So weit das Meer uns trennt - Britt Reißmann - E-Book

So weit das Meer uns trennt E-Book

Britt Reißmann

0,0

Beschreibung

Ein einfühlsamer Liebesroman, eine außergewöhnliche Geschichte. Es sollte einer der schönsten Tage ihres Lebens sein, doch der Heiratsantrag ihres Freundes Deniz stürzt Franca in tiefe Zweifel. Als sie überraschend ein Haus am Niederrhein erbt, nutzt sie die Chance auf eine Auszeit, um in der ländlichen Ruhe Antworten zu finden. Doch ein Verbrechen hat die liebenswert-skurrile Dorfgemeinschaft in Aufruhr versetzt. Und auch Francas Leben droht aus den Fugen zu geraten: Sie begegnet dem attraktiven Lars, über den es dunkle Gerüchte gibt. Denn Lars ist so charmant wie verwirrend – und bewahrt ein besonderes Geheimnis.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Britt Reißmann, geboren 1963 in Naumburg/Saale, war Intarsienschneiderin und Sängerin, bevor sie nach Baden-Württemberg kam. Seit 1999 arbeitet sie bei der Mordkommission Stuttgart. Sie veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Romane. Ihr Krimi »Der Traum vom Tod« wurde 2009 mit dem DELIA-Literaturpreis ausgezeichnet.

www.brittreissmann.de

Dieses Buch ist ein Roman. Teile der Handlung lehnen sich an die realen Ereignisse auf Giglio während und nach der Havarie eines Kreuzfahrtschiffes an. Alle anderen Handlungen und Personen sind frei erfunden.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Giacomo Scandroglio/Stockimo/Alamy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-738-5

Roman

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Für die Lebenden,

die übers Meer kamen.

Und die Toten,

Als die tyrrhenische Venus aus dem Meer stieg, lösten sich sieben Juwelen aus ihrer Krone und fielen ins Wasser. Aus ihnen entstanden die Inseln des toskanischen Archipels:

Elba, Giglio, Giannutri, Montecristo, Capraia, Pianosa und Gorgona.

Giglio, die zweitgrößte der Inseln, wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder von Piraten heimgesucht, die übers Meer kamen und Hunger und Armut brachten. Dennoch erblühte sie zu einem Paradies von ungewöhnlicher Schönheit.

frei nach einer italienischen Legende

Wer übers Meer kommt, kommt, um zu stehlen.

1

Nina

Das Wasser war nie mein Freund.

Wann immer in meinem Leben eine Katastrophe passierte, hatte sie mit Wasser zu tun. Im Grunde begann das schon in meiner Kindheit, aber die eigentliche Geschichte nimmt ihren Anfang an einem kalten Wintertag vor acht Jahren. Dem Tag, nach dem nichts mehr war wie zuvor. Dem Tag, als das Wasser zu meinem erbitterten Feind wurde.

Ich war zu dieser Zeit schon beinahe zwanzig Jahre lang verheiratet. Wir wohnten in München, hatten eine schöne Wohnung, ich mochte meine Arbeit und war im Großen und Ganzen zufrieden mit meinem Leben, als etwas passierte, das mich komplett aus der Bahn warf.

Karsten war auf einer Dienstreise, sein Architekturbüro hatte ihn zu »Klimahouse«, einer Fachmesse in Bozen, geschickt. Ich hatte seit seiner Abreise drei Tage zuvor nichts von ihm gehört, scheute mich aber noch, ihn auf dem Handy anzurufen. Ich wollte nicht nerven. Schließlich waren wir keine frisch verliebten Studenten mehr, und er hatte sicher viel zu tun.

Als endlich das Telefon klingelte, begann mein Herz vor Freunde zu rasen. Ich riss den Hörer ans Ohr.

»Karsten?«, rief ich. »Wie schön, dass du anrufst. Nicht dass ich darauf gewartet hätte.« Ich lachte. Doch es war nicht mein Mann, der mir antwortete.

Es habe ein Schiffsunglück gegeben, ein Kreuzfahrtschiff sei im Mittelmeer bei der Insel Giglio auf einen Felsen aufgelaufen, es gebe Tote, sagte eine Frau mit belegter Stimme.

Ich war verwirrt. Ja, ich hatte gestern von diesem schrecklichen Unglück in den Spätnachrichten gehört. Ja, viele Tote, ganz furchtbar, aber was hatte ich damit zu tun?

»Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann unter den Vermissten ist.«

Schweigen in der Leitung.

In meinen Ohren begann es zu summen. Karsten auf einem Kreuzfahrtschiff? Das konnte doch nur ein Irrtum sein.

»Sie haben sich sicher verwählt«, sagte ich erleichtert und fühlte, wie mein Herzschlag sich beruhigte. »Mein Mann kann nicht auf diesem Schiff gewesen sein, er ist gerade bei einer Messe –«

»Sie sind doch Nina Hoffmann?«, unterbrach mich die Stimme, immer noch voller Anteilnahme.

»Ja, schon.« In meinem Kopf überschlug ich schnell, wie viele Nina Hoffmanns es wohl in Deutschland gab. »Aber Sie meinen sicherlich eine andere.«

»Nina Hoffmann, wohnhaft in München. Schwedenstraße 2.«

Mir wurde heiß. In diesem Haus gab es definitiv keine andere Nina Hoffmann.

»Ja, das bin ich.« Meine Stimme hörte sich plötzlich völlig fremd an. »Aber es muss trotzdem ein Irrtum vorliegen, denn –«

»Und Ihr Mann heißt Karsten?«

»Stimmt, aber –«

»Frau Hoffmann, er steht auf der Passagierliste, er hat sich beim Einchecken ausgewiesen. Es tut mir sehr leid.«

»Es ist ein Irrtum!«, schrie ich.

»Ihr Mann wird noch vermisst«, redete sie stoisch weiter. »Er ist nicht unter den Geretteten und auch nicht unter den Toten, die bisher geborgen wurden. Aber das Wasser ist jetzt im Januar eiskalt. Wir müssen leider vom Schlimmsten ausgehen.«

Ich weiß nicht, wie lange die Frau auf mich einredete, bis ich begriff, dass Karsten nie zu dieser Messe gefahren war. Dass er mich angelogen hatte. Stattdessen auf Kreuzfahrt gegangen und verunglückt war.

Das Summen in meinen Ohren wurde lauter. Ich hörte nur noch von sehr weit weg, wie diese Frau, die gerade mein Leben zerstört hatte, fragte, ob ich allein zu Hause sei. Ob sie jemanden für mich anrufen oder das Kriseninterventionsteam vorbeischicken solle. Einen Pfarrer vielleicht? Doch ich wollte niemanden sehen. Ich war schon immer am besten allein mit allen Katastrophen fertiggeworden.

Warum hatte er mir nicht die Wahrheit gesagt? Das war die Frage, die mich die ganze Nacht wach hielt. Wir hatten uns doch immer alle Freiheiten gelassen. Wenn er unbedingt auf eine Kreuzfahrt gewollt hätte, wäre das für mich überhaupt kein Problem gewesen. Aber er hatte nicht einmal andeutungsweise den Wunsch danach geäußert.

Zwischen meinen Heulanfällen und den Phasen, in denen ich immer wieder in einen erschöpften Kurzschlaf fiel, um beim Erwachen jedes Mal grausam zu erkennen, dass ich keinen Alptraum gehabt hatte, hämmerte immer und immer wieder die Frage hinter meinen Schläfen: Warum hat Karsten mich angelogen?

Natürlich wäre ich nicht mitgekommen. Schließlich mied ich das Wasser seit meiner Kindheit, als würde die bloße Berührung damit mich zum Schmelzen bringen wie die böse Hexe des Westens im Zauberland Oz. Karsten, der passionierte Hobbytaucher, hatte seine Tauchreisen schon immer ohne mich machen müssen. Er hatte es klaglos hingenommen, er kannte mich ja lange genug. Deshalb hatte er wegen der Kreuzfahrt gar nicht erst gefragt, denn er wusste, ich hätte unter keinen Umständen ein Schiff betreten. Nicht für alles Geld der Welt. Und nun bekam ich die Quittung dafür.

Irgendwann in dieser Nacht, zwischen erschöpftem Schlaf und grausamen Wachphasen, wurde mir bewusst, dass ich ohne meine Angst vor dem Wasser jetzt womöglich auch tot wäre. Wahrscheinlich verdankte ich meiner Phobie vor dem Meer mein Leben. Aber was war das für ein Leben, allein, ohne Karsten? Begraben unter dieser großen, schweren Steinplatte, die auf meiner Brust lag und mich nicht atmen ließ? Eingeschnürt von der Panik, morgens immer wieder in dem Bewusstsein aufzuwachen, dass Karsten nicht mehr bei mir war?

Es dauerte einige Tage, bis ich mich in der Lage fühlte, Karstens Firma aufzusuchen, um seine Sachen und die unvermeidlichen Beileidsbekundungen seiner Kollegen abzuholen. Da ich mich immer nur selbst getröstet hatte, fiel es mir schwer, mit Anteilnahme umzugehen. Ich stand geschlagene zehn Minuten unschlüssig vor dem großen Jugendstilhaus, bevor ich schließlich doch hineinging. Augen zu und durch, dachte ich. Ich musste mich nur schnell von allen verabschieden und dann für den Rest meines Lebens nie mehr herkommen.

Karsten hatte sich mit seinen Kollegen Hendrik, Sandra und der Sekretärin Sabine in einer zu einer Bürogemeinschaft umgebauten Altbauwohnung eingerichtet. Sandra öffnete mir die Tür und schloss mich sofort in die Arme, obwohl wir uns nur flüchtig kannten.

»Oh Nina, du weißt gar nicht, wie leid mir das tut. Es ist so schrecklich, wir können es noch gar nicht fassen! Wenn wir dir irgendwie helfen können, scheu dich nicht, uns anzurufen.« Sie hatte schon immer viel geredet, Karsten nannte sie scherzhaft den »verbalen Wasserfall«. Hatte sie genannt, berichtigte ich mich.

Hendrik empfing mich in der Kaffeeküche. »Ich habe dir Karstens private Sachen schon zusammengepackt«, sagte er, nachdem er mir ausgiebig sein Beileid bekundet hatte. Ich zuckte zusammen, als er einen großen Karton und zwei Plastiktüten auf den Tisch stellte.

»Wie geht es dir?«

»Wird schon wieder«, murmelte ich, ganz die tapfere Nina, die ich nach außen hin schon immer gewesen war.

Er sah mich zweifelnd an. »Du solltest dir professionelle Hilfe suchen. So was zu verarbeiten schafft man nicht allein.«

»Mal sehen«, erwiderte ich lahm. Zu mehr reichte meine Kraft nicht aus.

»Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein danke, ich will gar nicht lange bleiben. Wollte mich nur von euch allen verabschieden. Wir sehen uns ja jetzt wohl nicht mehr. Wo ist eigentlich Sabine? Ist sie krank?«

Hendrik und Sandra sahen sich schweigend an. Hendrik zupfte nervös an seiner Krawatte, während Sandra ihre Kaffeetasse in den Händen drehte. Ich wartete.

»Wusstest du das denn nicht?«, fragte Sandra schließlich. »Ich dachte, man hätte es dir gesagt.«

»Was wusste ich nicht?«, fragte ich äußerlich ruhig, aber ich merkte, wie in meinem Inneren ein Sturm aufzog.

Sandra nestelte verlegen an ihrer Halskette aus roten Korallen, die sich schrecklich mit ihrer pinkfarbenen Bluse biss. Draußen durchbrach ein Flugzeug die Schallmauer.

»Sie war zusammen mit Karsten auf dem Schiff. Man hat sie tot aus dem Wasser geborgen. Ihr Leichnam wird morgen nach München überführt.«

Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich auf dem Boden der Kaffeeküche lag, mit einem nassen Geschirrtuch auf der Stirn. Ich hätte nicht herkommen sollen, war das Erste, was ich dachte. Und dann: ein Verhältnis mit der Sekretärin. Was für ein Klischee!

»Ich muss gehen«, stammelte ich und versuchte mich aufzurichten. Das nasse Tuch schleuderte ich von mir und traf damit Sandra, die sich gerade mit einem Glas Wasser zu mir herunterbeugte.

»’tschuldigung.«

»Du musst dich doch nicht entschuldigen. Wir waren so gedankenlos! Aber es konnte ja niemand ahnen, dass du nicht im Bilde warst, und …« Der verbale Wasserfall brach über mich herein, und ich ertrank beinahe darin.

Ich stand auf. Meine Knie zitterten noch, aber sie trugen mich halbwegs. Suchend sah ich mich um.

»Wo hab ich denn meinen Autoschlüssel hingelegt?«

»Nina, du kannst dich jetzt unmöglich hinters Steuer setzen. Ich bringe dich nach Hause.« Hendrik war offenbar froh, etwas für mich tun zu können, und griff nach seiner Jacke. »Das Auto kannst du auch später abholen.«

Auf der Fahrt sprachen wir kein Wort. Das Schweigen hing wie eine schwere dunkle Wolke über uns. Als Hendrik schließlich vor unserem Haus hielt, entschloss ich mich zu fragen. Ich musste es einfach wissen.

»Wie lange lief das schon mit Karsten und Sabine?«

Hendrik fühlte sich sichtlich unwohl, zerrte an seinem Kragen.

»Keine Ahnung. Schon ziemlich lange.«

»Ihr habt es gewusst und mir nichts gesagt?«

»Nina, was sollten wir denn tun? Die beiden sind unsere Kollegen. Wir müssen schließlich mit ihnen zusammenarbeiten.«

»Waren. Sie waren eure Kollegen. Ihr müsst nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten«, brach es aus mir heraus. »Hättet ihr was gesagt, wäre Karsten vielleicht zur Vernunft gekommen. Sie hätten diese verdammte Kreuzfahrt nicht gebucht. Und würden heute noch leben.«

Ich öffnete den Sicherheitsgurt, sprang aus dem Wagen und knallte die Autotür zu, ohne mich zu verabschieden.

Die nächsten Tage erlebte ich wie in Trance. Ich saß von morgens bis abends in meinem Sessel am Fenster und starrte vor mich hin. Ich muss wohl zwischendurch auch mal zur Toilette gegangen sein und etwas gegessen haben, aber ich erinnere mich nicht daran. Ich schaute auf die Straße hinunter und sah zu, wie das Leben an mir vorbeilief, ich konnte und wollte nicht mehr daran teilhaben. Als ich irgendwann zu mir kam und mich dabei ertappte, wie ich mit einer von Karstens Rasierklingen versuchte, mir die Pulsader aufzuschneiden, rief ich die Notfallseelsorge an.

Ich kam in die psychiatrische Abteilung im Klinikum rechts der Isar. Mit meiner Therapeutin Anna, die sich wirklich große Mühe mit mir gab, versuchte ich mein Selbstbild wiederherzustellen, bis ich darauf kam, dass ich all die Jahre gar keins gehabt hatte. Ich hatte mich mit dem identifiziert, was Karsten in mir sah, und deshalb nach seinem Tod jede Existenzberechtigung verloren. In unzähligen Sitzungen versuchte Anna, meine Selbstachtung aufzubauen, mich dazu zu bringen, meine Verachtung und meinen Zorn nicht gegen mich zu richten, sondern gegen den Menschen, der sie verdient hatte. »Du musst doch unglaublich wütend sein«, sagte sie immer wieder. »Warum versteckst du diese Wut? Lass sie raus, es wird dich befreien.«

Doch ich konnte keine Wut empfinden. Nur Traurigkeit und grenzenlose bittere Enttäuschung. Ich hatte geglaubt, Karsten liebte mich so, wie ich war. Stattdessen hatte es ihm durchaus gefehlt, dass ich seine Leidenschaft für das Wasser nicht mit ihm teilen konnte, er hatte es nur nie gesagt. Und das war eindeutig meine Schuld, auch wenn Anna mir etwas anderes einreden wollte.

Die Zuwendung, die ich in der Klinik erfuhr, tat mir gut. Ich kam zur Ruhe. Der Schmerz war nicht mehr scharf und schneidend, nur noch dumpf und pochend. Karstens Betrug, sein heimliches Verhältnis mit Sabine, hatte ich gut verpackt in einem der hintersten Winkel meiner Erinnerung eingeschlossen. Als ich nicht mehr eigengefährdet war, wie man es in der Klinik nannte, durfte ich nach Hause. Ich vereinbarte mit Anna, die Therapie in ihrer kleinen Privatpraxis fortzuführen, die sie neben der Arbeit im Krankenhaus einige Stunden in der Woche zu Hause betrieb.

Die erste der Hausaufgaben, die Anna mir gab, war, Karstens persönliche Sachen zu entsorgen.

»Gib sie der Caritas«, sagte sie. »Bring sie zur Altkleidersammlung, verticke sie bei eBay, aber lass sie nicht im Haus. Fang ganz von vorn an, Karsten ist Vergangenheit, du brauchst ihn nicht mehr. Du bist auch ohne ihn eine liebenswerte Frau.«

Das mit der liebenswerten Frau überzeugte mich zwar nicht so ganz, aber ich war schon immer ein braves Mädchen gewesen. Also fing ich an, Karstens Schränke auszuräumen, Anzüge in Kleidersäcke zu verpacken und Schuhe zu bündeln.

Ich fand das Foto im Koffer mit seiner Tauchausrüstung, den er ganz unten in seinem Schrank aufbewahrte. Karsten wusste, dass ich diese Sachen nie angerührt hätte, deshalb hielt er diesen Koffer wohl für einen sicheren Ort. Es war ein professionelles Foto von der Sorte, wie sie Veranstalter bei Events von den Teilnehmern machen, um sie anschließend an sie zu verkaufen. Dieses hatte das Logo von »Schöner Tauchen, Natur- und Erlebnisreisen« in der rechten unteren Ecke und zeigte Karsten mit noch einer anderen Person, beide in Neoprenanzügen und mit Taucherbrillen, Arm in Arm auf einem Boot. Das musste die Tauchreise nach Ägypten gewesen sein, die Karsten letztes Jahr zusammen mit seinem Tauchkumpel Bodo gemacht hatte.

Aber das hier konnte nicht Bodo sein. Diese innige Umarmung war zu intim für eine Männerfreundschaft. Bodo war auch bestimmt nicht so viel kleiner als Karsten und legte ganz sicher nicht den Kopf an dessen Brust. Es war Sabine.

Ich vergaß zu atmen. Tröpfchenweise sickerte in mein Bewusstsein, dass »Bodo« wahrscheinlich all die Jahre nur ein Synonym für Sabine gewesen war. Karsten hatte einen Ersatz für mich gefunden. Mich einfach ausgetauscht. Wie viele Tauchreisen hatte er mit ihr unternommen, während ich im guten Glauben zu Hause saß, dass er mit Bodo unterwegs war? Phantom-Bodo aus Bad Tölz, den er angeblich in einem Taucherforum im Internet kennengelernt und mir nie vorgestellt hatte. Jetzt wusste ich auch, warum. Während ich mir Sorgen machte, Karsten könnte etwas passieren, Kerzen für seine wohlbehaltene Rückkehr anzündete und die Tage zählte, bis er wieder nach Hause kam, war er mit einer Frau unterwegs gewesen, die alles war, was ich nicht sein konnte.

Ich starrte das Foto an, bis es vor meinen Augen verschwamm. Entschlossen wischte ich mir die Tränen weg, ich wollte nicht schon wieder heulen. Doch plötzlich fiel mir auf, dass es gar keine Tränen der Trauer waren. Ich heulte vor Wut. Wut auf Karsten, der mich für so naiv gehalten hatte, dass er mir Sabine offenbar schon sehr oft als Bodo verkauft hatte. Wut auf mich selbst, dass ich so dämlich gewesen war und es geglaubt hatte. Die Wut, die Anna wochenlang vergeblich aus mir herauszukitzeln versucht hatte, plötzlich brach sie sich mit aller Gewalt einen Weg durch die Firewall, mit der ich mein Bewusstsein geschützt hatte.

Ich kramte ein Teppichmesser aus Karstens Werkzeugkasten und machte mich über seinen nagelneuen Taucheranzug her, den er gehütet hatte wie einen Topf Gold. Eigentlich hatte ich ihn bei eBay verkaufen wollen, er hätte sicher einiges eingebracht, doch in diesem Moment war Geld das Letzte, woran ich dachte. Ich tobte wie eine Wahnsinnige und musste dafür alle meine Kräfte mobilisieren, denn der zähe, sperrige Stoff war nicht leicht kaputt zu kriegen. Als ich nicht mehr konnte, stopfte ich die Fetzen in einen Müllsack, den ich nach draußen brachte. Dann machte ich Feuer im Kamin, warf das verdammte Foto von Karsten und Sabine hinein und sah zu, wie es in Flammen aufging. Aber ich hatte noch lange nicht genug. Ich ging zur Regalwand, zerrte unsere Fotoalben heraus und übergab sie den Flammen. Karstens vierzigster Geburtstag, der Ausflug mit seiner Firma ins Allgäu, unsere Hochzeit in Florenz – alle Erinnerungen verbrannten vor meinen Augen zu Asche. Ich wollte kein Andenken an ihn im Haus haben. Wirklich kein einziges.

Also löschte ich auch unsere digitalen Fotos von der Festplatte des Laptops, den er größtenteils beruflich genutzt hatte. Ich packte ihn in einen Karton und adressierte ihn an Hendrik. Er hatte eh der Firma gehört.

Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, sah ich, dass ich etwas vergessen hatte. Das gerahmte Hochzeitsfoto hing noch über dem Bett. Wir beide, jung und voller Hoffnung, vor dem gotischen Portal der Kirche Santa Trinita. Unsere Vermieterin hatte sich mitten auf die Straße stellen müssen, um das Foto zu machen, und wäre um ein Haar von einem Taxi überfahren worden. Mir klingt heute noch das Geschrei des florentinischen Taxifahrers im Ohr, der sie aus dem offenen Autofenster lautstark beschimpfte.

Ich riss das Bild von der Wand und zerschlug den Rahmen am Bettgiebel. Scherben stoben durch die Luft und rieselten auf den Bettvorleger. Als ich das Foto in kleine Schnipsel zerfetzte, merkte ich, dass ich blutete. Ich hatte mir die Hand an einer Scherbe geschnitten. Der Schmerz tat gut. Er brachte mich wieder zur Besinnung.

Nachdem meine Zerstörungswut abgeebbt war, war ich völlig erschöpft. Aber ich fühlte mich etwas besser. Es war eine kleine Kostprobe davon gewesen, wozu ich fähig war, wenn ich mich zu meiner Wut bekannte, sie nicht mehr mit Trauer und Selbstvorwürfen kompensierte. Anna würde stolz auf mich sein.

Von diesem Tag an war ich wieder handlungsfähig. Leben würde ich es nicht nennen, es war eher ein permanenter Versuch, den Alltag zu meistern. Ich funktionierte wie eine Maschine, die auf Essen, Schlafen und Arbeiten programmiert war. Zwischendurch hatte ich regelmäßige Sitzungen bei Anna, die sich redlich Mühe mit mir gab, der es aber nicht gelang, diese rasende Wut, durch die ich mich einige wenige Stunden wieder lebendig gefühlt hatte, noch einmal hervorzuzaubern. Ich war wieder gefangen in der Schuld der Überlebenden, weil ich für Karsten nicht die Frau hatte sein können, die er gebraucht hätte.

Sieben Jahre waren inzwischen vergangen. Hendrik und Sandra hatte ich seither nie wiedergesehen. Auch wenn es mir leidtat, dass ich zum Abschied so biestig gewesen war. Sie konnten ja nichts dafür. Aber ich war wohl in einer psychischen Ausnahmesituation gewesen, und in solch einer Situation neigt man dazu, jemandem die Schuld für sein Unglück zu geben. So hatte es mir Anna erklärt, die ich seither regelmäßig aufsuchte.

Anna war inzwischen eine gute Freundin geworden. Sieben Jahre waren eine lange Zeit. Es tat mir gut, mit ihr zu reden. Sie kannte mein komplettes verkorkstes Leben, hatte sich geduldig die kleinen und großen Dramen meiner Kindheit angehört und mir unzählige Taschentücher gereicht, wann immer ich versuchte, mich dem Untergang des Kreuzfahrtschiffes zu stellen. Meinen Wutanfall, bei dem ich alle Erinnerungen an mein Leben mit Karsten zerstört hatte, hatte sie als großen Erfolg bezeichnet. Leider hatte er mich nicht viel weitergebracht. Der Schmerz saß tief und war mir zu einem guten Vertrauten geworden. Ich hatte seither keinen Mann mehr in mein Herz gelassen und konnte mir auch nicht vorstellen, das jemals wieder zu tun.

Ich war Anna sehr dankbar dafür, dass ich von ihr nie diese Floskeln hören musste, die Freunde und Bekannte so gern benutzen, wenn einem ein Unglück geschieht. Du wirst es überstehen. Die Zeit heilt alle Wunden. Sogar meine Mutter kam mir mit diesen Sprüchen. Ausgerechnet sie, die seit dem Tod meines Vaters nur noch ein Schatten ihrer selbst war.

Ich weiß nicht, was ich all die lange Zeit, ganz besonders in den Monaten nach dem Unglück, ohne Anna gemacht hätte. Sie war meine Vertraute und beste Freundin. Und so war sie auch meine erste Anlaufstelle, als ich sieben Jahre später diesen Brief bekam, der mein Leben wiederum komplett verändern sollte.

Es war an einem warmen Sommerabend im August, ich kam verschwitzt von der Arbeit nach Hause und freute mich auf eine kühle Dusche. Als ich den Briefkasten aufschloss, fiel mir die Süddeutsche entgegen, eine Rechnung von den Stadtwerken sowie ein Brief mit italienischer Marke, ohne Absender. Die Handschrift, mit der meine Adresse geschrieben war, hatte ich noch nie gesehen. Ich ging unter das Oberlicht im Treppenhaus, um den Poststempel zu entziffern. Mein Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Isola del Giglio.

Ich trug den Umschlag mit spitzen Fingern in meine Wohnung, als hätte ich es mit einer Briefbombe zu tun. Dort legte ich ihn auf den Küchentisch und starrte ihn an. Minuten vergingen, in denen ich nur das leise Ticken der Küchenuhr hörte, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Ich wollte diesen Brief nicht öffnen. Eine dunkle Vorahnung sagte mir, dass mein Leben erneut eine dramatische Wende nehmen würde, wenn ich es täte. Und doch war mir klar, dass ich ihn nicht ewig ungeöffnet so liegen lassen konnte. Genauer gesagt, keine Minute länger.

Ich nahm ein Messer aus der Schublade und schlitzte ihn auf. Ein sorgfältig zweifach gefalteter Briefbogen fiel heraus. Mit zitternden Fingern öffnete ich ihn.

Der Brief war in einer mir unbekannten Handschrift in Italienisch verfasst und nicht unterschrieben. Er bestand nur aus zwei Sätzen:

»Ihr Mann ist noch am Leben. Er hält sich seit sieben Jahren auf der Insel Giglio auf.«

2

Tonio

Im Hafen herrschte Hochbetrieb, als ich die Kiste mit den Einkäufen für Clemenza von der Fähre schleppte. Die Hauptsaison war zwar schon vorbei, aber trotzdem ergossen sich Ströme von Touristen von der »Toremar« in den kleinen Hafenort. Wahrscheinlich hatten wir es heute mit mehreren Reisegruppen zu tun, denn kaum hatten die Menschen einen Fuß auf festen Boden gesetzt, wurden die Kameras und Handys gezückt. Eine Reiseleiterin mit Dauerwelle in typischem Italienblond – ein künstlicher Farbton, der an dunklen Senf erinnerte, den man zu lange offen gelassen hatte – versuchte vergeblich, sich Gehör zu verschaffen. Dazu schwenkte sie einen Stab hoch über ihrem Kopf, an dem ein Wimpel mit dem Konterfei von Disneys Pinocchio fröhlich im Wind flatterte. Allerdings interessierte sich kaum jemand dafür; das Hafenpanorama war weit interessanter. Ich war auf Giglio aufgewachsen, und so waren die bunten Häuserfassaden, die Fischerboote, die auf dem Wasser schaukelten, und das rote und grüne Leuchtfeuer auf den beiden Molen nichts Besonderes für mich. Aber ich konnte nachvollziehen, dass jeder verzaubert war, der zum ersten Mal hierherkam.

Ich bahnte mir einen Weg in Richtung Bushaltestelle, wobei ich die Kiste mit den Einkäufen als Rammbock benutzte, und sah die Reisegruppe gerade noch in Richtung Scalettino verschwinden. Von den Felsen dort hatte man mehr als zwei Jahre lang die beste Aussicht auf das Wrack des Kreuzfahrtschiffes gehabt, das hier unmittelbar vor der Küste gelegen hatte. Schwärme von Tagestouristen waren auf die Insel gekommen, um die Attraktion zu bestaunen und Fotos davon zu schießen.

Das Schiff lag längst nicht mehr dort; es war schon vor fünf Jahren geborgen und zum Abwracken in den Hafen von Genua geschleppt worden, aber den makabren Sensationstourismus gab es immer noch und würde es sicherlich noch viele Jahre lang geben.

Auf dem Weg zum Bus wurde ich in der Via Provinciale beinahe von einer Ape überrollt. Der Fahrer hob entschuldigend eine Hand, aber ich brüllte ihm trotzdem pflichtschuldig das obligatorische »Stronzo!« hinterher. Man erwartete das hier, und wenn man als Einheimischer anerkannt werden wollte, tat man gut daran, sich an die Gepflogenheiten der Insel zu halten. Obwohl die Gigliesi weitgehend vom Tourismus lebten, begegnete man den Fremden, die im Sommer vom Festland kamen, mit gemischten Gefühlen. Kein Wunder, die Insel war klein, nicht einmal vierundzwanzig Quadratkilometer groß, und bestand nur aus drei Ortschaften und einigen Feriensiedlungen. Im Hochsommer überstieg die Zahl der Touristen, die hier einfielen wie einst die Sarazenen vom offenen Meer, oft die Einwohnerzahl. Der Großteil von ihnen kam nur für eine Stippvisite herüber. Morgens spuckten sie die Fähren der »Toremar« und »Maregiglio« auf unsere Hafenpromenade, es folgte ein Rundgang durch Porto mit Fotosession vor der Unglücksstelle, dann kam die Busfahrt hoch nach Castello, wo es im Schweinsgalopp über das Kopfsteinpflaster der mittelalterlichen Gassen ging. Nachmittags schließlich ein kurzes Bad am Strand von Campese und abends, auf der Fähre zurück zum Festland, konnte man sagen, dass man die Insel kannte. Tagestouristen waren eine Plage. Oft brachten sie ihren Proviant selbst im Rucksack mit und ließen daher kaum Geld auf der Insel, was die Abneigung der Einwohner gegenüber den Fremden noch verstärkte.

Der Bus nach Castello ließ auf sich warten. Das war nichts Besonderes, der Fahrplan hing eigentlich nur zum Schein da. Wer nach Giglio kam, musste Zeit mitbringen. Ich dachte ein wenig sehnsüchtig an mein Motorrad, eine feuerrote Ducati, die oben in Castello auf mich wartete. Ich flitzte gern mit ihr über die Insel, benutzte sie aber nur, wenn ich es wirklich eilig hatte. Der Inselbus fuhr im Sommer rund um die Uhr, und die Natur bekam durch die Autos und Mofas der Einheimischen schon genug Kohlendioxid ab.

Die Kiste wurde allmählich schwer, also stellte ich sie auf den Asphalt, der so heiß war, dass ich fürchtete, die Eier darin würden bei meiner Ankunft in Castello schon hart gekocht sein. Ich besorgte für Clemenza seit dem Tod ihres Sohnes regelmäßig Lebensmittel, wenn ich nach Porto Santo Stefano zum Einkaufen fuhr. Auf Giglio war alles viel teurer als auf dem Festland, und Clemenza bekam nur eine bescheidene Rente. Allerdings sparte sie durch mich auch die Handwerkerrechnungen, denn ich reparierte ihr alles, was kaputtging, und das war in ihrem mittelalterlichen Haus eine Menge. Sie bedankte sich, indem sie samstags für mich kochte. Als Junggeselle ernährte ich mich hauptsächlich von den Gerichten auf der Karte von »Zio Meino«, meinem Lieblingsrestaurant, das nur hundert Meter von unserer Tauchschule entfernt war. Manchmal schlenderte ich auch auf die andere Seite der Bucht, zur Pizzeria »Da Tony« am Hafen von Campese, wo es die besten Pizzen der Insel gab. Es sei denn, Clemenza lud mich zum Essen nach Castello ein. Wenn es ums Kochen ging, konnten weder »Tony« noch »Zio Meino« ihr das Wasser reichen.

Clemenza ist eine Seele von einer Frau, die den Tod ihres Sohnes nie überwunden hat. Aber ich vermisse Filippo auch schrecklich. Wir waren seit unserer Kindheit unzertrennlich und haben später zusammen mit unserem Freund Federico die Tauchschule gegründet. Beim Unglück dieses Kreuzfahrtschiffes vor unserer Hafeneinfahrt war Filippo als einer der Ersten vor Ort gewesen und hatte geholfen, die Überlebenden aus dem eiskalten Wasser zu ziehen. Ich fuhr die halbe Nacht lang zwischen Campese und Porto hin und her, brachte Rettungsdecken aus der Tauchschule und Schuhe für die überlebenden Opfer, die barfuß in die Rettungsboote steigen mussten und dann frierend am Kai standen. Als ich von meiner dritten Tour wiederkam, hörte ich, dass Filippo von seinem letzten Tauchgang nicht zurückgekommen war.

Wir suchten den Rest der Nacht nach ihm. Es war ein Alptraum, der mich manchmal heute noch verfolgt. In den Morgenstunden gaben wir die Suche auf. Ich fuhr nach Castello, um Clemenza die traurige Nachricht zu überbringen. Sie weinte in meinem Arm, und ich versprach ihr, immer für sie da zu sein, wenn sie mich brauchte.

Wenig später lief ihr ein streunender Kater zu. Sie benannte ihn nach ihrem Sohn und erzählte mir irgendwann, dass sie sicher sei, der Kater wäre der wiedergeborene Filippo. Ich war überrascht, dass sie plötzlich an Seelenwanderung glaubte, denn ich kannte sie nur als fromme Katholikin. Und natürlich machte ich mir auch ein bisschen Sorgen, dass sie vor Kummer vielleicht verrückt geworden wäre. Aber als ich Zweifel anmeldete, winkte sie nur ab.

»Schau ihn dir doch an!«, rief sie. »Er hat ein Muttermal an derselben Stelle wie mein Junge.« Das stimmte allerdings. Filippo hatte ein dunkles Mal oberhalb des rechten Auges gehabt. Genau dort hatte das Tier einen schwarzen Fleck im weißen Fell.

»Und er liebt Panficato!«, fuhr Clemenza fort. »Das war Filippos Lieblingsnachtisch. Hast du vielleicht schon mal einen Kater gekannt, der Panficato frisst?«

Genau genommen hatte ich noch gar keinen Kater näher gekannt, jedenfalls nicht so, dass ich mit seinen Leibgerichten vertraut war. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass Panficato ein gesundes Nahrungsmittel für Katzen war. Clemenza schaute auch etwas schuldbewusst, als ich sie daran erinnerte.

»Ich pule ja schon die Nüsse raus und gebe ihm gar nicht viel davon«, sagte sie kleinlaut. »Und er bekommt es auch nur am Wochenende. Isst du vielleicht nur gesunde Sachen?«

»Es ist ein Totenbrot«, versuchte ich von mir abzulenken, aber das gab ihr eher noch Wasser auf die Mühle.

»Eben.« Sie holte ein großes, dick mit Puderzucker bestäubtes Stück Feigenbrot aus dem Kühlschrank, schnitt eine dünne Scheibe ab und legte sie in den Napf, wo sich der Kater sofort darüber hermachte.

»Siehst du, das ist der beste Beweis, dass er der wiedergeborene Filippo ist!«

Ich stimmte ihr zu, das war am einfachsten. Ich konnte sie sowieso nicht von ihrer fixen Idee abbringen und war froh, dass sie wieder ein Lebewesen gefunden hatte, um das sie sich kümmern konnte.

Der blaue Inselbus hielt mit zischender Hydraulik und stieß einen Schwall Abgase aus. Als sich die Türen öffneten, ließ ich den Touristen den Vortritt, damit sie sich um die Fensterplätze auf der Meerseite prügeln konnten. Hinter ihnen hievte ich meine Kiste die Stufen hinauf ins Innere. Ich begrüßte Tommaso, den Fahrer, der seinen korpulenten Body heute in ein azurblaues Muskelshirt gequetscht hatte, mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Er grüßte seinerseits mit dem üblichen Spruch zurück:

»Ciao, Tonio, immer noch kein Auto?«

»Ciao, Tommaso, immer noch keinen Kat?«, antwortete ich wie gewöhnlich. Ich wusste, dass er mit einer steinalten Ape aus den achtziger Jahren auf dem Festland einkaufte, die noch fußbetriebene Scheibenwischer, nur einen Scheinwerfer und ein Rücklicht und natürlich noch keinen Katalysator hatte. Die Überfahrt kostete für eine Ape deutlich weniger als für ein Auto, und Kisten schleppen, wie ich es tat, kam für ihn nicht in Frage. Also nahm er die Ape, die eigentlich längst verschrottet gehörte. Sein massiger Körper in dem schmalen Fahrerhaus wirkte wie Humpty Dumpty, der sich in einen Eierkarton gequetscht hatte. Aber ich besaß genug Größe, ihm das nicht zu sagen, und ertrug seine Lästereien mit stoischer Gelassenheit. Als Grüner musste man in Italien hart im Nehmen sein.

Als der Bus den Ort verließ und hinauf in die Berge fuhr, zückten die Touristen Handys und Kameras, um Giglio Porto aus der Vogelperspektive einzufangen. Auch ich schaute zurück auf den Hafenort unter mir. Solange ich diese Strecke fuhr, genoss ich den Anblick dieses bunten Fleckchens Erde mit den weißen Booten im türkisblauen Meer.

Der Bus brauchte nach Castello nicht länger als eine Viertelstunde, überwand dabei aber rund vierhundert Höhenmeter. In jeder Kurve, und davon gab es auf der Strecke reichlich, öffneten sich neue Ausblicke auf Pinienwälder, Weinberge und natürlich das Meer mit den Inseln des Archipels: Montecristo, Giannutri, Pianosa – bei klarem Wetter konnte man auch Korsika sehen.

Kurz vor Castello passierten wir den Vaccarecce, einen antiken Leuchtturm, der auf einer Zunge des Vorgebirges über dem Meer schwebte. Wie auf Kommando stürzten alle mit den Handys im Anschlag zur rechten Fensterseite, dass ich schon fürchtete, der Bus würde umkippen. Die Touristen hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Der Leuchtturm wurde auch »Leuchtturm der Verliebten« genannt und hatte den Schriftsteller Federico Moccia zu seinem berühmten Buch »Entschuldige, ich liebe dich« inspiriert. Nicht dass ich das Buch jemals gelesen hätte, aber wenn man Clemenza kannte, die nie ohne Schmöker ins Bett ging und einem das Gelesene ausführlich zum samstäglichen Mittagessen servierte, kam man an diesem Wissen nicht vorbei.

Als der Bus endlich auf der Piazza Gloriosa vor den Mauern Castellos hielt, atmete ich auf. Ich ließ zuerst die Touristenschar aussteigen, dann nahm ich meine Einkäufe und machte mich auf den Weg ins Innere der mittelalterlichen Stadt.

Verglichen mit dem quirligen Hafenstädtchen, aus dem ich gerade kam, schien hier oben die Zeit stehen geblieben zu sein. Der ganze Ort wirkte wie aus einem Felsen gemeißelt und war am frühen Nachmittag, wenn alle Siesta hielten, wie ausgestorben. Jeder Stein erzählte Geschichten aus längst vergangener Zeit. Nur der Junge mit dem roten Basecap und den Ohrstöpseln, der auf den ausgetretenen Stufen eines der alten Häuser saß und auf seinem Handy tippte, passte nicht ins Bild.

Clemenza empfing mich mit offenen Armen und ihrem breiten Lächeln. »Komm rein, mein Lieber, und stell die Sachen ab«, sagte sie. »Und dann setz dich erst mal, ich habe Pasta auf dem Herd.«

In der Tat roch es verführerisch nach ihrer Spezialsoße aus Tomaten und Ricotta, Knoblauch und Basilikum. »Pasta alla Norma« hieß das Gericht und kam eigentlich aus Sizilien, wo Clemenza die ersten Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Aber ich nannte es nur noch »Pasta alla Clemenza«, weil keine Norma der Welt es besser hätte kochen können.

Ich betrat den Salotto und schaute mich um. Clemenza hatte ihre samstägliche Putzorgie absolviert, aufgeräumt und den Boden gescheuert, der wie neu glänzte. Die Fenster waren poliert und mit Geranien geschmückt und alle Nippesfiguren auf der Anrichte entstaubt. Nur der Plastikweihnachtsbaum stand noch immer in voller Pracht in der Zimmerecke, obwohl sich der August dem Ende neigte. Genau genommen stand er seit siebeneinhalb Jahren dort. Filippo hatte ihn aufgestellt und beim Schmücken geholfen, und Clemenza brachte es nicht fertig, ihn abzubauen. Inzwischen nutzte der Kater ihn gern als Spielbaum. Er sprang nach den goldenen Glaskugeln, riss das Lametta herunter und rollte sich darin ein. Clemenza war manchmal stundenlang damit beschäftigt, den Baum wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen.

»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte sie, als sie einen Teller mit dampfender Pasta vor mir auf den Tisch stellte.

Ich sah sie fragend an.

»Ich möchte Filippos Zimmer vermieten. Es bricht mir das Herz, aber es kann nicht den Rest meines Lebens leer stehen und mir als Gedenkschrein dienen. Ich brauche das Geld.«

»Das ist eine gute Idee. Und du hättest dann auch wieder Gesellschaft. Soll ich für dich inserieren?«

»Das wäre lieb von dir. Vielleicht könntest du auch ein paar Zettel im Hafen aufhängen. An dem Anleger, wo die Touristen ankommen, weißt du?«

Und ob ich das wusste. Schließlich kam ich jeden Samstag mit ihnen gemeinsam an.

»Und da du ja ohnehin jede Woche zum Festland fährst«, Clemenza legte mir einen weiteren Löffel ihrer köstlichen Pasta auf den Teller, »könntest du auf der Fähre ja vielleicht auch ein bisschen – wie heißt das? – Akquise betreiben. Du kommst doch sicher problemlos mit Touristen ins Gespräch. Da kannst du ihnen auch gleich mein Fremdenzimmer anpreisen. Wenn du jemanden mit großem Koffer siehst, fragst du einfach: ›Brauchst du ein Zimmer? Clemenza hat genau, was du suchst. Dusche und Essen inklusive und gar nicht teuer. Oben in Castello, wo man in alle Richtungen das Meer sieht.‹ Sag mir, wer da Nein sagen kann! Filippo würde es sicher verstehen.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und bekreuzigte sich.

Während ich langsam kaute und jeden Bissen genoss, dachte ich nach. Ich würde ein paar Handzettel ausdrucken und auf der Fähre auslegen. Wenn ich zwei, drei Fotos mit den malerischsten Winkeln von Castello einarbeitete und mit einem Kater warb, der ein wiedergeborener Tauchlehrer war, würden ihr die Touristen schon bald die Tür einrennen.

Dass sie Filippos Zimmer endlich freigab, wertete ich als ein gutes Zeichen. Sieben Jahre lang hatte es leer gestanden, als würde sie noch immer darauf warten, dass er eines Tages wieder zur Tür hereinkäme, als wäre er nur kurz im Urlaub gewesen. Sie hatte kein Detail darin verändert, sogar sein Fußballposter hing noch an der Wand. Jetzt würde sie wenigstens das Bett frisch beziehen.

Ich griff nach dem Löffel, um den letzten Rest Pasta vom Teller zu kratzen, und schrak zusammen, als der Kater auf meinen Schoß sprang und mich vorwurfsvoll anmauzte. Vermutlich hatte er verstanden, dass er für ein Werbemittel missbraucht werden sollte.

»Sorry, alter Junge, das hatte ich glatt vergessen. Bitte sehr: dein Teller.«

Filippo war mit einem Satz auf dem Tisch, um den Teller in Windeseile schrankfertig blank zu lecken. Er schaffte es jedes Mal, mir die letzten Reste abzuschnorren.

»Möchtest du noch Nachtisch?« Clemenza stand schon mit einer Schüssel Pannacotta hinter mir. Ich warf einen Blick auf die Uhr.

»Danke, nein«, sagte ich bedauernd, »ich muss weiter nach Campese. Heute Nachmittag kommt noch eine neue Gruppe Tauchschüler an, da sollte ich vor Ort sein.«

»Wie du willst«, erwiderte Clemenza, ließ es sich aber nicht nehmen, mir eine große Tupperschüssel mit dem köstlichen Sahnepudding vollzuschaufeln.

»Schau bald mal wieder bei mir rein, mein Junge«, sagte sie, als sie mich zur Tür brachte. »Ohne dich wäre mein Leben dunkel und mein Kühlschrank leer.«

Mit diesen Worten verabschiedete sie mich jedes Mal.

»Stets zu Diensten, junge Frau«, antwortete ich wie immer. Es war unser Ritual. Ich wusste, dass die »junge Frau« ihr schmeichelte. Und das Leben war bislang nicht gerade schmeichelhaft mit ihr umgegangen.

3

Nina

Der Tag, nachdem ich den Brief erhalten hatte, war ein Samstag. Das war mein Glück, denn ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und hing völlig in den Seilen. Die Möglichkeit, dass Karsten nach all den Jahren noch am Leben sein sollte, hatte eine Weile gebraucht, um in meinem Hirn anzukommen. Doch als sie einmal dort war, prügelten der Schmerz über seinen Verrat und die Demütigung erneut auf mich ein. Es hatte lange gedauert, halbwegs zu verwinden, dass er mich belogen und betrogen hatte. Dass er das Schiffsunglück aber überlebt und als Chance genutzt hatte, sich abzusetzen und auf der Insel neu anzufangen, setzte allem die Krone auf. Ich heulte bis zum Morgengrauen.

Als die Sonne über das Dach des Nachbarhauses blinzelte – was wagte die sich eigentlich, einfach wie immer aufzugehen und so zu tun, als wäre heute ein ganz normaler Tag? –, schleppte ich mich ins Bad, um meine verstopfte Nase zu putzen und die Gelmaske für meine geschwollenen Augen zu suchen. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickte mich eine gebrochene Frau an. Wie ich es hasste, ein Opfer zu sein!

Hass ist ein guter Anfang, hatte Anna einmal zu mir gesagt. Hass setzt Energie frei und zeigt, dass du noch am Leben bist. Ich las den Brief noch einmal, und allmählich sickerte es in mein Bewusstsein: Wenn das hier kein übler Scherz war, wenn es wirklich stimmte, dass Karsten das Unglück überlebt hatte und sich seit sieben Jahren auf einer Insel im Mittelmeer versteckte, dann hatte er mich in voller Absicht verlassen. Er hatte sich feige aus dem Staub gemacht, ohne unsere Beziehung zu klären, im Gegenteil, er hatte mir zugemutet, dass ich ihn all die Jahre für tot gehalten und um ihn getrauert hatte. Dafür hasste ich ihn, und zum vielleicht ersten Mal in meinem Leben empfand ich den Wunsch nach Rache.

Während ich mir die Gelmaske gegen die Augen drückte, lief ich ruhelos im Wohnzimmer hin und her. Ich musste etwas tun. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Anna anzurufen, aber es war noch zu früh, sie war gestern sicherlich aus gewesen, wie an den meisten Freitagabenden. Immer wieder nahm ich den Brief in die Hand, was eigentlich unnötig war, denn ich kannte ihn inzwischen auswendig, aber jedes Mal war es wie ein erneuter Faustschlag in die Magengrube. Einen Hinweis auf den Absender fand ich nicht, abgesehen vom Poststempel. Isola del Giglio. Urlaub auf Lebenszeit.

Die Kühlmaske hatte mich nicht schöner gemacht und auch nicht wesentlich wacher, aber immerhin kreiste das Adrenalin in meinen Adern und hielt mich auf den Beinen. Als es halb zehn war, hatte ich mir die verschiedensten Szenarien ausgemalt, wie ich Karsten auf der Insel ausfindig machen würde, und ebenso viele Mordmethoden überlegt. Doch diese Phantasien brachten mich keinen Schritt weiter. Ich würde nicht nach Giglio reisen, denn dazu müsste ich über das Meer, und ich würde ihn selbstverständlich auch nicht umbringen, weil ich dazu ja erst mal hinkommen müsste. Stattdessen würde ich jetzt endlich Anna anrufen, ich brauchte jemanden zum Ausheulen. Nein, ich wollte ja nicht mehr heulen. Heulen war etwas für Opfer. Und mit der Opferrolle war jetzt endlich Schluss!

Während das Freizeichen tutete, trommelte ich ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte.

Als Anna sich meldete, hörte sie sich ebenso müde an, wie ich mich fühlte. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, und stammelte einen wahrscheinlich unverständlichen Wirrwarr von einem anonymen Brief, Giglio und Karsten, der wahrscheinlich noch am Leben war, wenn sich nicht gerade jemand einen üblen Scherz mit mir erlaubte.

Anna räusperte sich. »Nina, ich versteh kein Wort. Sortier dich erst mal, ich hole mir inzwischen einen Kaffee.«

Ich hörte, wie der Hörer hingelegt wurde, und fing wieder an, entnervt auf die Tischplatte zu trommeln, während das Mahlwerk ihrer Kaffeemaschine in meinen Ohren kreischte.

»So, jetzt bin ich aufnahmefähig«, sagte sie endlich. Also fing ich an zu erzählen, doch schon nach zwei Sätzen unterbrach sie mich wieder.

»Ein anonymer Brief? Komm her und bring ihn mit. Dann können wir in Ruhe drüber reden.«

Eine halbe Stunde später läutete ich an dem dreistöckigen Wohnhaus in der Nähe der Münchner Freiheit, wo Anna wohnte und arbeitete. Sie hatte eine Vier-Zimmer-Wohnung in Arbeits- und Wohnbereich aufgeteilt. Zwei der Zimmer nutzte sie als Praxisräume, in den anderen beiden wohnte sie. Sie empfing mich in ihrem ganz im Ikea-Stil eingerichteten Wohnzimmer. Eigentlich sah die ganze Wohnung aus, als hätte das schwedische Möbelhaus hier ein Außenlager aufgemacht, und anfangs hatte ich geglaubt, dass Anna den Kaufpreis der Wohnung in dieser exponierten Lage vielleicht mit der günstigen Einrichtung ausgleichen wollte. Doch als ich sie besser kennenlernte, begriff ich, dass es ihr einfach gefiel.

Nun saß ich also auf ihrem Klippan-Sofa und knetete eines ihrer karierten Hässlebrodd-Kissen in meinem Schoß. Anna war noch ungeschminkt, trug einen verschlissenen türkisfarbenen Hausanzug aus Nickistoff und hatte die rotblonden Locken mit einem Tuch aus dem Gesicht gebunden. So leger bekam ich sie selten zu Gesicht. Es tat mir schon leid, dass ich sie an ihrem freien Tag aus dem Bett geklingelt hatte, aber ich hätte unmöglich noch länger warten können. Gespannt sah ich zu, wie sie mit kritischen Blicken den Brief musterte, ihn gegen das Licht hielt, als würde der Absender dann als Wasserzeichen erscheinen, den Umschlag von beiden Seiten untersuchte und sich schließlich seufzend im Sessel zurücklehnte.

»Hm. Keine Hinweise auf den Absender.« Das hatte ich ihr zwar schon zweimal gesagt, aber wahrscheinlich glaubte sie, ich hätte das in meiner Hysterie übersehen. »Was willst du jetzt tun?«

»Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.« Das hatte ich wirklich. Denn ich selbst hatte nicht die geringste Idee.

Anna schwieg. Musterte mich nur mit ihren wasserblauen Augen, ohne einmal zu blinzeln. Bestimmt kam gleich wieder dieser Spruch mit dem Selbst-Verantwortung-Übernehmen. Den hatte ich schon oft gehört, wenn ich sie um Rat gebeten hatte.

»Nina, für dein Leben mit all seinen Entscheidungen bist du selbst verantwortlich.«

Na also, ich hatte es doch gewusst.

»Ich weiß«, seufzte ich. »Und du hilfst mir nur, anschließend die Scherben zusammenzufegen. Formulieren wir es so: Was würdest du denn an meiner Stelle tun?«

»Ich würde natürlich nach Giglio fahren und die Spur des Briefes verfolgen. So groß ist die Insel ja nicht. Über kurz oder lang müsstest du Karsten über den Weg laufen, wenn er wirklich dort lebt. Oder du findest den anonymen Briefschreiber. Dann wäre es auch nur noch ein kurzes Stück bis zu Karsten. Vorausgesetzt, dieser Brief ist kein übler Scherz. Damit musst du natürlich auch rechnen.«

»Nach Giglio fahren?«, rief ich entsetzt. »Da muss man mit der Fähre übersetzen, das dauert eine Stunde! Ich würde sterben vor Angst.«

Anna grinste mich an. »Du hast gefragt, was ich machen würde. Und das habe ich dir gesagt. Nicht zu verwechseln mit dem, was du tun wirst. Aber wenn du mich schon so fragst, dich dem Wasser zu stellen wäre eine gute Therapie.«

»Nein, das ist noch zu früh, das schaffe ich nicht«, sagte ich resigniert.

»Noch zu früh? Nach sieben Jahren? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Ich habe Angst«, sagte ich.

»Klar hast du Angst. Aber nicht nur vor dem Wasser. Und mal ganz ehrlich, Nina: Willst du ihn wirklich damit durchkommen lassen? Er hat dich mit seiner Sekretärin betrogen und – wenn es stimmt, was in diesem Brief steht – eine Schiffskatastrophe zum Anlass genommen, sich auf eine italienische Sonneninsel abzusetzen, ohne dir auch nur ein Lebenszeichen zukommen zu lassen, geschweige denn eure Beziehung zu klären. Er hat dich um ihn trauern lassen. Lässt du dir das gefallen? Du musst doch saumäßig wütend auf ihn sein!«

Umständlich erklärte ich ihr, dass ich mir vorhin noch fest vorgenommen hatte, aus der Opferrolle auszubrechen, die Praxis hinter der Theorie aber noch weit zurückstand.

»Im Grunde versteckst du dich immer noch hinter deiner Trauer und deiner vermeintlichen Machtlosigkeit«, sagte Anna. »Damit kompensierst du deine Wut und dein Rachebedürfnis. Wenn du dir die Wut wirklich erlauben würdest, müsstest du nämlich handeln.«

Verdammt, hätte ich mir nicht eine ganz normale Freundin ohne Diplom in Psychologie zulegen können? Eine, die meine Hand hielt, mich heulen ließ, mir Taschentücher reichte und mich in meinem Elend bestärkte? Die mich nicht ständig aufforderte, über meinen Schatten zu springen und selbst Verantwortung zu übernehmen? Frustriert starrte ich auf die gerahmten modernen Gemälde an der Wand, die mich irgendwie an Rorschachtests erinnerten, und wusste nichts zu entgegnen.

»Wenn er dort ist, findest du ihn auch. Diese Insel hat nicht mal anderthalbtausend Einwohner. Wenn er wirklich seit Jahren dort lebt, wäre es ein Unding, wenn ihn nicht jemand kennen würde. Wenn er nicht dort ist, dann bist du wenigstens mal rausgekommen. Wann hast du denn zum letzten Mal Urlaub gemacht?«

Als ich nicht antwortete, griff Anna in die Ablage unter ihrem Malmsta-Couchtisch und zog eine Ansichtskarte heraus.

»Eine Freundin von mir ist gerade auf Segeltörn im Mittelmeer. Schau mal, sieht das nicht traumhaft aus?« Sie hielt mir die Postkarte unter die Nase. Eine Luftaufnahme über tiefblauem Wasser, in dem sieben Inseln verstreut waren. »Le isole dell’arcipelago toscano«, las ich.

»Eine davon ist Giglio«, sagte sie. »Also, ich würde mir das überlegen.«

Anna hatte natürlich geschafft, was sie vorgehabt hatte. Sie hatte sehr geschickt einen Samen in meinen Kopf gepflanzt. Einen Samen, der die wildesten Blüten trieb. Wie würde es sein, endlich wieder nach Italien zu reisen? Ich war so lange nicht mehr dort gewesen, dass mir meine Studentenjahre in Florenz wie ein anderes Leben erschienen.

Isola del Giglio. Die Insel lag im Mittelmeer südlich von Elba und musste wunderschön sein. Natürlich hatte ich sie gegoogelt, damals, gleich nach dem Unglück, und seitdem immer wieder. Ein Juwel im Tyrrhenischen Meer, unerreichbar für mich, durch zwanzig Kilometer Wasser vom Festland abgeschnitten. Aber meine aktuelle Hausaufgabe, die Anna mir mit auf den Weg gegeben hatte, hieß: Raus aus der Opferrolle!

Die erste Herausforderung würde sein, mich der Überfahrt zu stellen. Die nächste, den Ort zu besuchen, wo Karsten gestorben war. Oder vielleicht doch nicht gestorben war? Wenn Sabines Leichnam wirklich identifiziert und nach Deutschland überführt worden war, musste er sich ja allein dort aufhalten. Warum war er geblieben, ohne sie? Ich musste es unbedingt herausfinden, kein anderer würde das für mich tun. Ich musste die Reise selbst wagen. Aber ich brachte es nicht über mich. Wann immer ich an das Wasser dachte, das zwischen dem Festland und der Insel lag, stieg Panik in mir auf.

Ich grübelte mehrere Tage, entschied mich hin und her. Dann wurde mir klar, dass ich das bis ans Ende meines Lebens tun würde, wenn ich nicht endlich handelte.

An einem sonnigen Spätsommertag im August packte ich meinen Koffer.

Ich nahm das Flugzeug bis Rom und stieg dort in den Zug, der wieder Richtung Norden fuhr. Ab und zu erhaschte ich aus dem linken Zugfenster einen Blick auf das Meer, das sich tiefblau und im Sonnenlicht silbern gesprenkelt bis zum Horizont zog, wo die Grenze zum Himmel kaum zu erkennen war. Es sah so friedlich aus, aber ich wusste, dass der Frieden trügerisch war. Unzählige Tote bedeckten den Meeresboden, von waghalsigen Schwimmern bis hin zu Schiffbrüchigen. Nicht zu vergessen die vielen Flüchtlinge, die von Nordafrika aus versuchten, mit seeuntüchtigen Schlauchbooten über das Mittelmeer Europa zu erreichen.

Wer die Gefahr sucht, kommt darin um, hatte meine Mutter immer gesagt. Sie hatte in ständiger Sorge um meinen Vater gelebt, der auf einer Bohrinsel in der Nordsee arbeitete. Tiefe Wasser waren ihr nicht geheuer gewesen. Und seit meiner frühen Kindheit hatte ich genug Erfahrungen gesammelt, die ihre These bestätigten. Immer war es das Wasser gewesen, das mir Unglück brachte.

Das erste Desaster, an das ich mich erinnere, passierte an meinem fünften Geburtstag. Mein Onkel Gerhard, seit jeher der Tollpatsch unserer Familie, traf mit einem querschlagenden Sektkorken den Sprinklerkopf der Löschanlage des Restaurants, in dem wir feierten, und verwandelte meinen Geburtstagskuchen in einen Haufen aus Biskuit, Schlagsahne und abgestandenem Dreckwasser. Die Gäste fanden das nicht im Mindesten witzig und suchten hysterisch kreischend das Weite. Meine Freundinnen wurden noch vor dem Auspacken der Geschenke von ihren Eltern abgeholt, und ich verbrachte den Rest des Tages heulend auf meinem Bett. Für eine Fünfjährige ist so etwas das Ende der Welt. Damals dachte ich, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Aber es war nur ein Vorgeschmack dessen gewesen, was das Leben noch für mich in petto hatte.

Die nächste Station auf dem Weg meiner Wasserphobie war der Schwimmunterricht.

Schwimmen ist lebenswichtig, meinte mein Vater. Als Arbeiter auf einer Nordsee-Bohrinsel musste er das schließlich wissen. Wenn er hin und wieder für einige Tage zu Hause war, versuchte er binnen kurzer Zeit alle Versäumnisse in meiner Erziehung nachzuholen. Zum Beispiel war er der Meinung, dass ich noch vor meiner Einschulung schwimmen lernen müsse, und sein Wort war Gesetz.

Kurze Zeit später fand ich mich – mit einem nagelneuen rosafarbenen Rüschenbadeanzug gefügig gemacht – inmitten einer Horde Vorschulkinder in der örtlichen Schwimmhalle wieder. Um die Angst vor dem Wasser gar nicht erst aufkommen zu lassen, meinte die Lehrerin, es wäre spaßig, uns vom Beckenrand ins Nichtschwimmerbecken springen zu lassen. Auch die anderen Kinder fanden das und hüpften los. Alle außer mir. Ich stand zitternd da in meinem rosa Schwimmdress, die Zehen um den Beckenrand geklammert, als könnte ich mich damit festhalten wie unser Wellensittich auf seiner Stange. Ich hasse die Lehrerin noch heute dafür, dass sie mich in den Rücken stupste. Das Wasser war nicht tief, vielleicht brusthoch, aber vor Schreck schnappte ich nach Luft, gerade als ich auf der Oberfläche aufschlug. Unfähig zu atmen, Nase und Mund voller Wasser, schlug ich panisch um mich. Ich fühle noch heute die Todesangst, spüre den Chlorgeschmack im Mund und den Druck auf meinen Ohren, als ich begriff, dass ich sterben würde.

Natürlich starb ich nicht. Ich fand mich heftig hustend am Beckenrand wieder, unter den besorgten Gesichtern des Bademeisters und der Lehrerin. Einer der Jungs, die schon ganz passabel schwimmen konnten, lachte mich aus, und zwei Mädchen, die ich bis dahin für meine Freundinnen gehalten hatte, kicherten. An diesem Tag schwor ich mir, in meinem Leben nie wieder zum Schwimmunterricht zu gehen.

Es war nur wenig später in meinem ersten Grundschuljahr, und ich kämpfte gerade mit dem Alphabet und dem kleinen Einmaleins, als eine Bohrinsel dreihundertfünfundachtzig Kilometer vor der norwegischen Küste während eines Orkans kenterte. Mein Vater war eines der hundertdreiundzwanzig Todesopfer.

Später erfuhr ich, dass er zum Zeitpunkt des Unglücks gerade mit Kollegen im Kinoraum gesessen und sich »Die Flut bricht los« mit Leif Garrett und Ann Doran angesehen hatte. Als hätte er sein Schicksal damit herausgefordert.

Der Tod meines Vaters traf mich als gerade Siebenjährige mit der Wucht einer Monsterwelle und veränderte mein Leben von Grund auf. Die Welt, wie ich sie kannte, hörte auf zu existieren. Meine Mutter, unfähig, mich zu trösten, vergrub sich in ihrem Leid und verhärmte zusehends. Schulfreundinnen zogen sich zurück, als wäre das Unglück eine ansteckende Krankheit. Heute weiß ich, dass sie einfach befangen waren und mit dem Tod in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht umgehen konnten. Damals empfand ich es nur als Verrat.

Mit der Zeit machte ich aus der Not eine Tugend, indem ich mir meine Isolation schönredete. Wenn mich niemand fragte, ob ich mit ins Schwimmbad kommen wollte, müsste ich wenigstens nicht ablehnen. Ich konnte gemütlich zu Hause bleiben und mich mit einem Buch in den Garten verziehen. Irgendwann hatte ich mich fast überzeugt, dass meine Einsamkeit selbst gewählt war. Und doch erinnere ich mich an Situationen, in denen ich wissentlich litt. Zum Beispiel an einen Spätnachmittag Ende März, als ich am Fenster meines Zimmers saß und in die Dämmerung hinausstarrte. Menschen gingen vorbei, vielleicht von der Arbeit nach Hause, vielleicht zum Einkaufen, vielleicht unterwegs zu Freunden. Ich beneidete jeden Einzelnen von ihnen, sogar diejenigen, die auf dem Weg zum Zahnarzt waren. Und dann kam diese Familie, Mutter und Vater Hand in Hand, der vielleicht fünfjährige Junge fuhr mit dem Roller voraus, das jüngere Mädchen saß auf der Schulter des Vaters und lachte so laut über irgendetwas, dass ich es bis tief hinein in meine Einsamkeit hören konnte. Ich verging fast vor Neid. Ich glaubte, niemals wieder lachen zu können.

Seither habe ich mich vom Wasser ferngehalten, so gut es ging. Urlaub am Meer? Niemals. Bootsfahrten oder Schiffsreisen? Keine Chance.

Was das Meer aber nicht daran hinderte, mir Karsten zu nehmen, auf die grausamste Weise, die man sich vorstellen kann. Man kann das Wasser meiden, wie man will, es schlägt heimtückisch aus dem Hinterhalt zu. Deshalb blieb mir nur die Flucht nach vorn. Wenn es eine Chance gab, Karsten zu finden, wollte ich sie nicht ungenutzt lassen. Wir waren noch nicht fertig miteinander. Ich würde es zu Ende bringen, auch wenn ich dafür meine Phobie überwinden musste. Endlich war ich bereit, meinem Feind die Stirn zu bieten.

Ich schrak aus meinen Gedanken, als der Zug mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof von Orbetello einfuhr. Hier musste ich in den Bus umsteigen.

Orbetello liegt auf dem mittleren von drei Dünenstreifen, mit denen die Halbinsel Monte Argentario mit dem Festland verbunden ist. Bis Porto Santo Stefano, der Hafenstadt, wo die Fähren nach Giglio ablegten, war es nun nicht mehr weit.

Im Barbanera-Café am Bahnhofsvorplatz trank ich schnell einen Espresso an der Theke und zog dann meinen Koffer die kurze Strecke zur Bushaltestelle am Kreisverkehr der Via della Stazione. Der Bus stand schon bereit. Ich suchte mir einen Fensterplatz und starrte durch die schmutzige Scheibe auf die Straße, wo ein junges Pärchen auf einer Vespa vorbeisauste. Die langen Haare des Mädchens flatterten im Fahrtwind. Ich erhaschte nur einen kurzen Blick auf die beiden, aber sie sahen so unbekümmert und glücklich aus, dass es mir einen Stich versetzte. Die Erinnerungen kamen ungerufen und mit einer Heftigkeit, dass ich kaum bemerkte, wie der Bus losfuhr, die Autobrücke zum Monte Argentario überquerte und sich unaufhaltsam dem Ziel meiner Reise näherte.

Meine Liebe zu Italien wurzelt in meiner Jugend, als ich stundenlang in meinem Zimmer Schallplatten von Gianna Nannini und Eros Ramazzotti hörte. Es war nicht nur die Musik, es war vor allem diese weiche, melodische Sprache, die mein Herz eroberte. Von meinem Taschengeld kaufte ich Selbstlern-Kassetten von Langenscheidt und vergrub mich in einer Welt, in der ich zunächst die Schönheit der Sprache entdeckte, um wenig später festzustellen, dass diese Sprache, das Land, die Leute und die Lebensart untrennbar miteinander verbunden sind. Italien wurde zu einer Zuflucht, einem Ort, an den ich mich zurückziehen konnte, wenn ich meine Mutter in ihrem Schlafzimmer weinen hörte.