So würde ich dich lieben - Hannah Woods - E-Book

So würde ich dich lieben E-Book

Hannah Woods

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Beschreibung

Die bewegende Geschichte einer unabhängigen jungen Frau, die in einer dramatischen Zeit für die Liebe und für das Leben kämpft

New York 1917: Hensley ist eine begabte junge Frau, die sich ein modernes Leben wünscht. Doch der Krieg macht all ihre Träume zunichte, und sie muss ihrem Vater ins einsame New Mexico folgen. Unglücklich flüchtet sie sich in eine Brieffreundschaft mit einem amerikanischen Arzt an der französischen Front. Und obwohl Hensley und Charles ein Ozean trennt, sind sie einander der einzige Halt. Sie wissen, dass sie zusammengehören, doch alles steht gegen ihre Liebe …

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Seitenzahl: 425

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USA 1917: Die 17-jährige Hensley aus gutem Hause träumt von einer Zukunft als Designerin. Sie ist sehr talentiert, und ihre größte Leidenschaft ist die Arbeit an der Nähmaschine. Doch das Land steht kurz vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg, und ihr Vater schreibt als Journalist bei der New York Times hartnäckig kriegskritische Artikel. Als er deshalb seinen Job verliert, muss auch Hensley ihr geliebtes Leben aufgeben. Sie ziehen nach New Mexico, wo ihr Vater Arbeit bei einer Goldmine findet. Einsam und unglücklich in der neuen Heimat liest Hensley heimlich dessen die Post. Er pflegt eine Brieffreundschaft mit einem jungen Soldaten, auf dem Papier spielen sie gegeneinander Schach. Hensley berühren die Briefe des amerikanischen Arztes an der Front in Frankreich. Sie beginnt, kurze geheime Nachrichten zwischen die Zeilen ihres Vaters zu schreiben, woraus sich ein reger Austausch mit Charles entspinnt. Schnell wird er ihr zum Lichtblick und Vertrauten. Und auch sie wird Charles zum Rettungsanker in diesem grausamen Krieg. Werden ihre Worte stark genug sein, um zueinanderzufinden?

HANNAH WOODS

SO WÜRDE

ICH DICH

LIEBEN

Aus dem amerikanischen Englisch

von Christiane Burkhardt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2014 by Hazel Woods

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

This Is How I’d Love You bei Plume,

a member of Penguin Group (USA), LLC, New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Krader

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Shutterstock/arcangel: AA1220635,

Fenton one, John A. Anderson

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-15883-5

www.diana-verlag.de

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V001

Für Edward und Margaret

TEIL EINS

Der Kai ist von tiefen, schwarzen Pfützen bedeckt. Männer schreiten rasch vorwärts, sind wie betäubt von der drängenden Eile. Der französische Dampfer, der sie erwartet, wirkt riesig, grau und düster. Seine beiden schwarzen Schlote scheinen den Ernst der Lage zu betonen. Charles steht Schulter an Schulter mit anderen Freiwilligen des American Field Service. Ihre Mäntel sind dunkel vom Regen, ihre stoischen Mienen nur gespielt. Während Charles’ Blick die Menge überfliegt, fällt ihm auf, dass keiner von ihnen besonders martialisch aussieht – er selbst am allerwenigsten. Man müsste ihnen nur einen Graduiertenhut aufsetzen und sie in Talare stecken. Dann wäre klar, dass sie vor den Kasernen die Studentenwohnheime der Eliteuniversitäten bevölkert haben, mit Blick auf idyllische Innenhöfe. Hängende Schultern und teils bebrillte Gesichter weisen sie als Intellektuelle und Idealisten aus, motiviert durch das Unrecht, von dem sie in der Zeitung gelesen oder das sie in Filmen gesehen haben. Ihr Vaterland hatte sich der Tyrannei in Übersee noch nicht entgegengestellt, als sie vor zwei Monaten ihre Verträge unterschrieben. Ihre Gesichter sind ernst, weil sie sich bemühen so auszusehen wie die Männer, die sie einmal sein wollen. Wir sind diejenigen, die es ernst meinen. Die Ersten. Die Tapfersten. Diejenigen, die den wahren Geist Amerikas verkörpern. Doch dann bricht einer in der ersten Reihe unvermittelt in nervöses Gelächter aus und steckt die anderen damit an. Der Witz ist etwas pubertär: Es geht um den Regen, der diejenigen tarnt, die sich bald in die Hosen machen werden. Um den Blutgeruch der Blähungen eines Harvard-Absolventen.

Grinsend steckt Charles die Hände in die Hosentaschen und versucht, das vertraute Bild des Schachbretts vor seinem geistigen Auge heraufzubeschwören. Das ist eine willkommene Unterbrechung des sinnlosen Grübelns darüber, was sie erwartet, wenn sie in einer Woche in Bordeaux an Land gehen werden. Er hat das Schachspielen am Onyxbrett seines Vaters gelernt und denkt gern an die langen Nachmittage zurück, an denen das Kaminfeuer herunterbrannte, sich sein Vater Whiskey nachschenkte und der Familienhund im Schlaf laut aufseufzte. In Harvard war Charles Mitglied im Bridgeclub und in einer Schachgruppe gewesen, die sich sonntagnachmittags zu treffen pflegte. Nach seiner Rückkehr vom College hatten sein Vater und er ein einziges Mal vor dem Onyxbrett im Wohnzimmer gesessen. Das Spiel war eine einzige Enttäuschung gewesen. Kurz vor dem Schachmatt verabschiedete sich sein Vater unter dem Vorwand, er müsse noch zu einer Verabredung am anderen Ende der Stadt. So kam es, dass Charles auf dem Weg zur Musterung im Rockefeller Institute einen Aushang des Frauenhilfsdiensts entdeckte. Der bot an, Brieffreundschaften zwischen Freiwilligen und Zivilisten zu organisieren. Charles notierte sich die angegebene Nummer und rief eine Frau an, die sich bereit erklärte, ihm einen Schachpartner zu suchen.

Schon beim ersten Brief merkte Charles, dass sein Gegner mitnichten der ergebene Patriot war, den er erwartet hatte. Mr. Sacha Dench, ein Journalist aus der West 13th Street, ließ nur wenige Wochen vor der Abstimmung des Kongresses über den Kriegseintritt keinen Zweifel daran, dass er Pazifist war und alles daransetzen würde, die Vereinigten Staaten von einer Kriegsteilnahme abzuhalten. Jeder, der sich freiwillig melde, sei entweder dumm oder auf tragische Weise fehlinformiert. Andererseits sei eine solch persönliche Opferbereitschaft durchaus bemerkenswert, so töricht er sie auch fand.

Während Charles über die aktuelle Partie und die unumwundenen Worte seines Gegners nachdenkt, wird ihm klar, dass dessen Motive nicht ganz so uneigennützig sind wie zuerst gedacht. Bereits beim dritten Zug hat Mr. Dench einen von Charles’ Bauern geschlagen, sodass sich ihre beiden Läufer gegenüberstehen. Der nächste Zug ist von höchster Bedeutung. Charles muss der Versuchung widerstehen, zu aggressiv zu spielen und seine Figuren zu riskieren. Genau das ist vermutlich die Strategie seines Gegners. Ein Klassiker! Dieses Spiel ohne Körpersprache und ohne Blickkontakt ist eine gänzlich neue Herausforderung. Dass Mr. Dench ihn entweder für »dumm« oder »auf tragische Weise fehlinformiert« hält, hat sein Selbstbewusstsein zusätzlich erschüttert. Erst gestern hat er seinen letzten Zug abgeschickt. Schüchtern wie ein kleines Kind und nicht ohne sich all seine Möglichkeiten noch einmal zu vergegenwärtigen, bevor er den Mut fand, den Umschlag zuzukleben.

Jetzt, wo der Befehl kommt, augenblicklich an Bord zu gehen, versucht er sich einzureden, dass er den richtigen Zug gemacht hat. Er möchte gewinnen, dem Kerl beweisen, dass er sich täuscht. Und zwar in jedweder Hinsicht.

Sie sind völlig durchnässt, und ihre Seesäcke enthalten mehr Wasser als sonst irgendwas, als endlich ein Pfiff ertönt und sie an Bord gehen.

Die Soldaten stehen an Deck, rauchen und warten. Auf dem Kai sind einige Frauen zurückgeblieben. Sie halten schwarze Schirme und weiße Leinentaschentücher in den Händen und winken ihren Brüdern, Männern, Verlobten oder Söhnen. Eine idiotische Tradition, die ebenso melodramatisch wie sinnlos ist. Gleichzeitig sieht Charles die Männer an Deck, die zurückwinken. Männer, die in diesen schlaffen, weißen Taschentüchern Liebeserklärungen sehen, das blasse Beben brennender Herzen.

Er denkt kurz an seine Eltern und ihre Krocketpartie aufs Land, die eigentlich für dieses Wochenende geplant war und witterungsbedingt ausfallen muss. Ihre Stimmung wird aus mehreren Gründen gedrückt sein, nicht nur wegen ihrer bitteren Enttäuschung über seine »dumme, hochgradig durchschaubare Rebellion«. Wie gut, dass sie nicht gekommen sind! Welchen Zug Mr. Dench wohl als Nächstes macht? Und wie lange es wohl dauert, bis Charles in Frankreich davon erfährt?

Das Schiff löst sich vom Kai. Es sieht so aus, als würde die Insel Manhattan ablegen und Kurs auf hohe See nehmen. Man kann kaum erkennen, dass sich das Schiff bewegt. Doch schon bald lässt das Unwetter den Horizont verschwimmen. Sie scheinen sich in einem riesigen Tunnel zu befinden, der immer schwärzer und länger wird, vor ihnen nichts als dunkles Meer.

Hensley Dench spürt die Bewegung des Zuges tief in ihrem Innern. Räder drehen und Achsen bewegen sich an dunklen Orten, die niemand sehen kann. Sie spürt ihren Rhythmus, ihre Kraft, ihr Vorwärtsstreben. Der zweite Tag ihrer Reise ist angebrochen, sie sind bereits seit neunundzwanzig Stunden unterwegs. New York ist so weit weg, dass es ihr ganz unwirklich vorkommt. Wie der schmutzig schillernde Rest einer Jungmädchenfantasie. Jetzt gibt es nur noch diesen Himmel, ein riesiges tiefblaues Becken. Nachmittags füllt es sich mit Wolken und verbreitet eine düstere, unheilvolle Stimmung, sodass jeder Tag ein tragisches Ende zu nehmen scheint. Sie schlafen in Kojen, ihr Vater und sie, während sich ein Nachthimmel ausdehnt, aus dem es wie aus Kübeln schüttet. Nur um sich dann morgens so blau und optimistisch zurückzumelden, dass es beinahe wehtut.

In diesem Zug reisen Relikte von Soldaten mit, in Brusttaschen verstaute und zwischen sorgfältig zusammengefalteten Pullovern versteckte Fotografien, Briefe, Münzen, Murmeln und Feldflaschen. Jeder Passagier ist entweder entfernt oder eng mit einem jungen Mann bekannt, der gerade in den Krieg zieht. Ihr Vater hat auch so ein Relikt in seiner Manteltasche. Die geschwungenen schwarzen Zeilen in Mr. Charles Reids Handschrift verkünden, dass sein Entschluss unwiderruflich ist. Er möchte wissen, ob Mr. Dench gläubig ist und wenn ja, ob er für ihn beten wird. Wird er für das Seelenheil der Männer beten, die gegen unsichtbare Waffen kämpfen werden?

Ganz am Ende verrät er seinen nächsten Zug. Auch er wird den Damenbauern ziehen. Genau darauf hat ihr Vater gewartet. Er baut das Schachbrett auf wie einen Altar und ordnet die Figuren genauso an wie vor zehn Tagen, als er brieflich seinen letzten Zug gemacht hat.

Er stellt sein Tintenfass neben das Schachbrett und zieht ein Blatt Papier aus seinem Tornister. Hensley hat ebenfalls ein Blatt vor sich liegen. Sie zeichnet Kleider, die sie nicht mehr brauchen wird. Einen schmalen Samtrock, perfekt fürs Theater, der zu einer Lampenschirmtunika und einer langen, einreihigen pechschwarzen Perlenkette getragen wird. Das ist ihre Variante eines Teekleids von Fortuny. Die Tunika ist aus Seidenkrepp und bis auf die Verschlussleiste plissiert. Dort würde sie eine Rüsche einsetzen. Nach einer gewissen Zeit langweilen sie diese Zeichnungen. Sie ist nervös und unkonzentriert.

Hensley stellt sich zwischen zwei Waggons und wirft Stücke des Brötchens weg, das sie vom Mittagessen aufgehoben hat. Das Brot kullert rasch in den Graben neben dem Gleisbett, und sie bekommt einen Adrenalinstoß. Wäre sie ein Soldat zwischen zwei Zugwaggons irgendwo in Europa, ob Russland, Österreich, Frankreich oder Großbritannien, würde sie überlegen, dem Brot hinterherzuspringen. Oder eher einer achtlos weggeworfenen Zigarette, die inzwischen überflüssig geworden ist, ein überwundenes Laster. Sich wild überschlagend, würden sie von der monoton donnernden Maschine ins Reich der Natur katapultiert, wo Würmer, Nager, Wölfe und Schlangen sie unbemerkt zerlegen würden. Sie lassen nicht zu, dass sich Verwesungsgeruch in überfüllte Schützengräben oder gar in Briefe an die Heimat einschleicht.

Wenn ihr Vater schläft, wird Hensley seine Antwort lesen, an Mr. Reids Brief schnuppern und versuchen, den Duft eines Menschen aufzunehmen, dessen Leben nicht von Mutter oder Vater abhängt. Der ein Leben lebt, in dem eigenständige Entscheidungen getroffen werden. Dann wird sie das schwarze Gekrakel ihres Vaters überfliegen und erfahren, was er dem jungen Mann über seinen Glauben mitgeteilt hat.

Gott ist seit jeher ein bloßer Platzhalter für wahren Glauben. Dafür, dass man sich und sein Ego aufopfert und ganz in den Dienst einer diesseitigen, wirklich guten Sache stellt. Gott bläht das Ego des Menschen auf, verleiht ihm mehr Bedeutung, als ihm eigentlich zusteht. Gäbe es tatsächlich einen allmächtigen, allwissenden Gott, würde dieses Wesen nicht dulden, dass der Mensch für ihn spricht. Dass Religion den Glauben über die Vernunft stellt, macht sie für mich unbrauchbar. Gott scheint der größtmögliche Gegensatz zu eigenständigem Denken zu sein, doch genau das ist mir heilig. Aber während ich die Augen schließe und den Maschinen unter mir lausche, bete ich für Ihre körperliche und seelische Unversehrtheit. Ich weiß nicht, zu wem ich bete, aber sollten meine Gedanken irgendeine Wirkung haben, die über meine bescheidene Person hinausgeht, wollen wir dies Gott nennen. Bitte stoßen Sie sich nicht an den ketzerischen Bemerkungen eines alten Mannes.

Sie sollten wissen, dass meine Tochter und ich gen Westen reisen, während Sie sich gerade nach Europa einschiffen. Das Schicksal hat uns nach Hillsboro in New Mexico verschlagen, zumindest für die nächste Zeit. Sie können mir dorthin schreiben, und zwar zu Händen der Ready Pay Mine. Als Nächstes ziehe ich meinen Springer nach C4.

Nicht einmal einem verzweifelten Mann gegenüber, der Angst hat, seine Augen könnten zu einer weichen, schnellen Kost für kotfarbene Ratten werden, sobald ihn die richtige Kugel erwischt, ist Hensleys Vater imstande zu lügen. Hensley kann gar nicht anders, als sich zu schämen. Gleichzeitig hat sie großen Respekt vor seiner Standfestigkeit. Sie hat Mitleid mit Mr. Reid, denn sie weiß, wie sehr selbst sie sich nach tröstenden Worten von ihrem Vater sehnt. Ihre Versuche, ihm etwas Aufmunterndes zu entlocken, bleiben ergebnislos. Sogar auf dieser Reise. Sogar als sie den Zug an der Pennsylvania Station bestiegen haben, als sie in den dunklen Tunnel unter dem Hudson River eingefahren sind und die Skyline nach Verlassen desselbigen immer kleiner wurde. Wie sehr sie sich da gewünscht hat, das ein oder andere ermutigende Wort von ihrem Vater zu hören! Sie weiß nicht mehr über das Ziel ihrer Reise als das, was er Mr. Reid geschrieben hat. Das Bild, das sie von New Mexico hat, stammt aus den Winnetou-Romanen, die ihr Bruder als Kind so geliebt hat. Doch selbst wenn sie in Zelten zwischen Bisons und Mustangs leben sollten, wäre das allemal besser, als Tag für Tag an der Schule vorbeizulaufen, deren breites Tor die Stätte einrahmt, an der ihr das Herz gebrochen wurde.

Während sie den Brief ihres Vaters liest, kann sie es sich nicht verkneifen, ihre eigenen belanglosen Worte an den breiten Rand zu kritzeln, den ihr Vater gelassen hat. Belanglose Worte, die sonnigen Optimismus verbreiten sollen.

Sie werden bald wieder nach Hause zurückkehren, stärker und klüger. Sie kämpfen für uns alle. Ihr Brieffreund ist ein fanatischer Pazifist mit einer toten Ehefrau, einem entfremdeten Sohn und einer missratenen Tochter. Hören Sie nicht auf ihn! Stattdessen sollten Sie fest daran glauben, dass Sie heimkehren werden. Wenn es so weit ist, werden die Gräuel, die Sie jetzt umgeben, Vergangenheit sein. Sie werden sie einfach hinter sich lassen wie ein Zug sein Depot.

Während sie sich die Luft ins Gesicht peitschen lässt, denkt sie an das, was ihr Bruder von den Gräueln an der Front erzählt hat. An heimtückische Gasangriffe, die Gräben mit erblindeten, nach Luft ringenden Soldaten zurücklassen. An eine Umgebung, die so nass und schmutzig ist, dass die Füße der jungen Männer in ihren Stiefeln verfaulen. An fette, französische Ratten, die nachts über die Hände der schlafenden Soldaten hinwegkrabbeln. Was diese Lebewesen wohl über ihr unverhofftes Glück denken? Für diese Nager ist die menschliche Grausamkeit so etwas wie das große Los. Seit Generationen ernähren sie sich ausschließlich von Nüssen und Fallobst, von der einen oder anderen toten Eidechse oder aus dem Nest gefallenen Vogeljungen. Und nun das: eine überwältigende, noch warme, frische, üppige, fantastische Fülle, die sogar Ratten zum Glauben bekehren kann!

Der Schaffner entdeckt sie zwischen den Waggons. Die Brötchenhälfte in ihrer Hand ist völlig zerdrückt.

»Ist Ihnen nicht gut, Miss?«, ruft er über den Lärm des Zuges hinweg.

Sie schüttelt den Kopf. »Ich schnappe nur ein wenig frische Luft.«

»Die Passagiere sollten im Waggon bleiben. Darf ich Sie zu Ihrer Schlafkoje zurückbegleiten? Hätten Sie vielleicht gern ein Selters aus dem Speisewagen?«

Hensley nickt erneut. Er reicht ihr den Arm, wartet, dass sie ihn ergreift. Der Wind kommt von hinten und weht ihr das Haar ins Gesicht, wo es an ihren Lippen kleben bleibt. Sie stellt sich das Glas vor, in das die Umrisse des Zuges eingraviert sind. Die sprudelnden Bläschen.

Sie dreht sich vom Schaffner weg, hält das Gesicht in den Wind und schließt die Augen, sodass alles um sie herum schwarz wird. Sie spürt, wie er näher kommt, er macht sich Sorgen. Ist ihr der Liebeskummer so deutlich anzusehen, dass er befürchtet, sie könnte tatsächlich springen? Dass er mit ansehen muss, wie sie mit seltsam verrenkten Gliedern in einer irrwitzigen Geschwindigkeit den Hang hinunterkullert, während ihr Rock zerrreißt und ihr Blick starr wird? Der Zug hat dermaßen Fahrt aufgenommen, dass man ihn nur schwer zum Anhalten bringen kann. Nicht hier mitten in … ja, wo eigentlich? In Kansas? Illinois? Dann müsste er durch den ganzen Zug bis zum Lokomotivführer eilen, mit Schweißperlen auf der Stirn, wildem Herzklopfen und tauben Fingern, damit die schweren Metallräder zum Stillstand kommen und ein Suchtrupp losgeschickt werden kann, um ihre Leiche zu bergen.

Die Passagiere würden sich wundern und verstimmt über Verspätungen und Inkompetenz klagen. Dann würde sich die Nachricht rasch von Waggon zu Waggon verbreiten. Die Mitreisenden würden ihre Gesichter an die Scheiben pressen, neugierig und verängstigt zugleich. Ein dunkler verschwommener Farbfleck im Gras würde den Frauen kurzzeitig den Atem verschlagen. Doch alle würden sie an ihrem Reiseziel aussteigen – mit einer Geschichte im Gepäck, einer unbeantworteten Frage und der Erleichterung, dass es nicht sie oder einen der Ihren getroffen hat.

Hensley öffnet die Augen, und die Hand des Schaffners berührt ihre Schulter. »Miss«, sagt er erneut, diesmal ganz dicht an ihrem Ohr. Sie öffnet die Hand und lässt das Brötchen los, wendet ihm den Kopf zu.

»Ich brauchte nur dringend etwas frische Luft.« Die Wärme seiner Hand schnürt ihr die Kehle zu, bringt ihre Haut zum Glühen.

Er lächelt. Sie hakt sich bei ihm ein, und er reißt am Hebel, um die Tür zu öffnen. »Danke«, sagt sie, während er sie durch den Waggon geleitet wie ein frisch angetrauter Ehemann. An ihrem Platz lässt er sie los.

Ein Kellner bringt das Selters. Sie hat sich ihrer Schuhe entledigt, die Beine unter sich gezogen, hält sich das Glas ans Gesicht und spürt die platzenden Bläschen an Nase und Kinn. Erschöpft schließt Hensley die Augen. Sie denkt an ihre Freundinnen, die gerade Badeanzüge einkaufen und für die Sommerferien packen. Bademützen und erlaubte Lektüre in die kleinen Zwischenräume zwischen Röcke und Schuhe stopfen. Es geht an die Küste oder an den See – irgendwohin, wo es Wellen, Eiscreme und Sonnenschirme gibt. Sie denkt an Lowe, der bestimmt schon in Maine ist, barfuß Rad fährt und sich seines Zivilistendaseins kein bisschen schämt. Der unter alten Bäumen für eine andere Decken ausbreitet und ihr einen Pfirsich, ein Taschentuch oder einen Flachmann reicht.

»In Gedanken?«, sagt ihr Vater.

Sie lässt die Augen zu. »Ja.«

Sie spürt, wie er sich neben ihr vorbeugt und das Fenster öffnet, das Abteil mit dem Lärm und der Hitze der vorbeifliegenden Prärie füllt. Der Geschmack von Gras, Staub und Metall dringt ihr in die Kehle. Sie führt das Wasser an ihre Lippen, um ihn hinunterzuspülen. Aber der Geschmack bleibt.

»Ich hätte es lieber zu«, sagt sie.

Ihr Vater seufzt. Sie ahnt, dass er sich bereits wieder vor sein Schachbrett gesetzt hat und versucht, in die Zukunft zu schauen. Noch bevor er den Brief aushändigt, damit er beim nächsten Halt aufgegeben wird, nimmt er bereits alle nur möglichen Züge des an die Front fahrenden jungen Mannes vorweg. Züge, die dieser vielleicht niemals machen wird.

Trotzdem steht er auf und schließt ihr zuliebe das Fenster.

Hensley denkt an die Briefe, die Lowell ihr versprochen hat. Sie standen vor dem Schlussvorhang hinter der Bühne. Sein Atem wärmte ihr Ohr. Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt und roch seine Haarpomade. Du wirst mir schreiben, nicht wahr? Wenn ich in New Mexico bin? So wie er die Lider gesenkt hatte, als wollten sie ihre Worte in seinem Kopf einschließen, war das für sie ein Ja gewesen. Aber das war vorher. Inzwischen kann sie keinen Brief mehr erwarten. Trotzdem hofft sie darauf.

Was würde sie antworten, wenn er ihr tatsächlich schriebe?

Lieber Lowe – sie sieht die Buchstaben direkt vor sich – Deinetwegen würde ich mich am liebsten aus dem Zug werfen. Deinetwegen hätte ich auf Wellesley verzichtet. Dabei hätte ich wissen müssen, wie triebgesteuert Du bist. Was habe ich mir bloß eingebildet? Was immer zwischen uns war, es ist ein für alle Mal zerstört worden.

Mit freundlichen Grüßen, Hensley

Trotzdem!, denkt sie, während sie diese Sätze formuliert. Habe ich mich wirklich so verändert? Angenommen, er würde in diesem Moment den Waggon betreten und neben ihr Platz nehmen, Shakespeare, Wordsworth oder Tennyson zitieren. Wie viele Meilen würden sie zurücklegen, bevor sie ihm erlauben würde, seine Hand unter ihren Rock zu schieben? Mit einem Lächeln über seine Dreistigkeit, die Armlehnen ein wenig fester umklammernd? Welch elende Einsamkeitsgefühle dieser Zug in ihr aufsteigen lässt! Dabei dürfte sie seinen Händen nie mehr vertrauen, schließlich weiß sie, dass seine Worte trügerisch sind, sein Körper nicht wählerisch und sein Herz …

Welches Herz? Wie kommt sie darauf, seinem Herzen Gefühle zuzuschreiben? Das Herz ist ein Muskel, der Blut durch den Körper pumpt, mehr nicht. Das lernt man in der Grundschule. Sollte sie es nicht eigentlich besser wissen? Sie betrachtet ihr Spiegelbild im Zugfenster und zieht eine Grimasse. Sosehr sie diese Karikatur ihrer selbst hasst, sie kann das Geschehene nicht rückgängig machen. Was auch immer zwischen ihnen war, ist unwiederbringlich dahin. Trotzdem, was weiß sie schon von der Liebe? Vielleicht täuscht sie sich. Vielleicht ist das, was geschehen ist, unrühmlich, aber keine Ausnahme. Wenn das Herz nur ein Muskel ist, was ist dann ihr Verlangen?

Wie dem auch sei, sie befindet sich hier, in diesem Zug. Der Abstand zwischen ihnen wird von Sekunde zu Sekunde größer. Ein neues Leben wartet auf sie, mitten im Nirgendwo.

Liebe Zukunft, schreibt sie in Gedanken und stellt sich vor, in Sand zu schreiben, der in regelmäßigen Abständen vom Aufblinken eines Leuchtturms erhellt wird. Wenn ich dich endlich zu Gesicht bekomme, werde ich dich vielleicht gar nicht wollen, obwohl du so treu und geduldig auf mich gewartet hast. Bitte mach, dass ich dich will! Zeig dich von deiner besten Seite, nimm mich mit einer warmen Suppe oder einem verloren geglaubten Freund in Empfang.

Eine Träne entwischt ihr, während sie sich vorstellt, dass Lowe ihr nachreist. Reumütig und zerknirscht schließt er sie in die Arme und wiegt sie im Rhythmus des Zuges hin und her.

Sosehr sie sich auch anstrengt, sie ist nach wie vor das junge Mädchen, dem vor Kurzem das Herz gebrochen wurde.

Kurz nach Tagesanbruch legt das Schiff in Bordeaux an, und Charles bewundert die in der Sonne schimmernden Metalldächer am Kai. Sie nehmen einen Zug nach Paris, und alle können es kaum erwarten, einen Blick auf den Eiffelturm zu erhaschen. Eine Seine-Rundfahrt einschließlich Abendessen und der Besuch eines Klubs, in dem eine amerikanische Jazzband spielt, weckten bei allen Dankbarkeit, dass sie noch leben.

Am nächsten Tag bringt man sie nach May-en-Multien vor den Toren von Paris. Dort werden sie die nächsten Wochen stationiert sein, eine Grundausbildung für die Einteilung der Verwundeten nach der Schwere ihrer Verletzungen sowie Fahrunterricht erhalten. Ihre Feldbetten stehen im obersten Stockwerk eines malerischen Bauernhauses. Als Erstes zeigt man ihnen die Flotte der amerikanischen Autos, die sie steuern werden. Das Personal macht ein großes Aufheben um die amerikanischen Freiwilligen.

Die Frau mittleren Alters, die für sie kocht, begrüßt sie am ersten Morgen und an allen danach mit einem ehrfürchtigen: »Les Americains! Hurra! Les Americains!« Ihre Freude und Dankbarkeit hebt die Stimmung enorm. Die dicke Schweinsbratwurst und die mit Konfitüre gefüllten Croissants sind das beste Frühstück, das Charles je gegessen hat. Er kann gar nicht anders, als sich von ihrer Begeisterung anstecken zu lassen. Als sie Kaffee nachschenkt, nickt er ihr lächelnd zu. Genau so eine Begrüßung haben sie sich erhofft.

Charles ist nicht so naiv wie andere. Trotzdem möchte er nur zu gern glauben, dass der Kriegseintritt Amerikas die entscheidende Wende bringen wird. Kurz bevor er New York Ende Mai verließ, hatte der Kongress Deutschland den Krieg erklärt. Seitdem besteigen jeden Tag amerikanische Soldaten Schiffe nach Europa. Seine Anwesenheit, seine Intelligenz und seine Anstrengungen werden mit Sicherheit etwas bewirken. Zumindest redet er sich das ein. Ist das in seiner privilegierten Situation nicht sogar eine Pflicht? Statt Streben nach mehr Profit oder Besitz nachhaltige Einflussnahme aufs Weltgeschehen! Seine Eltern dagegen scheinen sein Studium für bloßen Zeitvertreib gehalten zu haben. Bis er sich seiner eigentlichen Aufgabe stellen würde, der Verwaltung des Familienvermögens. Als er sie von seinen Plänen unterrichtete, in Harvard Naturwissenschaften zu studieren, um sich auf das Medizinstudium vorzubereiten, lachte sein Vater nur. »Studiere, was immer du willst, Charlie! Es spielt nicht die geringste Rolle.«

Charles’ Großvater war kurz vor Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs aus Schottland nach Ellis Island gekommen und hatte seine gesamten Ersparnisse in zwölf Nähmaschinen investiert. Damals hielt ihn jeder für verrückt, aber in Brooklyn, in einem kleinen Verschlag am Wasser, ratterten diese Maschinen Tag und Nacht unter den flinken, schmerzenden Fingern schottischer Einwanderer und nähten die Uniformen, die für die Regimenter der Nordstaaten benötigt wurden. Schon bald errichtete sein Großvater eine richtige Fabrik, baute die größte Textilproduktion des gesamten Nordens auf.

Unter der Leitung von Charles’ Vater war daraus ein regelrechtes Firmenimperium entstanden, das Stahlproduktion und Ölförderung umfasste. Im Hafen lagen Schiffe, die ausschließlich für ihn auf Fahrt gingen. Als Charles einundzwanzig wurde, legte sein Vater größten Wert darauf, ihn zum Magnaten auszubilden. Den Arztberuf hielt er für schmutzig, er sei weit unter seiner Würde.

Als Charles zum ersten Mal hinter dem Lenkrad des Ambulanzfahrzeugs Platz nimmt und es über das taunasse, freie Feld steuert, kann er förmlich hören, was sein Vater unablässig wiederholt hat: Es spielt nicht die geringste Rolle. Mithilfe des Rückspiegels wirft er einen Blick auf die Spuren, die der Wagen hinterlässt. Zwei gerade Linien, schattig und flach. An diesem Sommertag explodiert die Welt förmlich vor Farben. Charles schaut zum Horizont, wo reines Blau auf reines Grün prallt. Als er beschleunigt, richtet sich der Kerl neben ihm auf und legt eine Hand aufs Armaturenbrett.

»Immer schön langsam, Freundchen! Das ist schließlich kein Flugzeug.«

Aber Charles kann dem Drang nicht widerstehen, die Grenzen des Motors auszutesten. Er will wissen, wozu er den Wagen bringen kann. Das Lenkrad unter seinen Fingern vibriert gefährlich. Er folgt dem dunklen Trieb, will seine Macht spüren, trotz der Gefahren, die das mit sich bringt. Das Heulen des Motors erregt ihn, und die vom Fahrzeugboden aufsteigende Hitze verleitet seinen Fuß dazu, noch mehr Druck auszuüben. Er umklammert das Steuer und kneift die Augen zu, während der Ambulanzwagen weit über das Ende der Trainingsstrecke hinausschießt.

Neben ihm stemmt sich Rogerson fester zwischen Armaturenbrett und Beifahrersitz. »Meine Güte, Reid! Bist du vollkommen übergeschnappt? Das ist der reine Wahnsinn.«

Charles hört die Panik in Rogersons Stimme, glaubt aber, die Kontrolle zu haben, und ignoriert ihn. Die Geschwindigkeit scheint ihm das beste Gegenmittel gegen die Zweifel zu sein, die ihn gestern Abend im dunklen Schlafsaal überfallen haben. Charles möchte furchtlos agieren, und zum ersten Mal fühlt er sich auch so.

Erst kurz vor dem See, am Ende der Felder, nimmt Charles den Fuß vom Gas und steigt ebenso entschieden auf die Bremse. Das Fahrzeug ächzt und quietscht und kommt mit einem gewaltigen Ruck zum Stehen. Rauch steigt von der Kühlerhaube auf und mischt sich mit dem vom Wasser aufsteigenden Nebel. Charles lockert seinen Griff und legt die Stirn aufs Lenkrad.

»Gut«, sagt er schließlich zu Rogerson und sich selbst, als er den Kopf wieder hebt. »Gut.«

»Ach ja?« Rogerson schreit, so wütend ist er, und packt Charles am Kinn. Seine Finger graben sich in Charles’ weiche Züge, sodass dieser wie gelähmt ist. Er kann nicht einmal protestieren.

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Bist du völlig durchgedreht? Ich bin nicht hergekommen, um mich von einem rücksichtslosen Milliardärssöhnchen in den Tod fahren zu lassen.«

Charles versucht, den Speichel in seinem Mund hinunterzuschlucken. Sein Kiefer pocht vor Schmerz. Er schüttelt den Kopf und zerrt vergeblich mit beiden Händen an Rogersons Arm. Der drückt ein letztes Mal zu und lässt dann los.

Charles keucht und bewegt langsam den Kiefer, während aus seinem offenen Mund Speichel auf die Hose tropft.

»Das war das letzte Mal«, sagt Rogerson leise. »Hast du mich verstanden? Das war das letzte Mal.«

Charles nickt, aber während der Fahrzeugboden weiterhin seine Stiefelsohlen wärmt, grinst er. »Fast wären wir baden gegangen.«

»Wohl eher tauchen«, kontert Rogerson, dessen Wut sich langsam legt.

Charles lacht, seine Hände schmerzen vor Anstrengung. Als er noch klein war, hat ihn der extrem feste Händedruck seines Vaters regelmäßig vor Schmerz gelähmt. Er kann sich nicht erinnern, wann er dem entwachsen ist. Als ihm sein Vater am Vorabend seiner Abreise die Hand gab, hatte er jedenfalls nicht das Geringste gespürt.

»Soll ich wenden?«, fragt Charles und haucht in seine Handflächen.

»Das will ich dir geraten haben. Du trägst die alleinige Verantwortung für alle entstandenen Schäden. Gut möglich, dass du der Krone ein neues Fahrzeug schuldest.«

Charles nickt, tritt wieder aufs Gas und rollt langsam übers dichte Gras.

»Unser King George ist härter im Nehmen, als du denkst«, sagt Charles, womit das Fahrzeug seinen Namen weghat.

Sie zuckeln zum Hauptgebäude zurück. Dort steigen heitere Wölkchen aus dem Kamin, während die königsblauen Fensterläden sie erneut in der normalen Welt willkommen heißen.

Sie sind in Chicago umgestiegen. Ein neuer Tag in einem neuen Zug. Hensleys Vater verschanzt sich hinter der Morgenzeitung, zwischen ihnen auf dem Tisch steht eine Teekanne. Während die üppigen, goldenen Getreidefelder vor dem Himmel des Mittleren Westens zu einer endlosen Fläche verschwimmen, schließt Hensley die Augen. Weder Geografie noch Topografie regen ihre Fantasie an. So gut wie nichts kann ihre Gedanken davon abhalten, in die jüngste Vergangenheit zurückzukehren.

Sie erinnert sich genau, an welchem Tag sie Lowe kennengelernt hat. Es war ein Donnerstag. Um fünf Uhr nachmittags sollte in der Schule ein Vorsprechen stattfinden. Das Theaterstück war der Höhepunkt eines jeden Schuljahrs, verfasst und aufgeführt wurde es von den Absolventinnen selbst. Um halb fünf kam ihr Vater von der Times nach Hause, bei der er angestellt war. Wie jeden Donnerstag zog er die Vorhänge vor, holte das Schachbrett aus der selbst genähten Filzhülle und stellte es auf den Mahagoniesstisch. Aus einer anderen Filztasche, die ihm Hensleys Mutter vor ihrem Tod zu Weihnachten geschenkt hatte, nahm er die matten schwarzen und weißen Figuren. Geistesabwesend baute er sie auf und bat Hensley, ihm die Tüte mit Walnüssen zu holen, die er extra für diesen Anlass gekauft hatte. Sie ging in die Küche, griff nach dem silbernen Nussknacker, den ihre Eltern vor etwa zwanzig Jahren zur Hochzeit bekommen hatten, und sah, dass er angelaufen war. Das hätte ihrer Mutter ganz und gar nicht gefallen. Seufzend umklammerte sie ihn und fand die Tüte mit den Walnüssen in der Aktentasche ihres Vaters. Sie legte beides auf den Esstisch, küsste ihren Vater auf die Wange, der gerade die schwarze Dame auf ihren Platz stellte, und wünschte ihm viel Glück.

Während er sie kurz anlächelte, sagte er in gespielt strengem Ton: »Danke, liebe Tochter, aber Glück spielt beim Schach keine Rolle.«

Schmunzelnd erwiderte sie: »Na, dann viele gute Geistesblitze, Vater.«

»Und du? Brauchst du Glück für deine Unternehmungen?«

Hensley überlegte, ob andere Mädchen sich auch solche Fragen stellen lassen mussten. »Es geht um ein Vorsprechen, Daddy. So gesehen, kann ich durchaus eine gehörige Portion Glück gebrauchen. Denn das ist keine objektive Sache wie dein Schachspiel. Die Rollenvergabe beruht ausschließlich auf der subjektiven Entscheidung des Regisseurs, von dem ich nicht das Geringste weiß. Gut möglich, dass er den Monolog hasst, den ich einstudiert habe. Vielleicht hat er ein gebrochenes Herz und kann Tennyson nicht ausstehen.«

»Um welchen Text handelt es sich?«

»If I were loved, as I desire to be.«

Ihr Vater nickte und schloss die Augen. »What is there in the great sphere of the earth, and range of evil between death and birth, that I should fear, if I were loved by thee?«

»Du kennst ihn natürlich.«

»Wieso ›natürlich‹?«

»Weil du einfach alles weißt, Daddy. Du weißt vermutlich auch, ob ich die Rolle bekommen werde oder nicht.«

Er sah sie belustigt an. »Ja, allerdings. Wer dieses Gedicht vorträgt, ist noch nie abgewiesen worden.«

Hensley runzelte die Stirn. »Ach, wirklich? Erzähl«, forderte sie ihn auf, während sie ihre Handschuhe anzog.

»Das war eines der Lieblingsgedichte deiner Mutter. Eines unserer Lieblingsgedichte.«

Hensley nickte. Das war ihr selbstverständlich nicht neu. Schließlich hatte ihre Mutter es ihr bereits vorgetragen, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hatte sich gefragt, ob ihr Vater sich daran erinnerte. Jetzt wusste sie Bescheid.

»Wünsch mir Glück«, sagte sie und setzte ihren Hut auf.

»Ich wünsche dir lieber, dass der Regisseur deine zahlreichen Begabungen erkennt.«

»Ich dürfte so gegen sieben wieder da sein. Marie und ich gehen gemeinsam nach Hause.«

Er nickte zufrieden. »Aber bitte sei leise, wenn du zur Tür hereinkommst.«

Sie wusste, dass Mr. Wern, sein Schachgegner, in der nächsten halben Stunde eintreffen würde. Nach einem kurzen Gespräch würde sich die Wohnung in einen Tempel der Stille verwandeln. Die Nähmaschine, die Gitarre, ihre Schritte – all das galt als Lärm. Die Konzentration eines Schachspielers war heilig, vielleicht das einzig Heilige überhaupt.

Aber wer war sie, ihm diese Auszeit von einem Alltag zu missgönnen, der häufig Stirnrunzeln, besorgte Äußerungen und angespanntes Hüsteln hervorrief? Ihr Vater traute Wilson nicht über den Weg, ebenso wenig seinen Reden zur Außenpolitik. Er hatte Angst, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sich die Vereinigten Staaten an dem Gemetzel in Übersee beteiligten.

Sie hatte nicht immer so viel Verständnis für seine Eigenheiten aufgebracht. Mit elf, zwölf, dreizehn hatte sie sich ständig über seine altmodischen Marotten geärgert. Sie knallte mit den Türen, um ihren leisen Worten Nachdruck zu verleihen, stampfte mit dem Fuß auf, wenn er sie mit »Tochter« anredete. Sie vermisste ihre Mutter und sehnte sich nach einer Umarmung, nach einem Lächeln, nach Wärme ohne jede Ironie. Ihr Bruder, der aufs Internat ging, war ihr diesbezüglich keine große Hilfe. Wenn überhaupt, betonten seine Besuche ihre Einsamkeit nur, denn er ging jeden Abend mit Freunden aus.

An ihrem vierzehnten Geburtstag hatte ihr Vater sie ernst gemustert. »Bist du glücklich?«, hatte er gefragt.

Sie hatte nicht darauf geantwortet. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, ihn gefragt, warum er ihr nicht einfach alles Gute zum Geburtstag wünschen könne wie alle anderen Väter auch. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, sie sei an keinem Geburtstag glücklich gewesen, nicht seit dem Tod ihrer Mutter. Und dass er nur ein schlechter Ersatz für sie sei. Stattdessen schwieg sie. Er ging zum Flurschrank und holte ein großes, unbeholfen verpacktes Geschenk heraus. »Mal schauen, ob dich das glücklich macht.« Er legte das Päckchen auf den Couchtisch.

Hensley durchquerte den Raum, ihre Absätze hinterließen akustische Ausrufezeichen. »Was ist das?«, fragte sie, während sie neben ihn trat.

»Na ja, ein Geschenk, nehme ich an.« Lächelnd nahm er auf dem Sofa Platz.

»Was für eine Art von Geschenk?«, erwiderte sie, weil sie sich nicht so leicht abspeisen lassen wollte.

»Ach, es gibt verschiedene Arten? Nenn mir die Kategorien, damit ich versuchen kann, es einzuordnen.«

Hensley stampfte laut auf, doch als sie ihr Spiegelbild in der antiken Vase neben dem Kamin sah, kam ihr das kindische Gestampfe an ihrem vierzehnten Geburtstag auf einmal sehr ungezogen, wenn nicht sogar lächerlich vor. Sie beschloss, nahtlos ins Komödiantenfach zu wechseln.

»Kategorie eins: nützlich, aber langweilig. Kategorie zwei: unterhaltsam, aber nutzlos. Kategorie drei: perfekt.«

Ihr Vater blieb völlig ungerührt von ihrem Stimmungsumschwung. »Vielleicht sollte das lieber die Beschenkte entscheiden, schließlich hängt es allein von ihr ab. Das Risiko geht man ein, wenn man Geschenke macht.«

»Stimmt.« Hensley ließ sich neben ihren Vater aufs Sofa sinken. Sein Bart und seine Brauen waren weiß. Sie hätte nicht sagen können, seit wann das so war.

Sanft legte er ihr eine Hand auf den Rücken. »Los, schauen wir mal, wie ich mich geschlagen habe.«

Das Papier war braunes Packpapier, und ein einzelnes, geringeltes violettes Band verzierte die Oberseite. Sie entfernte es und glättete es in ihrem Schoß. Als sie das Papier aufriss, kam eine fantastische schwarze Nähmaschine zum Vorschein, mit einer wunderbaren Handkurbel und glänzenden Metallteilen. Hensley berührte die Kurbel. Sie fühlte sich kühl und stabil an. »Es ist perfekt.«

»Aha. Kategorie drei also. Ich bin überglücklich.«

»Wo hast du die denn her?«

»Aus einem kleinen Laden am Broadway. Deine Mutter ist immer daran vorbeigeschlichen, um die Nähmaschinen zu bewundern.« Er putzte seine Brille.

Schweigen entstand. Lärm von der Straße füllte die Stille. Ein Zeitungsjunge pries die Abendzeitung an, Karren klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, hupende Autos bahnten sich ihren Weg durch den Verkehr.

»Und? Bist du an diesem Geburtstag glücklich, Hennie?«, fragte ihr Vater im Aufstehen und setzte seine Brille auf.

»Ja. Danke.«

»Das freut mich sehr. Dann kann’s ja gleich losgehen mit dem Nähen«, sagte er verschmitzt.

»Auf leeren Magen?«

Hensleys Vater senkte den Kopf. »Du armes, armes Ding! Sollen wir den Beginn deines fünfzehnten Lebensjahrs damit feiern, dass wir auswärts essen gehen?«

Hensley stampfte erneut mit dem Fuß auf. Aber diesmal fühlte sie sich besser. Wie eine erwachsene Frau, die ein Mädchen nachahmt. »Zu Polly’s.«

Er stampfte ebenfalls auf. »Und zwar sofort!«

Seitdem hatte Hensley die Nähmaschine jeden Tag benutzt. Von Anfang an hatte sie beim Zuschneiden, Abmessen, Feststecken, Heften und Nähen jedes Zeitgefühl verloren, so sehr ging sie darin auf. Von da an hatte sich ihre Beziehung verändert. Beide akzeptierten die Marotten des anderen, ohne sie kategorisch zu verurteilen.

An jenem Abend, an den sie sich jetzt erinnert, während der Zug ihren Kopf vor und zurück wippen lässt, trug sie ebenfalls selbst entworfene und genähte Kleider: einen schwarzen, an den Hüften eng anliegenden Rock, der nach unten hin weiter wurde und in üppigen Falten die Waden umspielte, dazu ein leinenes Smokinghemd ihres Vaters, das sie in eine Bluse mit Biesen und Zipfelsaum umgearbeitet hatte. Darüber hatte sie einen der Wollmäntel ihrer Mutter angezogen. Der war mit Pelz verziert, den sie von einem zu klein gewordenen Pulli abgetrennt hatte. Sie griff nach ihrem Schirm und überließ den Vater seinem Schachspiel. Der sagte, was er stets sagte, wenn sie die Wohnung verließ: »Mach’s gut, Hennie.«

Für einen Mann, der sein Leben damit verbrachte, sich so genau wie möglich auszudrücken, war das eine ziemliche Plattitüde. Sie nahm sie kaum noch wahr, obwohl sie sich stets bemühte, seiner Aufforderung Folge zu leisten.

ENDE DER LESEPROBE