So weiss, so rot, so tot - Malvina Rohmeyer - E-Book

So weiss, so rot, so tot E-Book

Malvina Rohmeyer

0,0

Beschreibung

Der grausige Fund eines abgetrennten Frauenkopfes im Sauerteig einer Bäckerei schockiert Berlin. Ein Fall für Sonderermittlerin Mona Katz vom BKA, denn ein langes Männerhaar am Tatort führt direkt zu einer internationalen Serie unaufgeklärter Morde. Bekannt für ihre unorthodoxen Ermittlungsmethoden, aber auch ihren exotischen Charme, ist die clevere Halbjapanerin für das BKA stets so etwas wie das Ass im Ärmel. Mona Katz ist davon überzeugt, dass auch die enthauptete Japanerin auf das Konto von EL IBERICO geht, einem Serienkiller der USA, dessen Täterprofil sie vor Jahren für das FBI erstellt hat. Als ihr klar wird, dass sich Iberico weder Berlin noch die japanische Frau zufällig ausgesucht hat, gerät sie selbst ins Fadenkreuz des Killers. Von den Ermittlungen abgezogen und beurlaubt, ermittelt Mona Katz auf eigene Faust weiter. Von Berlin, über Oslo, London, und Prag bis nach Yokohama jagt sie Ibericos Geheimnis hinterher. Bis er ihr schließlich in Monas Geburtsort Leipzig auf Leben und Tod gegenübertritt. Iberico allein kennt Monas Geheimnis und hat sie auserwählt, ihn und sich zu erlösen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 387

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Malvina Rohmeyer

So weiss, so rot, so tot

Impressum

© Telescope Verlag

www.telescope-verlag.de

Coveridee/ Coverentwurf:

Roland Alfred Schwarz (Kumoki), Gran Canaria, Spanien

Technische Umsetzung der Covergestaltung:

Marc Bakker (concept43), Gran Canaria, Spanien

Fotos zu dessen Umsetzung: Marc Bakker (concept43)

Alle Rechte am Cover bei: Roland Alfred Schwarz (Kumoki), Gran Canaria

Für meinen Mann Frank, unsere Familie

und meine Freundin Tessa

Prolog

In einigen Ländern richten grausame Menschen in der Wildnis gefangene junge Bären zu Tanzbären ab. Eine brutale Prozedur, bei der man die Tiere zwingt, auf heißen Metallplatten zu stehen, während ein bestimmtes Lied erklingt. Natürlich versuchen die armen Geschöpfe jedes Mal diesen Qualen zu entgehen. Sie erheben sich und „tanzen“ auf den Hinterpfoten. So dressiert, genügt es künftig, dass dieselbe Melodie ertönt und die Bären fangen mit ihrer traurigen Tanzdarbietung an. Das tun sie ein Leben lang, obwohl so ein ausgewachsenes Ungetüm seinen Peiniger mit einem einzigen Prankenhieb töten könnte.

Meine Melodie war der Klang des Satzes „Do you wanna go to the Room?“. Dressiert hatte man mich schon sehr zeitig. Vermutlich gleich, nachdem ich das Wort Omamakannte.

Wärme und Geborgenheit verbindet wahrscheinlich jedes Kind mit dem Wort Mama. Ich konnte das nicht. Die Frau – bis heute fällt mir keine andere Bezeichnung für die Person ein, die mich gebar – hatte mir nichts dergleichen zu geben. Selbst ihre Milch verweigerte sie mir. Sechs Monate brauchte es, bis sie den körperlichen Kontakt mit mir ertrug, ohne sich zu schütteln. Meine Omama war die Einzige, die sich um mich kümmerte. Ihr zärtliches Japanisch wurde meineeigentliche Muttersprache. Amtssprache im Haus war Deutsch, und Englisch die Geheimsprache der Erwachsenen.Noch ehe es Worte und Sätze in meinem Leben gab, war „Do you wanna go to the Room?“ ein zusammenhängender, abscheulicher Laut in meinen Ohren. Ein Satz, bei dem ich noch heute zusammenschrecke.

Der Mann – man könnte ihn an dieser Stelle auch meinen Erzeuger nennen – säuselte ihn zuerst. Immer und immer wieder. Sein böses Mantra. Dann wurde der Ton aggressiver, bis er in Rage geriet. Derb packte er meinen winzigen Arm und schleppte mich in sein Verlies.

„The Room“war damals das Synonym für den schrecklichsten Ort der Welt. Und ist es noch immer. Nie vergesse ich, wie sich darin eine riesige, lähmende Angst unter meiner noch zarten Schädeldecke auf ewig festfraß.

Ich war ein Winzling noch, als er mich das erste Mal wegsperrte. Allein in dem nasskalten, stockdunklen Kerker. Brüllend, weinend und starr vor Angst krabbelte ich orientierungslos umher. Der raue Betonboden riss mir die zarte Haut an den winzigen Knien und Händchen auf. Blutend, von eigenen Exkrementen und Erbrochenem verschmiert, nass von Urin, fand ich dort weder Anfang noch Ende, nichts Essbares oder zu trinken. Wie in einem schwarzen Loch Materie zerrissen und aufgesogen wird, schluckte derRaum sofort jeglichen Rest von Widerstand und Aufbegehren. 24 endlos scheinende Stunden. Auf die Minute. Erst dann öffnete der Mann die Tür.

Allein das Erklingen seines „Do you wanna go to the Room?“ reichte künftig aus, dass ich mich all seinen Begierden – auch den körperlichen – fügte.Es nützte nichts, dass ich mich über Jahre selbst verletzte, mich verbrannte oder schnitt. Mich zu entstellen, mich hässlich zu machen, alles misslang. Auch, dass ich mir büschelweise Haare ausriss. Er ließ nicht von mir ab.

Bis zu jenem Tag. Dem Tag vor meinem zwölften Geburtstag. Der Bann seiner bedrohlichen Formel hatte bis dahin schon winzige Risse bekommen, seit ich von älteren Mitschülern heimlich Englisch zu lernen anfing. Doch erst nachts zuvor war mir gelungen, all meinen Mut zusammenzunehmen und den Raum allein zu betreten. Im selben Moment hatte die stinkende Zelle alle Macht über mich verloren. Dafür aber enthüllte sich darin mein furchtbares Geheimnis. Es befand sich in einem kostbaren Holzkästchen. Schockiert, verstört und voll Ekel übergab ich mich. Brennend vor Wut stürzte ich hinaus in den strömenden Regen. Kurze Zeit später nagelte ich den Köter der Nachbarn im Wald an einen Baum. Wie Jesus hing er da, das blöde Vieh, und jaulte. Angewidert und fasziniert beobachtete ich, wie unter dem Fell des Gekreuzigten sein blassrosa Geschlecht hervorstand. Dass Schmerz und Lust so dicht beieinander gehen konnten! Seltsam gelassen trennte ich den nichtsnutzigen Rüden mit einem einzigen Schnitt meines Taschenmessers von seiner Männlichkeit und sah danach zu, wie er krepierte.

Am Morgen darauf hatte es über der Stadt einen blutroten Sonnenaufgang gegeben. Die Frau war zum Einkauf gefahren. Ich hatte beschlossen, nicht zur Schule zu gehen, sondern mich zu verstecken. Wutschnaubend rannte der Mann oben im Haus umher. Trab, trab, auf und ab. Er säuselte, er drohte, er schrie. Umsonst. Im winzigen Lichtkegel meiner Taschenlampe kauerte ich regungslos und mit pochendem Herzen dort, wo er mich sicher zu allerletzt vermutete: in „The Room“. Mucksmäuschenstill und mit angehaltenem Atem fragte ich mich bang: Wann wird der Mann das merken?Plötzlich flog die Tür auf und das grelle Tageslicht blendete mich. Die Silhouette des Mannes füllte den Rahmen wie ein grässlicher Scherenschnitt. Er war nackt.

Mir war sofort klar, dass diese Chance, mich zu befreien, sich nicht wiederholen würde.

Damit fing alles an.

1

Dreißig Jahre später

Berlin, 19. Juni, nachts

„Ich will dich ficken!“

Mona vernahm diesen Satz wie einen Befehl. Der Schreck fuhr ihr in die Knie. Höhenangst überkam sie. Mona versuchte dagegen anzukämpfen, indem sie starr auf ihrem Barhocker sitzen blieb und sich zwang, im Spiegel zu erkunden, was um sie herum vorging. Anstrengend genug, denn ihr war erst vor Minuten nach dem Verlassen der Limousine die schwarze Augenbinde abgenommen worden. Ihre Augen hatten von jeher bei Dunkelheit etwas Mühe. Daher hatte sie keine Ahnung, wo die kleine Entführung geendet war. Eine Mutprobe. Ihr Versprechen, folgsam zu sein, durfte sie nicht brechen. Nachdem Master René das Zeichen Richtung Tresen gegeben hatte, gut auf seine Beute aufzupassen und dann einfach weg war, wurde es Mona allerdings mulmig. Kontrollverlust. Ihr Thema.

Noch immer halbblind und nervös zitternd, orientierten sich Monas Geruchssinn und Gehör erstaunlich präzise. Sie schloss die Augen. Stampfende Bässe fuhren ihr plötzlich direkt in die Magengrube. Ein House-Music-Titel, den Mona dieser Tage zig Mal im Autoradio gehört hatte, verwandelte den Raum augenblicklich in einen Hexenkessel. Die Menschenmenge um sie herum brach in euphorischen Jubel aus, der das laute Stöhnen, das Kettengerassel, die Peitschenhiebe und das Klatschen flacher Hände auf nackter Haut zusätzlich aufkochte. In der Luft hing, obwohl sauber und perfekt klimatisiert, eine seltsame Wolke aus Parfüm und jeder Menge Testosteron.

Langsam öffnete Mona ihre Lider und erschrak über die Größe des Clubs. Mehrere Ebenen, etliche Bars, an denen nackte, mit fluoreszierenden Farben bemalte Mädchen und knackige Muskel-Kerle Getränke servierten. Es gab einen Pool neben der Tanzfläche und etliche Liebesschaukeln. Auf riesigen Ringermatten, spielten sich sexuelle Ausschweifungen ab, für die es in Monas aktivem Wortschatz noch keine Vokabeln gab.

Vor ihr stand ein riesiger bunter Cocktail, bei dessen Zubereitung Mona schon allein vom Zusehen schwindlig geworden war. „Unser Grenzgänger!“, kicherte die Barfrau. „Drei davon und man ist hinüber. Den hat gerade jemand für dich bestellt!“

Mona gierte das halbe Glas in einem Zug hinunter, als sie sich und ihr rotes Outfit erstmals von allen Seiten im Spiegel sah. Ihr Kopf steckte in einer durchgehenden Maske, aus der oben ein schwarzer Pferdeschwanz aus Kunsthaar herausschaute. Nur für Augen und Mund gab es Öffnungen. Ihr hautenges Latex-Kleid mit langem Schlitz war das aufregendste Nichts, das Mona je am Körper getragen hatte und die kunstvoll geschnürte Korsage vermittelte das erregende Gefühl einer festen Umarmung. Master René hatte Mona in seiner Wohnung ohne Spiegel sorgfältig eingekleidet und geschnürt. Mit verbundenen Augen war es dann per Stretch-Limousine nebst eigenem Bodyguard in diesen Club gegangen.Die Überraschung war ihm gelungen! Und Mutprobe traf es auf den Punkt.

Obwohl niemand sie erkennen konnte, begann Monas Puls an ihrer Halsschlagader zu graben wie ein kleines Reptil, das sich aus seiner Eihülle zu befreien versuchte. Der Drink zeigte Wirkung. Ihr wurde heiß und kalt.

Plötzlich hörte Mona es wieder, dicht an ihrem linken Ohr.„Ich will dich ficken!“, wiederholte jemand seine einseitige Willensbekundung. Nicht eine Sekunde glaubte Mona, sie könne damit gemeint sein.

Das zierliche, glatzköpfige Mädchen hinter der voll besetzten Theke warf ihr einen besorgten Blick zu. “Brauchst du vielleicht Hilfe?“

Mona machte eine lässige Geste, als würde sie sich mit der rechten Hand Staub von der linken Schulter wischen. „Lass mal, das bekomm ich schon allein hin!“

Angewidert sah sie zur Seite, wo ein aufgeschwemmtes Exemplar der Kategorie „Amöbe“ saß.Blass, durchscheinend und einfach strukturiert, blies er Mona zu allem optischen Übel auch noch seinen heißen Bierdunst ins Gesicht und laberte weiter, was denn nun sei, er wolle endlich mit ihr ficken.

„Ach wie schön“, sagte Mona betont kalt. „Aber ich nicht mit dir!“

„Nun hab dich doch nicht so zickig! Die sind doch alle nur zum Ficken hier!“, insistierte er weiter.

Endlich erspähte Mona René und ihr fiel ein Stein vom Herzen. Fast zwei Meter groß und breitschultrig steuerte René stämmigen Schrittes direkt auf die Bar zu. In seinem grellen Gummikostüm wirkte er bedrohlich wie eine Figur aus einem Thriller von Steven King.

Entschlossen wandte sich Mona an den betrunkenen Typen, nahm ihn voll Verachtung ins Visier, wies mit ausgestrecktem Arm auf den herannahenden René und konterte: „Schau mal, Süßer, ich bin heute Nacht mit einem Rennpferd hier eingeritten! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich vorhabe, auf einem abgehalfterten Esel nach Hause zu traben?“

Noch ehe es weitere Worte brauchte, zog René Mona derb und besitzanzeigend vom Barhocker an sich, leerte den Rest ihres Cocktails und stellte das Glas betont langsam wieder auf dem Tresen ab. Den unansehnlichen Typen an der Bar fest im Blick, glitt Renés Hand sanft durch den Schlitz unter Monas Kleid, zwischen ihre Schenkel und riss ihr den winzigen String-Tanga vom Leib. Er hielt sich die zerfetzte Trophäe vor die Nase und sog den Duft tief und genüsslich ein.

„Lass uns von hier verschwinden! Für das, was ich eigentlich mit dir vorhatte, sind heute Nacht die falschen Leute im Club. Aber ich habe da eine noch viel bessere Idee. Komm, mein kleines geiles Kaninchen, die Limousine wartet schon auf uns! Du darfst gespannt sein.“

2

19. Juni, Berlin, Kink Klub, 5:32 Uhr

„Kommissarin Katz, sind Sie okay?“

Mona zuckte zusammen und blickte auf ihre Armbanduhr. Die Erinnerung an die vergangenen Stunden riss ab und es klang in ihren Ohren wie das lose trudelnde Ende einer Filmrolle. Genau wie immer, wenn Monas Tinnitus sie unter Stress mit bizarren Ohrgeräuschen nervte. Das hier war mehr. Viel mehr.

„Coitus interruptus“, also unterbrochener Geschlechtsakt. Früher hatte sich Mona schon oft über diese Wortkreation amüsiert. Als wäre Geschlechtsverkehr ein Dauerzustand, den man nur dann und wann unterbricht. Schön wärs, dachte sie da jedes Mal. Im Moment kochte sie vor Zorn über ihre Blödheit, das Diensthandy in ihrer Urlaubswoche nicht ausgestellt zu haben. Es klingelte vor einer knappen Stunde. René und sie im Bett gerade in einer Stellung, für die jeder Kampfrichter beim Eiskunstlaufen ohne Zögern eine „6.0“ gezogen hätte. Der Name auf dem Display aktivierte im Bruchteil einer Sekunde alle Reflexe. Raus aus dem Bett, duschen, kämmen, Klamotten an. Wie so oft, stand der Dienstwagen mit laufendem Motor schon vor Monas Haus. Dass sie aus einer Nebenstraße angehetzt kam, interessierte den Fahrer nicht. Diese Nacht meinte es nicht gut mit Mona.

Der Polizeibeamte hielt noch immer die fußseitig gummierten, blauen Papierüberzüge für die Schuhe direkt vor Monas Gesicht. An Absperrungen entlang ging es dann durch einen riesigen Raum, in dem Menschen in albernen Sachen bei flutlichtartiger Beleuchtung umherirrten oder hilflos in Grüppchen beieinander saßen. Monas selbstdunkelnde Brillengläser waren in Sekundenbruchteilen fast schwarz geworden. Das weckte bei dem Polizisten anscheinend eine Art Blindenreflex. Er packte sie am Ellenbogen und sagte unnötig laut: „Hier entlang bitte!“

Quer über die gläserne Tanzfläche, vorbei an futuristisch gestylten Bars, den Ringermatten und Liebesschaukeln gelangte Mona zum hinteren Bereich.

„In einem der Spielzimmer, den Playrooms, wie die das nennen, ist ein ungewöhnlicher Mord passiert“, sagte der Kriminalbeamte aufgeregt.

Schon klar, dachte sich Mona. Für einen gewöhnlichen Mord hätte man mich ja auch nicht aus dem Urlaub geholt.Dochsie verkniff sich den Kommentar. Auch hatte sie keine Lust, den Beamten über ihren korrekten Dienstgrad und ihre Funktion als Sonderermittlerin des BKA aufzuklären. Die abgehobene Art, mit der das BKA zuweilen an Tatorten auftauchte und den normalen Kriminalbeamten ihre Fälle wegschnappte, war nicht ihr Ding. Monas frühere Jahre beim LKA Leipzig, Dezernat für Personendelikte, hatten sie dahingehend sehr geprägt.

Das kurze Aufstieben des Talkums beim Überstreifen der Latexhandschuhe stimmte Mona auf das ein, was sie erwartete. Niemanden wunderte die angeödete Miene, mit der sie ihrer Kollegin von der Spurensicherung hinterherschlurfte.

„Die Alte hat dich bestimmt höchstpersönlich aus’m Bettchen jetrommelt, richtig? Ick hab schon jehört. Tut mir leid! Bist eben det Ass im Ärmel, weeßte ja!“, berlinerte Tina Schliebe hinter ihrem Mundschutz. Deren weiße Ganzkörperkombi aus Spezialpapier weckte in Mona plötzlich äußerst seltsame Assoziationen.

Trotz des dienstlichen Autoritätsgefälles war zwischen Mona und Tina mit den Jahren der Zusammenarbeit eine angenehme Vertrautheit entstanden. Zwei Frauen in den besten Jahren, beide geschieden, beide beschädigte Ware.

Stechende Schmerzen hämmerten in Monas Kopf, als ihr plötzlich ein Licht aufging: Hier waren René und sie diese Nacht gewesen. Im „KINK KLUB“, Berlins schickster Swinger-Disko.

3

19. Juni, zeitgleich, selber Ort

Während ich noch an der Frozen Margarita nippte, die mir serviert wurde, kurz bevor ein entsetzlicher Schrei den bunten Trubel gerinnen ließ und das pure Chaos entfachte, beobachtete ich fasziniert, was kaltes Neonlicht alles anzurichten im Stande war. Eben noch verzauberte die exquisit choreografierte Licht-Show das Auge und machte aus Krethi und Plethi in ihren Latex-und Lederverkleidungen laszive Kunstfiguren, da war auch schon Schluss mit lustig. Das große weiße Licht ging an und ließ jede Illusion zerplatzen.

Mein Cocktail war halb leer, das crushed Eis fast geschmolzen. Mordermittler und Polizisten hatten alle Hände voll zu tun, Absperrungen anzubringen, Spuren zu sichern, die schockierte Menschheit irgendwie zu beruhigen und gleichzeitig mit den ersten Befragungen zu beginnen. Da erschien sie endlich. Mein Star! Donnerwetter, es hatte tatsächlich geklappt. Hätte ich nur einen einzigen Fehler begangen, sie wäre jetzt nicht hier. Ich genoss meinen Triumph.

In ihrem weiten Burberry Mantel auf charmante Weise unglamourös, sah die zierliche Person mit der schwarzen Pagenfrisur selbst unter diesen Umständen fantastisch aus. Zuerst von Kriminalbeamten in Empfang genommen, trabte sie einem weißgekleideten Neutrum von der Spurensicherung hinterher.

Auf diese Frau hatte ich sehnsüchtig gewartet: Mona Katz!

Nur für sie hatte ich mich das erste Mal aus der gewohnten Deckung direkt in die Gefahrenzone begeben. Allein der Gedanke, der erste und einzig wissende Zuschauer des ganzen Spektakels zu sein, bereitete mir höllischen Spaß. Alles war inszeniert. Ich bedauerte zwar ein wenig, dass durch mich ihre so vielversprechende sexuelle Eskapade heute Nacht derart abrupt endete. Noch mehr aber tat mir Leid, nicht miterleben zu dürfen, wenn die kleine Katz gleich erkannte, wen ich allein für sie zur menschlichen Zeitschaltuhr umfunktioniert hatte.

Wie ein Regisseur der amerikanischen Schauspielkunst, dem berühmten „Method Acting“, wollte ich meine Hauptdarstellerin ganz langsam an ihren persönlichen Abgrund führen und dann kalt ins Spiel stoßen. Ohne Text, ohne Netz und doppelten Boden.

Soeben konnte ich deutlich beobachten, wie meiner kleinen Mona der erste Schreck durch die Glieder fuhr. Fast war ich geneigt, ihr zu applaudieren. Sie war einfach grandios! Die Panik, welche Mona Katz für ein paar Sekunden schutzlos wirken ließ, wich als sie realisiert haben musste, dass ihr eigenes Gesicht bei jetziger Lage die beste Tarnung war. Nicht ahnen konnte sie hingegen, dass auch ich das wusste.

Spannend und höchst amüsant, dass selbst für mich ein winzig kleiner Auftritt im Rampenlicht abgefallen war: Die Polizeibefragung.

Meine gefälschte spanische Identitätskarte, dazu mein aufgeregtes Spanisch; kein Mensch zweifelte daran, dass ich tatsächlich „solo por dos dias aqui“ in Berlin war. Allerdings konnte ich es mir dann doch nicht verkneifen, mit Händen und Füssen Richtung Bar zu zeigen. Und tatsächlich: Nach meinem „Mujer en rojo...Si, a Lady in red“, begann das Mädchen hinter dem Tresen zu erzählen. Schon rückte meine kleine verkleidete Heldin nebst ihrem Galan in den Fokus der Ermittlungen. Mich ließ man nach Aufnahme meiner Personalien gehen.

Schließlich hatte ich noch einen speziellen Lieferservice zu erledigen. Verderbliche Ware. Und so, wie ich momentan aussah, sollte ich mich zumindest umziehen und ein klein wenig frischmachen.

4

19. Juni, KINK KLUB, Sado-Kammer, 5.55 Uhr

„Kommen Sie, Katz! Nichts liegt mir ferner, als Ihnen einen guten Morgen zu wünschen, oder mich dafür zu entschuldigen, Sie hergeholt zu haben. Schauen Sie gleich selbst.“

Wie eine königliche Herrscherin scheuchte Margit Aluba, ihres Zeichens Chefin der BKA-Außenstelle Berlin, durch mehrfaches lautes Händeklatschen fast die gesamte Crew aus dem unmittelbaren Tatortbereich und hob für Mona und Tina das Absperrband. „Sehen Sie sich um! Sie schaffen das bis 9:00 Uhr?“

Alubas Fragen, stets nur als Imperativ in den Raum geworfen, duldeten weder ein Nein noch sonstigen Widerspruch. „Das Protokoll liegt 9:00 Uhr auf meinem Tisch, damit ich es vor dem Meeting noch lesen kann. Katz, das wird Ihr Fall. Ich wollte vorhin am Telefon noch nichts sagen. Allem Eindruck nach, gab EL IBERICO diese Nacht sein Berlin-Gastspiel. Sie wissen, von wem ich spreche?“

„Selbstverständlich, Chefin! Jeder Absolvent in Forensischer Psychologie zwischen Berlin und Alaska kennt ihn. Der Typ trägt diesen Namen ja nicht umsonst. Wie die spanischen Iberico-Schweine bei der Nahrung, hat er es auf ein gleichnamiges Körperteil abgesehen: Eicheln. Anfangs glaubte man an eine Mordserie im Schwulen-Milieu. Ich persönlich hielt Iberico, wie er vom FBI getauft wurde, eher für ein Phantom.“

„Na dann warten Sie mal ab, Katz! In ein paar Sekunden kräuseln sich Ihnen vielleicht die Nackenhaare. Mir ist übrigens bekannt, dass sein putziger Spitzname, bevor ihn das FBI benutzte, ursprünglich auf Ihrem Mist gewachsen war. EL IBERICO, so lautete doch Ihr Abschlussthema, richtig? Immerhin haben Sie Ihre elfwöchige Spezialausbildung in den Staaten mit NoteEins beendet.“

„Eins PLUS, Chefin! Abgesehen davon, dass ich denen den Gag mit den Eicheln erst umständlich erklären musste, weil der im Englischen natürlich so nicht funktioniert. Dem FBI schien meine Arbeit nicht viel gebracht zu haben, wenn der Typ noch immer frei rumläuft.“

„Eben. Am liebsten wäre mir natürlich, wir hätten es da drinnen mit dem Werk eines Trittbrettfahrers zu tun.“

Aluba wandte sich ab und trat im Gang auf eine elegante Rothaarige zu, die dort schon ungeduldig wartete. Dem Habitus und dem teuren Outfit nach, die Betreiberin des Kink Klubs.

„Wenn Sie uns dann bitte noch das Videoüberwachungsmaterial der vergangenen 48 Stunden aushändigen könnten, wäre das vorerst alles!“

Dass „Die Alte“, wie man Aluba intern auch respektvoll nannte, höchst selbst erschienen war, passierte nicht alle Tage und versetzte Mona in ein Gefühl, wie kurz vor ihrem ersten Sprung vom Zehnmeterbrett.

Tatort mit erheblicher Blutmenge. Diese nüchterne Mitteilung löste seitens der Einsatzleitung automatisch die Bereitstellung eines Arsenals professionellen Equipments aus. Dazu zählten unter anderem Edelstahl-Trittflächen. Fünfzig mal fünfzig Zentimeter, mit geriffelter Oberfläche und vier kleinen Füßchen. Schon beim ersten Blick in den Raum, in dem das Verbrechen verübt worden war, empfand Mona eine tiefe Dankbarkeit für diese scheinbar so simplen Hilfsmittel.

Vier schmerzhaft grelle Flutlampen hatten alles Rot in dem kleinen Playroom aufgesogen und dem Auge nur ein ekelerregendes, dumpfes Spektrum aus schmutzigen Brauntönen und Schwarz übriggelassen. Schlimmer aber waren die entstandene Hitze und der Blutgestank, jener typische Dunst nach dem signifikanten Aldehyd namens trans-4,5-Epoxy-(E)-2-Decenal. Der hing in der Luft wie dicker Leim. Mona kannte den üblen eisenartigen Mief wie die vielen anderen Gerüche an Tatorten und bereitete sich innerlich darauf vor, gleich über Blut hinweg zu waten. Sie wechselte auf ihre Brille mit Klarglas,schloss die Augen, beruhigte den Atem, zog das altmodische Diktiergerät aus der Tasche und drückte auf START.

„Sonderbericht 44 BKA Berlin römisch Drei – Schrägstrich – Katz – Komma – Mona – Schrägstrich – 19.06. – 6 Uhr 50 – Absatz – Betreff: Mord KINK KLUB – Punkt – Auffindesituation-Stop.“

Mona näherte sich Tatorten grundsätzlich im Weitwinkelblick. Ohne sich zu früh zu fokussieren, erfasste sie blitzschnell entscheidende Unschärfen, die sich im späteren Ermittlungsverlauf oft als ausschlaggebend erwiesen. Ihre Gabe, in der Aura eines Tatortes lesen zu können, hatte Mona über Jahre bis zur Perfektion entwickelt. Sie musste sich dazu nicht in ausgeschachtete Gräber oder die Betten der Ermordeten legen. Genau hinschauen, riechen und spüren. Darin war Mona Meisterin.

Ganz kurz verfing sich Mona in den Augen einer Frau, die draußen auf einem Stuhl saß. Ihre Blicke kreuzten sich wie die zweier Duellantinnen. Die Dame stand sichtlich unter Schock, während einer der Beamten sie behutsam zu befragen versuchte. Füße und Kleidung voller Blut, musste sie es gewesen sein, die im Gang auf der riesigen roten Lache ausgerutscht war und mit ihrem Schrei alle alarmiert hatte.

Während Monas visuelles Gedächtnis noch erfolglos die abgespeicherten Eindrücke der zurückliegenden Nacht nach dem Gesicht oder dem Outfit der Frau absuchte, verscheuchte Monas innere Stimme das ungute Gefühl und forderte volle professionelle Konzentration ein. START.

„Größe des Raumes zirka zwanzig Quadratmeter – Komma – fünf mal vier Meter – Punkt. Höhe zirka zweimeterfünfzig – Punkt. Boden – Komma – Wände und Decke rot gefliest – Punkt. Spiegel mittig an Wänden und Decke jeweils zirka zwei auf zwei Meter – Punkt. Der Tote ist mittels Hand – Bindestrich – und Fußfesseln an ein großes als X aufgebautes Holzkreuz geschnallt- Punkt. Art und Weise der Fixierung und Fesselung des Opfers lassen auf eine einvernehmliche Bondage-Session zwischen Täter und Opfer schließen – Punkt. Die Leiche ist unbekleidet und trägt einen schwarzen Ledersack über dem Kopf – Punkt. Keine Kampfspuren an Körper und Tatort“

Den jeweils ersten Teil ihrer Tatortimpressionen begann Mona stets im Sprachstil einer Pathologin. Sie sezierte die vorgefundene Räumlichkeit nüchtern und rein nach optischen Gesichtspunkten. Das war ihre Art, sich in die Szenerie einzukitschen, wie sie das nannte. Kaum spürbar wechselte Monas Sprechweise irgendwann auf fließend. Es wurde um sie herum dann ganz still und der Tatort schien mit einem Mal aus Mona heraus zu erzählen.

Ganz sacht von der Seite, fast, als wolle sie den Toten erschrecken, näherte sich Mona dem bizarren Kreuzigungsschauplatz und zog dem armen Kerl mit einem Ruck den Ledersack vom Kopf.

Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit! Ihr Herz setzte einen Moment aus. Der Tote am Kreuz war die unansehnliche männliche Vogelscheuche. Er, der sie an der Bar so plump angebaggert hatte. Über Mund und Wangen klebte schwarzes Plastikband. Die vormals aufgedunsene Haut war faltig, blutleer und fahl. Immer noch das selbe dämliche Gesicht, aus dem die aufgerissenen, erloschenen Augen abwärts zu starren schienen und Monas Blick gleichfalls dahin lenkten, woher sein ganzes Blut zuerst sicher geschossen, dann geronnen und zuletzt wohl nur mehr getropft sein musste.

„Kiek dir doch det bloß mal an! Sein bestes Stück ist ihm jeköpftworden!“, platzte Tina in ihrer schnodderigen Berliner Art heraus, bevor Mona diese Tatsache für ihr Protokoll in etwas seriösere Worte zu kleiden vermochte. Ihr war nun auch klar, was Aluba mit „allem Anschein nach“ meinte.

„Richtig, Tina, man könnte das so nennen!“, ranzte Mona sie an. „Und...?“

Zwei Halswirbelsäulen beugten sich synchron nach vorn, dann nach links und rechts. Bis auf ein schwarzes Hüfttuch und Ledersandaletten Größe 45, die schon in Asservatenbeuteln steckten, gab es von dem Toten nur jede Menge Blut. Von der abgetrennten Eichel fehlte jede Spur. Mona diktierte weiter.

„Das unbekannte Opfer, ein Mann von durchschnittlicher, untersetzter Statur, Alter zirka Mitte Vierzig, musste zum Zeitpunkt seiner Ermordung sexuell stark erregt gewesen sein. Anders wäre die Präzision des Schnittes, der zur Abtrennung der Eichel führte, nicht realisierbar gewesen. Der extreme Blutverlust führte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod des Opfers herbei. Tatzeitpunkt nach 2.15 Uhr nachts. Stop.“

Schon als Mona diesen Satz fertig gesprochen hatte, wusste sie, dass ihr ein gefährlicher Lapsus unterlaufen war. Um genau 2:15 Uhr hatten René und sie den Club verlassen und saßen in Renés pompöser Limousine Richtung Halensee. Da zumindest zappelte der Kerl hier noch. Aber wem wollte sie das erklären, ohne sich einer Flut dummer Fragen auszusetzen und schlussendlich gar noch selbst zu belasten?

Gut, dass Tina die Spurensicherung noch nicht beendet hatte und ihre Aufmerksamkeit weniger Monas Worten, als vielmehr der kunstvollen Fesselung widmete.

Ihrem ersten Impuls folgend, stellte sich Mona seitlich neben den Toten und führte verschiedene Bewegungen aus, die Tat zu simulieren. START.

„Tatwerkzeug war vermutlichein sehr langes, sehr scharfes Messer, oder ein Schwert. Ob wir es bei dem Täter mit einem Rechts-oder Linkshänder zu tun haben, wird die spätere Untersuchung klären.“

Damit schien sich die Handschrift von Iberico auf den ersten Eindruck tatsächlich zu bestätigen. Noch nie, so erinnerte sich Mona, wurde eine seiner Trophäen wiedergefunden. Ein Sammler. Es gab aber auch eine Theorie, wonach bei Verbrechern dieser Couleur Kannibalismus nicht auszuschließen war.

Monas Nerven waren zum Bersten gespannt. Ähnlich musste es einem Kunstsammler gehen, dem man auf dem Trödelmarkt ein altes Bild anzudrehen versuchte. Was anfangs wie eine mittelmäßige Kopie aussah, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen mehr und mehr als Original.

Bevor Mona weiter diktieren konnte, riss das Blitzlicht von Tinas Kamera sie aus ihren Gedanken.

„Jetzt brat mir eener `n Storch, ick fass et nich! Mona, komm und kiek dir det jetz mal an! Hier hat uns eener een Souvenir hinterlassen. Und wenn mir nich allet täuscht, sojar janz absichtlich!“Tina hielt Mona das schwarze Plastikband vor die Augen, welches sie soeben vom Mund des Opfers entfernt hatte und drehte es mit der Klebefläche zu ihr. Wie eine Wellenlinie haftete daran ein langes, schwarzes Haar, das unmöglich von dem ausgebluteten Kahlschädel stammen konnte. Sie verfrachtete den derben Kunststoffstreifen samt daran klebendem Haar in ein Plastiktütchen zur Beweismittelsicherung.

Mona fuhr eine heiße Woge in den Solarplexus. Das Haar!Sein Wasserzeichen! Sofort flogen tausend Ängste hinter ihrer Stirn hoch wie schwarzes Laub. Wenn sie sich richtig erinnerte, war der schweigsame Muskelprotz mit dem polnischen Akzent, der sie und René als Bodyguard begleitet hatte, ein schwarzhaariger Mann, dessen lange Mähne zu einem Zopf gefasst war. Aber auch René war schwarzhaarig. Er und Mona kannten sich gerade knapp eine Woche. Keine Fragen zum Leben des anderen, so lautete die Abmachung. Monas Puls raste.Jeder Schritt, jedes Wort wollten ab sofort gut überlegt sein. Immerhin war sie eine der letzten, die das Opfer lebend gesehen und gesprochen hatten. Sollte Mona wirklich so naiv und blind gewesen sein, dass es gelungen war, sie in eine Falle zu locken, damit sie am Ende das perfekte Alibi für ein bizarres Mordkomplott gab?

Allein schon bei der Vorstellung, dass sie vielleicht mit einem Massenmörder tagelang Sex gehabt hatte, zog sich Monas Unterleib schmerzhaft zusammen.

Was sich den beiden Frauen dann offenbarte, übertraf alles. Dem Opfer waren Mund und Wangen nicht vor seinem Tod mit dem Tape verklebt worden, sondern erst einige Zeit danach. Vorher hatte ihm der Täter die Lippen mit rotem Synthetik-Garn vernäht. Zwei große Stiche in Form einer zum Ohr zeigenden Pfeilspitze zogen den linken Mundwinkel zu einem üblen Grinsen hoch. Elf weitere bildeten ein Zeichen, welches Mona auf Anhieb wiedererkannte. „XUI“. Ein rätselhaftes Wort oder Symbol, dessen Herkunft oder Bedeutung seltsamerweise bisher noch niemand eindeutig klären konnte. Zwei Rotbäckchen, dem ersten Anschein nach mit Nagellack aufgetragen, machten das makabre Bild komplett. Ibericos Werk. Dessen war sich Mona zu 100 Prozent sicher.

„Was geht bloß im Kopf eines Menschen vor, der jemanden auf so bestialische Weise abschlachtet? Der sich in aller Seelenruhe anschaut, wie sein Opfer ausblutet, um ihm dann zu guter Letzt auch noch so eine Grimasse zu verpassen?“

„Richtich!“, spann Tina Monas Faden weiter. „Vor allem, wie kommt so eener hier unbemerkt raus? Ick meene, der muss doch ausjesehn ham wie Sau! Det hat doch keen Aas wat bemerkt, ehe die Olle von eben jeschrien hat!“

Mona blickte sich kurz um. Hinter der Tür stand ein Hygiene-Eimer aus Edelstahl. Über drei Trittinseln erreichte Mona die Ecke. Sie trat auf das Pedal, hob den weißen Plastikeinsatz heraus und begutachtete ihn. Der schmale braunrote Rand aus geronnenem Blut, in dem das weiße Eimerchen irgendwann zuvor gestanden haben musste, ließ Mona an das billige DDR-Geschirr in der Leipziger Polizeikantine denken. Wie so manches und mancher nach der Wende einfach im Bestand übernommen.

Ein Blick ins Innere des Behälters offenbarte die geniale, weil simple Lösung.

„Der Täter hat den Kunststoffeinsatz des Eimers so hingestellt oder gehalten, dass das Blut hineinlief. Wie beim Schlachter. Maximal drei bis vier Liter gehen da rein. Mehr war auch nicht zu erwarten, ehe die unbedingten Reflexe aussetzten und der Blutstrom versiegte. Schau dir den Blutsee mal genauer an!“Jetzt, wo Mona darauf hinwies, schien es Tina auch aufzufallen. „Und?“, fragte Mona ihre Kollegin. „Siehst du hier irgendwo Spritzspuren? So gleichmäßig, wie das Blut im Raum verteilt ist, hat der Mörder den Eimer selbst ausgegossen. Kurz bevor er den Raum verließ. Blut hat nach relativ kurzer Zeit ungefähr die gleiche Konsistenz wie Motorenöl und fließt langsamer als Wasser. Außerdem gerinnt ein Teil unterwegs. Ehe es an der Tür ankam und in den Gang austrat, war der Mörder längst weg.“

„Mona! Und der wusste ooch janz jenau, det ihn keener stört. Abjeseh’n davon, det man die Kammer von innen zusperren kann. Kiek mal det Schild: DO NOT DISTURB! Ha ha! Mona, det is mir ja echt een Scherzkeks!“

Mona schaltete ihr Diktiergerät aus. Es war die ganze Zeit über an gewesen und hatte die Gespräche der beiden Frauen aufgezeichnet. Sie drehte das rote Schildchen und betrachtete die andere, die grüne Seite. Auf der stand mit weißen Lettern „PLEASE CLEAN MY ROOM!“, und es entstammte nicht etwa dem Kink Klub, sondern dem Hotel Globe Berlin.

Die seltsamen Umstände wurden damit um eine weitere Facette reicher, die Mona schleunigst und unauffällig, vor allem aber selbst ergründen musste, ehe es ein anderer vor ihr tat.

Um Privates und Beruf strikt zu trennen, pflegte Mona mit ihren Kurzaffären nämlich nachts in Hotels einzuchecken. Die erste Nacht mit René hatte sie im Hotel Globe verbracht.

„Hotel Globe?Das liegt auf dem Weg. Ich übernehme den Part. Gib her das Tütchen mit dem Schild! Die Gerichtsmedizin trifft zwar gleich ein, aber bis zur Abholung der Asservate dürfte es sicher noch etwas dauern.“

„Det wird ooch eher wie een Umzugstransport aussehn!“

Aluba blickte verstört um die Ecke und schüttelte den Kopf. Offenbar konnte sie mit dem trockenen Scherz ihrer Damen nichts anfangen und fand das ihm folgende Gegacker demzufolge auch mehr als unpassend.

5

Berlin, 19. Juni, 8:05 Uhr

„Warten Sie nicht auf mich, ich rufe mir nachher ein Taxi!“, wies Mona den Fahrer an und eilte durch die selbstöffnende Glastür des Hotel Globe. Dort hob Herr Martin in seiner eleganten Doorman-Livree den samtbezogenen, bordeauxfarbigen Zylinder und empfing Mona mit einem breiten Lächeln. Er erkannte sie sofort wieder.

Natürlich hatte Mona vor Tagen beim Tête-à-tête mit René den Räumlichkeiten des Hotels keine Aufmerksamkeit geschenkt. Umso überraschter blickte sie sich nun um.

Während Architekten und Innenausstatter in Hotels überall auf der Welt ihr Bestes gaben, den Empfangsbereichen Gediegenheit und Ruhe zu verleihen, schien es ihr, als hätten sich in dem Vier-Sterne-Hotel nahe dem Lützow-Viertel ein Farbenblinder und ein Taubstummer ausgetobt. Nichts passte recht zueinander und jedes Geräusch wurde durch die übermäßige Verwendung von Glas, Marmor und Chrom bis fast in den Schmerzbereich verstärkt. Die Krönung allerdings war der Springbrunnen links neben der gläsernen Eingangsfront: Zwei bronzene Flamingo-Mutationen entließen je einen harntreibenden Wasserstrahl. Wenn das den ganzen Tag so geht, dachte Mona und sah sich vorsorglich nach einem WC um.

„Wunderschönen guten Morgen! Kann ich etwas für Sie tun?“, hallte es so laut in das Rund der säulenumstellten Kuppelhalle, dass Mona zusammenzuckte.

Noch nie war Mona die Diskrepanz zwischen den Worten, dem Gesichtsausdruck und der Körpersprache einer Person so aufgefallen wie bei dieser Rezeptionistin Namens Frau Ratt. Mit ihren kleinen, filigranen Fingern grapschte sie sich Monas Dienstausweis, um ihr Gegenüber dann aus grauen, verschlagenen Augen derartig feindselig anzustarren, als wären sie beide sich zu einer früheren Inkarnation in Tiergestalt schon einmal begegnet. Als Katz und Ratt.

„Guten Morgen, ich würde gern...“ Weiter kam Mona nicht.

„Aaah, Frau Katz! Unsere Empfangsdirektorin Frau Hauff erwartet Sie bereits! Wenn Sie bitte so freundlich wären, dort auf den Knopf zu drücken und sich dann einen Moment zu gedulden! Vielen Dank!“

Erleichtert wandte Mona sich ab und tastete sacht auf dem wuchtigen Marmortresen entlang. Während die Kühle unter Monas linker Handfläche wohltuend half, das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren, fühlte sie in den Kniekehlen wie der stechende Blick von Frau Ratt sie bis zum Türöffner verfolgte. Unverschämte Person!

6

Berlin, 19. Juni, 8:12 Uhr, Hotel Globe,

Schließfach-Raum

„Du liebe Güte, wo haben Sie das denn her?“

Vor Mona stand die mondäne Ausgabe einer Frau, von der man jede Sekunde erwarten durfte, dass sie beim Durchschreiten des Vorraums in Richtung ihres Büros komplett die Farbe wechseln würde. So sehr erinnerte ihr Profil Mona an eine dieser exotischen Echsen und so sehr passten ihr gesamtes Outfit, die Haarfarbe, Make-up, Lippenstift und Nagellack zum Interieur des Raumes, in dem Frau Hauff sie fast überschwänglich begrüßt hatte. Doch die Dame war alles andere als ein Chamäleon. Sie färbte sich nicht von Bordeauxrot auf Lindgrün und machte auch sonst nicht den Eindruck, sich irgendwem anzupassen, der ihr nicht passte.

„Ich kann Ihnen nur insofern weiterhelfen, als dass das Schild, welches Sie mir mitgebracht haben, aus einer ganz anderen Epoche stammt! Dieses Hotel wechselte vor drei Monaten die Eigentümer. Wir gehören seit dem einer großen skandinavischen Hotelkette an. Früher...“

Mona unterbrach Frau Hauff, ehe sie im Überschwang der Schilderung jener Epochenwende, der sie in der (erdgeschichtlich betrachtet) recht kurzen Zeit von drei Monaten mit Sicherheit auch ihren Karrieresprung zu verdanken hatte, noch weiter ausholen konnte und kam zum Kern ihres Anliegens zurück.

„Frau Hauff, Sie sagten mir vorhin am Telefon, dass Sie schon lange Jahre im Hotel Globe tätig sind. Ich wüsste gern, ob Ihnen ganz spontan zu diesem Schild etwas einfällt, das uns vielleicht weiterhelfen könnte!“

Frau Hauff verstand und wurde sofort knapp.„Zimmer 111, Prinzensuite. Schräg über uns. Da wohnen oft Prominente, die es zu schätzen wissen, dass unser Hotel nicht so im Fokus der Paparazzi steht. Jede unserer Suiten hat eine individuelle Note. Bis hin zu solchen Details. Aber was soll Ihre Frage? Es wird immer Gäste geben, die Gegenstände aus Hotels als Souvenir mitgehen lassen. Das ist doch eine Lappalie. Hach, wenn Sie wüssten...!“

„Nun, wegen einer Lappalie bin ich auch nicht bei Ihnen“, erinnerte Mona die Empfangschefin. „Wir ermitteln in einem Mordfall. Sicher wäre es aufschlussreich zu erfahren, wie und warum der Täter ausgerechnet so ein Schild Ihres Hauses am Tatort hinterließ, finden Sie nicht?“

Frau Hauff blickte mehrmals an Mona auf und ab, griff nach einem der Hochglanzmagazine von ihrem Tisch und fächerte sich damit Luft zu, obwohl es alles andere als heiß war.

Um die Blasiertheit der Dame vis-à-vis etwas aufzubrechen, tippte Mona auf ihrem Smartphone in rascher Folge einige Aufnahmen des Mordopfers aus dem Kink Klub an. Das erste Bild zeigte nur die Partie mit Augen und Nase. Das zweite dann das volle Porträt mit dem entstellten Mund und auf Foto Nummer drei den Toten am Kreuz. Von Kopf bis Fuß. „Ist Ihnen dieser Mann zu seinen Lebzeiten schon einmal begegnet?“

Endlich kam Farbe ins Spiel! Die wenigen unbemalten Gesichtsteile der Empfangschefin wechselten von Blassrosa auf Kreideweiß. Hals und Dekolleté bekamen hektische rote Flecke. Sie ließ sich in ihren wuchtigen Schreibtischsessel fallen, japste nach Luft und blickte zur riesigen, von der Hotelseite aus verspiegelten Glasfront, als könnten von dort jeden Moment Schüsse einschlagen.„Oooh ja! Und ob!“

7

Berlin-Halensee, 19. Juni, 8:20 Uhr,

„Sie kommen aber früh! Ich bin noch allein im Geschäft. Der Chef kommt erst später. Stellen Sie trotzdem alles einfach hinten in der Backstube ab!“, rief mir eine derbe Frauenstimme durch das halboffene Fenster meines Lieferwagens zu, als ich vor der Ladentür Westfälische Straße 36 in der zweiten Spur mit laufendem Motor und Doppelblinker kurzparkte.

Welch eine Begrüßung,dachte ich im Stillen und verkniff mir ein Grinsen. Tarnung perfekt: Blaumann, Schirmmütze und rötlicher Schnauzbart. Und ich wusste, dass ich mich sehr wohl im absolut richtigen Zeitfenster befand. Beschleunigten Schrittes hob ich den quadratischen Pappkarton aus dem Ladebereich meines Renault und eilte in die geöffnete Tür der BOULANGERIE TATÌN, Berlins führender Edelbäckerei, von der es bis nach draußen herrlich nach Kaffee, Quiche und Baguette duftete und deren Einrichtung so viel französische Patina besaß, dass man sich fast in Paris wähnte.

Ach ja...Paris! Im Juni vor zwei Jahren hatte ich mir dort als Pizzabote Zutritt zur Bude so eines Dreckschweines verschafft. Seine Alte fraß das Zarteste vom Dödel ihres Mannes in hauchdünnen, kross gegrillten Scheiben auf ihrer Gyros-Pizza.

Kostbare Sekunden vergingen, als mir die üppige Verkäuferin im Weg stand. Iwanka, so verriet ihr Namensschild, verabschiedete gerade frostig eine elegante Blondine. Beide tauschten dabei einen typischen Blick aus. Den, wenn zwei Frauen genau wissen, dass sie mit der anderen ein dunklesGeheimnis teilen. Das der wirklichen Farbe ihrer Haaransätze.

Iwankas kräftiger Arm dreschflegelte im Vorbeigehen kurz auf meine linke Schulter nieder, was wohl ihr Gruß war, und brachte damit meine kostbare Lieferung fast in Gefahr. Ihr kurzes Haar, mit zwei Klemmen unter dem frisch gestärkten Bäckerschiffchen festgesteckt, und dann diese Stimme...! Also, wenn da nicht ihr mächtiger Busen gewesen wäre, allein wegen dieser ungewöhnlichen Stimme, hätte man die stämmige Bäckersfrau wahrhaftig für alles Mögliche halten können.

Hinten in der Backstube steuerte ich sofort zum Teigposten und dort auf einen der rot mit GS gekennzeichneten großen dreirädrigen Teigkessel zu, in dem abgedeckt der junge Grundsauer für die Roggenbrotherstellung ruhte. Nebenan bei den Konditoren herrschte derweil emsiges Treiben. Zu meinem Glück beachtete keiner in dem halbhoch verglasten Produktionsbereich, was ich tat.

Die Hände in Latexhandschuhen hoben vorsichtig den Deckel vom Karton und öffneten flink die Stoffabdeckung des Teigbehälters bis knapp zur Hälfte. Warmer Dunst, stechend und säuerlich, schlug mir aus dem Kesselinneren entgegen. Mein Puls schoss auf Hundertachtzig. Aus dem schwarzen Plastiksack war durch das ungeschickte Hin und Her von eben ein schmaler Faden an flüssigem Rot gedrungen, das man in Anbetracht dessen, wo ich mich gerade befand, gut für Lebensmittelfarbe hätte halten können. Doch das rundliche Etwas, um dessen Willen ich all die präzisen Vorbereitungen getroffen hatte, das einen Tag und die halbe Nacht bei guter Kühlung geduldig in meinem Lieferwagen auf mich und diesen Moment gewartet hatte, war ja auch keine Überraschungstorte!

Froh und erleichtert, dass mich in Sachen Blut-und Restflüssigkeitsaustritt ein so reicher Erfahrungsschatz begleitete, blickte ich zum Abschied noch einige Sekunden in zwei erschrockene, glanzlose, weil für immer erloschene Augen, raffte das lange schwarze Haar und ließ den Kopf meiner verräterischen Freundin aus Kindertagen beidhändig ganz vorsichtig in den Kessel gleiten, bis er im grauem Morast des sauren Teiges komplett versunken war.

8

Berlin, 19. Juni, zur selben Zeit,

Hotel Globe, Rezeption

Nun war es also raus. Mona blickte in Frau Hauffs Augen und war baff. In sehr ausschweifenden, an ihre Diskretion appellierenden Worten erzählte die Empfangsdirektorin Wesentliches zur Identität des Toten und dessen Wirken im Hotel. Dieses Mal unterbrach Mona Frau Hauff allerdings nicht. Jede Einzelheit konnte von Bedeutung sein.

Beim Ermordeten handelte es sich um den Logis-Direktor des Hauses. Herr Grader, so sein Name, schien während seiner beruflichen Funktion als Verantwortlicher für die Beherbergungsleistung, zahlreiche Affären mit Hühnern aus dem eigenen Stall gehabt zu haben. Auf diese Art habe er zum beruflichen Vorankommen besonders talentierter Mitarbeiterinnen beigetragen, wusste Frau Hauff süffisant zu berichten.

Sein Konterfei auf der aktuellen Titelseite des Hochglanzmagazins, in welchem sich das Haus vierteljährlich selbst feierte, ließ in Mona die unappetitlichsten Momente der vergangenen Nacht erneut aufleben. Dabei überfiel sie das schiere Mitleid mit all jenen, die sich – für welchen Vorteil auch immer – von diesem Ekel hatten anfassen lassen.

„Schon seltsam, Frau Katz, unsere Zeitung ist fast wie von einem Fluch verfolgt und wird intern schon als Vertriebenen-Blatt verspöttelt. Noch jeder, der darin besondere Würdigung erfuhr, war bei Erscheinen oder kurz danach bei uns nicht mehr an Bord!“, flüsterte Frau Hauff mit konspirativer Miene und schob das Magazin zu Mona quer über den Tisch.

„Sehr aufschlussreich! Könnte man also davon ausgehen, dass der Mann etliche Feinde in seinem Umfeld hatte?“

„Etliche?“ Frau Hauff kicherte. „Meine Liebe, wir sprechen hier gewiss von dreistelligen Zahlen!“

Mona hasste es, wenn jemand in diesem Tonfall „Meine Liebe“ zu ihr sagte. Sie beobachtete Frau Hauffs Reaktionen. Fast konnte man eine stille Genugtuung in Frau Hauffs Mundwinkeln ablesen. Bestürzung jedenfalls sah anders aus.

Na großartig, dachte Mona, genau, was ich brauche! Obwohl die Identität des Ermordeten schneller als erwartet feststand, stieg in Mona der Unmut, ihre kostbare Zeit im öden Geflecht aus Missgunst, Rache und Machenschaften zu verplempern. Fehlte bloß noch die eifersüchtige Gattin. Aluba sollte diesen Fall einfach an das LKA zurückgeben und fertig.

„Ob Sie mich abschließend bitte noch zum Büro des Ermordeten begleiten würden, Frau Hauff?“

Ein Blick in das pedantisch aufgeräumte Büro genügte und Monas Interesse an diesem Fall tendierte schlagartig gegen Null.So kam es, dass plötzlich etwas anderes Monas Aufmerksamkeit fesselte: Ihr privates Prepaid-Handy vibrierte. Gewiss zum zehnten Mal an diesem Morgen. Es war Master René.

Seit ihrer Scheidung von Leo Katz gab es für Mona drei Grundsätze: Erstens Beruf und Privates strikt trennen und zweitens nie wieder was mit einem Polizisten anfangen. Mona liebte ihren Job. Doch der Stress und das unregelmäßige Leben waren Gift für jede Beziehung. Fastfood und schneller Sex standen auf der Tages-und Nachtordnung. Verspürte Mona doch einmal Lust, aus einem One-Night-Stand eine längere Affäre zu machen, gab sie die Nummer eines frischen Prepaid-Handys weiter. Affäre und Chip ließen sich problemlos entsorgen, wenn es Zeit war. Letzteres war ihr dritter Grundsatz.

Mit René war es vom ersten Moment an außergewöhnlich. Er erbeutete Monas Blick auf einer Vernissage, während eine unangenehme Dame wiederholt Anlauf genommen hatte, ihr ein Gespräch aufzudrängen. Seit jenem Moment ließ er nicht mehr von ihr ab. Mona genoss das Spiel aus Jagd, Verführung und Unterwerfung. Endlich war da mal ein Mann, der wusste, wie man das Wort Dominanz richtig buchstabierte. René stammte aus Arles. Und es stellte sich im Laufe der Folgetage recht schnell heraus, dass er nicht nur wie ein französischer Gott kochte. In der knappen Woche, die sie sich kannten, öffnete er Monas Körper und Seele für sinnliche Genüsse und sexuelle Spielarten, von denen sie bisher nur gelesen oder gehört hatte. Nächtelang trieben sie es in seinem Paralleluniversum. Sollte dieser Mann, sie tatsächlich so hintergangen haben?

Reflexartig grubberte Mona in ihrer Tasche herum. Sie schob ein Dienstgespräch vor und bat Frau Hauff mit Ausnahme des Hoteldirektors vorerst niemanden über den Mord an ihrem Kollegen in Kenntnis zu setzen. Nach kurzer Verabschiedung begab sich Mona vor das Gebäude.

René hatte wiederholt versucht, Mona zu erreichen. Zuletzt von einem Festnetzanschluss. Die Mailbox meldete eine neue Nachricht. Eine Mischung aus Sehnsucht und Angst erfasste Mona. Die Stimmung schlug in blankes Entsetzen um, als Renés Stimme auf dem Anrufbeantworter zu ihr sprach. Worte, bei denen aus jeder Silbe Wut und Ratlosigkeit dampfte.

„Mona, ich weiß nicht recht, woran ich bei dir bin. Hinter mir liegen Stunden, in denen ich mich immer wieder fragte, was es zu bedeuten hat, dass du heute Nacht von einer dunklen Limousine mit Blaulicht abgeholt wurdest. Wer bist du?Und wo bin ich da hineingeraten? ...“

Fassungslos starrte Mona ihr Handy an, doch die Nachricht war noch nicht zu Ende. Sie nahm es erneut ans Ohr und hörte weiter, wie Renés Telefon auf etwas Hartes aufschlug. Dann vernahm man hastige Schritte, und auf einmal den Schrei einer Frau. Sie jaulte auf wie in Todesangst und das hörte auch nicht auf, als Renés entsetzte Stimme dazukam.„...Nein! Nicht doch! Mon Dieu! Bleiben Sie wo sie sind. Ich rufe die...“ Dann machte es „Piep!“

9

Berlin, 19. Juni, 9:05 Uhr, im Taxi Nr. 224

Mona fühlte sich hundeelend. War sie gerade dabei, den größten Fehler ihrer Laufbahn zu begehen? Sie wusste zwar nicht, was da geschehen war. Doch dafür wo und bei wem. Der Schlammassel durfte nur nicht noch schlimmer werden. Höchste Zeit, dass sie endlich Licht in die Sache brachte.

„Tach, die Dame! Wenn die Gnädige mir vielleicht sagen möchte, wo’s hingeh’n soll oder woll’n Sie sich hier drin nur bisschen aufwärmen? Mir egal. Das Taxameter läuft!“

Aufwärmen. Bei 23 Grad Außentemperatur. Das war wieder typisch Berlin. Direkt und schnörkellos. Als sich die 8,05 Euro auf der Fahrpreisanzeige in 8,30 Euro verwandelten, wurde Mona wieder bewusst, dass sie seit einiger Zeit wie ausgestopft auf dem Rücksitz eines Taxis saß. Der Chauffeur schien bereits ungeduldig zu werden. Also verwarf sie ihre Idee, direkt bei René vorzufahren.

„Ich sollte vielleicht ein paar Häuserecken vorher aussteigen, um zu Fuß die Lage zu sondieren. Ja, genau!“

„Na Gott sei dank keine Taubstumme!“, entfuhr es dem Robert-de-Niro-Verschnitt hinter dem Lenkrad als Antwort auf Monas halblautes Selbstgespräch. „Und? Wohin soll’s gehen?“

Bei 8,85 Euro hatte sich Mona entschieden: „Ku’Damm, Ecke Joachim-Friedrich-Straße...Bitte!“

Kaum war der cremefarbene Mercedes auf Höhe Wittenbergplatz, klingelte Monas Diensthandy. Aluba.

„Katz, egal, wo Sie sind. Wir haben beschissene Neuigkeiten. Vergessen Sie das Meeting und kommen Sie sofort her!“

Die Königin sagt immer WIR, wenn sie sich meint, ging Mona durch den Kopf, während sie nervös aus dem Fenster starrte. Vor ihrem Taxi hatte sich ein Stau gebildet. Aluba sprach weiter ohne Punkt und Komma.

„Es gibt ein zweites Opfer. Gleiches Souvenir wie bei dem Kerl von heute Morgen. Ich habe den LKA-Dorfsheriff und seine Pappnasen schon angewiesen, nichts anzufassen. Unsere Leute sind eben eingetroffen. Kommen Sie in die Westfälische Straße 36. Boulangerie Tatín. Und machen Sie hin! Ende.“

Das Smartphone in Monas Hand war plötzlich schwer wie ein Ziegelstein. Sie warf es links neben sich auf den Sitz, riss die rechte Fahrzeugtür auf und wäre um ein Haar samt Autotür von einem Doppelstockbus der Linie Nr. 100 erfasst worden. Bremsen quietschten, Menschen kreischten und ein ohrenbetäubendes Hupkonzert brach los. Mona schien von all dem nichts zu bemerken. Sie lehnte wie ein aufrecht gestellter Fisch rückwärts am Heck des Taxis und schnappte nach Luft.

„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?“, fluchte der Taxifahrer. Er rannte um sein Fahrzeug und man konnte ihm vom Gesicht ablesen, dass er Mona am liebsten eine geknallt hätte. Das übliche Beschwichtigungsritual zwischen Taxi-und Busfahrern beendete den Vorfall. Eingehängtes Lächeln, Augenrollen, Schulterzucken plus eindeutiger Fingergesten. Gott sei dank war nichts passiert. Der Taxifahrer packte Mona derb am Arm und stopfte sie wie eine bockige Göre zurück in seine Droschke. Wortlos, grußlos und ohne Dank für das üppige Trinkgeld, entließ der genervte Chauffeur Mona später an ihrem Ziel. Der Motor heulte kurz auf und schon beschleunigte Taxi 224 in Richtung Henrietten-Platz.

10

Berlin, 19. Juni, Boulangerie Tatín, 9:35 Uhr