fort. „Würden Sie bitte einige Minuten hier warten, wir müssen Ihre Aussage aufnehmen.“
Eine Aussage. Cassie wusste, dass das nicht möglich war.
Sie wollte unter keinen Umständen im Fokus der Polizei stehen. Sie wollte ihnen weder ihre Adresse geben, noch sagen, wer sie war. Und keinesfalls durften ihre Informationen in einem offiziellen Bericht stehen.
„Ich werde meiner Schwester nur eben sagen, dass ich hier bin“, log sie den Beamten an.
„Kein Problem.“
Er drehte sich weg und redete mit seinem Walkie-Talkie, während Cassie aus dem Büro eilte.
Ihr Geldbeutel war Geschichte, er war weg. Sie hatte keine Chance, ihn zurückzubekommen, selbst wenn sie hundert Polizeiberichte schreiben würde. Also entschied sie sich, das Nächstbeste zu tun: Das London Eye zu verlassen und nie wieder zurückzukehren.
Der Ausflug war ein unglaubliches Desaster gewesen. Sie hatte am Morgen viel Geld abgehoben und nun waren außerdem ihre Bankkarten weg. Sie konnte keine Bank betreten, um Geld abzuheben, da sie ihren Ausweis nicht bei sich trug – ihr Reisepass befand sich im Gästehaus und sie hatte keine Zeit, ihn zu holen, weil sie geplant hatte, direkt nach dem Besuch beim London Eye mit ihrer Freundin Jess Mittag essen zu gehen.
Eine halbe Stunde später betrat Cassie den Pub, wo sie sich verabredet hatten. Sie war aufgewühlt, aufgebracht über den Verlust des Geldes und ziemlich genervt von London. Die Mittagshektik hatte noch nicht begonnen, also bat sie die Kellnerin, ihr einen Ecktisch zu reservieren, während sie das Badezimmer aufsuchte.
Sie starrte sich im Spiegel an, glättete ihr welliges, kastanienbraunes Haar und versuchte sich an einem fröhlichen Lächeln. Der Ausdruck fühlte sich ungewohnt an. Sie war sich sicher, seit ihrem letzten Treffen mit Jess abgenommen zu haben, außerdem glaubte sie, zu blass und zu gestresst auszusehen. Und das lag nicht nur an dem Trauma dieses Tages.
Als sie das Badezimmer verließ, sah sie gerade, wie Jess den Pub betrat.
Sie trug dieselbe Jacke, die sie vor einem Monat getragen hatte, als sie beide auf dem Weg nach Frankreich gewesen waren, um ihre Au-Pair-Stellen anzutreten. Sie zu sehen brachte alle Erinnerungen zurück. Cassie erinnerte sich daran, wie sie sich an Bord des Flugzeuges gefühlt hatte. Ängstlich, unsicher und mit böser Vorahnung gegenüber der Familie, der sie zugeteilt worden war. All das hatte sich als begründet erwiesen.
Jess dagegen war von einer liebevollen und freundlichen Familie angestellt worden und Cassie glaubte, sie sah sehr glücklich aus.
„Es ist schön, dich zu sehen“, sagte Jess und umarmte Cassie fest. „Ach wie wundervoll.“
„Das ist es. Aber ich stecke ein bisschen in der Klemme“, beichtete Cassie.
Sie erzählte von dem Taschendiebstahl.
„Nein! Das ist furchtbar. Welch Pech, dass dein Geldbeutel nicht unter den gefundenen war.“
„Könntest du mir Geld fürs Mittagessen und die Busfahrt zurück zu meinem Gästezimmer leihen? Ich kann ohne Pass nicht einmal Geld abheben. Ich werde es dir überweisen, sobald ich Internetzugang habe.“
„Natürlich. Und es ist keine Leihgabe, sondern ein Geschenk. Die Familie, für dich ich arbeite, ist wegen einer Hochzeit in London. Da heute alle in Winchester sind, um die Mutter der Braut zu besuchen, haben sie mich mit Geld überschüttet, um mir in London einen schönen Tag zu machen. Nach dem Essen gehe ich erstmal zu Harrods.“
Jess schüttelte ihr blondes Haar nach hinten und lachte, als sie ihr Bargeld mit Cassie teilte.
„Hey, sollen wir ein Selfie machen?“, schlug sie vor, doch Cassie lehnte ab.
„Ich trage absolut null Makeup“, erklärte sie und Jess lachte, während sie ihr Handy wieder wegsteckte.
Das fehlende Makeup war natürlich nicht der wahre Grund – sie gab ihr Bestes, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Als sie in London ankam, hatte sie zuerst die Einstellungen ihrer Social-Media-Kanäle verändert und auf privat gestellt. Gut meinende Freunde könnten schließlich etwas sagen, eine Spur, die sie nicht riskieren konnte. Niemand durfte wissen, wo sie war. Weder ihr Ex-Freund in den Staaten, noch ihr Ex-Arbeitgeber und sein Anwaltsteam in Frankreich.
Sie hatte geglaubt, sich nach ihrem Abschied von Frankreich sicher zu fühlen, hatte aber nicht realisiert, wie zugänglich und verbunden Europa war. Direkt in die Staaten zurück zu gehen, wäre vernünftiger gewesen.
„Du siehst fantastisch aus – hast du abgenommen?“, fragte Jess. „Und wie läufts mit deiner Familie? Du hattest dir damals Sorgen um deine Anstellung gemacht.“
„Es hat nicht funktioniert, ich arbeite also nicht mehr dort“, sagte sie vorsichtig und verschwieg die hässlichen Details, über die sie selbst nicht nachdenken wollte.
„Oh nein. Was ist passiert?“
„Die Kinder sind nach Südfrankreich gezogen und die Familie braucht meine Dienste nicht mehr.“
Cassie hielt sich so kurz wie möglich und hoffte, dass ihre langweilige Erklärung weitere Fragen abwenden würde. Schließlich wollte sie ihre Freundin nicht anlügen.
„Das passiert nun mal. Es hätte schlimmer kommen können. Gut, dass du nicht für die Familie gearbeitet hast, über die gerade jeder spricht – die, in der der Ehemann vor Gericht steht, weil er angeblich seine Verlobte ermordet hat.“
Cassie sah schnell auf den Tisch, um sich mit ihrem Gesichtsausdruck nicht zu verraten.
Zum Glück lenkte die Ankunft des Weines sie ab und nachdem sie ihr Essen bestellt hatten, wandte sich Jess anderen Themen zu.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie Cassie.
Die Frage beschämte Cassie, weil sie keine schlüssige Antwort hatte. Sie wünschte, Jess erzählen zu können, einen Plan zu haben und nicht einfach nur von einem Tag zum anderen zu leben. Sie wusste, dass sie ihre Zeit in Europa genießen sollte, aber wurde sich ihrer Situation wegen immer unsicherer.
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich habe darüber nachgedacht, zurück in die Staaten zu gehen und an einem wärmeren Ort nach Arbeit zu suchen. Vielleicht in Florida. Es ist zu teuer, hier zu bleiben.“
Jess nickte verständnisvoll.
„Ich habe mir einen Wagen gekauft, als ich hier angekommen bin. Jemand im Gästehaus wollte ihn loswerden. Das hat mich einiges an Bargeld gekostet.“
„Du hast einen Wagen?“, fragte Jess. „Das ist großartig!“
„Das stimmt. Ich habe ein paar wundervolle Ausflüge aus der Stadt raus unternommen, aber Sprit und die täglichen Kosten sind höher als erwartet.“
Geld zu verschwenden ohne Aussicht auf Einkommen machte ihr zu schaffen und erinnerte sie an die Mühen, die sie erlebt hatte, als sie noch jünger war.
Sie hatte ihr Zuhause mit sechzehn Jahren verlassen, um ihrem gewalttätigen Vater zu entkommen und sich seither alleine durchgeschlagen. Sie hatte weder Sicherheiten noch Ersparnisse oder eine Familie, die sie unterstützen konnte. Ihre Mutter war tot und ihre ältere Schwester Jacqui einige Jahre vor ihr ausgezogen. Seither hatte sie sich nie mehr gemeldet.
Für Cassie ging es danach Monat für Monat ums Überleben. Manchmal war sie nur mit Hängen und Würgen über die Runden gekommen. Erdnussbutter am Monatsende? Nein – es war ihr Hauptnahrungsmittel gewesen, wenn die Zeiten schwer waren. Dass sie sich Jobs in Restaurants oder hinter der Bar suchte, hatte hauptsächlich daran gelegen, dass sie dort kostenlos essen konnte.
Nun machte es sie panisch, von einem schwindenden Notgroschen zu leben, der zu ihrem einzigen Besitz zählte. Dank dem Diebstahl war dieses finanzielle Polster sogar noch geschrumpft.
„Du könntest dir einen Job suchen, um dich über Wasser zu halten. Nur für eine Weile“, empfahl Jess, als könne sie Gedanken lesen.
„Das habe ich. Ich habe mit mehreren Restaurants geredet und mich sogar für Jobs in einigen Bars beworben, wurde aber gleich wieder weggeschickt. Man ist hier sehr pingelig, was den Papierkram angeht und ich habe lediglich ein Besuchervisum.“
„Restaurantarbeit? Warum nicht als Au-Pair?“, fragte Jess neugierig.
„Nein“, erwiderte Cassie sofort, bevor sie sich daran erinnerte, dass Jess nichts von den Umständen ihres letzten Jobs wusste. Sie fuhr fort.
„Wenn ich nicht arbeiten kann, kann ich nicht arbeiten. Kein Visum bedeutet kein Visum, außerdem ist eine Stelle als Au-Pair langfristiger.“
„Nicht unbedingt“, meinte Jess. „Das muss sie nicht sein. Und ich habe selbst Erfahrung damit gemacht, ohne Visum zu arbeiten.“
„Wirklich?“
Cassie wusste, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie würde nicht wieder als Au-Pair arbeiten. Trotzdem klang es interessant, was Jess zu sagen hatte.
„Restaurants und Pubs werden regelmäßig kontrolliert. Es ist ihnen unmöglich, jemanden ohne korrektes Visum anzustellen. Aber für eine Familie zu arbeiten ist anders, sozusagen eine Grauzone. Schließlich könntest du ja ein Freund der Familie sein. Wer kann schon entscheiden, ob du tatsächlich arbeitest? Ich habe letztes Jahr eine Weile bei einem Freund in Devon verbracht und dort für Nachbarn zeitweise auch Aufgaben in der Kindererziehung übernommen.“
„Das ist gut zu wissen“, sagte Cassie, hatte aber nicht die Absicht, diese Option weiter zu verfolgen. Mit Jess zu reden verfestigte sogar ihre Entscheidung, in die Staaten zurückzukehren. Wenn sie den Wagen verkaufte, hätte sie genug Geld, sich selbst über Wasser zu halten, bis sie wieder auf die Beine kam.
Auf der anderen Seite hatte sie erwartet, wesentlich mehr Zeit mit Reisen zu verbringen. Sie hatte sich auf ein ganzes Jahr unterwegs gefreut und gehofft, dadurch die Zeit zu gewinnen, die sie brauchte, um Abstand von ihrer Vergangenheit zu bekommen. Das war ihre Chance auf einen Neustart und eine Rückkehr als neuer Mensch. So bald schon nach Hause zurück zu gehen würde ihr das Gefühl geben, aufgegeben zu haben. Ihr war egal, was andere Leute von ihr dachten – aber sie selbst würde sich als Versager fühlen.
Die Kellnerin trug Teller, die turmhoch mit Nachos gefüllt waren, an ihren Tisch. Cassie hatte das Frühstück ausfallen lassen und machte sich hungrig über das Essen her.
Aber Jess hielt inne, runzelte die Stirn und zog ihr Handy aus der Tasche.
„Hm, ein ehemaliger Arbeitgeber hat mich gestern angerufen, um zu fragen, ob ich ihm erneut aushelfen könnte.“
„Wirklich?“, fragte Cassie, aber ihre Aufmerksamkeit galt dem Essen.
„Ryan Ellis. Ich habe letztes Jahr für ihn gearbeitet. Die Eltern seiner Frau waren dabei, umzuziehen, und sie brauchten jemanden für die Kinder, während sie unterwegs waren. Sehr liebe Menschen, genau wie die Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Wir hatten viel Spaß zusammen. Sie leben in einem hübschen Dorf am Meer.“
„Worum geht es bei dem Job?“
„Er sucht dringend nach jemandem, der für drei Wochen bei ihnen einzieht. Cassie, das könnte genau das Richtige für dich sein. Er hat gut bezahlt, mir Bargeld gegeben und sich kein bisschen für ein Visum interessiert. Er meinte, dass ich, wo ich ja von einer Au-Pair-Agentur akzeptiert worden war, offensichtlich eine vertrauenswürdige Person sein muss. Warum rufen wir ihn nicht an und finden mehr heraus?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das das Richtige für mich ist.“
Doch Jess schien entschlossen, Cassies Zukunft in die Hände zu nehmen und tippte auf ihrem Handy herum.
„Ich schicke dir trotzdem mal seine Nummer. Und ich werde ihm eine Nachricht schicken, dass du dich möglicherweise bei ihm melden wirst und ich dich sehr empfehlen kann. Man weiß nie – selbst, wenn du nicht für ihn arbeitest, kennt er vielleicht jemanden, der einen Haussitter braucht. Oder jemanden, der mit Hunden Gassi geht. Oder so.“
Cassie konnte ihre Logik nicht abstreiten und einen Moment später vibrierte ihr Handy und die Nummer erschien auf ihrem Display.
„Wie läuft deine Arbeit?“, fragte sie, als Jess ihre Nachrichten abgeschickt hatte.
„Könnte nicht besser sein.“ Jess schaufelte Guacamole auf einen Tortilla-Chip.
„Die Familie ist super. Sie sind sehr großzügig, was meine Freizeit angeht und geben mir immer wieder einen Bonus. Die Kids sind manchmal frech, aber nie böse und ich glaube, sie mögen mich auch.“
Sie senkte die Stimme.
„Letzte Woche, als die Hochzeitsgäste anreisten, wurde ich einem der Cousins vorgestellt. Er ist achtundzwanzig, umwerfend und Geschäftsführer einer IT-Firma. Ich glaube, er mag mich und es macht unheimlich Spaß, mal wieder zu flirten.“
Obwohl sie sich für ihre Freundin freute, konnte Cassie nicht anders, als auch einen Hauch der Eifersucht zu verspüren. Sie hatte insgeheim auf einen Traumjob wie diesen gehofft. Warum war bei ihr alles so schiefgelaufen? War es einfach nur Pech oder hatten ihre eigenen Entscheidungen dazu beigetragen?
Cassie erinnerte sich plötzlich daran, was Jess ihr im Flugzeug nach Frankreich erzählt hatte. Auch ihr erster Au-Pair-Job war nicht das Richtige gewesen, also hatte sie gekündigt und es erneut versucht.
Erst ihr zweiter Versuch war von Erfolg gekrönt gewesen und Cassie fragte sich, ob sie zu schnell aufgegeben hatte.
Als sie ihre Nachos aufgegessen hatten, sah Jess auf die Uhr.
„Ich muss los. Harrods wartet“, sagte sie. „Ich muss Geschenke für meine Familie zuhause kaufen und für die Kinder und für den umwerfenden Jacques. Was soll ich ihm schenken? Was gibt man jemandem, mit dem man flirtet? Für diese Entscheidung werde ich eine Weile brauchen!“
Cassie umarmte Jess zum Abschied und war traurig darüber, dass ihr Treffen bereits zu Ende war. Die nette Unterhaltung war eine willkommene Abwechslung gewesen. Jess wirkte so glücklich und Cassie verstand, warum. Sie wurde gebraucht und geschätzt, verdiente Geld, hatte einen Sinn im Leben und war sicher.
Jess fuhr nicht alleine in der Gegend herum, einsam, arbeitslos und mit der ständigen Paranoia, wegen einer Mordverhandlung gesucht zu werden.
Ein paar Wochen in einem abgelegenen Dorf waren möglicherweise genau, was sie brauchte. Und Jess hatte Recht. Dieser Anruf könnte auch andere Gelegenheiten mit sich bringen. Jedenfalls würde sie es nie herausfinden, wenn sie es nicht versuchte.
Cassie verließ den gut besuchten Pub auf der Suche nach einer ruhigeren Ecke. Sie sah sich nervös um, falls Taschen- oder Handydiebe in der Nähe waren.
Mit dem Handy fest in der Hand drückte sich Cassie näher an die Hauswand, um sich vor dem Nieselregen zu schützen. Jetzt, wo sie Ryan Ellis Nummer gewählt hatte, wurde sie immer nervöser.
Sie musste irgendwie Geld verdienen, wenn sie noch länger in Großbritannien bleiben wollte, aber war eine Anstellung als Au-Pair nach den Ereignissen in Frankreich das Richtige für sie? Selbst wenn der Job gut klang, wusste sie nicht, ob er sie mit so wenig Erfahrung und keinen Qualifikationen überhaupt anstellen würde.
Cassie stellte sich vor, mit einem peinlichen ‚nein‘ für ihren Mut, um den Job zu bitten, belohnt zu werden.
Es klingelte so lange, dass sie bereits fürchtete, mit der Mailbox verbunden zu werden. Im letztmöglichen Moment antwortete schließlich ein Mann.
„Ryan hier“, sagte er.
Er klang außer Atem, als wäre er zu seinem Telefon gerannt.
„Hallo, spricht dort Ryan Ellis?“, fragte Cassie.
Ihre eigene Frage ließ sie zusammenzucken, doch schließlich kannte sie ihn nicht und es fühlte sich falsch an, einfach nur ‚Hi, Ryan‘ zu sagen.
„Ja, das bin ich. Wer ist da?“ Er klang nicht genervt, sondern vielmehr neugierig.
„Mein Name ist Cassie Vale und ich habe Ihre Nummer von meiner Freundin Jess erhalten, die letztes Jahr für Sie gearbeitet hat. Sie hat erwähnt, dass Sie auf der Suche nach einer Kinderbetreuung sind.“
„Jess, Jess, Jess“, wiederholte Ryan, als versuche er, den Namen einzuordnen. Dann: „Oh, ja, Jess aus Amerika. Wie ich sehe, hat sie mir gerade eine Nachricht geschickt. Eine sehr nette Dame. Hat sie Sie empfohlen? Rufen Sie deshalb an? Ich habe die Nachricht noch nicht gelesen.“
Cassie zögerte. Würde sie ja sagen? Das wäre eine verbindliche Zusage und sie war sich nicht sicher, ob sie zu diesem Schritt bereit war.
„Ich würde gerne mehr über den Job erfahren“, sagte sie. „Ich war als Au-Pair in Frankreich tätig, aber meine Anstellung ist vorbei. Ich habe an eine befristete Stelle gedacht, bin mir zu diesem Zeitpunkt aber unsicher.“
Kurze Stille.
„Ok, ich fasse mal kurz zusammen. Ich bin gerade mehr als verzweifelt, habe eine Scheidung hinter mir, die mir ziemlich zugesetzt hat. Die Kinder wollen nicht einmal darüber sprechen, was geschehen ist und ich brauche jemanden, der sie aufmuntert und mit ihnen Spaß hat. Außerdem habe ich ein großes Projekt mit Deadline, das mich fast all meine Zeit kostet.“
Ryans Worte schockierten Cassie. Sie hatte eine so missliche Lage nicht erwartet. Kein Wunder, dass er verzweifelt nach Hilfe suchte.
Die Scheidung musste sehr traumatisch gewesen sein, wenn die Kinder so darunter litten. Sie vermutete, dass Ryan es war, der sich um sie kümmerte und seine Frau ihn möglicherweise für jemand anderen verlassen hatte.
Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte.
„Das klingt in der Tat sehr aufreibend“, sagte sie schließlich, um die kurze Stille zu füllen.
„Ich habe herumtelefoniert, weil ich noch keine Gelegenheit dazu hatte, den Job auszuschreiben. Ich bin gerade so durcheinander, dass ich vermutlich nicht besonders gut darin wäre, jemanden zu interviewen. Aber alle, die bereits für mich gearbeitet haben, sind nicht verfügbar. Es stört mich nicht, zuzugeben, dass ich wirklich dringend Hilfe benötige. Ich bin bereit, das Dreifache zu bezahlen. Außerdem geht es um maximal drei Wochen.“
„Also …“, begann Cassie.
Sie brachte es nicht zustande, nein zu sagen. Das wäre herzlos, wo sich der Mann doch in solch grässlichen Umständen zu befinden schien. Sie hatte Mitleid mit ihm und das Gefühl, es wäre egoistisch, den Job einfach so auszuschlagen. Die Familie brauchte verzweifelt Hilfe, das Geld stimmte und die kurze Job-Dauer war auch verlockend.
„Warum kommen Sie nicht vorbei und lernen uns kennen?“, schlug Ryan vor. „Haben Sie einen Wagen? Wenn nicht, kann ich Sie auch am Bahnhof abholen. Natürlich werde ich die Fahrkarte bezahlen.“
„Ich habe einen Wagen“, sagte Cassie.
„Das erleichtert die Sache. Wenn der Verkehr stimmt, brauchen Sie vermutlich nicht mehr als fünf Stunden. Ich werde Ihnen die Adresse schicken und für die Fahrtkosten bezahlen, wenn Sie uns nicht mögen.“
„In Ordnung. Ich fahre morgen früh los und sollte dann gegen Mittag ankommen“, sagte Cassie.
Sie legte auf und war erleichtert über die Möglichkeit, Zeit mit der Familie verbringen zu können, bevor sie sich entscheiden musste. Wenn sie sie mochte, wäre das eine Gelegenheit, ihr Leben in dieser schweren Zeit unterstützend zu bereichern.
Als Ryan ihr erzählte, frisch geschieden zu sein, hatte sie nicht erwartet, so viel Mitgefühl für ihn zu empfinden. Da sie in einem Zuhause voller Konflikte aufgewachsen war und ihre Mutter so früh verloren hatte, glaubte sie, zu verstehen, wie es sich anfühlen musste. Sie wusste, dass sie der Familie in dieser Zeit beistehen konnte.
Als sie als verzweifelte und ängstliche Sechzehnjährige ihr Zuhause verlassen hatte, war sie entschlossen gewesen, in die Fußstapfen ihrer Schwester zu treten und für immer der Gewalt ihres Vaters zu entfliehen. Aber nach der Flucht aus seiner wütenden Dominanz war sie in der schädlichen Beziehung mit Zane gelandet. Und ihre Reise nach Frankreich, mit der sie Zane entkommen hatte wollen, war im größten Albtraum überhaupt geendet.
Außerhalb der Stadt in einem entlegenen Küstendorf wäre sie sicher und in der Lage, die familiäre Umgebung zu erleben, in der sie sich gebraucht fühlen konnte. Schließlich war das einer der Hauptgründe gewesen, überhaupt als Au-Pair arbeiten zu wollen.
Die Fahrt zu Ryan Ellis dauerte länger, als Cassie erwartet hatte. Es schien unmöglich, die Staus auf dem Weg nach Süden zu meiden und zwei Mal musste sie wegen Straßenarbeiten umständliche Umleitungen in Kauf nehmen.
Aufgrund der zusätzlichen Zeit auf der Straße ging ihr fast das Benzin aus. Mit dem letzten Geld, das ihr von Jess‘ Leihgabe übriggeblieben war, füllte sie den Tank. Sie machte sich Sorgen, Ryan könnte denken, sie habe ihre Meinung geändert. Also schrieb sie ihm eine Nachricht, um sich für die Verspätung zu entschuldigen. Sofort antwortete er: „Kein Problem, nimm dir Zeit und fahr vorsichtig.“
Sobald sie den Highway verlassen und die ländliche Gegend erreicht hatte, bot sich ihr eine idyllische Aussicht. Sie reckte den Hals und schielte über die getrimmten Hecken, um die Patchwork-Felder in jedem Farbton von Dunkelgrün bis Goldbraun sehen zu können. Dazwischen entdeckte sie immer wieder malerische Bauernhäuser und gewundene Flüsse. Die ordentliche Landschaft stimmte sie friedlich, obwohl sie wusste, dass die dichter werdenden Wolken Regen ankündigten. Sie hoffte, ihr Ziel noch vor dem Wolkenausbruch zu erreichen.
Mehr als sechs Stunden nach ihrem Verlassen Londons erreichte sie ein gemütliches, kleines Dorf an der Küste. Selbst im trüben Licht hatte es etwas Verzaubertes an sich. Ihr Wagen ratterte über Pflastersteinstraßen, wo Lücken in den Häuserreihen kurze Blicke auf den malerischen Hafen dahinter freigaben. Ryan hatte sie angewiesen, durch das Dorf hindurch und an der Küste entlang zu fahren. Das Haus befand sich einige Kilometer weiter und überblickte das Meer.
Sie parkte vor dem offenen Tor und starrte begeistert das Haus an – es war fast zu perfekt, um wahr zu sein. Es fühlte sich wie der Ort an, von dem sie immer geträumt hatte. Ein einfaches, aber gleichzeitig umwerfendes Zuhause mit weichen Linien und Holzdetails, das sich harmonisch in die Umgebung einfügte und sie an ein Schiff im Hafen erinnerte, wenn es nicht auf einer Klippe mit fantastischem Blick über den Ozean stehen würde. Der gepflegte Garten beherbergte sowohl eine Schaukel als auch eine Wippe. Beide waren schon etwas rostig und Cassie nahm an, dass der Zustand der Spielgeräte einen Hinweis auf das Alter der Kinder liefern könnte.
Cassie betrachtete sich im Rückspiegel und überprüfte ihr Haar. Die Wellen waren glatt und glänzend, nachdem sie ihnen am Morgen extra Zuwendung geschenkt hatte, und ihr korallenroter Lippenstift schimmerte makellos.
Sie lief über die gepflasterte Einfahrt zum Haus, wo ein Weg, der mit Blumenbeeten gesäumt war, auf sie wartete. Trotz der Jahreszeit blühte alles gelb und sie erkannte die Blüten des Geißblatts. Im Sommer war es vermutlich ein prächtiges Farbenspiel.
Die Haustüre öffnete sich, bevor sie dort angekommen war.
„Hallo Cassie. Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Ryan.“
Der Mann, der sie begrüßte, war einen Kopf größer als sie, gutaussehend und überraschend jung. Sein sandbraunes Haar war zerzaust und seine Augen leuchteten blau. Er lächelte und schien sich ehrlich zu freuen, sie zu sehen. Er trug ein verblasstes Eminem-T-Shirt und ausgetragene Jeans. Sie bemerkte ein Geschirrtuch, das an seine Gürtelschlaufe geklemmt war.
„Hi Ryan.“
Sie nahm seine ausgestreckte Hand. Sein Griff war warm und fest.
„Du hast mich dabei erwischt, die Küche für deine Ankunft sauber zu machen. Das Wasser kocht bereits – bist du Teetrinker? Ich weiß, eine sehr britische Angewohnheit. Aber ich habe auch Kaffee, wenn dir das lieber ist.“
„Tee ist prima“, sagte Cassie, der das bodenständige Willkommen gefiel.
Als er die Haustüre hinter ihr geschlossen hatte und sie in die Küche führte, dachte sie darüber nach, wie anders sie sich Ryan Ellis vorgestellt hatte. Er war freundlicher als erwartet und ihr gefiel es, dass er bereit dazu war, die Küche zu putzen.
Cassie erinnerte sich an ihre Ankunft in Frankreich. Schon beim Betreten des französischen Schlosses hatte sie die aufgeladene, ungemütliche und konfliktreiche Stimmung bemerkt. In diesem Haus war das Gegenteil der Fall.
Sie lief über den polierten Holzboden und war beeindruckt, wie sauber alles war. Auf dem kleinen Tisch im Flur standen sogar frische Blumen.
„Wir haben das Haus für dich auf Vordermann gebracht“, sagte Ryan, als könne er Gedanken lesen. „So gut hat es hier seit Monaten nicht ausgesehen.“
Zu ihrer Rechten sah Cassie ein Familienzimmer mit einer großen Schiebetür, die auf die Veranda führte. Gemütlich aussehende Ledermöbel und Gemälde von Schiffen an den Wänden machten das Zimmer einladend und geschmackvoll. Sie konnte nicht anders, als es mit dem pompösen Showroom-Dekor des Schlosses zu vergleichen, wo sie zuvor gearbeitet hatte. In diesem Haus schien eine richtige Familie zu leben!
Die Küche war ordentlich und sauber und Cassie bemerkte, wie qualitativ die Küchengeräte waren. Wasserkessel, Toaster und Küchenmaschine trugen Markennamen und sie erkannte die leuchtenden Designermuster aus einem Artikel, den sie auf dem Flug gelesen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie erstaunt sie von den Preisen gewesen war.
„Hast du schon zu Mittag gegessen?“, fragte Ryan, nachdem er ihr Tee eingeschenkt hatte.
„Nein, aber das ist in Ordnung …“
Er ignorierte ihre Proteste, öffnete den Kühlschrank und brachte einen Teller, der mit Obst, Milchbrötchen und Sandwiches beladen war, zum Vorschein.
„Am Wochenende ist es mir immer am liebsten, Snacks zur Verfügung zu haben. Ich wünschte, behaupten zu können, die Sachen extra für dich vorbereitet zu haben, aber wegen der Kinder ist das hier üblich. Dylan ist zwölf und beginnt gerade, wie ein Teenager zu essen. Madison ist neun und treibt viel Sport. Mir ist es lieber, wenn sie sich damit vollstopfen, als mit Fastfood oder Süßigkeiten.“
„Wo sind die Kinder?“, fragte Cassie und ihre Nervosität kam zurück. Bei einem so freundlichen und ehrlichen Dad waren sie vermutlich genau so, wie Jess sie beschrieben hatte, aber sie musste sich selbst vergewissern.
„Sie sind nach dem Mittagessen mit dem Rad aufgebrochen, um einen Freund zu besuchen. Ich habe ihnen gesagt, den Nachmittag auszunutzen, bevor sich das Wetter verschlechtert. Sie müssten jede Minute zurück sein – falls nicht, muss ich sie eventuell mit dem Land Rover einsammeln gehen.“
Ryan blickte aus dem Fenster zum immer dunkler werdenden Himmel.
„Naja, wie bereits gesagt, brauche ich in nächster Zeit wirklich Hilfe. Ich bin jetzt alleinerziehend und die Kinder brauchen so viel Ablenkung wie möglich. Leider kann ich gegen die Deadline bei der Arbeit nichts ausrichten.“
„Was machst du beruflich?“, fragte Cassie.
„Mir gehört eine Flotte von Fischer- und Freizeitbooten, die vom Hafen in der Stadt aus betrieben wird. Zu dieser Jahreszeit werden die Boote gewartet und ich habe derzeit eine Truppe vor Ort, die sich um die Reparaturen kümmert. Es gibt viel zu tun und die ersten Stürme der Saison ziehen bereits auf. Deshalb ist meine Zeit so knapp und die derzeitigen Umstände sind natürlich alles andere als hilfreich.“
„Es muss furchtbar sein, eine Scheidung mitgemacht zu haben, vor allem jetzt.“
„Es war keine einfache Zeit.“
Als Ryan sich vom Fenster abwandte, bemerkte Cassie im sich verändernden Licht, dass er nicht nur attraktiv, sondern sogar außerordentlich gutaussehend war. Seine Gesichtszüge waren kräftig und markant und seine definierten Armmuskeln deuteten darauf hin, dass er trainierte.
Cassie schalt sich dafür, das Aussehen des armen Mannes zu begaffen, während er sich selbst in der emotionalen Hölle befand. Doch sie musste zugeben, dass er unwiderstehlich gutaussehend war – so sehr, dass sie ihren Blick von ihm losreißen musste.
„Ryan, das einzige Problem ist, dass ist gerade kein gültiges Arbeitsvisum besitze. Ich habe eines für Frankreich und die offiziellen Genehmigungen der Au-Pair-Agentur, aber mir war nicht klar, dass die Gesetze hier anders sind.“
„Du wurdest mir von einer Freundin empfohlen“, sagte Ryan lächelnd. „Das bedeutet, du kannst als Gast bei uns bleiben. Ich werde dich bar und steuerfrei bezahlen, wenn das für dich in Ordnung ist.“
Cassie fühlte eine Woge der Erleichterung über sich schwappen. Ryan verstand ihre Situation und hatte keine Probleme damit, ihr entgegenzukommen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen und ihr wurde klar, dass dies vermutlich sogar der entscheidende Faktor war. Sie musste sich davon abhalten, den Job an Ort und Stelle anzunehmen und erinnerte sich daran, vorsichtig zu sein. Bevor sie sich festlegte, würde sie die Kinder kennenlernen wollen.
„Wie lange wirst du mich brauchen?“
„Maximal für drei Wochen. Das wird mir Zeit geben, das Projekt fertigzustellen. Danach geht es für uns in die Ferien, wo wir als mehr oder weniger neue Familie hoffentlich neu zusammenfinden werden. Die Leute sagen, dass eine Scheidung die aufreibendste Erfahrung des Lebens sein kann und ich denke, sowohl die Kinder als auch ich selbst können das bestätigen.“
Cassie nickte mitfühlend. Sie war sich sicher, dass seine Kinder unter der Situation litten und fragte sich, wie viel Ryan und seine Frau gestritten hatten. Natürlich hatte es Konflikte gegeben, aber sie wusste nicht, ob diese als laute Schuldzuweisungen oder unangenehmes, angespanntes Schweigen ausgetragen worden waren.
Da sie als Kind beides erlebt hatte, war sie sich nicht sicher, was schlimmer war.
Als Cassies Mutter noch am Leben gewesen war, hatte sie es geschafft, das Temperament ihres Vaters zu kontrollieren. Cassie erinnerte sich an die angespannte Stille und hatte gelernt, einen feinfühligen Sinn für Konflikte zu entwickeln. Wenn sie einen Raum betrat, konnte sie sofort erkennen, ob Streit in der Luft lag. Die Funkstillen waren am schädlichsten und machten allen emotional am meisten zu schaffen, da sie niemals endeten.
Ein lauter Streit dagegen endete früher oder später, selbst wenn dabei Gläser zerbrochen wurden oder der Notruf gewählt worden war. Aber auch das sorgte für Traumata und unheilbare Narben. Schreien und körperliche Gewalt hatten auch eine Angst vor Kontrollverlust hervorgerufen – Vertrauen war dadurch unmöglich geworden.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie genau das bei ihrem Vater erlebt.
Cassie sah sich in der fröhlichen und ordentlichen Küche um und versuchte, sich vorzustellen, was hier zwischen Ryan und seiner Frau geschehen war. Ihrer Erfahrung nach fanden die schlimmsten Konflikte in der Küche oder im Schlafzimmer statt.
„Es tut mir so leid, dass du das hast mitmachen müssen“, sagte sie leise.
Ryan sah sie an und als sie seinen Blick erwiderte, starrte sie in helle, leuchtend blaue Augen.
„Cassie, du scheinst zu verstehen“, sagte er.
Sie hatte das Gefühl, dass er noch etwas hinzufügen wollte, doch in diesem Moment öffnete sich die Haustür.
„Die Kinder sind zuhause, genau rechtzeitig“. Er klang erleichtert.
Cassie blickte aus dem Fenster, wo die Regentropfen bereits gegen das Glas prasselten. Als die Tür zuging, verwandelten sich die Tropfen in einen ordentlichen, kalten Winterregen.
„Hey Dad!“
Schritte ertönten auf dem Holzboden und ein dünnes, junges Mädchen mit Radlerhosen und einer grünen Trainingsjacke rannte in die Küche. Sie blieb stehen, als sie Cassie sah, betrachtete sie von Kopf bis Fuß und kam dann herüber, um ihr die Hand zu geben.
„Hallo. Bist du die Lady, die nach uns sehen wird?“
„Mein Name ist Cassie. Bist du Madison?“, fragte Cassie.
Madison nickte und Ryan zerzauste das glänzende, braune Haar seiner Tochter.
„Cassie überlegt noch, ob sie für uns arbeiten will. Was denkst du? Versprichst du, dich von deiner besten Seite zu zeigen?“
Madison zuckte mit den Schultern.
„Du sagst immer, wir sollen keine Versprechungen machen, dir wir nicht halten können. Aber ich werde es versuchen.“
Ryan lachte und Cassie lächelte über die kecke Ehrlichkeit der Antwort.
„Wo ist Dylan?“, fragte Ryan.
„In der Garage und ölt sein Fahrrad. Es hat ganz schön gequietscht, als wir den Berg hinaufgefahren sind und dann hat er auch noch eine Kette verloren.“ Madison holte tief Luft und ging dann zur Küchentür.
„Dylan!“, rief sie. „Komm her!“
Cassie hörte ein entferntes Rufen. „Komm schon!“
„Das wird ewig dauern“, sagte Madison. „Wenn er an den Fahrrädern arbeitet, kann er nicht mehr aufhören.“
Sie erblickte den Snack-Teller und ging mit leuchtenden Augen eilig darauf zu. Als sie das Essen betrachtete, seufzte sie genervt.
„Dad, du hast Eier-Brote gemacht.“
„Ist das ein Problem?“, fragte Ryan mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Du kennst meinen Standpunkt Eiern gegenüber. Das ist wie Erbrochenes auf einem Brot.“
Sie nahm sich vorsichtig ein Milchbrötchen von der gegenüberliegenden Seite des Tellers.
„Erbrochenes auf einem Brot?“, Ryans Stimme klang gleichzeitig belustigt und entsetzt. „Maddie, so etwas solltest du vor Gästen nicht sagen.“
„Pass auf, Cassie. Das Eierzeugs klebt an allem“, warnte Madison und sah ihren Vater reuelos an.
Cassie hatte plötzlich das seltsame Gefühl des Dazugehörens. Diese Neckereien waren genau das, was sie sich erhofft hatte. Bisher schien es sich um eine normale, glückliche Familie zu handeln, die sich neckte und füreinander da war, auch wenn bestimmt jedes Familienmitglied seine Eigenarten und Schwierigkeiten hatte. Ihr wurde nun klar, wie angespannt sie darauf gewartet hatte, dass etwas schiefgehen könnte.
Aus Verlegenheit hatte sie sich selbst noch nichts zu essen genommen, realisierte nun jedoch, wie hungrig sie war. Um sich stattdessen nicht mit einem hörbar knurrenden Magen zu blamieren, entschied sie sich dazu, zuzugreifen.
„Ich werde mutig sein und mich an dem Sandwich versuchen“, meldete sie sich freiwillig.
„Danke. Es freut mich zu sehen, dass jemand meine kulinarischen Fähigkeiten zu schätzen weiß“, sagte Ryan.
