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Monika Lüthi

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Beschreibung

»Lauf!«, schreit eine Stimme in meinem Kopf. Aber ich kann nicht. Nie wieder werde ich laufen können. Der Laufsport ist alles für Jennifer. Doch kurz vor der Europameisterschaft passiert das Unfassbare: Bei einem schrecklichen Unfall verliert sie ein Bein. Völlig aus der Bahn geworfen, kämpft sie nicht nur um ihr altes Leben, sondern auch gegen eine Bedrohung aus der Vergangenheit. Eine, vor der sie nicht mehr davonlaufen kann.

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Solange du nicht stehen bleibst

Monika Lüthi

 

Impressum

© 2022 Monika Lüthi

 

Solange du nicht stehen bleibst

1. Auflage, Mai 2022

Alle Rechte vorbehalten

 

Monika Lüthi

c/o autorenglück.de

Franz-Mehring-Str. 15

01237 Dresden

 

Lektorat: Astrid Töpfner, www.astrid-topfner.com

Korrektorat: Claudia Heinen, www.sks-heinen.de

Covergestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

Satz: Monika Lüthi, www.monika-luethi.com

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Handlungen und alle handelnden Protagonisten sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

 

ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-75463-570-4

 

Buchbeschreibung

»Lauf!«, schreit eine Stimme in meinem Kopf. Aber ich kann nicht. Nie wieder werde ich laufen können.

 

Der Laufsport ist alles für Jennifer. Doch kurz vor der Europameisterschaft passiert das Unfassbare: Bei einem schrecklichen Unfall verliert sie ein Bein. Völlig aus der Bahn geworfen, kämpft sie nicht nur um ihr altes Leben, sondern auch gegen eine Bedrohung aus der Vergangenheit. Eine, vor der sie nicht mehr davonlaufen kann.

 

Triggerwarnung

Meine Bücher behandeln nicht nur leichte Themen. Weil ich möchte, dass du dich beim Lesen wohlfühlst, habe ich auf meiner Webseite alle Themen gesammelt, die negative Reaktionen hervorrufen könnten.

 

www.monika-luethi.com/triggerwarnung

Für alle, die außergewöhnlich sind

 

Kapitel 1

August

Ich rannte, als ob es um mein Leben ginge. Meine Gedanken konzentrierten sich auf den hämmernden Rhythmus meines Herzens, alles andere blendete ich aus. Die Ahornallee, an deren Ende die Ziellinie wartete. Die Menschenmenge am Straßenrand. Die Läuferinnen hinter mir. Meine Oberschenkel brannten stärker als die Sonne auf meinem Rücken. Dann fokussierte ich mich auf die kurze Distanz zwischen Stefanie und mir. Der dumpfe Klang unserer Schritte auf dem Asphalt synchronisierte sich. Ich steigerte mein Tempo ein letztes Mal, sie machte das Gleiche. Einsam an der Spitze rannten wir um den Sieg. Ich musste schneller sein. Stefanie überholen. Gewinnen.

Dann kam die Ziellinie.

Nur der zweite Platz, realisierte ich sofort.

»Stefanie Salvisberg, 2:25:37«, rief eine Stimme durchs Megafon. »Jennifer Goldmann, 2:25:38.«

Mit der Durchsage fraß sich auch die Enttäuschung in mich hinein. Schon wieder Zweite. Schon wieder hatte Stefanie mich geschlagen. Keuchend ging ich in die Hocke, doch mein Herz raste weiter. Noch hatte es nicht begriffen, dass der Lauf vorbei war und es nichts am Ergebnis ändern konnte, egal, wie sehr es sich bemühte. Als ich wieder einigermaßen ruhig atmen konnte, stemmte ich mich hoch und lehnte mich neben Stefanie an eine Mauer.

»Gratuliere«, sagte ich.

Sie reagierte nicht, obwohl sie mich bestimmt gehört hatte. Als ich sie genauer betrachtete, bemerkte ich, dass sie sich eine Hand in die Seite presste und viel zu schnell atmete. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich unsicher. So ausgelaugt hatte ich sie noch nie nach einem Lauf gesehen.

»Das geht dich nichts an«, zischte sie.

Ich zuckte zusammen. »Ich wollte doch nur …«, murmelte ich mehr zu mir als zu ihr. Ja, was wollte ich eigentlich? Sie hatte meine Hilfe noch nie nötig gehabt.

In dem Moment kam unser Trainer Walter mit herausgestreckter Brust auf uns zu, in jeder Hand eine Flasche Wasser. Die Haltung eines Siegers, ging es mir durch den Kopf.

»Fantastisch, Mädels!« Er reichte uns die Flaschen. »Wahnsinn, dass ihr es beide auf die Startliste geschafft habt.«

Seine Worte hallten in meinen Ohren nach. Startliste. Beide. Es dauerte einen Moment, bis auch die Bedeutung bei mir ankam. In meinen Fingern kribbelte es. Vor lauter Enttäuschung über den verpassten Sieg hatte ich die Qualifikation für die Europameisterschaft völlig vergessen.

»Ich auch?«, fragte ich sicherheitshalber nach.

»Du.« Mit übertriebener Deutlichkeit zeigte er zuerst auf Stefanie, dann auf mich. »Und du.«

»Juchhe!« Ich streckte beide Arme in die Luft und strahlte übers ganze Gesicht. Es fühlte sich an, als würde ich abheben und davonfliegen.

»Ganz toll.« Stefanie holte mich mit ihrer gleichgültigen Reaktion wieder auf den Boden zurück. Für sie waren Siege so selbstverständlich wie das Zähneputzen. Mit zittrigen Fingern drehte sie am Verschluss ihrer Flasche. Zischend entwich die Kohlensäure, dann kippte sie sich den Inhalt über den Kopf. Mineralwasser tropfte von ihrer Nase.

Walter schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich hole mir etwas zu essen. Wir besprechen den Lauf danach.« Er ging zum Imbissstand und reihte sich in die meterlange Schlange hungriger Läuferinnen ein, den Blick aufs Handy gerichtet.

Ich hatte keine Lust auf Pasta, weswegen ich einen der Energieriegel aus der kleinen Tasche am Laufshirt kramte. Stefanie lehnte immer noch gekrümmt an der Mauer, als hätte jemand sie in den Bauch getreten.

Sei nett, ermahnte ich mich in Gedanken. Philipp würde es von mir erwarten.

»Möchtest du einen?«, fragte ich und streckte ihr einen Riegel entgegen. »Ich habe genug dabei.«

Sie schaute auf, die Augen zu Schlitzen verengt. Mit diesem Gesichtsausdruck sah sie Philipp unglaublich ähnlich.

»Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!« Sie schlug meine Hand weg, als wäre sie eine lästige Fliege. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück, starrte auf den Riegel auf dem Boden und dann zu Stefanie. Statt sich zu entschuldigen, wandte sie sich ab und ging in Richtung Toiletten. Mit offenem Mund starrte ich ihr nach. Dass sie mich nicht mochte, wusste ich, aber so, wie sie sich in letzter Zeit verhielt, schien sie mich sogar zu hassen. Wut wallte in mir auf. Ich gab mein Bestes, freundlich zu ihr zu sein, obwohl wir Konkurrentinnen waren, und sie warf mit Speerspitzen um sich. Vielleicht sollte ich aufhören, mich mit ihr gut stellen zu wollen, egal, was Philipp sagte. Im November würde ich an der Europameisterschaft teilnehmen. Darüber sollte ich mich freuen und mich nicht ihretwegen ärgern. Die Europameisterschaft … Scharf sog ich die Luft ein. Auf einmal war mir klar, warum Stefanie so reagiert hatte. Sie hatte Angst, dass ich bei der Europameisterschaft schneller sein würde als sie. Noch nie war ihr Sieg so knapp gewesen wie vorhin.

Plötzlich blubberte es in meinem Bauch vor Aufregung, als hätte ich einen Liter Mineralwasser auf einmal getrunken. Wenn ich mich genug anstrengte, würde ich es schaffen. Zum ersten Mal könnte ich zuoberst auf dem Podest stehen. Ich stellte mir vor, wie Philipp und ich vor der Wohnzimmerwand standen und unsere Goldmedaillen betrachteten. Wie er einen Arm um mich legte, mich an sich zog und »Ich bin so stolz auf dich« in mein Ohr flüsterte. Wie ein Versprechen für die kommende Nacht. Die Vorstellung beflügelte mich wieder. Da fasste ich einen Plan: Bis zur Meisterschaft würde ich mich strikt an Walters Pläne halten und kein Training ausfallen lassen. Und dann würde ich diese Europameisterschaft gewinnen.

 

Beim Bahnhof beobachtete ich aufmerksam die Menschen um mich herum. Ein paar Läuferinnen tuschelten und schauten immer wieder zu einem Mann, der lässig Zigarettenrauch ausblies. Mein Blick blieb kurz an ihm hängen, aber er war es nicht. Natürlich nicht, es wäre viel zu auffällig. Dann nahm ich die Studentengruppe und die Personen am anderen Ende des Bahnsteigs unter die Lupe und erspähte schließlich Stefanie, die weiter hinten auf einer Bank saß. Ohne sich zu verabschieden, war sie aus Walters Auto gestiegen und hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass wir nicht zusammen zurückfahren würden. Mir war es auch recht, ihr nicht dreißig Minuten lang schweigend gegenübersitzen zu müssen. Es war mehr als genug, dass wir uns regelmäßig beim Training im Wald kreuzten. Meistens hielt sie den Kopf gesenkt und grüßte nicht einmal.

Als der Zug einfuhr, ließ ich allen anderen den Vortritt und stieg als Letzte ein, nicht ohne einen Blick über die Schulter zu werfen. Manchmal wünschte ich mir Augen im Hinterkopf. Eine knappe Stunde später erschien der markante Kirchturm mit dem viel zu großen Ziffernblatt in meinem Blickfeld und ich wusste, dass ich zu Hause war. In einer Ortschaft im Emmental, zu groß, um als Dorf durchzugehen, aber zu klein für eine Stadt. Die Räder quietschten beim Wechseln der Schienen und noch lauter beim Anhalten. Ich schulterte die Sporttasche, stieg aus und durchquerte das Dorf. Bei der Bäckerei blickte ich kurz durchs Ladenfenster, um zu schauen, wer meine Schicht übernommen hatte. Meine Chefin höchstpersönlich stand hinter dem Tresen. Mit einem mürrischen Gesicht reichte sie einem Kunden eine Tüte. Offensichtlich hatte sie keinen Ersatz für mich gefunden. Schnell ging ich weiter, bevor sie auf die Idee kam, mich spontan zum Rest der Nachmittagsschicht zu verdonnern. Ich hatte bereits am Wochenende eine Doppelschicht eingelegt, damit ich mir für den Lauf hatte freinehmen können, das reichte.

Ich verließ den Pflasterstein und ging die Landstraße entlang. Autos rasten an mir vorbei und auch der Bus überholte mich. Hätte ich ihn genommen, wäre ich schneller gewesen, doch ich war lieber zu Fuß unterwegs, sogar nach einem Lauf. Eine Brücke markierte das Ende des Dorfkerns. Rund zweihundert Meter führte sie auf die andere Seite einer Schlucht. Dort standen die Häuser nicht mehr dicht gedrängt nebeneinander, sondern getrennt durch Felder voller Gerste und Weizen. Hier blies ständig der Wind, manchmal so stark, dass man aufpassen musste, nicht auf die Straße geweht zu werden.

Mitten auf der Brücke überkam mich ein seltsames Gefühl. Wie ein Brennen im Rücken, als würde jemand Löcher hinein starren. Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag. Ich drehte mich rasch um, doch hinter mir war niemand. Mein Blick wanderte hinab in die Schlucht, wo der Fluss zu einem schmalen Streifen im Steinbett geschrumpft war. Die Höhe wirkte auf einmal bedrohlich. Ich entfernte mich vom Geländer und lief näher bei der Straße. Alle paar Sekunden lugte ich über die Schulter. Außer mir war niemand da. Ich schüttelte mich, in der Hoffnung, so dieses Gefühl loszuwerden. Vergebens. Es verfolgte mich auf die andere Seite der Brücke. Im Gegensatz zum Bahnhof war hier keine Menschenseele. Niemand, der mir helfen würde. Das Brennen im Rücken ließ nicht nach. Jemand beobachtete mich. Jemand jagte mich. Und ich wusste genau, wer dieser Jemand war.

Ich lief schneller, überquerte die Straße und ehe ich es realisierte, rannte ich. Meine Beine quittierten es mit einem müden Ächzen, doch wie immer taten sie, was ich von ihnen verlangte. Das war verrückt, komplett verrückt. Er konnte nicht wissen, wo ich wohnte. Nicht, seit ich bei Mam ausgezogen war. Nach dem Lauf war ich vorsichtig gewesen, hatte mich zigmal vergewissert, dass er nicht da war. Hatte ich mich geirrt? Ich sprintete, als wäre er mit einem Messer hinter mir her, saugte die letzten Kraftreserven aus meinen Zellen, brannte mich aus. Erst, als ich den Hügel hochgerannt war und die Haustür hinter mir zugeschlagen hatte, hörte ich damit auf.

 

Ich lehnte mich schwer atmend an die Tür. Die Sporttasche glitt von meiner Schulter und die Trinkflasche schepperte, als sie auf den Boden fiel. Meine Beine zitterten unkontrolliert. Im Schutz des Spitzenvorhanges beobachtete ich die Auffahrt vor unserem Haus. Von hier aus sah man die paar Hundert Meter den Hügel hinunter. Zwei Bauernhöfe standen in der Nähe der Bushaltestelle. Sonst gab es weit und breit nichts als goldgelbes Getreide und ein Maisfeld direkt unter unserem Haus. Majestätisch wippten die Halme im Wind. Das perfekte Versteck. Bei dem Gedanken beschleunigte sich mein Herzschlag wieder. Ich ließ die Landschaft nicht aus den Augen.

»Wie war der Lauf?«

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Philipp kam mit dem Kochlöffel in der Hand auf mich zu. Er runzelte die Stirn. »Was ist passiert? Bist du nach Hause gerannt?«

»Nein …« Ich zögerte, blinzelte und als ich die Augen wieder öffnete, stand Philipp dicht vor mir.

»Sag schon.« Er streichelte mit der freien Hand über meine Wange. Ich beugte mich ihm entgegen. Mein ganzer Körper sehnte sich nach Philipps Nähe, nach seiner tröstenden Umarmung und seinen Küssen, die mich alles andere vergessen ließen. Er hob mein Kinn, forderte mich auf, mehr zu erzählen.

»Ich hatte nur so ein Gefühl.«

Sofort bemerkte ich die Veränderung in seinem Gesichtsausdruck. Er kniff die Augen zusammen, seine Hand rutschte von meiner Wange und verschwand in der Tasche seiner Trainingshose.

»Ein Gefühl?«, wiederholte er, da ich nicht weitersprach. »Als ob du verfolgt werden würdest?«

Ich senkte betroffen den Kopf.

»Er darf sich dir nicht mehr nähern, hast du das vergessen?«

»Natürlich nicht.«

»Er würde sofort in einer Anstalt landen und das weiß er.«

Solche Typen halten sich nicht an Regeln, egal welche Strafe ihnen droht, hätte ich beinahe erwidert. Was müsste geschehen, damit er tatsächlich in einer Anstalt landete? Was müsste er mit mir anstellen? Vor meinem inneren Auge sah ich mich am Boden liegen, völlig nackt, eine Blutlache um meinen Kopf. Mir schauderte es. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. Aber genauso wenig wollte ich mich mit Philipp darüber streiten. Ich war ausgelaugt vom Lauf und vom Sprint nach Hause, hatte keine Kraft dafür übrig. In dieser Sache verstand er mich nicht.

»Hör auf, dich verrückt zu machen«, bat Philipp in versöhnlicherem Ton. Er beugte sich vor und seine Lippen berührten meine. Ich spürte förmlich, wie die Anspannung von mir abfiel, noch mehr, als er mich ganz nah an sich heranzog und mich einfach nur festhielt. Seine Nähe hatte mich schon immer beruhigt.

Da schrillte die Küchenuhr. Philipp löste sich seufzend von mir und verschwand in der Küche. Ich warf einen letzten Blick aus dem Fenster und kontrollierte, ob ich die Tür tatsächlich abgeschlossen hatte. Philipp hatte recht. Wenn ich mich damit verrückt machte, war niemandem geholfen. Mit dem Fuß schob ich die Tasche unter die Garderobe und betrat das Wohnzimmer. Der modrige Geruch der Wände kroch in meine Nase. Ich kippte das Fenster und ließ die warme Sommerluft hinein, bevor ich duschen ging.

Im ersten Monat nach dem Einzug hatten wir mit Schimmel zu kämpfen gehabt, der aber sachgemäß entfernt wurde. Nur dieser Geruch ermahnte mich ständig, dass er wieder zurückkehren könnte. Die Leitungen müssten längst ersetzt werden und auch Küche und Bad hätten eine Renovierung nötig. Wir hatten uns nie beim Vermieter beschwert, denn das Haus hatte viele Vorteile: Hundertvierzig Quadratmeter verteilt über zwei Stockwerke, große Fenster, lichtdurchflutete Räume und eine Terrasse. Das war alle Unannehmlichkeiten wert, auch dass wir die Terrassentür jedes Mal mit Nachdruck schließen mussten, damit sie tatsächlich zu war. Ich rubbelte meine Haare trocken und half Philipp danach beim Tischdecken. Um diese Zeit war die Sonne längst hinter dem Dach verschwunden und der Schatten reichte bis zur Rasenfläche. Ich schob die Tageszeitung zur Seite und hielt inne. Auf der Titelseite wurde ein Dopingverdacht im Radsport ausgeschlachtet. Ich seufzte. Schon wieder. Seit Lance Armstrong schien sich alles nur noch um dasselbe Thema zu drehen.

»Du hast mir nicht verraten, wie der Lauf war«, sagte Philipp und stellte die Pfannen auf den Tisch.

»Ich habe mich qualifiziert.«

Er lächelte. »Das sind ja tolle Neuigkeiten.«

Philipp hatte seinen Startplatz natürlich längst. Ob Stefanie auch dabei war, fragte er gar nicht. Wenn ich es geschafft hatte, dann sie erst recht. Stefanie und Philipp, das Zwillingspärchen mit den Siegergenen. Die Medien liebten sie und die Sponsoren auch. Trotzdem war Philipp, genau wie ich, auf seinen Brotjob angewiesen, auch wenn er sich regelmäßig darüber beschwerte. Viel lieber bewegte er seinen ganzen Körper und nicht nur die Finger auf der Tastatur. Auch das hatten wir gemeinsam.

Bevor Philipp sich setzte, strich er hauchzart über mein Schulterblatt. Eine Gänsehaut überzog meine Arme. Da war es wieder, dieses Kribbeln in meinem Bauch, der Wunsch nach seiner Nähe. Der Hunger war größer. Vorerst. Wir wickelten die Spaghetti um die Gabel, ich auf dem Löffel, Philipp am Tellerrand, immer an derselben Stelle. Die Tomatensoße bildete rote Kreise in unterschiedlichen Größen.

»Warst du schon beim Training?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Seine Haare waren vom Duschen noch feucht und die verschwitzte Sportkleidung lag im Wäschekorb.

»Nur kurz. Im Kraftraum war die Hölle los, so macht es keinen Spaß.« Er warf seine Vitamintabletten ein und spülte sie mit einem halben Glas Wasser hinunter.

Ich hatte nie verstanden, warum Philipp in diesem Kellerloch trainierte. Er meinte, er bräuchte eine Wand, die er anstarren könnte, um sich zu fokussieren. Zudem konnte er am Laufband genau ablesen, bei welcher Steigung er wie lange gebraucht hatte und wie hoch sein Puls gewesen war. Nur so erreichte er seine Ziele, behauptete er. Ich benutzte den Pulsgurt höchstens auf der Bahn, wenn Walter mir im Nacken saß. Wenn nicht, rannte ich lieber nach Gefühl. In der Regel täuschte mich dieses nicht.

»Genau das ist der Unterschied zwischen uns beiden«, hatte Philipp mir erklärt, nachdem ich beim letzten Marathon wieder einmal Zweite geworden war. »Du überlässt alles dem Zufall und deswegen gewinnst du nie.«

Er schöpfte sich erneut Spaghetti und verdrückte auch diese in Windeseile. Ich stocherte in meiner inzwischen kalt gewordenen ersten Portion herum. Mein Blick schweifte zur Vitrine neben dem Fernseher. Sie war gefüllt mit Pokalen von Teamwettkämpfen. Unzählige Medaillen hingen an der Wand darüber. Die meisten gehörten Philipp, was für seine Theorie sprach. Auf der anderen Seite war er um einiges länger dabei als ich. Obwohl ich schon immer gern und schnell gelaufen war, hatte ich erst vor ein paar Jahren mit dem ernsthaften Training begonnen. Vom ersten Moment an hatte ich es geliebt, wenn das Adrenalin mich durchströmte, mich weiter antrieb und mir alles abverlangte. Wenn gegen Ende eines Marathons die Muskeln langsam übersäuerten und nicht nur meine Beine, sondern alles in mir brannte.

»Woran denkst du?«, fragte Philipp.

»An die Europameisterschaft. Heute hatte ich das erste Mal das Gefühl, tatsächlich gewinnen zu können.«

»Du hast also Blut geleckt.« Philipp legte die Gabel zur Seite. Seine Hand streichelte verheißungsvoll meinen Oberschenkel. Mein Blick wanderte seinen mit Adern übersäten Arm entlang, über seinen Hals zu seinen Augen. Die Lust blitzte darin auf.

»Wie fändest du es, wenn wir nach der Europameisterschaft zwei Goldmedaillen aufhängen könnten?«, fragte ich.

»Eine verlockende Vorstellung.« Er zeigte sein spitzbübisches Grinsen, in das ich mich so unsterblich verliebt hatte. »Wobei ich etwas anderes noch verlockender fände.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Ich legte meine Hand auf seine und schob sie weiter nach oben. Einen Moment lang betrachtete er mich nur, jede Faser seines Körpers unter Kontrolle. Nur das kaum bemerkbare Flattern seiner Augenlider verriet ihn. Mit einem Ruck zog er mich an sich und presste seine Lippen auf meine. Der letzte Rest des flauen Gefühls in meiner Magengrube verschwand und machte einem sehnsuchtsvollen Ziehen Platz. Er umfasste mit beiden Händen meinen Hintern und hob mich hoch. »Ich liebe deine Beine, weißt du das?«, stieß er hervor.

Ich schlang eben diese Beine fest um seine Hüften. Ja, das wusste ich ganz genau.

 

Kapitel 2

Letzten Oktober

 

Er verharrte vor dem Hauseingang. Die Mittagssonne brannte auf ihn hinunter, als wüsste sie nicht, dass schon lange Herbst war. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er auf den silbern glänzenden Briefkästen nach dem Namensschild. Nervosität stieg in ihm auf. Er wischte die verschwitzten Hände am Kapuzenpulli ab. Hier irgendwo musste es sein. Schild um Schild arbeitete er sich vorwärts, bis er bei einem hängen blieb:

 

Margaret und Jennifer Goldmann

 

»Jenni«, flüsterte er und strich über die feinen Rillen der Gravur. »Endlich.«

Sein Finger verharrte nur wenige Zentimeter vor der Klingel und zitterte. Sollte er wirklich? Seit er sie beim Zieleinlauf des Grand Prix von Bern das erste Mal gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Jedes Detail hatte er sich eingeprägt. Ihre Hüften so schmal wie die eines Teenagers. Kleine, straffe Brüste. Hellbraunes Haar, fast golden in der Sonne. Sein Blick fiel auf ihre Lippen. Voll und rot waren sie, als hätte sie gerade ein Eis gegessen. Er stellte sich vor, wie genau diese Lippen über seine Brust fuhren, seinen Bauchnabel küssten und unbeirrt ihren Weg nach unten fortsetzten. Wie durch die Linse einer Kamera war alles verschwommen. Alles außer sie. Er folgte ihr, hypnotisiert von ihrer Anziehungskraft. Er wollte, nein, er musste sie ansprechen, sie zu sich nach Hause bringen und auf sein Bett legen. Jeden Zentimeter ihrer Haut von Stoff befreien, bis sie komplett nackt vor ihm lag. Wie eine Göttin. Seine Göttin. Seine Hose wurde immer enger. Dann verlor er Jenni in der Menschenmenge. Ihr Gesicht mit den vollen Lippen war in seiner Erinnerung geblieben. Nächtelang hatte er wach gelegen und sich nach ihr gesehnt, immer wieder ihre Webseite aufgerufen und Fotos von ihr angeschaut, die Hand im Schritt. Google wusste viel über sie, sogar ihre Adresse. Wenn er nicht so weit entfernt wohnen würde, wäre er schon früher hierher gekommen. Und nun? Noch immer zitterte sein Finger. Er könnte sie sehen, jetzt gleich. Aber was, wenn diese Margaret öffnen würde? Er zog die Hand zurück, kramte einen jungfräulich weißen Umschlag aus der Hosentasche. Ein letztes Mal strich er darüber. Er hatte seine Worte sorgfältig ausgewählt, schließlich wollte er seine Jenni nicht mit der Intensität seiner Gefühle erschrecken. Stück für Stück wollte er sie erobern, bis sie ihn genauso begehrte wie er sie. Sanft ließ er den Umschlag in den Briefkasten gleiten.

 

Kapitel 3

 

September

Ich rückte die Körbe mit den Brötchen zurecht und warf einen Blick nach draußen, wo bereits die ersten Kunden warteten. Mit dem Gang einer Schwangeren watschelte Doris zum Eingang und betätigte den Schalter. Sie war nicht wirklich schwanger, sondern aß nur fürs Leben gern Blätterteigtaschen, was sich in ihrer Figur niederschlug. Die Tür öffnete sich, zig Kunden strömten in die Bäckerei und verteilten sich vor der Vitrine. Ein Windhauch verwehte den Duft nach Gebäck. Ich schaute freundlich in die Menge und wartete auf den Ersten, der sich für etwas entschieden hatte. Danach wurden jene bedient, die sich am stärksten behaupteten. So war es immer, kurz nach Öffnung, wenn unklar war, in welcher Reihenfolge die Kunden hereingekommen waren.

»Was zeigt der Drachometer?«, fragte ich, nachdem sich der Ansturm gelegt hatte, und füllte die Lücken in den Brotkörben auf.

»Orange, würde ich schätzen.« Doris lachte und kreierte mit geschickten Schwenkbewegungen einen perfekten Cappuccino. Das war der Grund, warum sie die Stammkundschaft bediente und ich die Take-away-Kunden. Der Deckel kaschierte meine ungeschickten Versuche, ein Blattmuster in den Schaum zu zaubern. »Sie war stinksauer, dass sie keinen Ersatz für dich finden konnte.«

»Tut mir leid, dass du ihre Launen aushalten musstest.«

»Hat es sich wenigstens gelohnt?«

»Ja, ich werde starten.«

»Wirklich?« Doris’ Gesicht erhellte sich. »Gratu…« Bevor sie zu Ende sprechen konnte, kräuselte sie ihre Nase und nieste in die Armbeuge. Blinzelnd kramte sie ein Taschentuch aus der Schürze, deren Bänder scharf in ihre Hüften schnitten.

»Gesundheit. Wirst du krank?«

»Das sind bloß die Pollen.«

Sie nieste wieder, zweimal kurz nacheinander. Dieses Mal war die Armbeuge nicht schnell genug und die Tröpfchen flogen durch die Luft. Ich verzog das Gesicht und wich zurück. Eine Erkältung würde mich im Training zurückwerfen. Dabei wollte ich unbedingt mit Philipp und unseren Goldmedaillen für die Zeitungen posieren und mich in seinem liebevollen Blick sonnen. Er wäre so stolz auf mich.

Die Schiebetür ging auf. Doris schob das Taschentuch in die Schürze zurück und ich wandte mich an den nächsten Kunden. Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Das Gesicht war mir mehr als bekannt.

»Oh, hallo Mam.«

»Hallo Schatz, machst du mir einen Tee? Schwarz, bitte.« Mam taxierte mich über die neue Brille hinweg mit ihrem Lehrerinnenblick. Ich hatte mich noch nicht an den starken Kontrast des Rots zu ihrem bleichen Gesicht gewöhnt. »Und zwei Donuts.«

Ich befüllte eine Kanne mit heißem Wasser. »Was führt dich her?«

»Ich wollte nachschauen, ob meine Tochter noch lebt.« Sie klappte die Brille zusammen und legte sie ins Etui. »Du hast dich lange nicht gemeldet.«

»Wir haben vorgestern telefoniert.« Ich stellte die Kanne auf ein Tablett und legte einen Donut dazu. »Sieben fünfzig, bitte.«

»Und der zweite?«

»Ich möchte keinen Donut, Mam.«

»Wenn du nicht willst, nehme ich ihn.« Doris kicherte. Sie fand es jedes Mal unheimlich amüsant, wie Mam versuchte, mich zu mästen.

»Du musst essen, Mädchen. Sonst fällst du noch um, so viel wie du rennst.«

»Ich esse«, sagte ich lauter als beabsichtigt. »Kartoffeln, Gemüse, Fleisch. Aber keine Donuts.«

»Na gut.« Seufzend schob sie mir eine Zehnernote entgegen. »Stimmt so.«

Sie griff nach dem Tablett und setzte sich an einen der Tische vor dem Schaufenster. Ich schüttelte den Kopf und putzte den Tresen. Sie machte sich nur Sorgen. Vollkommen übertriebene Sorgen, meiner Meinung nach. Vielleicht, weil es nur noch uns zwei gab und sie mich auf keinen Fall verlieren wollte. Ihr enttäuschter Blick erinnerte mich regelmäßig daran, dass sie sich etwas anderes für mich gewünscht hatte. Einen ordentlichen Beruf mit sicherem Einkommen. Beamtin vielleicht. Oder Lehrerin, so wie sie. In ihre Fußstapfen treten wollte ich nie und mich jeden Tag mit etwas beschäftigen, das mich langweilte, auch nicht. Ich hatte mich ihrem Willen widersetzt und lebte meinen Traum: Ich lief, ob es ihr gefiel oder nicht.

 

Die Zeit bis zum Mittag zog sich endlos in die Länge. Mam war längst wieder gegangen und ich hätte schon vor einer Viertelstunde Feierabend gehabt. Doch heute schienen alle ihr Mittagessen später zu holen als sonst. Die Kunden vor dem Tresen wurden immer mehr und inmitten eines Ansturms konnte ich nicht verschwinden. So bediente ich weiter, bis sich die Schlange gelichtet hatte und ich aufatmen konnte. Ich warf einen Seitenblick auf die Wanduhr.

»Ich mache Schluss für heute«, rief ich Doris zu und holte meine Jacke in der Garderobe. Als ich wieder nach vorn kam, erstarrte ich. Stefanie stand in Trainingshose und T-Shirt an der Vitrine und begutachtete die Sandwiches. Ein Stirnband hielt ihr die Haare aus dem Gesicht. Eigentlich unnötig, so großzügig wie sie den Pferdeschwanz mit Gel fixiert hatte. Kurz überlegte ich, ob ich mich verstecken sollte, bis sie wieder ging, verwarf die Idee aber sofort wieder. Auch wenn wir nie beste Freundinnen werden würden, konnten wir uns trotzdem »Hallo« und »Tschüss« sagen. Sie zeigte auf ein Schinkensandwich, mit der anderen Hand strich sie den Stoff ihres T-Shirts glatt. Ihr Gesicht wies eine ungesunde gräuliche Farbe auf. Ich trat näher. In ihrer Armbeuge prangte ein Bluterguss.

Stefanie bemerkte mich und zuckte zusammen. »Jennifer«, rief sie unnatürlich laut. Das Grau verschwand und sie wurde kreideweiß. »Hast du nicht längst Feierabend?«

Ich antwortete nicht, sondern starrte wie betäubt auf den blauen Fleck. Schnell verschränkte Stefanie die Arme.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Das geht dich nichts an«, fauchte sie und zupfte am Ärmel des Shirts, als ob sie den blauen Fleck so verstecken könnte.

Tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf, nur einer blieb hängen. »Du … bist gedopt«, flüsterte ich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ihr ganzer Körper strahlte Schuld aus.

»Ich war beim Blutspenden«, versuchte sie, sich herauszureden, und packte das Sandwich, das Doris ihr über den Tresen reichte. Ihre Finger zitterten genauso wie nach dem letzten Lauf.

»So kurz vor dem Marathon?« Ich wurde lauter. Köpfe drehten sich nach uns um. »Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Denk, was du willst.« Sie wandte sich von mir ab, doch ich packte sie am Arm und hielt sie zurück. Die Blicke der anderen Gäste brannten auf mir.

»Damit kommst du nicht durch, dafür werde ich sorgen.«

»Lass mich in Ruhe, du dumme Nuss.« Sie riss sich los und rieb die Stelle, an der ich sie festgehalten hatte. Ohne ein weiteres Wort stürmte sie aus der Bäckerei. Ich schaute ihr nach, auch noch, als sie schon lange verschwunden war.

 

Der Bluterguss geisterte mir während des ganzen Trainings im Kopf herum und ließ mich auch nicht los, als das heiße Wasser in der Dusche auf mich prasselte. Drogenabhängig war Stefanie definitiv nicht und sich durch eine Blutspende zu schwächen, würde sie nie riskieren. Was aber, wenn sie sich Eigenblut injizieren ließ, um durch die erhöhte Anzahl roter Blutzellen die Leistungsfähigkeit zu steigern? Je länger ich darüber nachdachte, desto plausibler wurde meine Theorie. Wenn es sich um Eigenblut handelte, könnte ihr Betrugsversuch unbemerkt bleiben, denn diese Art des Dopings war nur schwer nachweisbar. Ich dachte an all die Läufe, die ich als Zweite beendet hatte, und knallte die Shampooflasche zurück ins Gestell. Hätte ich gewinnen können? Die Wut in meinem Bauch wollte sich einfach nicht verflüchtigen. Nicht, bis ich für Gerechtigkeit gesorgt hatte, denn damit würde Stefanie nicht durchkommen. Dieses Mal nicht.

Ich stellte das Wasser ab. Durch den Spalt unter der Tür schlich kalte Luft ins Bad. Schnell schlang ich ein Handtuch um mich und trat hinaus. Philipps Lederschuhe standen im Eingangsbereich, er selbst saß mit dem Laptop am Küchentisch. Konzentriert starrte er auf den Bildschirm, den Kopf wie eine Schildkröte nach vorn gestreckt. Ich musste es ihm erzählen.

»Philipp?«

»Ja?« Er klappte den Laptop zu, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihn von seiner Arbeit erlöste. Sanft zog er mich auf seinen Schoß und küsste mich in den Nacken.

Ich drehte mich so, dass ich ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Es gibt etwas, das du wissen solltest.«

In dem Moment klingelte es. Durch das Milchglas erkannte ich die graue Uniform des Postboten. Ich seufzte. Bestimmt wollte er mir meine Lieferung eigenhändig übergeben, statt sie in den Briefkasten zu stopfen. Widerwillig löste ich Philipps Hände von meiner Hüfte und öffnete. Ich hatte recht gehabt. Der Postbote streckte mir ein Paket entgegen. Eine leichte Röte zog sich über seine Wangen, die ihn sofort sympathisch machte.

»Vielleicht sollte ich in Zukunft auch die Briefe persönlich abgeben«, sagte er und grinste, während mir peinlich bewusst wurde, dass das Duschtuch nur das Nötigste verdeckte. Mit einer Hand hielt ich es fest, damit es nicht versehentlich auf den Boden fiel und noch mehr preisgab.

»Gute Idee. So erspare ich mir den Gang zum Briefkasten.« Ich lächelte und er überreichte mir die Sendung. Dabei berührten sich unsere Finger. Seine waren warm und schwebten eine gefühlte Ewigkeit neben meinen.

»Bis zum nächsten Paket. Oder Brief.« Er schaute mich an, als wollte er etwas sagen, ließ es aber bleiben. Ich klemmte mir das Paket unter den Arm, ohne den Blick vom Postboten zu nehmen. Er hatte ein sehr einnehmendes Lächeln. In einem anderen Leben hätte ich ihn vielleicht auf eine Tasse Kaffee eingeladen.

»Bis dann.« Ich schloss die Tür und riss den Karton sofort auf. Meine neuen Funktionsshirts und Sport-BHs lagen sorgfältig zusammengefaltet darin. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Perfekt.

Plötzlich stand Philipp hinter mir, schlang die Arme um mich und legte sein Kinn auf meine Schulter. Ich kicherte und drehte mich in seiner Umarmung. Aber Philipp stimmte nicht mit ein, im Gegenteil. Seine Stirn lag in tausend Falten.

»Was?«, fragte ich und stupste seine Nase sanft mit meiner an.

»Ich mag es nicht, wenn er dich halb nackt sieht«, sagte er.

»Entschuldige, das habe ich nicht beabsichtigt.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

»Ich mag es auch nicht, wie er mit dir spricht.« Nun wandte er sich ab und starrte auf einen Punkt hinter mir. »Als wärst du Freiwild oder so.«

»Bist du etwa eifersüchtig? Er bringt nur die Post.« Erneut küsste ich ihn, dieses Mal aufs Kinn, weil ich seinen Mund nicht erreichte.

»Trotzdem.«

»Na gut.« Ich hob die Hand. »Ich schwöre hoch und heilig, dass ich nie wieder mit einem Handtuch bekleidet die Tür öffnen werde.«

Nun grinste Philipp ein kleines bisschen und die Anspannung wich aus seinem Körper. »Was wolltest du vorhin sagen?«

»Wie?«

»Im Wohnzimmer?«

»Ach so, ja.« Ich zögerte. Auf einmal war ich mir unsicher, ob ich ihm von meinem Verdacht erzählen sollte. Bei Eigenblutdoping würde man ohnehin nichts nachweisen können. Philipp und ich harmonierten gerade so gut. Das Training für den Marathon bewirkte, dass wir beide ausgeglichener waren als sonst. Ich, weil ich in der Natur sein konnte, und Philipp, weil er durch die Vorbereitung weniger arbeitete. Das wollte ich nicht ruinieren, indem ich schlecht über seine Schwester sprach. Egal, wie sehr er mich liebte, es war klar, auf wessen Seite er sich schlagen würde, wenn es hart auf hart kam. Gegen Stefanie konnte ich nur verlieren. Die Europameisterschaft allerdings würde ich für mich entscheiden, Doping hin oder her.

»Nicht so wichtig«, murmelte ich. Nein, ich würde Philipp nichts sagen und stattdessen Stefanie weiter beobachten. Vielleicht war sie zur Einsicht gelangt und hörte mit dem Doping auf, ohne dass ich sie anschwärzen musste.

 

Kapitel 4

Letzten November

Wie ein Aal schlängelte er sich durch die Menschenmenge, Jenni immer im Blick. Jeden einzelnen Tag hatte er gezählt, bis zu ihrem nächsten Lauf. Dann die Stunden und zum Schluss die Minuten, bis sie im Ziel einlief. Endlich. Er spuckte auf seine Fingerspitzen und strich sich die Fransen aus der Stirn. Noch drei Meter. Noch zwei. Noch einer. Direkt hinter ihr blieb er stehen und atmete tief ein. Ihr Duft, so intensiv wie reife Erdbeeren, war wie ein speziell für ihn gemischtes Aphrodisiakum. Sie streifte seine Brust und alles in ihm bebte.

»Entschuldigung«, sagte sie und wich einen Schritt zurück.

»Kein Problem, Jenni.« Er setzte sein vertrauensvollstes Lächeln auf.

»Kennen wir uns?« Sie musterte ihn. Jeder Blick streichelte sanft wie eine Feder über seine Haut.

Besser, als du denkst, wollte er sagen, hielt sich aber zurück. »Ich habe dir geschrieben.«

»Du bist Bernhard?«

»Genau.« Er lächelte. Sie hatte nicht einmal überlegen müssen, wessen Brief er meinte. Ein gutes Zeichen.

Nun lächelte sie auch. »Vielen Dank für deine Worte, ich habe mich sehr darüber gefreut.«

Er zwang sich, in ihre Augen zu schauen, und nicht ständig auf ihre Lippen. »Du hast jedes Einzelne verdient.«

Sie errötete und blickte verlegen auf den Boden. Diese Schüchternes-Mädchen-Nummer stand ihr.

»Würdest du ein Foto mit mir schießen?«, fragte er.

»Natürlich.« Die Antwort kam schnell.

Er stellte sich neben sie und hielt das Handy hoch. Sie lehnte sich zu ihm hinüber, bis ihr Gesicht auf dem Display erschien. Ihre Schulter berührte seine. Ihr Duft drang in jede seiner Zellen. Seine Gedanken machten sich selbstständig, katapultierten ihn und Jenni in die Kochecke seiner Wohnung. Nur mit einer Schürze bekleidet kniete sie vor ihm und schaute zu ihm auf. Er lehnte sich an die Ablage, öffnete den Reißverschluss seiner Hose und drückte ihren Kopf gegen seinen Schoß.

»Zu weit weg«, murmelte er mit belegter Stimme und zog sie näher heran. Er vergaß, weiter auf den Auslöser zu drücken. Es gab nur noch Jenni und seinen Arm um ihre Taille.

»Ich glaube, das reicht!«

Schon hatte sie sich aus seiner Umarmung gewunden. Ihr Duft verflüchtigte sich. Er versuchte, sie wieder an sich zu ziehen, aber sie war nicht mehr in seiner Reichweite.

»Wenn du mir deine Nummer gibst, kann ich sie dir schicken«, stammelte er völlig neben der Spur.

»Nein, danke.« Leise und zurückhaltend klangen ihre Worte, das komplette Gegenteil von vorhin. Sie ging, ohne sich zu verabschieden. Mit offenem Mund und dem pulsierenden Verlangen in der Hose blieb er zurück.

 

Kapitel 5

September

Am nächsten Morgen stand ich vor der geschlossenen Bäckerei. Erstaunt spähte ich hinein. Nur die Lichtspots der Schaufenster brannten, der Rest des Raumes versank in Dunkelheit. Wo war Doris? Um diese Zeit bereitete sie normalerweise längst die Körbe für die Backwaren vor, die jeden Augenblick geliefert werden würden. Bestimmt hatte ihr Auto den Geist aufgegeben. Es wäre nicht das erste Mal. Ich öffnete die Tür, deaktivierte den Alarm und schaltete das Licht ein. Nur die Lüftung surrte, sonst war alles still. Draußen überquerten vereinzelt ein paar Menschen die Straße. Ich rief Doris auf dem Handy an, dann auf dem Festnetz. Keine Antwort. So tauschte ich meine Jacke gegen die Schürze, holte Konfitüre, Butter und Käse für unsere Frühstücksgäste aus dem Kühlschrank und legte sie auf Eis. Mein Blick schweifte immer wieder zur Tür. Von Doris keine Spur. Langsam machte ich mir Sorgen.

Pünktlich um fünf Uhr dreißig hielt der rote Lieferwagen der Bäckerei vor dem Schaufenster. Der Drache höchstpersönlich stieg aus. Die Ärmel ihres Hemdes waren hochgekrempelt und Gummistiefel steckten an ihren Füßen, obwohl für heute kein Regen vorhergesagt war. Sie eilte um den Wagen herum und schüttelte dabei ständig den Kopf. Wenig später schob sie zwei Rolluntersetzer mit Kisten voller frisch duftender Brote ins Innere.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie.

»Wehe, du wirst auch noch krank«, blaffte sie mich an. »Der Lieferbote und die Dicke sind mehr als genug.« Sie gab den gestapelten Kisten einen Schubs und machte kehrt, um die anderen zu holen. Brezeln, Baguettes und Körnerbrötchen landeten direkt neben mir und warteten darauf, eingeräumt zu werden. Eigentlich sollte ich mich mittlerweile an ihre Art zu sprechen gewöhnt haben. Meine kribbelnden Finger zeigten mir aber, dass es nicht so war. Ich griff nach der obersten Kiste. Immerhin wusste ich nun, was mit Doris los war.

»Du übernimmst beide Schichten«, befahl der Drache, als sie wieder hineinkam, den Zeigefinger auf mich gerichtet. Mein Kiefer klappte nach unten und ich gaffte ihr nach, wie sie ohne ein weiteres Wort zum Lieferwagen marschierte.

Nein, nein, nein. Lautlos formte ich die Worte mit den Lippen. Mein Training. Bevor sie wegfahren konnte, stürzte ich nach draußen und riss die Beifahrertür auf.

»Ich kann nicht bis um sieben hierbleiben«, protestierte ich.

»Wie, du kannst nicht?«, spie sie mir entgegen und wurde ihrem Ruf als Drache mehr als gerecht.

»Ich muss am Nachmittag trainieren. Vor der Europameisterschaft kann ich keinen Lauf …«

»Das ist kein Wunschkonzert«, fiel sie mir ins Wort. »Ich habe dir oft genug für dein Herumgerenne freigegeben, nun kannst du dich dafür revanchieren.«

»Aber …«

»Wenn dir dein Job lieb ist, bleibst du, basta! Und nun mach die verdammte Tür zu, ich habe weitere Filialen zu beliefern.«

Ich stand nur fassungslos da und starrte sie an. Sie schob mich fluchend zur Seite und schloss die Tür selbst. Der Motor ratterte und wenig später bog der Lieferwagen um die Ecke.

 

Es war schon fast acht Uhr, als ich endlich zu Hause ankam. Einen Marathon laufen war eine Sache. Den ganzen Tag am Stück zu stehen eine andere. Meine Beine fühlten sich an wie zwei Mehlsäcke, die jemand ungeschickt an meinem Körper befestigt hatte. Zu allem Überfluss war auch noch Stefanie in die Bäckerei gekommen, hatte aber zum Glück nur ein Sandwich geholt. Dieses Mal hatte sie ein Langarmshirt getragen, ihre Armbeuge war nicht zu sehen gewesen.

»Philipp?«

Meine Stimme hallte durchs Haus. Keine Antwort. Das Paket mit den Sportsachen lag auf der Kommode im Wohnzimmer, direkt neben einem Familienfoto. Mam, Pa und ich als Dreijährige strahlten in die Kamera. Darüber hing ein Werbeplakat von mir für einen Recoveryshake. Ich trug Shorts, die mir nur knapp über den Hintern reichten und meine schlanken Beine betonten. Eine Hand stemmte ich in die Hüfte, in der anderen hielt ich den Shake.

Ich erinnerte mich genau an den Tag des Shootings. Es war so heiß gewesen, dass die Make-up-Artistin mein Gesicht nach jedem zweiten Schuss nachgepudert hatte. Auf dem Plakat lachte ich, als hätte nicht Stefanie, sondern ich den Lauf in der Woche zuvor gewonnen. Ob sie damals auch schon gedopt gewesen war? Ich ballte die Hände zu Fäusten. Doping war unfair, nicht nur mir, sondern auch allen anderen Läuferinnen gegenüber. Aber ich würde ihr zeigen, dass man auch ohne Dopen gewinnen konnte.

Entschlossen nahm ich die Sportkleidung aus dem Karton und schlüpfte hinein. Es stand nur ein kurzer Lauf in Wettkampftempo auf dem Plan, den würde ich schaffen. Ich stopfte eine Stirnlampe und mein Handy in die Bauchtasche. Die roten Laufschuhe warteten auf dem Gestell neben dem Eingang, so geduldig, als hätte ich mich nicht um Stunden verspätet. Draußen dämmerte es bereits. Die Maishalme wippten im Wind. Dasselbe ungute Gefühl wie vor ein paar Tagen überkam mich. Was, wenn er herausgefunden hatte, wo ich wohnte? Wenn er nur darauf wartete, dass ich allein loslief? Ich nahm die Hand wieder von der Türklinke und machte einen Schritt zurück. Da hörte ich Philipp in meinen Gedanken.

Er würde sofort in einer Anstalt landen und das weiß er. Hör auf, dich verrückt zu machen.

Philipp hatte recht. Ich war so verblendet vor Angst, dass ich hinter jedem Baumstamm eine Gefahr sah. Walter hatte meine Einheiten schon lange im Voraus geplant.

---ENDE DER LESEPROBE---