So wild wie das Meer - Doris Renoldner - E-Book

So wild wie das Meer E-Book

Doris Renoldner

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Beschreibung

Hin und wieder passiert es: Eine Reise wird zum Buch und Segler zu Geschichtenerzählern. Das neue Buch der "Seenomaden" Doris Renoldner und Wolfgang Slanec, die seit 27 Jahren die Welt unter Segeln erkunden, erzählt von ihrer dritten großen Reise von 2012 bis 2015. Nach zwei Weltumsegelungen starten die beiden Abenteurer voller Tatendrang 2012 den nächsten großen Törn. Sie segeln von der nördlichen Adria quer durch das Mittelmeer und über den Atlantik in die Karibik und schließlich via USA und Kanada nach Grönland. Fazit: 3 Jahre, 25.000 Seemeilen und 50 Grad Unterschied – sowohl in Temperatur als auch in den Breitengraden. Aber welche Herausforderungen galt es zu bewältigen? In ihrem neuen Buch erzählen die Seenomaden von ihrer Strandung auf den Bahamas, von ihrer Liebe zu Kuba, vom magischen Moment durch New York zu segeln, vom undurchdringlichen Nebel Nova Scotias, von bewaffneten Landgängen in Labrador und von der vergänglichen Schönheit der Eisberge Grönlands. Aber auch von den alltäglichen Schwierigkeiten des Bordlebens, von Rückschlägen und Zweifeln, vom Glück und vom Staunen. Eine mitreißende Geschichte über messerscharfe Riffe, eine zutrauliche Seekuh, schwimmende Schweine, Langusten, die in keinen Kochtopf passen, eiskalte Finger und die diffuse Angst vor Eisbären und Eisbergen.

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Von den Seenomaden ist im Delius Klasing Verlag bereits das Buch „Frei wie der Wind“ erschienen.

 

1. Auflage 2017© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:ISBN 978-3-667-10944-6 (Print)ISBN 978-3-667-11002-2 (E-Pub)

Text: Doris RenoldnerFotos: Wolfgang Slanec, außer Seite 65 re.: Rudi Kiener, Seite 100: David Hettich,Seiten 220/221: Andy CorbeZeichnungen: Wolfgang SlanecLektorat: Birgit Radebold/Judith Duller-MayrhoferTitelgestaltung: Felix Kempf, [email protected]: Claudia FritzenwankerLithografie: Mohn Media, Gütersloh

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnisdes Verlages darf das Werk, auch Teile daraus, nichtvervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

WIDMUNG

 

 

Für meine Mutter, die vor dem Leben davonrannte,und für meinen Vater, dem für so vieles der Mut fehlte.

INHALT

Übersichtskarte

Vorwort

Zum Geleit

 

TEIL I Mittelmeer

ZURÜCK IN DIE FREIHEITMarina Sant’ Andrea

NEUE ZIELE IN ALTBEKANNTEM REVIERAdria

INSELHÜPFENIonisches Meer

AUF WESTKURSSüditalien

MISTRALBalearen

KONTRASTPROGRAMMSüdspanien

DIE SÄULEN DES HERKULESStraße von Gibraltar

 

TEIL II Atlantik

UNBEKANNTE SCHÖNHEITLa Graciosa

FEUERINSELLanzarote

NOMEN EST OMENFuerteventura

BEI DER GUANCHEN-PRINZESSINTenerifa

AUSSTEIGERINSELLa Gomera

DER LETZTE AUSSENPOSTEN EUROPASEl Hierro

MORABEZAMindelo, Insel São Vicente

REISE ZUM ICHTransatlantik

 

TEIL III Karibik

LIMINGTobago

HÄNGENBLEIBENHog Island, Grenada

JEDE INSEL EINE WELTKleine Antillen

BOATBOYSSt. Lucia

LASS DIE ZEIT STEHEN BLEIBENMartinique

TANZ UNTER STERNENAntigua und Barbuda

LIEBE AUF DEN ZWEITEN BLICKBritish Virgin Islands

VERSTECKTE OASEBermuda

 

TEIL IV Kanada

NEBELBADNova Scotia

CHARAKTERNeufundland

IN DIE EINSAMKEITRed Bay und Battle Harbour, Labrador

IM BÄRENLANDHopedale bis Hebron, Labrador

BEI DEN GEISTERNTorngat Mountains, Labrador

WINTERLAGERLewisporte, Neufundland

 

TEIL V Südwärts, Kanada und USA

ON THE BOAT AGAINLewisporte, Neufundland

WIEDER UNTERWEGSNeufundlands Nordostküste

FAR AWAY FROM DISNEYLANDNeufundlands Ostküste

BASKENFEST, BAGUETTES UND BORDEAUXSt. Pierre und Miquelon

LIEBLINGSORTFrancois, Neufundland

DORIESNova Scotia

USA – HERE WE COMECape Cod bis Port Washington

WIR WAREN NOCH NIEMALS IN …New York

ROOTSChesapeake Bay

SNOWBIRDSAtlantic Intracoastal Waterway

JIMMY GENTILOriental

OFFSHORESouth Carolina bis Florida

INSPIRED INSANITYFernandina Beach

SUNSHINE STATEFlorida

 

TEIL VI Bahamas und Kuba

FLÜSSIGES TÜRKISBerry Islands und Eleuthera

VOM RIFF GEKÜSSTNördliche Exuma Cays

IM WINTERQUARTIER DER SNOWBIRDSSüdliche Exuma Cays

MARINA OHNE EINFAHRTRum Cay

WEIT WEG VON ALLEMCrooked Island

BIENVENIDOSKubas Südostküste

KARIBIK PURKubas Südküste

KURS HAVANNAKubas Nordwestküste

EIN BLINDER PASSAGIERZwischen Kuba und den Bahamas

SEEKUH AUF TUCHFÜHLUNGBerry Islands und Abacos

DER LEUCHTTURMWÄRTERElbow Cay, Abacos

DER WOLF, DER MIT DEN WELLEN TANZTMarsh Harbour, Abacos

HAIE SIND FREUNDECrab Cay, Abacos

 

TEIL VII Nordwärts

WENN NICHT JETZT, WANN DANN?US-Ostküste

PFADFINDER-MENTALITÄTNova Scotia

KNEIPPENLabrador

RAUSFAHREN, UM ZU SUCHENLabradorsee

SPIELPLATZ DER HELDENPaamiut, Grönlands Westküste

SOMMER IN GRÖNLANDZwischen Nuuk und Ilulissat

GEISTERTANZWestküste Grönlands

 

EPILOG

Anhang

Danksagung

VORWORT

Vor 27 Jahren kamen Doris Renoldner und Wolf Slanec in die Redaktion der Yachtrevue und erzählten von ihrem Plan, um die Welt zu segeln. Sie waren auf sehr sympathische Weise bescheiden in ihrem Auftreten, vielleicht sogar ein wenig naiv, aber auch fest entschlossen, ihr Ding durchzuziehen. Sie wollten mit der Yachtrevue langfristig zusammenarbeiten. Doris hatte zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Text für eine Zeitschrift verfasst, Wolf kaum Ahnung von professioneller Fotografie. Aber sie waren bereit zu lernen.

Seither ist viel passiert. Die „Seenomaden“ umrundeten nicht ein-, sondern zweimal die Welt, befinden sich derzeit auf ihrer dritten großen Reise und sind längst zu einer Marke geworden. Doris fand ihren ganz eigenen, sehr anrührenden Schreibstil, Wolfgang ist meiner Meinung nach der beste unter den fotografierenden Weltumseglern. Ihre Berichte adeln die Yachtrevue, und wir sind stolz, sie zu unseren Autoren zählen zu dürfen.

Auch die Vorträge der Seenomaden gehören in eine eigene Liga und werden nicht umsonst vom Publikum gestürmt. Die perfekt in Szene gesetzten und emotional moderierten Bilder lassen eine Authentizität entstehen, die den Zuschauern regelmäßig feuchte Augen beschert.

Authentizität zieht sich auch durch dieses Buch. Roter Faden ist die Leidenschaft für das Segeln, Zweifel und Rückschläge werden aber nicht ausgespart. Auch deshalb will man es nicht mehr aus der Hand legen.

In diesem Sinne wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen.

 

Roland DullerChefredakteur der Yachtrevue

 

ZUM GELEIT

Eines Abends vor nicht allzu langer Zeit kam ich neben einer langbeinigen Blume zu sitzen. Frische 18 war sie, wohlerzogen, von freundlichstem Gemüt, und noch längst nicht vertraut mit ihrer ausgeprägten Gabe, allein durch ihr Aussehen Kabelbrände in Herzschrittmachern zu verursachen.

Die Atemberaubende las online einen Kafka-Text, googelte gleichzeitig eine Borchert-Biografie, chattete dabei am iPhone mit der besten Freundin und vergaß das alles sofort wieder, denn sie verband die Multitasking-Fähigkeiten einer Kampfjetpilotin mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Angorahasen.

Ihre besorgte Mutter hatte mich angeheuert, der jungen Frau über den Zaun der nahenden Deutsch-Matura zu helfen, und weil, wie so oft im Leben, zu wenig zu spät getan wurde, hatte ich genau 120 Minuten Zeit, ihr mit nachhaltiger Wirkung zu erklären, wie man ein Buch beschreibt.

Ich coachte sie vom sicheren „Nicht genügend“ auf eine achtbare Durchschnittsnote – mit folgendem Ratschlag, und wer Teenager daheim hat, merke sich das jetzt bitte:

„Finde den Konflikt“, sprach ich zu ihr. „Jede gute Geschichte dreht sich um einen Konflikt, und sobald du den begriffen hast, kannst du jede, wirklich jede Story in einem einzigen Satz erzählen.“

Ihre Augen wurden riesengroß und begannen zu strahlen. Aus den Kontakten meines Herzschrittmachers stieg blauer Rauch. Es roch ein bisschen nach Ozon.

Warum mir das gerade jetzt wieder einfällt?

Weil Wolf Slanec angerufen hat. Er fragte, ob ich das Vorwort zum neuen Seenomaden-Buch schreiben möchte. Er fragte so beiläufig, wie wir einander einen Sommer lang nach 17er-Ringschlüsseln, Metallsägeblättern oder einem Rest Polycarbonat für eine Bootsfensterscheibe gefragt haben, damals, 2011, als wir in der Gluthitze von San Andrea nebeneinander unsere Boote reparierten und abends überm Bier die Selbsthilfegruppe Anonyme Bootseigner gründeten: „Ich heiße Mike. Ich bin Bootseigner.“ – „Hallo, Mike. Sprich darüber. Lass alles raus, auch wenn du dabei weinen musst.“

In jenem Sommer hat Wolf den mit hellem Skai auf millimetergenau zugeschnittenen Kunststoffplatten tapezierten Salonhimmel der Nomad dreimal zerlegt und wieder zusammengebaut. Ein erstes Mal, weil: Der muss neu, der war ja schon total durch, also rauf damit, und jetzt ist für Jahre Ruhe. Bald darauf ein zweites Mal, weil: Das Kabel der neuen Radaranlage muss noch da drunter, und das geht nur bei ausgebautem … – und ein drittes Mal, weil irgendwann ein italienisches Sommergewitter die einzige korrodierte Stelle im Aufbau gefunden hatte und fröhlich hinter der Tapezierung das Wasser herunterrieseln ließ, und das muss gefunden und geschweißt werden, bevor wir auslaufen können. „Ich heiße Wolf. Ich bin Bootseigner …“ – „Lass alles raus, Wolf. Weinen heilt die Seele.“

Es war eine Heidenarbeit. Aber ein Riesenspaß war es eigentlich auch. Und als die Seenomaden dann eines Tages doch endlich fertig waren und ausliefen, hinterließen sie einen leeren Fleck in meinem Herzen.

Jetzt, ein paar Jahre später, überwintert die Nomad in der Gegend von Tuktoyaktuk, und wer das auf Anhieb auf der Landkarte findet, darf es behalten. Doris und Wolf sind zurück in Europa, mit wunderschönen Fotos und einem Buchmanuskript und ja, klar, Vorwort, kein Problem.

Aber wo anfangen?

Im Frühling 2001? Damals managte ich ein Regattateam in der Marina Izola, und gleich neben unserem Werkstattcontainer war ein Knickspanter aus nacktem Alublech aufgebockt. Ein bisschen sah es aus, als hätte ein gewissenloser Banktresor ein minderjähriges Pottwal-Mädchen verführt und das da, das ist wohl das Kind, mit dem er sie sitzengelassen hat. Naja, alle Tresore sind Schweine.

In den Eingeweiden des Bootes hielt ein Vorschlaghammer stundenlange Konferenzen mit einer Flex ab. In rhythmischen Abständen flogen Fetzen von Innenisolierung und Teile des Interieurs aus dem Niedergang. Den ganzen Sommer über ging das so, irgendwann begannen wir, einander Werkzeug zu leihen, und als dann wider Erwarten der Haufen Material unter dem Boot immer kleiner geworden und schließlich ganz verschwunden war, der Rumpf in frisch lackierten Zierstreifen strahlte und auf dem Heck stolz „Nomad“ stand, waren wir schon sowas wie Freunde. Wolf und Doris stachen mitten im Winter in See, und da lernte ich das mit dem leeren Fleck im Herzen zum ersten Mal kennen.

Allerdings: Dass Blauwassersegler rund um den Planeten Freundschaften schließen, die halten, bis man weiterzieht, um sich vielleicht Jahre später wiederzusehen, oder niemals, das ist nicht der Konflikt, nur ein Symptom. Der Kern des Konfliktes ist in Wahrheit …

„Genug ist nie genug. Aber mehr wäre viel zu viel.“ Schlagartig ging mir das auf, im Sand rumliegend, auf dem Strand der kleinen Insel Baradal und in den karibischen Sternenhimmel starrend, als stünde da oben etwas Erhellendes geschrieben. Wahrscheinlich habe ich den Sachverhalt dann etwas zu undeutlich artikuliert, und es kann auch sein, dass meine Zuhörer schon eingeschlafen waren. Der Rum und das Liegen, das ist so, naja, Rumliegen halt.

Aber heute bin ich nüchtern, Ehrenwort, und ich bleibe dabei: Genug kann nie genügen. Sie glauben es nicht? Hand aufs Herz: Das ist nicht das erste Seenomaden-Buch, das Sie aufschlagen, oder? Und wie viele Seenomaden-Vorträge haben Sie erlebt? Alle mindestens einmal? Eben.

Das Wort „Selfie“ war noch nicht erfunden, als Wolf und Doris die ersten Selfies schossen: Bei ihrer ersten Weltumsegelung hielten sie entschlossen mit der Kamera auf die schönsten Palmenstrände des Planeten, kamen mit Material für einen spektakulären Diavortrag heim und schufen sich ihre Nische in einer Branche, die ich in Ermangelung eines besseren Wortes die Traummanufaktur nennen möchte.

In der Traummanufaktur Tätige stehen in den Schuhen der großen Geschichtenerzähler, Reiseschriftsteller und Bildermacher aller Kulturen, von Homer und Scheherazade bis Paul Gauguin und Hemingway. Ihre Botschaft lautet stets, dass ein anderes, aufregenderes Leben möglich ist, und das tröstet ihre Leserschaft und selbst jene, die mit so viel Aufregung gar nicht umgehen könnten.

Mit dem Geld, das die Vorträge über ihre erste Weltumsegelung hereinspielten, kauften die Seenomaden ein abgewohntes Aluboot, restaurierten es liebevoll, tauften es „Nomad“ und gingen auf ihre zweite Reise. Jetzt sind sie ein drittes Mal unterwegs, haben zwei Bücher auf dem Markt, erlebten eine umjubelte Vorpremiere ihres neuen Vortrages auf der Austrian Boatshow … – Genug ist nicht genug.

Mike Lynn in der Marina Sant’ Andrea und sein Wharram-Katamaran Mother Ocean

Genug kann nie genügen, aber mehr wäre viel zu viel. Es gibt nicht mehr viele unbewohnte, unbefahrene Flecken auf dem Planeten, und jene, die es noch immer sind, bleiben es mit gutem Grund. Die Nordwestpassage hat zwar deutlich weniger Schiffe und Menschen gefressen als etwa das Kap Hoorn, aber nur, weil man zwar schon ziemlich beherzt sein muss, um das Hoorn zu segeln, aber vollkommen gaga, um die Nordwestpassage zu versuchen.

Genug ist nicht genug. Dieses Buch handelt vom Weg der Nomad in die Arktis, zwei abgebrochenen Versuchen, und einem dritten, der gelungen ist – nicht als erste österreichische Segelyacht, sondern als x-te. Eine multimedial vernetzte Welt, die im Minutentakt Weltrekorde verschlingen muss, um nicht an der eigenen Fantasiearmut zu verhungern, verbucht hier wahrscheinlich als halbes Scheitern, was in Wahrheit ein Triumph der Klugheit und gesunden Selbsteinschätzung ist: Es gibt kühne Seefahrer und es gibt alte Seefahrer, und alter Seefahrer wird, wer beizeiten lernt, „nicht genug“ und „viel zu viel“ zweifelsfrei auseinanderzuhalten.

Genug ist nie genug – auf dem Meer und in der Liebe, und schält man die atemberaubenden Fotos und die inspirierenden Anekdoten und die exotischen Schauplätze ab, dann hat dieses Buch zwei Themen – die Liebe und das Meer.

Lesen wir das Meer als schönes Bild für alles, was Menschen instinktiv beunruhigt: Weite, Ferne, Bewegung, Veränderung, Gefahr, Angst. Ziemlich viel Angst sogar, an den schlechten Tagen. Liebe wiederum ist das genaue Gegenteil von all dem, und wenn man den Seenomaden achtsam begegnet, kann man diesem Yin/Yang-Gegensatz bei der Arbeit zusehen: Einerseits wird ständig eine nervöse Energie spürbar, ein immer rotierendes Risiko- und Chancen-Radar, eine Ungeduld mit dem Status quo, eine Sehnsucht, die nach übermorgen und hinter den Horizont zielt. Andererseits fällt die achtsame, pflegliche, geduldige Aufmerksamkeit auf, im Umgang mit sich selbst, mit einander, mit der kleinen Welt, die Doris und Wolf sich geschaffen haben, und mit allen Menschen, denen sie begegnen. Balance ist das, und Balance ist wichtig.

Nicht wenige Seemenschen, die ich unterwegs kennenlernte, waren Maniker, Depressive, Psychotiker, entgleiste Menschen, die Probleme aufs Meer mitnehmen, denen sie an Land nicht entkommen konnten. Die Seenomaden sind das Gegenteil. Sie haben wohl ihre Balance aufs Meer mitgebracht, und vielleicht deshalb war das Meer auch meistens gut zu ihnen.

Jetzt haben sie also, nach Atlantik und Pazifik, Indik und Südsee, Kap Hoorn und Kap der Guten Hoffnung sich auch noch in die Nordwestpassage gewagt. Neufundland, Grönland, die kanadische Arktis. Alle Meere sind befahren. Alle großen Kaps gerundet. So viele Inseln besucht, so viele Häfen, so viele Buchten. Aber weil genug nie genug ist, werden sie wohl weiterfahren, und weil noch mehr nicht mehr möglich ist, müssen sie sich damit abfinden, dass kein Fleck Seekarte mehr übrig ist, auf den sie noch keine Kurslinie gezeichnet haben. Ich hoffe, das beschert ihnen mehr Freude als Kummer und sage für jetzt danke. Danke für die atemberaubenden Bilder. Danke für die fröhlichen, die spannenden, die nachdenklich machenden und die lehrreichen Geschichten. Danke für soliden Blues aus dem CD-Player, während wir unser Bier tranken und die Moskitos unser Blut. Danke für selbst eingelegten Thunfisch auf Spaghetti al dente und für das alte Steckschott der Nomad. – Es trägt jetzt die Ankerwinsch meiner Mother Ocean. Willkommen zurück, Wolf und Doris. Euch zu kennen ist eines der großen Privilegien meines Lebens, und euch zuzuhören immer eine Freude.

Mike Lynn,S/Y Mother Ocean,im Herbst 2016

TEIL I Mittelmeer

August – September 2012

 

DIE ROUTE

ZURÜCK IN DIE FREIHEIT

Marina Sant’ Andrea

Leinen lösen, Alltag und Verpflichtungen achteraus lassen, die Welt aufs Boot reduzieren. Rückkehr zur Genügsamkeit. Davon zu träumen ist eine Sache, den Traum zu realisieren eine andere. Jedes Abenteuer beginnt mit einer Entscheidung. Gegen das Gewohnte, für das Unbekannte. Gegen die Routine, für die Neugier. Gegen die Sicherheit, für das Wagnis. Man muss eine tiefe Sehnsucht spüren; wäre es nur eine flüchtige Idee, hätten wir längst aufgegeben.

Unser dritter gemeinsamer Aufbruch, wahrscheinlich der schwierigste. Warum? Weil wir älter geworden sind, weil manches nicht mehr leicht fällt. Es gibt mittlerweile sehr viele sehr gute Gründe, das Hirngespinst Ab-in-die-weite-Welt bleiben zu lassen. Dennoch kappen wir im August 2012 nochmals die Leinen; da sind wir 57 beziehungsweise 45 Jahre alt. Schon bei der Rückkehr von unserer zweiten Weltumsegelung vor knapp drei Jahren stand fest: Wir wollen wieder los. Nur wann, war die große Frage. Im Herbst, beim Bau des Kachelofens in unserer kleinen Wohnung in Puchberg am Schneeberg, fiel die Entscheidung: „Nächsten Winter sind wir auf den Kanaren!“ Die Dynamik, die so ein Satz auslöst, ist enorm. Als ob nach langem Mistwetter die Sonne durchbrechen würde. Ein Energieschub, der hilft, den Berg an Reisevorbereitungen zu bewältigen.

Unsere Nomad, eine Sonate Ovni 41, Baujahr 1988, optisch gut in Schuss, soll wieder für mehrere Jahre unser Zuhause sein und uns sicher über die Ozeane tragen. Das bereitet, bei aller Vorfreude, erhebliche Sorgen. Ist nicht alles zu schwierig? Zu kostspielig? Zu schnell nach der letzten Reise oder gar zu spät im Leben? Mag sein. Aber das Verlangen ist größer als die Bedenken.

Über zwei Jahre lang, fast eine Ewigkeit, stand unser Boot in der Marina Sant’Andrea an Land. Wir hatten Nomad aus Zeitgründen vernachlässigt. Aber ein Boot duldet Faulheit nicht. Segelschiffe leben und wollen ständig umsorgt werden. Somit steht ein komplettes Refit an. Wir krempeln die Ärmel hoch und legen uns mit dem Know-How von über 20 Jahren und 100.000 Seemeilen ordentlich ins Zeug. Unsere Welt dreht sich um Schleifmaschinen, Schraubenschlüssel, Ventile, Schläuche, Nieten, Wassersammler, Sperrholz, Schoten, Segel, Motordichtungen und weiß der Kuckuck was. Nomad ist aus Alu. Das ist gnadenlos, verlangt Hingabe und an Deck einen Schutz aus Lack. Aber es gibt so viel mehr zu tun als schleifen und lackieren. Die größte Gefahr: sich in unwichtigen Arbeiten verzetteln und den Zeitpunkt des Aufbruchs immer wieder verschieben. Deshalb kürzen wir die Projekte radikal auf Essentielles und stellen Schnickschnack sowie Kosmetik hintenan. Meine neue Küchenarbeitsplatte muss daran glauben, auch der sehnlichst gewünschte Wassermacher bleibt auf der Strecke. Gott sei Dank überlagert unsere Euphorie viele Probleme, denn jede aufgerissene Wunde fördert neue Blessuren zutage. Und: Jedes Projekt dauert doppelt so lange wie geplant und kostet auch doppelt so viel. Doch die Arbeitsmoral geht auch bei 40 °C in der Kajüte nicht verloren, nicht beim komplizierten Einbau des neuen Motors und nicht beim langwierigen Auswechseln von Wanten, Stagen, Fallen und Schoten. Für Freunde und Familie gelten wir längst als verschollen; verschollen in einer Schiffswerft in Italien.

Werftarbeiten in der Marina Sant’ Andrea/Italien

Wie viele Monate unseres Lebens haben wir auf einem Werftgelände verbracht? Umgeben von Arbeitstischen, Ersatzteilen, Zangen, Schleifpapier, Lacktöpfen, Spachteln und Pinseln. Umzingelt von abgelegten Masten, aufgerollten Wanten, Kabeln, Schläuchen und Generatoren. Aber mit unserem Projekt sind wir in guter Gesellschaft: Überall in der Marina arbeiten Segler mit Blauwasserambitionen an ihren Booten, mit unterschiedlichen Stressbelastungen, Zeithorizonten – und unterschiedlichem Erfolg:

Peer und Uli zum Beispiel haben zehn Jahre lang an einer stählernen, 15 Meter langen Reinke namens Voodoo Chile gebaut. Jetzt sind sie im Endspurt und müssen in atemlosen sechs Monaten den kompletten Innnenausbau fertigstellen, weil der Abfahrtstermin mit Gästen bereits fixiert ist. Peer arbeitet fast rund um die Uhr und findet trotzdem immer wieder Zeit, zu helfen, wenn es wo klemmt. Im Schatten des Bootsrumpfes steht ein betagter Wohnwagen, in dem uns Uli oft bekocht.

Am anderen Ende des Geländes sägt, schleift und lackiert Mike, ein Einzelkämpfer, der, zurückgekehrt nach einem langjährigen Karibik-Trip, seinen Wharram-Katamaran Mother Ocean komplett zerlegt hat und jetzt gemächlich Stück für Stück wieder zusammenbaut. Sieht aus wie bei IKEA oder ein Puzzle mit zu vielen Teilen. Ob er es je wieder zusammensetzen wird? „Im Sommer geht sie wieder zu Wasser“, sagt Mike abends überm Bier. „Wirklich? Da ist aber noch so viel …?“ – „Ich habe keine Jahreszahl genannt.“

Eine lange Zwangspause muss Gerald einlegen, der seine Amel Sharky Pesce d’Oro ebenfalls für eine Langfahrt vorbereitet hat. Seine Träume nehmen ein abruptes Ende, als er beim Gleitschirmfliegen abstürzt und sich das Kreuz bricht.

Schmerzlich scheitern sehen wir Helmut und Monika, die aus einer alten Phantom 32 ein neues Schiff machen wollten, über zu viel Perfektionismus und Ausrüstungsideen den Weg verloren haben und schlussendlich ihre Träume begraben und ihr renoviertes Schiff verkaufen müssen.

Ab und zu kommen sie alle zu uns an Bord, wir hocken gemeinsam im Cockpit und schlürfen Kaffee. Wir helfen einander mit Tipps und Anregungen, drehen gedankenverloren an Winschen und referieren über die Eigenschaften von nichtrostendem Stahl oder Aluminium und wie man dem verfluchten Salzwasser die Stirn bieten kann. Wir palavern über die Kornaten, die Inselwelt Griechenlands und die Karibik, als würden wir morgen früh ablegen. Wir vergessen, dass unsere Schiffe hoch und trocken an Land stehen, Lichtjahre entfernt von einer Abfahrt. Jahre später wird mir Peer von der Voodoo Chile verraten, dass die Zeit in der Sant’ Andrea und die Kameradschaft unter den Yachties zu seinen schönsten Erinnerungen zählen. Doch aller Gemütlichkeit zum Trotz, da draußen warten das Meer und die Aussicht, bald aufbrechen zu können. Und dafür tun wir alles. Es folgen 999 Handgriffe und endlose Listen. Monatelang rackern wir ohne Pause. Gefühlt: Tag und Nacht. Die Zeit drängt und Nomad verschlingt sehr viel mehr Geld als gedacht.

Immer wieder müssen wir herbe Rückschläge hinnehmen. Wolf überschlägt sich mit dem Fahrrad über die langen Gabeln eines Containerstaplers und bricht sich drei Rippen. Das setzt ihn zwölf Wochen lang außer Gefecht und verzögert unsere Abreise erheblich. Bin unendlich dankbar, dass meinem Kapitän bei dem Unfall nichts Schlimmeres passiert ist. Wie zerbrechlich unser Glück ist.

Nicht zu unterschätzen ist der Papierkram zu Hause. Verbindungen, die wir zu lösen versuchen, haften wie Blutegel. Telefonverträge und Versicherungen, die man nicht von heute auf morgen kündigen kann, Zeitungsabonnements oder Clubmitgliedschaften. Auch meine Bank will nicht kapieren, dass ich für längere Zeit weg bin. Noch Monate später klingelt in Südspanien das Handy und ein neuer Betreuer will mich zu einem Kundengespräch einladen. Überall klemmt es – Nomaden passen nicht ins System.

Anfang August, am letzten Abend vor der Abreise, sitzen wir mit Freund Mike im Fornace, unserem Lieblingslokal in San Giorgio. Der Wirt stellt die zweite Flasche Hauswein auf den Tisch, Mike schenkt nach und prostet uns zu: „Ich beneide euch.“ Ich fühle mich alles andere als beneidenswert. An Bord ein gigantisches Durcheinander aus Kisten, Werkzeug und noch nicht eingebauter Ausrüstung. „Morgen wollen wir los?“, frage ich mich kopfschüttelnd. „Sind wir wahnsinnig?“ Mein Herz klopft. Irgendetwas tanzt in meinem Bauch. Ich trinke einen großen Schluck Rotwein. Einen sehr großen.

Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf: Was haben wir vergessen? Wird alles funktionieren? Wieso habe ich nicht Spanisch gelernt und mein Schul-Französisch aufpoliert? Sind wir gegen alle Seuchen geimpft? Haben wir uns von allen Freunden verabschiedet? Ist es nicht absurd, mit einem 24 Jahre alten Boot stürmische Ozeane überqueren zu wollen? Wird unsere knappe Bordkasse ausreichen? Warum wissen wir immer noch nicht, wohin die Reise geht? Wir haben keinen Plan. Wir werden scheitern.

Am nächsten Morgen ist die Panik fort. Wie selbstverständlich steuere ich Nomad raus in den Fiume Corno. Ja, es ist eine Befreiung. Die schwierigste Hürde jeder großen Reise ist genommen – der Absprung. Unfassbar, dass wir nach drei Jahren Landleben wieder unterwegs sind! Meine Augen füllen sich mit Tränen, verschwommen ziehen Schilf bestandene Ufer vorbei, dann windschiefe Dalben, die uns durch die Lagune von Marano lotsen. Zwei Angler sitzen auf Plastiksesseln in einem winzigen Boot und winken.

„Prosecco!“, ruft Wolf und es klingt wie eine Mischung aus Sehnsucht und Kommando. Wortlos übergebe ich dem Capitano das Steuer, klettere in die Kombüse und hole die eiskalte, bauchige Anselmi-Flasche aus dem Kühlschrank. Den ersten Schluck spenden wir Neptun, dann prosten wir einander zu. Als mir bewusst wird, dass wir am Beginn eines neuen Kapitels stehen, überläuft mich Gänsehaut, als perle der Prosecco durch meine Adern. Dieses Gefühl nennt man wohl Glück. Wie weit werden uns Fernweh und Wind tragen? Nach zwei Weltumsegelungen weiß ich, dass ein unberechenbares Leben auf uns wartet. Es wird Erfüllung, aber auch Entbehrungen mit sich bringen, intensiv und fordernd, manchmal frustrierend, aber stets bereichernd sein. Auf zu neuen Horizonten. Auf ins Abenteuer.

Aufbruch zur dritten Reise

NEUE ZIELE IN ALTBEKANNTEM REVIER

Adria

Die Euphorie des Aufbruchs dauert genau eine Stunde. „Hörst du das?“, fragt Wolf. „Vielleicht klappert der neue Vari-Prop?“ – „Klingt eher wie eine lose Wellenanode.“ Munteres Rätselraten. Bei höherer Drehzahl wird das Scheppern beängstigend laut. Motor aus. Wir treiben vor der Einfahrt von Porto Buso. Weit sind wir nicht gekommen. Vorbei, bevor es begonnen hat? Haben wir uns übernommen? Wir kramen Taucherbrille und Flossen aus der Backskiste. Ein Blick ins trübe Adriawasser genügt. Der Propeller ist nach nur drei Monaten im Flusswasser komplett mit Seepocken bewachsen. Während Wolf mit Spachtel und Drahtbürste die Schiffsschraube abschabt, schrubbe ich den englischen Rasen vom Antifouling. Willkommen im Blauwasser-Alltag.

Auf die durchaus verständliche Frage, wohin es eigentlich gehen soll, haben wir bislang nur vage geantwortet. Wir wissen es selbst nicht genau. Vor allem wollen wir weg – Ziele und Routen werden sich beim Segeln ergeben. Wir folgen einer groben Richtung, haben aber keine bestimmte Destination im Auge, kein festgelegtes Programm. Unsere Art zu reisen ist Improvisation. Bei leichter Brise segeln wir in einen kitschigen Sonnenuntergang. Der volle Mond hängt wie ein Lampion über Istrien.

Der zweite Morgen auf See beginnt mit einem Reffmanöver. Wolf weckt mich aus dem Tiefschlaf, Nomad stampft hoch am Wind durch die bewegte Adria. Das neue Raudaschl-Groß zieht wie eine Lokomotive. Acht Knoten am Wind! Mit dieser Power im Rigg können wir endlich die Wanten nachspannen, auch in Lee sollen sie nicht schlackern. Und Splinte nicht vergessen! Wolf schenkt Nomad in diesen ersten Tagen viel Aufmerksamkeit. Jedes ungewöhnliche Geräusch wird analysiert und die Arbeitsliste täglich länger. Kompasslicht kaputt, Großschotblock verkantet, Klemme der Genuareffleine blockiert, Luk über Mittelschiff ist noch immer undicht – und zwar seit Jahren.

Dann der Schock: Wasser in der Bilge! Wolf kniet vor den geöffneten Bodenbrettern und starrt in die schwappende Brühe. Tauche sofort den Zeigefinger ein und koste: eindeutig salzig. Reißen den restlichen Kajütboden raus, verfolgen wie Detektive das feine Rinnsal bis ins Vorschiff, leeren die Stauräume unter der Bugkoje und entdecken die Quelle des Übels im Bug: Irgendwo sickert Wasser durch feine Korrosionslöcher. Genau orten können wir sie nicht. Technische Macken gehören zu jeder Langfahrt. Worauf ich nicht eingestellt war: Dass sie so rasch tauchen. Das versetzt meinem Optimismus einen Dämpfer. Welche Ursache gibt es für die Elektrolyse? Werde ich mich je wieder sicher fühlen auf unserem Boot? Wolf versucht mich zu beruhigen. „Das erledigen wir beim nächsten Werftaufenthalt.“ Bis dahin schmieren wir von innen Unterwasser-Epoxy über die vermeintlichen Stellen. Oberflächenkosmetik; das Leck bleibt, meine Bedenken auch. Muss mich erst wieder daran gewöhnen mit Unzulänglichkeiten zu leben.

Hoch am Wind durch die Adria (li.), gute alte Papierseekarte, Wolf checkt Rigg in Peschici (re.)

Schon lange wollen wir zu den Tremiti Inseln, Wendepunkt der bekannten Regatta Cinquecento per Due. Also Kurs Südsüdost. Wolf sitzt mit dem Bedienungshandbuch vor dem neuen Raymarine C90 Plotter und tippt den ersten Wegpunkt ein. Auch elektronische Navigation will gelernt sein. Dennoch liegen die guten, alten Papierseekarten samt Kartenzirkel am Navitisch. Nicht nur aus nostalgischen Gründen. Die Positionskreuzerln in der Karte lassen wir uns nicht nehmen. Gehören wir zu den Ewiggestrigen? Ich erinnere mich an unsere erste Weltumsegelung. Bis in die Karibik navigierten wir nur mit Sextant und HO-Tafeln, die Meilen zählte ein Walker Schlepplog. Seither hat sich viel geändert. GPS, AIS, modernste Navigationssysteme, aber auch eine wachsende Abhängigkeit von der Technik. Wolf meint, wir müssen unsere Sinne weiterhin schärfen und dürfen nicht blind der Bordelektronik vertrauen. Die könne schließlich jederzeit ausfallen.

Manche Eilande bleiben von Seglern unbeachtet. Winzige Flecken auf der Seekarte, die aber oft genug mit einer spannenden Vergangenheit oder einem einsamen Ankerplatz punkten. Und mit jenem prickelnden Gefühl, neues Terrain zu erkunden. Am Abend liegen die Tremiti Inseln vor unserem Bug; Felshügel in der Adria. Lassen den Anker in der Cala Turcha der Isola Caprara fallen und uns selbst hundemüde in die Kojen. Die Anspannung der ersten Nachtfahrten seit langem liegt hinter uns und weicht dem Glücksgefühl der Ankunft. Ich bin mir sicher, dass uns das Segeln immer noch Leben und Welt bedeutet.

Morgenritual: Kopfsprung ins Hellblaue und ohne Badeleiter aus dem Wasser auf die Heckplattform. Das In-den-Stütz-Schnellen fällt etwas plump aus – wir sind eindeutig außer Form. Wieder Wind auf die Nase. Ostsüdost mit 15 bis 20 Knoten. Null Bock zum Gegenankreuzen. Zehn Seemeilen vor Vieste entdeckt Wolf per Zufall durchs Fernglas ein weißes Dorf auf einem Felsen, darunter eine Hafenmole. Peschici, dieses Kleinod, ist in unserem nautischen Handbuch nicht erwähnt. Wir lieben spontane Ziele, man hat keine Erwartungen, lässt sich einfach überraschen. Wir ankern neben dem kleinen Fischerhafen vorm langen Sandstrand. Etwas rollig, dafür gratis. Und laut. Der Sommerhit 2012 „Nossa! Nossa!“ dröhnt aus übersteuerten Lautsprechern. Beachparty ab 17 Uhr, das gilt für ganz Italien.

Achterlicher Wind durch die Straße von Otranto

INSELHÜPFEN

Ionisches Meer

Gut 200 Seemeilen sind es vom Sporn des italienischen Stiefels bis Griechenland. Anfangs das Übliche. Brise weg, dümpeln, Motor an. Kurzes Lüfterl, Segel hoch, Motor aus. Wechsel im Stundentakt. Erst gegen Mitternacht gibt der Wind Gas. Vorwindkurs, Groß und Fock an Steuerbord, Letztere dicht geholt, weil Nomad dann weniger geigt, Genua an Backbord ausgebaumt. Segeln wie im Passat, ein Traum. Mit neun Knoten pflügt Nomad durch die Straße von Otranto.

In Othonoi waren wir noch nie. Bei gut 30 Knoten schrammen wir ums Eck, dann eine Fallböe, die sich gewaschen hat. Schwert hoch, wir tuckern in den hintersten Winkel der Bucht Ammos. Trotz der herben Begrüßung schließen wir das Inselchen sofort ins Herz. Dorf, Kirche, Taverne, der erste Bissen Moussaka, dazu ein Schluck Retsina – endlich wieder Hellas! In den Fünfziger- und Sechzigerjahren ereilte Othonoi das Schicksal vieler griechischer Inseln. Die Bewohner wanderten aus, da es keine Arbeit gab und das Leben als Fischer und Landwirt hart war. Doch seit den Neunzigern kehren viele regelmäßig zurück, nutzen die alten Häuser als Sommersitz. Dann erwacht die Insel aus ihrem Dornröschenschlaf.

Hafen der Insel Kastos

50 Seemeilen im Südosten die Insel Paxos. Die Bucht von Lakka ist so vollgestopft mit Booten, dass wir nur mehr in der Einfahrt, quasi auf offener Reede, ein Platzerl finden. Wo ankern wir in zehn Jahren? Werden dann noch mehr Yachten unterwegs sein? Oder stagniert der Segelsport bereits? Wenn Herbert Lerchl, der gemeinsam mit seiner griechischen Frau Johanna seit 1986 Skorpios Yachtcharter in Nydri auf der Insel Levkas betreibt, vom Griechenland der Siebzigerjahre erzählt, hängen wir an seinen Lippen. Damals lag er in den meisten Buchten alleine vor Anker. Wir schauen immer wieder gerne bei ihm vorbei, liegen am kleinen Schwimmsteg, genießen den Luxus von Waschmaschine, schnellem WIFI und bestem Trinkwasser.

Die Ionischen Inseln zwischen Levkas, Ithaka, Meganissi, Kalamos und Kastos bilden ein perfekt geschütztes Revier mit kurzen Segeldistanzen. Inselhüpfen vom Feinsten. Hat beinahe schon Tradition: 1997 mit Susi Q, 2002 und 2009 mit Nomad am Beginn und zum Ausklang unserer zweiten Runde. Jetzt, im Sommer 2012, ankern wir wieder in Vasiliki, ganz im Süden von Levkas. Eine weit geschwungene Bucht, berüchtigt für heftige Fallböen. Für die Surfer ein Mekka mit wachsendem Tourismus, für uns Sprungbrett ins Ionische Meer. Ab sofort lautet die Devise: Go West!

Badebucht von Kastos, herrlich griechisches Essen

AUF WESTKURS

Süditalien

Eine zweitägige Leichtwind-Etappe bringt uns in die seit der Antike berüchtigte Straße von Messina. Im Morgengrauen dürften die Meeresungeheuer Skylla und Charybdis noch schlafen, ebenso wie der gefürchtete Fährverkehr zwischen Messina und Villa San Giovanni. Einzig ein Schwertfischer kommt uns in die Quere. Der extrem lange Bugausleger und der hohe Gittermast, auf dem zwei Männer Ausguck halten, lassen das Gefährt äußerst instabil wirken. Sicherheitshalber weichen wir großräumig aus. Nun ist der Weg frei ins Tyrrhenische Meer.

Vulcano, die drittgrößte der Liparischen Inseln, galt in der römischen Mythologie als Schmiede des Feuergottes. Porto Ponente birgt den sichersten Ankerplatz des Archipels. 30 Yachten liegen hier, es ist ganz schön eng. Am schwarzen Lavastrand Millionen Touristen – Ferragosto auf dem Höhepunkt. Wir sind wegen des rauchenden Vulkans gekommen, also heißt es zeitig aufstehen. Schwefeliger Fumarolendampf weht über den Aufstieg, die giftigen Gase beißen in Augen, Nase und Lunge. Geheimnisvolle Mondlandschaft. Fasziniert starren wir in den ruhenden Krater, wähnen uns wie Beobachter der Entstehung der Erde.

Vollkommene Flaute. Es ist unerträglich heiß, das Wasser hat 30 °C, das ist nicht normal. Die Hitzewelle setzt uns zu. Wir fantasieren von den hohen Breiten und dieseln der untergehenden Sonne nach. Plötzlich spannt sich der Gummistropp am Heck. Wir sind völlig aus dem Häuschen. Legen ein Messer und ein altes Handtuch bereit. Die Angelleine schneidet beim Einholen tief in Wolfs Hände, die Arbeitshandschuhe befinden sich irgendwo. Ein Zehn-Kilo-Thunfisch hat angebissen. Freuen uns über den ersten Fang dieser Reise, gleichzeitig tut es uns leid, ihn zu töten. Entschuldigung.

Endlich ein Hauch. Zuerst zaghaft aus Süd, also Halbwind, später heimtückisch auf West drehend. 30 Knoten genau von vorne. Den Wegpunkt Cabo Carbonara an der Südostspitze Sardiniens können wir uns abschminken, segeln ins Lee der Ostküste und landen zufällig in Porto Corallo. Immer schön flexibel bleiben. Was