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"Da ist etwas am Himmel!", mit diesen Worten versetzt Jake McCormick das Police Department der verschlafenen Kleinstadt Oak Ridge in Aufruhr. Über dem Maisfeld des jungen Farmers, mitten in Iowa, schwebt ein Herz in den Wolken. Es scheint menschlich zu sein, es pulsiert und es ist verdammt groß. Schnell gehen Videos des abgehalfterten Countrysängers Lowell Paxton viral, der am Abend zuvor erstmalig seinen neuen Song 'Heart in the Blue' vor einem Live-Publikum spielte. Lowell wittert dadurch die Chance, zu alten Ruhm zu gelangen. Schon bald gelingt es ihm, immer mehr Anhänger um sich zu scharen, die ihn als Propheten verehren. Doch als er Jakes Land für sich beanspruchen will, stößt er auf Widerstand. Vor den Augen der Welt kommt es zum erbitterten Konflikt zwischen den beiden Männern.
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Seitenzahl: 612
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Texte: © 2025 Copyright by Alexander Koschny
Umschlaggestaltung: © 2025 Alexander Koschny, mit KI erstellt
Autorenfoto: © privat
Verlag:
Alexander Koschny
Kolpingstraße 6
88326 Aulendorf
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Prolog – Willkommen im Heartbeat Motel
Das Heartbeat Motel befand sich am Highway 61, 1.400 Meilen Asphalt, die sich ausgehend vom Bundesstaat Louisiana im tiefen Süden der USA bis hinauf nach Minnesota in den hohen Norden erstreckten. Sicher auch ein Grund, weshalb der in Duluth geborene Bob Dylan, der große Intellektuelle der amerikanischen Folk Szene, der Strecke einst einen Song widmete. Meile um Meile verströmte sie den benzinhaltigen Duft von Freiheit, Abenteuern und unerfüllten Träumen. Und so schien die Idee, ein Motel entlang dieses Highways zu eröffnen, nur logisch zu sein, was wiederum Jeff Offerman auf den Plan rief, denn Offerman war ein Mann, der durchaus logisch zu denken vermochte. Zwar zählte Einfallsreichtum nicht unbedingt zu seinen größten Stärken, das hätte wohl auch niemand behauptet, dennoch war er jemand, der eine Chance erkannte, wenn sie sich ihm bot.
Jeff Offerman kam gerade aus dem Krieg zurück, wo er »den Japsen ordentlich in den Arsch getreten hat«, wie er gerne prahlte, was allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprach. Tatsächlich war Offerman zwei Jahre lang im Dienste der US Navy als Schiffskoch auf der USS Baracuda, einem Schlachtschiff, beschäftigt. Dort klatschte er seinen ausgehungerten Kameraden pampigen Kartoffelbrei, matschige Bohnen und wässriges Gulasch auf die Teller. Eben jene Kameraden, sofern sie noch lebten und willig waren, Auskunft zu erteilen, konnten auch bestätigen, dass Jeff Offerman während seiner gesamten Dienstzeit nicht ein einziges Mal zur Waffe greifen musste. Geschweige denn, dass er je einen Japsen zu Gesicht bekam.
Nach seiner Heimkehr musste Jeff Offerman mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen feststellen, dass seine Ehefrau Sally, eine etwas spröde, aber üppige Farmerstochter aus dem Osten Indianas, mit einem gewissen Marvin Pickles durchgebrannt war. Pickles war für Jeff beileibe kein Unbekannter. Er wohnte gerade einmal zwei Häuser weiter und hatte Jeff bei seiner Abreise versprochen, auf seine Frau Sally aufzupassen. Jeff dachte sich nichts dabei, hielt er Pickles doch für homosexuell, schließlich arbeitete der Mann doch allen Ernstes in einer Modeboutique und war stets peinlichst auf sein Aussehen bedacht. Jeff konnte Homosexualität zwar nicht gutheißen, entschied aber, dass es ihn nichts anging, was sein Nachbar in seinen eigenen vier Wänden trieb. Was ihn aber wirklich an Marvin Pickles störte, ja geradezu zur Weißglut trieb, war, dass er jedem, der es wissen wollte, erzählte, dass er ein Überlebender der Andrea Doria war. Die Andrea Doria. Es war einfach unfassbar. Da fielen Männer – stolze, aufrechte Amerikaner – im Trommelfeuer des Krieges, und dieser Lackaffe rühmte sich damit, die Fahrt auf einem Luxusdampfer überlebt zu haben. Ja, Jeff mochte Marvin Pickles nie, aber aus der einstigen Antipathie, die er stets mit höflichen Floskeln überspielte, hatte sich seit seiner Rückkehr brennender Hass entwickelt. In seiner Fantasie malte er sich nur das Allerschlimmste aus. So stellte er sich vielleicht etwas zu lebhaft vor, wie Pickles in seinem Schlafzimmer, in dem Bett, das er und seine Frau sich sechs Jahre lang geteilt hatten, hemmungslos über seine Sally herfiel. Wie er sich gierig über sein bleistiftdünnes Oberlippenbärtchen leckte, die Hose fallen ließ, seiner armen Frau die Kleider vom Leib riss und…
Nein. Halt. Stopp. Jeff Offerman beschloss, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Und auch wenn ein guter Tropfen Whiskey dann und wann dabei half, musste er langfristig klar werden und sich überlegen, wie es mit seinem Leben weitergehen sollte. Er hatte noch immer sein Haus und er hatte nach seiner Heimkehr einen ordentlich bezahlten Job am Fließband eines Automobilzulieferers ergattert. Wie man kochte, wusste er, wie man die Wäsche wusch und wie man putzte, lernte er – er kam zurecht. Die spröde Sally, die während seiner Abwesenheit offenbar aufgeblüht war, konnte ihn mal kreuzweise. Sollte sie doch glücklich werden mit diesem Schmierfinken, was kümmerte ihn das schon? Er würde es ihr schon zeigen, oh ja, und wie er es ihr zeigen würde! Er musste sich nur genug Geld ansparen, um seine Geschäftsidee zu verwirklichen. Und was war diese großartige Idee? Ganz genau, ein Motel am Highway 61. Wie gesagt: niemand hätte behauptet, dass Jeff Offerman über großen Einfallsreichtum verfügte. Erschwerend hinzu kam, dass Jeff beileibe nicht der Einzige war, dem diese Idee in den Sinn kam – dennoch war er überzeugt von ihr. Also nahm er, um seinen Traum Realität werden zu lassen, einen Kredit auf und tatsächlich, zu Beginn lief die Sache durchaus rund. Spendable Gäste kamen in ihren Cadillacs und Buicks angefahren, liebeshungrig und abenteuerlustig, manche auch einfach nur auf Geschäftsreise, und sie alle verbrachten eine oder mehrere Nächte in seinem Motel.
Aber, wie so vieles, verlor auch der Highway im Laufe der Zeit an Bedeutung, was zur Folge hatte, dass auch das Heartbeat dasselbe Schicksal ereilte. Betrachtete man das Motel heute, war auf dem grellen Neonschild nur noch das Wort Hartbat zu lesen, da sich beide Es irgendwann müde verabschiedet hatten, ganz so, als hätten sie einfach keine Lust mehr, ihren Dienst zu tun und im Dunkeln zu leuchten. Nur das hintere E flackerte noch gelegentlich auf, so als wollte es allen zeigen, dass es noch nicht ganz aufgegeben hatte.
Im Jahr 2006, nachdem er sich in den vergangenen Jahren finanziell gerade so über Wasser halten konnte und ihm seine altersbedingten Leiden – Arthritis, zu hohes Cholesterin und Bluthochdruck – immer mehr zu schaffen machten, konnte Jeff Offerman nicht anders, als sein geliebtes Motel an einen Typen namens Manny Bigalow zu verkaufen. Manny stand dabei nicht etwa für Manfred, sondern war tatsächlich Bigalows richtiger Vorname, was Jeff einfach nur armselig fand. Nichtsdestotrotz hatte es sich Bigalow zur Aufgabe gemacht, sich so gut wie jedes heruntergekommene Motel am Rande des Highways für einen Apfel und ein Ein unter den Nagel zu reißen, ohne groß darin zu investieren.
Nur sechs Monate später segnete Jeff Offerman mit einer Dose Pabst Blue Ribbon in der Hand und einem Brocken Käsemakkaroni im Mund das Zeitliche, während er auf einen flachen Bildschirm starrte, wo gerade ein asiatisch aussehender Mann – ein Japse, wie Offerman vermutete – ein Küchenmesser anpries, mit dem sich selbst Stahlrohre durchschneiden ließen. Schuld am jähen Abgang aus dieser wunderschönen Welt war vor allem Jeffs Lebensstil, der aus Industriefraß, Nikotin, Bier und Bewegungsmangel bestand.
So kam es, dass, während er in seinem Fernsehsessel saß, langsam ein Blutgerinnsel in Richtung seines Gehirns wanderte und ihm schließlich das Licht ausknipste. Das Blutgerinnsel war durch eine Thrombose in seinem linken Bein entstanden, die er genauso wenig bemerkte wie das gut halbe Dutzend stummer Herzinfarkte, das er in den letzten Monaten erlitten hatte. Als es zu Ende ging, ging es nicht schnell, sondern langsam, wie eine Dunkelheit, die schleichend von den Rändern seines Bewusstseins in dessen Mitte vordrang. Eine Dunkelheit, die sich mehr und mehr nach innen ausbreitete, bis der letzte kleine Lichtpunkt im Zentrum erlosch. Sein letzter Gedanke, bevor es so weit war, galt nicht etwa seiner Sally, die jetzt irgendwo in Florida lebte, und auch nicht Marvin Pickles, dem er zeit seines Lebens wünschte, er wäre mit der Andrea Doria abgesoffen. Ebenso wenig dem Krieg, seinen Kameraden oder gar dem Heartbeat Motel, seinem Lebenswerk. Nein, sein letzter Gedanke war, dass es sich bestimmt lohnen würde, so ein Messer zu bestellen. Denn auf Dauer konnte man damit wahrscheinlich viel Geld sparen.
Kapitel 1 – Verklärte Nacht
Es raschelte metallisch an einer der Zimmertüren des Heartbeat Motels, von denen bereits der türkisfarbene Holzlack abblätterte, als wäre er ein verblasstes Erinnerungsstück an bessere Zeiten.
»Nun komm schon, du Scheißteil!«, drang gedämpft eine Stimme in den Raum. Es folgte ein Fummeln, dann ein Rütteln, schließlich sprang die Tür mit einem Quietschen auf, als wäre man einer Katze auf den Schwanz getreten.
Mit schlurfenden Schritten betrat Lowell Paxton das Zimmer. Sein Blick schweifte durch den Raum: beige gestrichene Wände, die von dunklen Schimmelflecken gekennzeichnet waren. Ein hölzernes Bett mit weißen Laken – und wieder Flecken, diesmal gelb. Ein alter Röhrenfernseher, der auf einer abgewetzten Kommode stand. Fadenscheinige Vorhänge, welche die mit Vogelkacke besprenkelten Fenster säumten.
Lowell ließ sich auf das Bett fallen. Er hatte schon viele heruntergekommene Absteigen gesehen, vor allem hier in Tennessee, aber diese, bei Gott, diese war eine der bisher schlimmsten. Während er sich setzte, glaubte er, jeden einzelnen seiner müden, schweren, schmerzenden Knochen spüren zu können. Er war 72 Jahre alt, und mit jedem Tag mehr wurde ihm bewusster, dass er dieses Leben schon viel zu lange gelebt hatte. Ein Leben, das als junger Mann aufregend war, ein großes Abenteuer, die große amerikanische Freiheit. Heute war dieses Leben nur noch jämmerlich, entwürdigend, erbärmlich. Dabei hatte er einst vor Hunderten von Menschen im Soldier Field und anderen großen Stadien und Hallen gespielt. Auch im Fernsehen hatte er ein paar Auftritte, sogar in der Tonight Show, woran er sich heute allerdings nur noch dunkel erinnern konnte. Schuld daran waren Whiskey und Koks, Unmengen von Whiskey und Koks. Letzterem hatte er schon lange abgeschworen, doch ersteres war der Stachel in seiner Seite, im wahrsten Sinne des Wortes – er wagte es nicht einmal, über den Zustand seiner Leber nachzudenken.
Er müsse auf sich achten, kürzer treten, mehr Sport treiben, sagten die Ärzte. Was wussten diese Weißkittel schon? Erwarteten sie ernsthaft von ihm, dass er einen Spinning Kurs belegte, Grünkohl Smoothies schlürfte und sich den Wanst mit Quinoa Salat vollschlug? Herrgott, er wusste nicht einmal, was dieses ganze Zeug überhaupt war. Die Wahrheit war, er lebte auf der Straße und lebte von der Hand in den Mund. Sein Geld reichte gerade einmal für ein Frühstück in einem durchschnittlichen Diner. Er verstand selbst nicht, wie es so weit kommen konnte. Der Ruhm war ein verdammtes Miststück. Er lullte einen ein, umschmeichelte einen, gab einem das Gefühl, sicher und etwas Besonderes zu sein, nur um sich dann schnell zu verpissen und dabei alles, was er einem versprochen hatte, wieder mitzunehmen. Wäre er nur klüger gewesen, als er noch jünger war, als er ganz oben war. Aber nein, er hatte alles mit vollen Händen verprasst: Da ein neuer Wagen, hier Schmuck für eine neue Flamme, dort eine Party für hundert Gäste, immer davon ausgehend, dass der nächste Hit ihm wieder Geld in die Kassen spülen würde, aber der nächste Hit kam nicht. Was kam, waren Musiker wie Blake Shelton, Keith Urban, Garth Brooks und weiß der Himmel wer noch. Musiker, die eine andere, modernere Art von Country machten, gegen die Lowell wie ein ausrangierter, klappriger alter El Camino neben einem brandneuen Dodge Challenger wirkte. Niemand, der noch bei klarem Verstand war, würde so dumm sein, in diese alte, rostige Klapperkiste zu steigen, wenn er sich stattdessen hinter das Steuer eines nagelneuen Modells mit ordentlich Power unter der Haube klemmen konnte. Und genau das war Lowell Paxton, ein Auslaufmodell, mehr noch, er war schrottreif.
Sein Herz machte Probleme. Koronare Herzerkrankung, sagten die Ärzte. Er nahm Betablocker, HCT zur Entwässerung, Kalziumkanalblocker, Ranolazin und im Notfall, wenn er glaubte, einen Herzinfarkt zu bekommen, Nitrate. Er nahm Protonenpumpenhemmer gegen Sodbrennen und Satine gegen sein Cholesterin. Außerdem Vicodin, ganz allgemein gegen Schmerzen. Die meiste Zeit fühlte er sich benommen, als hätte sich Nebel über sein Gehirn gelegt. Von seinen sonstigen Körperfunktionen wollte er gar nicht erst anfangen. Wenn er für jede Minute, die er am Tag auf dem Klo verbrachte, einen Dollar bekommen würde, wäre er schon längst wieder ein reicher Mann.
Plötzlich hörte Lowell ein Klopfen an der Tür. Es war ein kurzes, rhythmisches Klopfen, das ihn an Woody Woodpecker denken ließ. Lowell stöhnte auf, versuchte sich zu erheben, ließ es dann aber doch bleiben und wartete ab. Das Klopfen wiederholte sich, wie eine exakte Kopie des vorherigen, gefolgt von einer jugendlich klingenden Stimme, die wie aus weiter Ferne durch die Tür an sein Ohr drang.
»Mr. Paxton, Sir? Sind Sie da drin?«
»Ja, ja«, nuschelte Lowell, während er sich ächzend wie ein rostiger Kran erhob. Er zog seine verwaschenen Jeans über den Bauch, der sich unter seinem Hemd wie eine Bowlingkugel wölbte, und strich sich über den grauen Bart.
Als er die Tür öffnete, stand dort ein junger Schwarzer, ein Milchgesicht, höchstens Anfang zwanzig, mit einem karierten Hemd und Flaum im Gesicht, der wohl irgendwann mal ein Bart werden sollte.
»Ich bin Ben Fields.« Der junge Mann streckte Lowell die Hand entgegen.
»Aha, okay.« Lowell sah Ben an, ohne nach seiner Hand zu greifen, woraufhin der Junge seine enttäuscht wieder sinken ließ.
Es war entsetzlich. Lowell reagierte viel zu spät auf alles, was sich in seiner Umwelt abspielte, und er fühlte sich zunehmend außer Stande, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Statt eines »Guten Tag, was kann ich für Sie tun, junger Mann?« brachte er daher nur ein träges »Ah, okay« zustande. Und so war es ständig. »Ja«, »okay«, »in Ordnung«, »hä?« – aus mehr schien sein Wortschatz nicht mehr zu bestehen.
»Ben Fields, von Ben Fields' Four«, sagte der junge Mann rasch, als er merkte, dass Lowell irgendwie auf dem Schlauch zu stehen schien. Und als Lowell ihn weiterhin nahezu debil anstarrte, fügte er hinzu: »Wir sind Ihre Begleitband für morgen Abend.«
»Ah, okay«, war wieder alles, was Lowell sich daraufhin abnötigen konnte.
Ben Fields schien sich davon allerdings nicht beirren zu lassen. »Es ist mir wirklich eine Ehre, mit Ihnen zu spielen, Sir!«
Keine Antwort. Jetzt wirkte Fields doch ein wenig verunsichert. Ein leichtes Stottern, das mehr wie ein unterschwelliges Vibrieren klang, schlich sich in seine Stimme. »Ähm, also, wir bräuchten noch Ihre Playlist.«
Lowell starrte ihn an. Dann, als hätte ihm jemand einen Schubs verpasst, drehte er sich ruckartig um. »Ah, okay, natürlich.« Er kramte in seinem Koffer, fand einen zerknitterten Zettel mit einer handgeschriebenen Liste seiner Songs und reichte ihn dem Jungen.
»Hier, ist immer dasselbe.«
»Oh, okay, danke, Sir.«
Lowel nickte und machte sich daran, die Tür wieder zu schließen.
»Ähm, Sir?«
Er hielt inne, ohne etwas zu sagen.
»Äh, wann... also, wann sollen wir morgen die Probe spielen?« Ben klang plötzlich nicht mehr so eifrig und enthusiastisch wie noch zu Beginn ihres Gesprächs.
»Probe?« Lowell runzelte die Stirn.
Fields Hand krampfte sich ein wenig um den Zettel, den Lowell ihm gegeben hatte. »Ja, Sir, wir dachten an drei Stunden vor dem Auftritt?«
Lowell warf dem Jungen einen abschätzenden Blick zu. Er hustete leicht. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Sir?« Fields wirkte nun sichtlich verwirrt.
»Hör mal, Junge«, sagte Lowell, begleitet von einem schweren Seufzer, »ich kenne die Songs, ihr kennt die Songs, wir brauchen keine Probe, das läuft schon.«
»Aber...«
Noch bevor Ben Fields mehr sagen konnte, wiederholte sich Lowell: »Das läuft schon.« Dann schloss er die Tür hinter sich und ließ den jungen Mann wie einen begossenen Pudel davor stehen.
»Läuft schon, am Arsch«, murmelte Ben in seinen spärlich vorhandenen Bart. Verärgert trottete er davon, während er den Zettel in seiner Hand zerknüllte. Nach einigen Schritten hielt er kurz inne, drehte sich um, überlegte kurz, ob er doch noch einmal an Lowells Tür klopfen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder, schüttelte missbilligend den Kopf und verschwand schlussendlich, begleitet vom Zirpen der Grillen, wieder in der schwülen Nacht.
Währenddessen ließ Lowell sich wieder auf das Bett sinken. Was er dem Jungen nicht gesagt hatte, war, dass er sich physisch überhaupt nicht dazu in der Lage sah, eine Probe und ein Konzert am selben Tag zu spielen. Und überhaupt, drauf geschissen, wie üblich würden sich vielleicht fünfzig Leute in einer kleinen Bar versammeln und ihm dabei zuhören, wie er seine ausgelutschten Songs zum Besten gab. Wobei, er hatte nicht damit gerechnet, eine so junge Begleitband an die Seite gestellt zu bekommen. In den meisten Fällen waren die Musiker, die mit ihm auf der Bühne standen, entweder in seinem Alter oder im Alter derjenigen, die seine Musik hörten, als sie selbst noch jung waren, wodurch er sich noch älter fühlte. Doch der Junge, der gerade vor seiner Tür stand, sah aus, als würde er noch im Sandkasten spielen. Vielleicht würden ja durch ihn diesmal ein paar jüngere Leute zu seinem Konzert kommen. Freunde, Familie, Bekannte und ehemalige Babysitter der Band. Irgendwie machte Lowell dieser Gedanke Angst und gleichzeitig breitete sich ein angenehmes Gefühl in ihm aus, beinahe elektrisierend, kribbelnd. Er schüttelte ungläubig den Kopf. So etwas hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr verspürt.
Er blickte auf seine Gitarre, die neben ihm auf dem Bett in ihrem zerkratzten Kasten aus Kiefernholz lag. Er ließ die Finger über die Decke des Korpus streichen. Eine wundervolle, zwölfsaitige Gibson mit Intarsien aus echtem Perlmutt am Griffbrett. Er hatte sie sich nach seinem ersten Top 20 Hit Get Even gekauft und seitdem begleitete sie ihn durch das Land und durch die Jahre. Der Klang einer zwölfsaitigen Gitarre war voller als der einer Sechssaitigen. Es waren Stahlsaiten, wie jene seiner ersten Gitarre, auf der er als Kind manchmal übte, bis seine Finger bluteten. Nun hatte er Hornhaut an den Fingerspitzen, wodurch ihnen die Saiten nichts mehr anhaben konnten. Gitarren mit Stahlseiten hatten einen schönen, harten Klang, der allerdings etwas rau wurde, wenn man die Akkorde wechselte, aber genau das mochte Lowell.
Er dachte zurück an seinen letzten großen Auftritt. Das war irgendwann Ende der 90er in Nashville, als er versuchte, sein neues Album zu promoten. Sein letztes Album, das sich als krachender Flop erweisen sollte. Seitdem hatte er keine Songs mehr geschrieben. Die Songs, die er heute spielte, waren alle um die vierzig Jahre alt und er wiederholte und wiederholte sie immer und immer wieder, als strampelte er sich in einem verdammten Hamsterrad ab. Es wurde Zeit für etwas Neues, er konnte es fühlen. Aber war das nicht verrückt? Absolut verrückt? Sollte er wirklich versuchen, einen neuen Song zu schreiben? Was war nur in ihn gefahren? Er machte sich doch vollkommen zum Gespött! Auf der anderen Seite: Was hatte er schon zu verlieren?
Von diesem Mantra beflügelt nahm Lowell die Hand von der Gitarre und griff in seinen Koffer, wo er irgendwo noch einen Bleistift und ein paar zerknitterte Papierfetzen fand, auf denen er zu schreiben begann. Zeile um Zeile formten sich Buchstaben zu Wörtern und verbanden sich in langen Linien zu Sätzen. Lowell spürte keine Schmerzen in diesem Moment, nur ein seltsames, erhebendes Gefühl. Er hatte die Bridge, nun war der Refrain dran. Er musste nicht einmal überlegen, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus:
I throw my heart up in the blue.
Let it soar where dreams come through
Hoping it will find its way
Back to those bright yesterdays
Er hielt kurz inne – das war brillant. Nun ja, zumindest für seine Verhältnisse, denn ein großer Lyriker war Lowell Paxton nie gewesen. Doch das spielte keine Rolle. Der Text mochte vielleicht nicht gerade tiefgründig sein, aber er war definitiv eingängig, das musste man ihm lassen.
Eine Melodie formte sich in seinem Kopf. Er schnappte sich seine Gitarre und ließ die Finger über die Saiten streichen.
»Oh ja verdammt, das ist es! Genau das ist es!«
Er spielte und schrieb, schrieb und spielte. Er war jetzt im Fluss, mehr als das, so schnell, so spontan, so mühelos hatte er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben einen Song komponiert. Nachdem er den letzten Akkord gespielt hatte und die Gitarre beiseitelegen wollte, überkam ihn plötzlich, wie aus heiterem Himmel, eine lähmende Müdigkeit. Es war merkwürdig, nahezu so, als würde nun, nach getaner Arbeit, alle Kraft aus seinem Körper entweichen. Er lehnte sich auf dem Bett zurück, auf das fleckige Laken, und es dauerte nicht lange, bis sein Geist in der Dunkelheit entschwand.
Kapitel 2 – Guten Morgen, Sonnenschein
Lowell öffnete die Lider und versuchte, durch einen milchigen Schleier zu blicken, der über seinen Augen lag. Orangefarbene Sonnenstrahlen drangen durch die mit weißem Vogelkot besprenkelten Fensterscheiben. Lowells Kopf brummte, er fühlte einen starken Druck auf seiner Schädeldecke, so als würde er eine schwere Wassermelone auf dem Kopf balancieren. Viel schlimmer aber war dieses stechende Gefühl in seiner Brust. Es fühlte sich an, als würde der Tod bereits seine knochigen Finger darin vergraben. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er am vorherigen Abend vergessen hatte, seine Medikamente zu nehmen. Er schmeckte ätzende Magensäure in seinem Mund. Verdammt. Er versuchte sich aufzurichten, begann zu husten und würgte etwas gelben Schleim aus seinen Bronchien in seine staubtrockene Kehle. Schließlich gelang es ihm, eine aufrechte Position einzunehmen. Dabei schmerzte sein Rücken, als würden hunderte heiße Nadeln darin stecken. Es war ein Elend.
Er kramte in seinem Koffer, fand eine halbvolle, gequetschte Plastikflasche mit Wasser, schraubte sie auf und saugte gierig daran. Das Wasser brannte, als es seine Kehle hinunterfloss. Er stöhnte auf. Es dauerte einige Sekunden, in denen er versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, ehe er damit begann, nach seinem Medikamentenschuber zu suchen. Als er ihn schließlich unter einem Haufen schmutziger Klamotten, zerdrückter Bierdosen und leeren Beef Jerky Aluminiumverpackungen fand, öffnete er ihn hektisch und warf sich eine Pille nach der anderen ein. Schließlich ließ er sich wieder auf das Kissen sinken, schloss die Augen und versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Zehn Sekunden durch die Nase ein, zehn Sekunden durch den Mund wieder aus. Ein – Aus. Ein – Aus.
Währenddessen kreisten seine Gedanken um die letzte Nacht, um den Song, den er geschrieben hatte. Hatte er das wirklich getan? Hatte er tatsächlich ein neues Lied komponiert? Oder hatte er das alles nur geträumt? Hatte der Mix aus billigem Jameson und Vicodin seinem Verstand einen Streich gespielt?
Plötzlich klingelte sein Handy, ein altes Motorola Moto G, das er einem Typen in Tallahassee abgekauft hatte, nachdem er dessen Anzeige bei Craigslist gesehen hatte. Lowell nahm ab und versuchte sich zu melden, heraus kam allerdings nur ein lallender Laut, der nach »allao?« klang.
Eine unangenehme, aufgeregt polternde und von einem einstudierten New Yorker Akzent unterwanderte Stimme erklang am anderen Ende der Leitung. »Guten Morgen, Sonnenschein!«
Es war Dave Greenblatt, Lowells Manager. Lowell und Dave kannten sich bereits seit Jahren, was nicht weiter verwunderlich war, hatte sich Greenblatt doch darauf spezialisiert, verkrachte Existenzen, die selbst bei Celebrity Rehab keine Chance mehr gehabt hätten, unter Vertrag zu nehmen. Zudem behauptete er vehement, der Manager von Morgan Fairchild zu sein, aber selbst daran hatte Lowell seine wohl berechtigten Zweifel.
Als Lowell nicht antwortete, hakte Greenblatt nach: »Ich hoffe, mein bestes Pferd ist gut in seinem Stall untergekommen?«
Lowell verdreht die Augen. Greenblatts gehetzte Sprechweise in Kombination mit den abgedroschenen Sprüchen, die er nur allzu gerne von sich gab, führten dazu, dass er beinahe seine Medikamente wieder nach oben würgen musste.
»Ja, ja. Alles okay«, antwortete Lowell abwesend.
»Schön! Schön! Freut mich zu hören! Was man so hört, ist das Heartbeat eines der besten Motels am Highway 61.«
Lowell sah sich im Zimmer um. »Kann ich nicht bestätigen.«
»Hast du schon Essen gefasst? Happa happa?«, fragte Greenblatt, ohne darauf einzugehen.
Lowell rülpste in den Hörer.
»Na! Na!«, echauffierte sich Greenblatt. »Ich hoffe, du bist fit für deinen großen Auftritt, alter Junge?«
»Also was das betrifft…«, Lowell schwieg für einen Moment.
Am anderen Ende der Leitung hörte er Greenblatt so etwas sagen wie: »Jetzt nicht, Cindy!« Oder vielleicht war es Mindy?
Dann sagte Greenblatt lauter und an ihn gerichtet: »Entschuldige Cowboy, gutes Personal ist heute ja so schwer zu finden. Es ist das Kreuz dieser Welt. Irgendwelche Kids von der Uni sagen, sie wollen was lernen vom alten Dave, und dann wissen sie doch alles besser, lassen sich nichts sagen, wobei sie eigentlich strunzdumm sind. Verstehst du, was ich meine?« Greenblatt redete jetzt ohne Punkt und Komma. »Diese Generation bekommt doch alles in den Schoß geworfen, wir mussten uns noch alles hart erarbeiten. Aber wem erzähle ich das? Pah! Und sag mal zu einem von denen, er sei dumm! Das ist Mobbing, Diskriminierung. Sie drohen dir mit einer Klage oder oh, oh! Noch viel besser, diffamieren dich über Social Media, hab ich alles schon erlebt, stellen dich an den Pranger, schreien Mee Too und Hashtag, Hashtag!«
»Ich hab keine Ahnung, was das ist«, murmelte Lowell.
Greenblatt ignorierte ihn einfach. »Und dann heißt es nein, ich bin nicht dumm, ich habe eine Lernschwäche, und eigentlich sind Sie schuld, wenn ich Ihnen nicht folgen kann, weil Sie einfach nicht richtig erklären. Ich! Nicht richtig erklären! Keiner von denen kann sein verdammtes Handy aus der Hand legen, diese Generation hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Eintagsfliege. Und wehe, man stellt keinen Schwarzen, Asiaten oder Bohnenfresser ein, bei Gott, dann droht einem die Inquisition!«
»Dave...«, sagte Lowell, doch Greenblatts Redeschwall hielt an. Er versuchte es noch einmal: »Dave…« Dann lauter: »Dave!«
»Ja, was denn? Ich habe doch recht!«
»Kann schon sein.« Lowell machte eine kurze Pause. »Also worüber ich mit dir reden wollte...«
»Warte mal!« Greenblatt schnitt ihm das Wort ab. »Nein, Cynthia, das kommt da rein! Okay, wo waren wir?«
Lowell stöhnte auf. »Nichts, alles gut. Steht der Auftritt in Laurel nächste Woche?«
»Jap, konnte ich klar machen.«
»Gut, okay.«
Lowell versuchte, das sinnfreie Gespräch nun schnellstmöglich zu beenden. Er hatte das Gefühl, dass sein Schließmuskel den Eiersalat, den er gestern an einer Tankstelle verdrückt hatte, nicht mehr lange zurückhalten konnte. »Also ich werd mich dann mal auf den Auftritt vorbereiten.«
»Genau das will ich hören! Ach, und eine Sache noch... Cindy!«
Lowell schüttelte den Kopf und legte auf. Was auch immer ihm sein sogenannter Manager zu sagen hatte, es konnte warten. Er wollte in diesem Moment nur noch eines, und zwar auf die Toilette gehen, um nach tagelanger Verstopfung endlich ordentlich zu scheißen.
Kapitel 3 – Der große Moment
Irgendwie schaffte es Lowell auch, diesen Tag hinter sich zu bringen. Er war ins Diner auf der gegenüberliegenden Straßenseite gegangen und hatte Speck, Eier, Toast und eine Tasse schwarzen Kaffee bestellt. Niemand dort schien von ihm Notiz zu nehmen. Niemand schien ihn zu kennen. Niemand schien zu wissen, dass er heute ein Konzert in diesem verlassenen Nest geben würde. Es war einfach nur deprimierend. Er dachte darüber nach, ob er seinem Manager von seinem neuen Song hätte erzählen sollen, und noch viel mehr dachte er darüber nach, ob er ihn auch wirklich spielen sollte.
Zurück im Motel hockte er sich auf das knarzende Bett, griff nach der Flasche Jameson auf dem Nachttisch, trank ohne eine Miene zu verziehen einen kräftigen Schluck daraus und nahm dann den knittrigen Zettel in die Hand, auf den er in der Nacht zuvor seinen Text und ein paar Noten gekritzelt hatte. »Heart in the blue...«, flüsterte er in sich hinein. Dann sah er auf die Uhr. Es wurde Zeit.
Er hievte sich hoch. Kurz wurde ihm schwindelig, was so gut wie immer passierte, wenn er zu schnell aufstand. Also blieb er einen Moment lang wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen, schloss die Augen, atmete tief durch und steckte den Zettel gefaltet in die Gesäßtasche seiner Wrangler Jeans. Da war es wieder, dieses Gefühl, dieses elektrisierende Kribbeln, so wie einst, als er noch jung war und jeder Auftritt etwas Besonderes war. Schließlich setzte er sich in Bewegung und ließ das Heartbeat Motel hinter sich.
Roadhouse stand in großen, leuchtend roten Lettern über der Kneipe, vor der Lowell sich jetzt befand. Lowell musste grinsen, das war eine kulturelle Referenz, die selbst er verstand. Er war gerade auf dem späten Höhepunkt seiner Karriere, als der Film mit Patrick Swayze, Sam Elliot und Kelly Lynch in den Kinos anlief. Ein grandioser Streifen! Ein vor Maskulinität nur so strotzender Actionkracher. Sowas wird heute überhaupt nicht mehr gedreht, dachte Lowell bei sich, ehe er, seinen Gitarrenkoffer in der Hand, die Kneipe betrat.
Ein rauchiger Geruch stieg ihm in die Nase, vermengt mit Bratfett, schalem Bier und dem beißenden Aroma kapitulierender Klosteine. Er ließ den Blick durch die Räumlichkeiten schweifen. Dunkles Kiefernholz dominierte das Gesamtbild. Eine Bar mit Leuchtreklame von Budweiser, Heineken und Becks. Ein Pappaufsteller von Rainier mit einem Typen, der auf Cowboy machte und sich verschwitzt eine Bierdose an die Lippen hielt. Eine gut gefüllte Bar mit dutzenden an Spirituosen, ein Billardtisch, eine Dartscheibe, einige Tische und ein großer Flachbildfernseher von irgendeiner unamerikanischen Marke, von der Lowell noch nie etwas gehört hatte. Der Bildschirm des Geräts war schwarz, aber Lowell ging davon aus, dass zumeist Sport und hin und wieder die Nachrichten darüber flimmerten. Das Wichtigste aber war die Bühne. Sie war groß genug für eine Band, groß genug, um sich zu bewegen, was Lowell allerdings nicht kümmerte, da er seine Konzerte nur noch im Sitzen gab. Daran schien offenbar gedacht worden zu sein, denn in der Mitte ragte ein Barhocker auf, vor dem ein Mikrophon platziert worden war. Die Bühne war nur leicht erhöht, davor befand sich Platz für ein paar Dutzend Leute. Gar keine so schlechte Location, sagte sich Lowell, ehe er umgehend wieder aus seinen Gedanken gerissen wurde.
»Hey, Mr. Paxton!«, rief eine junge Stimme. Es war der junge Bursche mit dem Flaum im Gesicht, Ben Fields.
Lowell erwiderte seinen Gruß, ehe ein glatzköpfiger Mann Mitte vierzig, der offenbar versuchte, sein fehlendes Haupthaar durch einen zotteligen Vollbart zu kompensieren, auf ihn zukam und ihm die Hand reichte.
»Tim O'Reilly«, stellte er sich vor, »mir gehört dieses kleine, schnuckelige Etablissement hier.«
Lowell nahm zögernd seine Hand entgegen, die etwas zu kräftig zupackte. In diesem Moment bemerkte er zum ersten Mal, dass seine Handflächen schwitzen. Falls O'Reilly dieser Umstand unangenehm war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
»Howdy«, sagte Lowell. Da war es wieder. Mehr als dieses eine kümmerliche Wort, das noch dazu reichlich albern klang, schien Lowells Gehirn nicht auf seine Zunge legen zu wollen.
»Freut mich wirklich sehr, dass sie es einrichten konnten. Wir sind hier alle große Fans«, beteuerte O’Reilly.
Wir? Lowell sah sich nochmals um. Die Bar war wie leergefegt und auch sonst schien keine Menschenseele in diesem Kaff Notiz von seiner Anwesenheit genommen zu haben.
»Danke«, nuschelte Lowell. Dann drehte er dem Wirt den Rücken zu und wandte sich zur Bühne.
O'Reilly wirkte ob dieses offensichtlichen Desinteresses an Kommunikation irritiert, doch so leicht ließ er sich nicht abwimmeln. Er tippte Lowell von hinten an die Schulter. »Hey, Sie wohnen doch im Heartbeat, oder? Comeback der Liebe wurde dort gedreht.«
Lowell drehte sich wieder zu ihm um und kniff fragend die Augen zusammen. »Wie bitte?«
»Comeback der Liebe«, wiederholte O’Reilly, so als wäre damit alles gesagt. »Robert Duvall, 1983.«
Tatsächlich hielt sich das Gerücht, der Film wäre hier in Gainsburgh, Tennessee, gedreht worden, unter den Einheimischen hartnäckig, obwohl es längst widerlegt worden war. Schuld daran war die nicht abzustreitende Ähnlichkeit des Heartbeat Motels mit dem Motel aus dem Film. Comeback der Liebe,in dem Robert Duvall einen alkoholkranken Countrysänger spielte, der in einem Motel strandete und sich in die Besitzerin verliebte, wurde allerdings in Texas gedreht. Nachweislich.
Lowell musterte O’Reilly einen Augenblick lang, während er erfolglos in seinem Gedächtnis kramte, dann zuckte er mit den Achseln. »Sorry, nie davon gehört.«
Der Wirt riss ungläubig die Augen auf, ganz so, als hätte ihm Lowell gerade gestanden, Elvis Presley nicht zu kennen. »Oh, na da haben Sie aber was verpasst, Mister!«
»Mag sein«, antwortete Lowell abwesend.
Der Wirt hob beinahe entschuldigend die Hände. »Okay, nichts für ungut, Sir. Dann wünsche ich Ihnen mal gutes Gelingen. Ach, und wenn Sie was brauchen...«
Da wurde Lowell hellhörig. »Einen doppelten Whisky mit Eis, wenn es keine Umstände macht.«
»Natürlich, Sir!« O'Reilly lachte, während er einen Schritt auf Lowell zumachte und versuchte, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Lowell wich der Geste instinktiv aus, so dass die Hand des Wirts nur den Ärmel des Sängers streifte. Es war peinlich. O’Reilly räusperte sich verlegen. »Sorry, geht aufs Haus!«
Lowell nickte, dann schleppte er sich träge in Richtung Bühne. O’Reilly bemerkte seinen schwankenden Gang. »Hals und Beinbruch!«, rief er ihm nach. Als Lowell aus dem Sichtfeld des Wirtes verschwunden war, wischte der sich die Hand am Saum seiner Jeans ab. Gott, der Kerl schwitzt wie ein Schwein, schoss es ihm durch den Kopf. Dann verkrümelte er sich hinter die Bar und griff nach einer Whiskeyflasche und einem Shaker mit Eis. Jack Daniels, mehr würde er diesem Kerl, der nicht einmal einen der großen amerikanischen Filmklassiker zu würdigen wusste, sicher nicht spendieren.
»Yo, Mr. Paxton!« Ben Fields, der Lowell gefolgt war, hob die Hand zu einem High Five, erntete aber nur einen verwirrten Blick. Schnell ließ er die Hand wieder sinken, als er sah, dass Lowell offenbar Schwierigkeiten damit hatte, die Bühne zu besteigen. »Warten Sie, Sir, ich helfe Ihnen...«
»Es geht schon«, murmelte Lowell, während er seinen Gitarrenkoffer nach oben wuchtete. Verdammt, es ging eben nicht. Lowell konnte nicht fassen, dass er nicht einmal dazu imstande war, auf diesen müden Abklatsch von einer Bühne zu steigen. Er steuerte mehr und mehr auf das Unvermeidliche zu, das wusste er. Er konnte nur mutmaßen, wie lange sein Körper diese Strapazen noch aushalten würde. Wortlos griff er nach dem Arm des Jungen und ließ sich von ihm auf das Podest heben. Als Lowell auf dem Hocker Platz genommen hatte, erkannte er, dass zwei weitere junge Leute das Roadhouse betreten hatten.
»Das ist Billy, unser Drummer«, sagte Ben, während er auf einen dürren, weißen Burschen mit mittellangen Haaren unter einer roten Trucker Mütze deutete. Wie um zu unterstreichen, dass er der Drummer war, sprang der Junge behände auf die Bühne, setzte sich an sein Schlagzeug und prügelte mit ausladenden Bewegungen für einige Sekunden darauf ein. Lowell hob, noch immer nach Luft ringend, den Daumen. Billy tippte sich zum Dank an die Mütze. Offenbar einer, der nicht viel redete. Das gefiel Lowell, auch wenn der Junge augenscheinlich so viel musikalisches Feingefühl wie eine Dampframme besaß.
»Und das ist meine Schwester Alex, sie spielt Bass«, fuhr Ben fort.
Lowell musterte das junge, schwarze Mädchen. Wilde Rasta-Zöpfe, ein wilder Nasenring und wilde, zerrissene Jeans. Ein Mädchen, das sich nannte und kleidete wie ein Junge. Lowell verstand die Welt nicht mehr.
»Freut mich sehr, Sir«, sagte Alex, wobei die Worte eher forsch, gar fordernd, als respektvoll klangen.
»Okay«, war mal wieder alles, was Lowell sich abnötigen konnte, ehe er die kleine Truppe nochmals argwöhnisch beäugte. »Hast du nicht gesagt, ihr heißt Ben Field's Four?«, fragte er an Ben gerichtet.
Ben nickte, er wirkte leicht geknickt. »Das stimmt, kreative Differenzen.«
»Verstehe.« Und das tat Lowell wirklich. Eine Band zusammenzuhalten war weiß Gott nicht leicht.
»Die Bar wird gleich geöffnet«, bemerkte Alex nach einer kurzen Pause.
Wortlos setzte Lowell sich auf den Barhocker und überblickte den Raum vor sich. Wie oft hatte er schon auf einem solchen Hocker gesessen? In Kneipen wie diesen? Wie oft hatte er seine Songs, zu denen früher hunderte Fans die Arme in die Luft reckten, vor einer Gruppe Kleinstädter heruntergeleiert, die an einem Freitagabend nichts Besseres zu tun hatten, als einem alten Knacker dabei zuzuhören, wie er alte Songs spielte. Aber dieser Abend war anders, etwas daran war definitiv anders.
Lowell bemerkte, wie ihm kalter Schweiß den Nacken hinunterlief, als der Wirt sich anschickte, in Richtung Tür zu gehen, die er zuvor hinter Lowell wieder verschlossen hatte.
»Gibst du mir mal meine Gitarre, Junge?«, fragte er Ben, während er auf den auf der Bühne liegenden Koffer deutete.
Ben reagierte nicht sofort. Alle schwiegen einen Moment lang. Lowell wirkte verunsichert. Hatte er etwas Falsches gesagt?
Schließlich ergriff Alex das Wort: »Sorry, aber ist das Ihr Ernst?« Sie sah Lowell entrüstet an.
Dieser hatte nicht die geringste Ahnung, was für ein Problem dieses Mädchen mit ihm hatte.
»Sie können doch zu einem Schwarzen nicht Junge sagen!« Alex sah ihren Bruder an. »Aus welchem Mausoleum ist das Fossil denn entlaufen?«
»Krieg dich ein!«, zischte Ben und bückte sich nach Lowells Koffer.
»Tut mir leid, ich, ich…«, stammelte dieser.
Alex schüttelte nur verächtlich den Kopf, während Ben Lowell die Gitarre reichte, allerdings nicht ohne sie davor ehrfürchtig zu betrachten. »Ich weiß, dass Sie es nicht so gemeint haben, Sir«, sagte er leise.
Lowell schien noch immer nicht zu verstehen. Er war in Montana aufgewachsen und hatte nur selten mit Schwarzen zu tun, das musste er sich eingestehen.
»Rein in die gute Stube, es geht gleich los!«, rief Tim O'Reilly, womit er Lowells Aufmerksamkeit wieder auf das eigentliche Geschehen lenkte.
Die ersten Gäste strömten hinein, begrüßten den Wirt mit einem Handschlag. Hektisch griff Lowell in die Gesäßtasche seiner Jeans. Als er den Zettel mit dem Songtext darauf daraus hervor zog, riss dieser an einer Stelle ein. Während Alex jetzt damit beschäftigt war, von ihm abgewandt locker an den Saiten ihres Basses zu zupfen und Billy offenbar noch ein paar Textnachrichten auf seinem Smartphone schrieb, warf Ben Lowell einen fragenden Blick zu.
Lowell hielt dem jungen Mann sogleich den Zettel vor die Nase. »Das ist ein neuer Song«, krächzte er mit belegter Stimme, ehe er sich räusperte. Das war es also, er hatte es wirklich getan, die Katze war aus dem Sack. Nun gab es kein Zurück mehr.
Ben wirkte irritiert. »Sir, also... also wir haben das nicht geprobt, ich meine wir...«
Schließlich erlöste ihn Lowell von seinem Gestammel. »Dann improvisiert, das wird schon!«
Ben starrte ihn mit großen Augen und weit offen stehendem Mund an wie eine Cartoonfigur aus dem Samstag-Morgen-Programm.
Die Kneipe füllte sich, es kamen mehr Leute, als Lowell erwartet hatte, etwa achtzig an der Zahl. Sie verteilten sich vor der Bühne, setzten sich an die Tische oder lümmelten an der Bar. Auffallend viele Schwarze, auch ein paar junge Leute, die wohl wegen der Band gekommen waren, und natürlich die Weißen in seinem Alter, Grandpa und Grandma, die mal wieder ihre Jugend aufleben lassen wollten.
Nachdem das Stimmgewirr nachgelassen hatte, die Bewegungen weniger wurden und der Raum langsam zur Ruhe kam, räusperte sich Lowell ins Mikro: »Guten Abend, Gainesville.«
»Gainsburgh!«, fauchte Alex und klatschte sich mit der Hand an die Stirn.
»Oh, oh... tut mir leid. Gains… Gainsburgh«, stotterte Lowell und erntete dafür einige Lacher aus dem Publikum. Wäre er noch jünger gewesen, wäre ihm in diesem Moment wahrscheinlich die Schamesröte ins Gesicht gestiegen. Aber dafür machte er das alles einfach schon zu lange. »Wie auch immer, freut mich, hier bei Ihnen zu sein!« Dieser Satz klang für seine Verhältnisse erstaunlich eloquent. Ein »one, two, three« glitt ihm über die Lippen.
Ben nickte seiner Schwester zu, die ihren Bass dunkel wabernd zum Klingen brachte. Billy steckte sein Smartphone in die Seitentasche seiner kurzen Cargohose und hämmerte sogleich auf sein Schlagzeug ein. Jetzt kam die Sache ins Rollen, die Show konnte beginnen.
Lowell griff in die Saiten, die ersten Töne von Hometown Blues durchfluteten den Raum. Ben und Alex stimmten mit ein. Lowells Stimme klang tief, laut und klar und irgendwie auch viel jünger als die Stimme, mit der er zu sprechen pflegte. Die Sache lief. Das Publikum war da, hier, jetzt, in diesem Moment. Niemand unterhielt sich oder bestellte irgendwelche Drinks. Die Leute hielten die Augen auf die Bühne gerichtet und hörten zu. Lowell durchströmte ein Gefühl, das er seit Jahren nicht mehr gespürt hatte und von dem er nicht geglaubt hatte, dass er es je wieder spüren würde.
Seine Band, die Ben Field's Four, die nur aus drei Mitgliedern bestand, war gut. Das Trio verschaffte seinen angestaubten Songs eine poppige Leichtigkeit und zugleich rockige Härte. So hatte er seine eigenen Lieder noch nie gehört. Die meisten seiner Mitspieler beschränkten sich darauf, das wiederzugeben, was sie von seinen Alben oder Liveauftritten kannten – sie kopierten. Aber diese Kids, Teufel noch eins, diese Kids machten ihr eigenes Ding. Lowell ließ sich darauf ein, ließ sich davon treiben, bis sie schließlich bei White Shadows angelangt waren, jener Ballade, die sich 1986 vier Wochen lang in den Top 20 der US Country Charts tummelte und die traditionell den Schlusspunkt unter seine Konzerte setzte. Aber nicht heute.
Lowell hielt kurz inne. »Danke Leute, danke.«
Einige Zuhörer klatschten. Lowell hustete, wobei er sich die Hand vor den Mund hielt, dann räusperte er sich wieder. Ben starrte ihn gebannt an, gespannt auf das, was nun folgen würde.
»Da ihr so ein tolles Publikum seid, möchte ich zum Abschluss noch einen neuen Song für euch spielen.«
Ein Raunen ging durch die Menge, einige der Gäste sahen sich verdutzt an. Insbesondere seine Fans, wenn man sie so bezeichnen wollte. Kenner seiner Musik traf es vermutlich besser. Wie dem auch sei, diese Leute wussten, dass Lowell Paxton seit über zwanzig Jahren keinen neuen Song mehr komponiert hatte.
»Was soll das werden?«, flüsterte Alex ihrem Bruder zu.
Ben, dessen Blick nun irgendwie gehetzt wirkte, reichte ihr hektisch den zerknitterten Zettel, den Alex kritisch musterte.
»Der Song heißt Heart in the Blue, ich hoffe, er gefällt euch.«
Lowell dachte nicht nach in diesem Moment. Hätte er nachgedacht, hätte er das Konzert an diesem Punkt beendet und wäre nach einem weiteren Glas Gratis-Whiskey, oder auch zweien, zurück in sein Motelzimmer getorkelt. Doch stattdessen fühlte er sich getragen von einer Welle der Euphorie. Und dann begann er zu spielen.
Billy war der erste, der mit rhythmischen, schnellen Drums einstimmte. Dann war Ben an der Reihe und schließlich begann Alex, eine tiefe Bassline anzustimmen, die trotz ihrer Gleichmäßigkeit verspielt klang. Lowell war beeindruckt, diese Art von Walking Bass kannte er nur aus dem Jazz. Er selbst bildete das Herzstück dieses Klangkörpers, den puren, unverfälschten Country, den man nicht erlernen konnte, sondern den man mit der Muttermilch aufsaugen und leben musste. Etwa in der Mitte des Stücks überließ Lowell Ben das Solo und griff selbst in die Brusttasche seines Hemdes, wo er seine Hohner Rocket stecken hatte, die sein ständiger Begleiter war. Er improvisierte auf der Blues Harp und es klang fantastisch, der gesamte Song klang fantastisch. Das Publikum begann im Rhythmus des Liedes zu klatschen. Die, die bislang noch auf ihren Stühlen klebten, sprangen jetzt auf und versammelten sich vor der Bühne.
»Yihahaa! Scheiße, ja!«, hörte Lowell irgendeinen Typen in der Menge rufen, und die jungen Leute zückten ihre Smartphones und filmten das Geschehen auf der Bühne. Etwas Derartiges hatte Lowell seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Sein Körper fühlte sich leicht an, sein Geist war klar und im Hier und Jetzt, und er wusste, dass dieser Moment etwas ganz Besonderes war.
Kapitel 4 – Etwas am Himmel
Jake McCormick hockte auf seinem altersschwachen John Deere Traktor und atmete die kühle Morgenluft Iowas ein. Er sah hinaus auf die etwa 580 Morgen Land, die bereits sein Urgroßvater über den Homestead Act erworben hatte, welcher es nach Präsident Lincoln jedem Amerikaner erlaubte, sich Land anzueignen, indem er es fünf Jahre lang bewirtschaftete. Aus den fünf Jahren waren mittlerweile vier Generationen geworden. Jake wusste, dass Betriebe wie seiner den meisten ein Dorn im Auge waren. Schließlich gab der damalige Landwirtschaftsminister Earl Butz bereits in den 1970ern die Devise aus: »Get big or get out.« Daran hatte sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil, die Zahl der Farmer in diesem Land war auf rund zwei Millionen geschrumpft. Es gab also nur noch große Kuchenstücke und den Krümeln blieb nicht viel übrig, außer darauf zu warten, vertilgt zu werden.
Dennoch, Jake hatte es geschafft, über Jahre seine Familie von diesem kleinen Stück Land zu ernähren, und das, obwohl er nach wie vor auf Mais setzte, während die meisten anderen Farmer im Maisgürtel, den Jake mittlerweile gerne den ehemaligen Maisgürtel nannte, auf Sojabohnen umsattelten.
»Warte nur, ich komm runter und prügle dich windelweich, wenn ich erfahre, dass du auch nur eine dieser verdammten Bohnen auf dieses Land setzt«, drohte Jakes Vater Otis seinem Sohn einst, während er über sein eigenes Ableben nachsinnte. Das war etwa vier Jahre bevor der alte Herr tatsächlich ins Gras biss, im wahrsten Sinn, denn man fand ihn schließlich tot auf seinem Feld, mit dem Gesicht nach unten auf dem Acker liegend, so wie er es sich wohl immer gewünscht hatte. Jake respektierte den Wunsch seines Vaters, auch wenn er früher gelegentlich darüber nachgedacht hatte, auf Soja umzusteigen. Das war, bevor er in eine lähmende Gleichgültigkeit verfiel, bevor das Leben einen gebrochenen Mann aus ihm machte.
Plötzlich hörte Jake ein dumpfes Pochen, eine Art Pulsieren. Nicht übermäßig laut, aber deutlich hörbar. Er vermochte nicht genau zu sagen, woher es kam, aber was auch immer es war, es musste ganz in der Nähe sein. Er sah sich nach allen Seiten um. Nichts. Also hielt er kurz inne, hörte genauer hin, konzentrierte sich auf das Geräusch – dann richtete er den Blick nach oben. Sonnenstrahlen erhellten sein Gesicht, der Himmel glich einer Explosion aus Pink und Orange.
»Was zum...« Jakes Augen weiteten sich. Er riss sich die braune Carhartt Baseballkappe, unter der ein kräftiger, dunkler Haarschopf zum Vorschein kam, vom Kopf. Er konnte einfach nicht fassen, was er dort über sich sah. Er blinzelte, schloss die Augen, schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden, und öffnete die Augen wieder. Es war immer noch da. Jake presste wiederholt die Augenlider aufeinander. »Okay, ganz ruhig. Du träumst, das muss ein Traum sein.« Doch noch während Jake versuchte, sich selbst gut zuzureden, merkte er, dass sich seine Atmung beschleunigte. Panik stieg in ihm auf, es fühlte sich mehr und mehr danach an, als würden seine Eingeweide Fahrstuhl fahren. Er zählte bis drei, dann öffnete er die Augen erneut. Es half nichts. Er konnte es jetzt deutlich erkennen, etwa 20 Meter über sich. Jakes Verstand konnte nicht erfassen, was er da sah, und schon gar nicht konnte er es begreifen. Das Objekt, das über ihm schwebte, war kastanienrot. Es wirkte organisch, fleischig. Oben breit mit diffusen Verästelungen, die daraus hervorragten und nach unten hin spitz zulaufend waren. Es pulsierte, es pumpte, es schwebte, ohne seine Position zu ändern, und, ach ja, es war verdammt groß.
Chief Trevor Simmons saß in seinem Büro und blätterte raschelnd durch den Polk County Star, die lokale Tageszeitung. Er stand kurz vor seiner Pensionierung und machte keinen Hehl aus diesem Umstand. »Kommt davon, wenn man seine Steuern nicht zahlt. Jetzt haben sie dich wohl am Arsch«, spottete er und griff nach seinem Kaffeebecher, den das Logo der Chicago Cubs zierte. Er trank einen Schluck daraus, woraufhin er säuerlich das Gesicht verzog. Großer Gott, diese Brühe würde er sicher nicht vermissen, wenn es endlich so weit war und er seinen Colt an den Nagel hängen konnte. Dann würde das Leben endlich beginnen. Er würde HBO abonnieren, sich ausgiebig mit Fantasy Football beschäftigen, ein Bierchen nach dem anderen auf seiner Veranda zischen und so oft wie möglich am Lake Seguma fischen. Das einzige Problem an der Sache war seine Frau Martha. Er hoffte inständig, dass sie so viel mit der Kirche und ihren Wohltätigkeitsveranstaltungen zu tun haben würde, dass er sie möglichst wenig zu Gesicht bekam. Martha war eine fromme Baptistin. Chief Simmons hingegen hatte in seinem Job genug gesehen, vor allem in jungen Jahren, als er noch Streifenpolizist in Des Moines war. Man könnte sagen, der Glaube war ihm im Dienst abhandengekommen. Er glaubte, dass 150 Gramm Hackfleisch einen guten Burger ergaben, aber damit war sein Glaube auch schon erschöpft. Und was Martha betraf: Nun, sie hatten sich auseinandergelebt, mehr und mehr, und als die Kinder schließlich aus dem Haus waren, hatten sie sich nichts mehr zu sagen gehabt. Er schlief nun im Zimmer seiner ältesten Tochter Karen, wo er, unter Protest seiner Frau, einen Tischkicker aufgestellt hatte. Als guter Amerikaner hielt er zwar nicht viel von Fußball, einer schrecklich weibischen Sportart, an der wirklich nur europäische Warmduscher Gefallen finden konnten, aber er kannte diese Dinger von seiner Zeit bei der Army, wo er im Süden Deutschlands, in Stetten am kalten Markt, stationiert war und sich häufig damit die Zeit vertrieb. Und auch heute zockte er gerne noch eine Runde mit einem kühlen Rainier in der Hand und seinem guten Kumpel Bob Lutz, dem der Tabakladen an der Mainstreet gehörte und der immer behauptete, so gut in diesem Spiel zu sein, weil er deutsche Vorfahren hatte. Tatsächlich schlug Bob ihn ein ums andere Mal und Simmons überlegte gerade, wie er seine Strategie ändern konnte, um diesen alten Bastard endlich mal in die Schranken zu weisen, als jemand an die Tür seines Büros klopfte.
»Herein, es ist offen«, murrte Simmons, während er seine Zeitung einmal faltete und beiseite legte.
Ein junger, blasser Kerl, der eigentlich schon zu alt für Pickel war, aber trotzdem noch viele davon hatte, betrat zögernd den Raum. Der junge Mann hörte auf den wahrhaft lächerlichen Namen Peter Humperton und war einer von Simmons Officers.
»Ähm, Sir, Jake McCormick hat gerade angerufen.«
Simmons wartete einen Augenblick, dann wies er seinen Officer mit einer ungeduldigen Geste an, fortzufahren. »Ja, und? Was will er?«
»Na ja, also die Sache ist die...« Humperton fuhr sich nervös durch die welligen und für einen Polizisten etwas zu langen Haare. Der Kerl war das reinste Nervenbündel, aber es war nun einmal verdammt schwer, in einer kleinen Stadt wie dieser ordentliches Personal zu bekommen.
Simmons riss langsam der Geduldsfaden. »Herrgott, Officer, jetzt spucken Sies schon aus!«
»Also…« Ein nervöses Lächeln, das mehr so aussah, als hätte er starke Blähungen, huschte in Sekundenschnelle über Humpertons schmale Lippen. »Also, er sagt, da wäre etwas am Himmel, Sir.«
Simmons strich sich über den grauen Schnurrbart, der das Einzige war, das verhinderte, dass sein rundliches Gesicht wie ein Pfannkuchen aussah.
»Etwas am Himmel?«
»Ja, Sir, etwas am Himmel.«
»Und was? Eine dieser verdammten Drohnen?«
Humperton überlegte kurz. »Das ist es ja, Sir. Er meinte, Sie sollten sich das ansehen. Er wirkte ziemlich aufgebracht...«
»Der Typ hat sicher nur wieder gesoffen!« Das war Brad Kozlowski, Simmons zweiter Officer, der draußen im Vorraum des Departments stand und das Gespräch offenbar belauscht hatte.
»Schnauze, Kozlowski!«, wetterte Simmons, ehe er sich endlich von seinem Sessel erhob und dabei fast seinen Kaffee auf die Zeitung kippte. »Scheiße!« Er bekam die Tasse gerade noch so zu fassen, lediglich zwei Tropfen schwappten über und bekleckerten seinen Schreibtisch.
»Glück gehabt, Sir!« Humperton grinste nervös.
Simmons beachtete ihn nicht.
»Ist doch wahr!« Das war wieder Kozlowski.
»Schnauze, hab ich gesagt!« Simmons trat in den Vorraum.
Dort saß auch Trudy Cline, die das Team der Officers komplettierte, an ihrem Schreibtisch.
Simmons ging auf Kozlowski zu. »Der Mann hat seine Frau und sein Kind verloren. Können Sie sich vorstellen, wie das ist?«
»Und das gibt ihm das Recht, besoffen über die Milton Road zu brettern und fast Hank Spears mitsamt seinem Hund zu überfahren?«, konterte Kozlowski. Kozlowski liebte Hunde, da verstand er keinen Spaß.
»Das war ein einziges Mal, Herrgott. Lassen Sies gut sein, Brad.«
Kozlowski machte eine abwehrende Handbewegung. »Schon gut, ich sag nur, dass McCormick seitdem nicht mehr richtig rundläuft.«
Brad Kozlowski war ein bulliger, großer Mann, mindestens einen Kopf größer als der rundliche Chief, der eher die gestauchte Figur eines Wasserhydranten hatte. Kozlowski war Sergeant in der Army gewesen, er hatte in Afghanistan gedient, wo er einen Bradley durch das Feindesgebiet lenkte. Seine dunkelblonden Haare waren noch immer militärisch präzise zu einem Bürstenhaarschnitt gestutzt. Nach seinem Militärdienst zog es ihn wieder nach Hause, nach Kalifornien, wo er versuchte, bei einer Sicherheitsfirma anzuheuern, mit wenig Erfolg. Seine Art als schwierig zu bezeichnen, war in etwa so, als würde man Apple als kleines Familienunternehmen titulieren. Schließlich zog es ihn in die Weite. Ein Jahr lang bereiste er das Land und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bis er schließlich hier in Oak Ridge seine neue Heimat fand, als er im Vorbeifahren eine Stellenausschreibung vor dem Polizeirevier erspähte. Eines Tages würde er den Laden hier übernehmen, da war er sich sicher. Schließlich waren seine Kollegen dafür gänzlich ungeeignet. Im Moment ärgerte er sich darüber, dass Chief Simmons hier den Moralapostel spielte. Ausgerechnet er, der den Arsch nicht mehr aus dem Sessel hochbekam und auch sonst gerne mal in die andere Richtung sah. Sobald er das Abzeichen des Chiefs tragen würde, würden die Dinge in dieser Stadt anders laufen, das war ein Versprechen.
»Wie wärs, wenn Sie hinfahren?«, riss Chief Simmons Kozlowski aus seinen Gedanken.
»Ich?«, fragte der Officer überrumpelt. »Warum? Weil dieser McCormick irgendwas am Himmel sieht? Klingt für mich eher nach einem Job für unseren Petie.« Er ging einen Schritt auf Humperton zu und klopfte diesem kumpelhaft auf die Schulter. Wären die beiden auf die gleiche High School gegangen, hätte Kozlowski dem armen Jungen vermutlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Unterhose über den Kopf gezogen.
»Ähm, also ich, ich...«, stammelte Humperton. »Er hat gesagt, dass, also dass der Chief... also er wirkte wirklich aufgeregt.«
»Denken Sie nicht, dass ich Besseres zu tun habe, Officer?«, raunzte Simmons Humperton an.
Plötzlich sprang Trudy Cline aus ihrem Sessel auf. »Großer Gott, das ist ja nicht zum Aushalten! Ich geh schon.« Mit einer beiläufigen Handbewegung schnappte sie sich ihren Hut und stapfte davon, während der Chief und seine beiden Officers ihr betreten hinterher starrten.
Officer Trudy Cline saß am Steuer ihres Dienstfahrzeugs, einem Ford Bronco, und fuhr über die Van Buren Road in Richtung der Farm der McCormicks, die etwa fünf Kilometer außerhalb von Oak Ridge lag. Trotz ihrer 43 Jahre wurde sie von allen in der Stadt »Miss Trudy« genannt. Sie war eine der wenigen Schwarzen in dieser von frömmelnden, weißen Baptisten beherrschten Gemeinde, in der sie nun seit gut 15 Jahren lebte. Sie selbst zählte sich zu den Lutheranern, hatte aber nichts gegen die Baptisten, zumindest nicht generell. Ursprünglich stammte sie aus Davenport, aus einer Polizeifamilie. Nicht nur ihr Vater, sondern auch ihre beiden Brüder trugen die Uniform. Nur ihre jüngere Schwester Melissa schlug aus der Art. Sie war Maklerin, trug also pastellfarbene Kostüme und verkaufte überteuerte Häuser an junge Paare.
Bei der Polizei musste Trudy schon bald lernen, dass es schwer war für eine Frau, noch dazu für eine schwarze Frau, in dieser eingeschworenen Bruderschaft Akzeptanz zu finden. Trotz ihres Vaters. Trotz ihrer Brüder. Oder vielleicht sogar gerade wegen ihnen. Deshalb entschied sie sich dazu, den Dienst in einem kleineren Ort anzutreten, einem Ort, an dem sie vielleicht tatsächlich etwas bewegen konnte. Einem Ort wie diesem hier, einem Ort wie Oak Ridge, Iowa. Und ja, sie hatte sich hier einen Namen gemacht. Im Gegensatz zum Chief, der kaum noch hinter seinem Schreibtisch hervor gekrochen kam, oder Officer Kozlowski, den die Menschen hier entweder fürchteten oder hassten, wurde sie in der Gemeinde respektiert. Das lag daran, dass sie den Menschen hier ebenfalls mit Respekt begegnete. Sie erklärte ihnen ihre Rechte, versuchte ihnen zu helfen, drückte auch mal ein Auge zu, konnte aber auch durchgreifen, wenn es wirklich sein musste. Selbst stadtbekannte Unruhestifter wie Jeremiah Rayburn nannten sie Miss Trudy und begegneten ihr mit der nötigen Achtung. Insgeheim hoffte sie deshalb auch, dass der Stadtrat sie zu Simmons Nachfolgerin ernennen würde, anstelle dieses Gorillas Kozlowski, der doch tatsächlich stolzes Mitglied der NRA war, wie ein Aufkleber am Heck seines Camaros bewies.
Trudy fuhr die lange, gerade Straße entlang. Ein graues Band, das das Land in zwei Teile zerschnitt. Langsam verzogen sich die Wolken am Himmel und Sonnenstrahlen erwärmten das Innere des schon etwas altersschwachen Bronco. Für mehr als diese Kiste reichte das Budget der Stadt nicht aus. Aber Trudy mochte den Wagen. Sie hatte das Gefühl, sich auf ihn verlassen zu können. Als sie sich der Farm der McCormicks näherte und den Blick eher zufällig nach oben richtete, bemerkte sie in einiger Entfernung etwas am Himmel. Sie kniff die Augen zusammen. Was zum Teufel war das? Es war groß, es war rundlich und es war... »Oh, mein Gott!«
Officer Cline stieg mit voller Wucht in die Eisen. Die Reifen quietschten, der Wagen geriet leicht ins Schlittern, fast so, als würde er bei einer Rallye über Eis fahren. Schließlich kam er mit qualmenden Reifen zum Stehen. Trudy saß da, das Lenkrad so stark umklammernd, dass ihre Finger schmerzten. Sie richtete den Blick starr nach vorne, sie traute sich nicht, noch einmal nach oben zu sehen. »Komm schon, komm schon, komm schon...«, sagte sie zu sich selbst. Schließlich wagte sie es erneut, wenn auch nur für einen Augenblick. »Oh Gott! Großer Gott!« Hastig senkte sie den Blick wieder und versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Was im Namen des Herrn war dort über ihr?
Mit zitternden Händen entriegelte sie schließlich die Fahrertür. Einen Augenblick später, den sie nutzte, um sich irgendwie zu sammeln, setzte sie einen Fuß auf die Straße. Dann den nächsten. Ihr Herz raste. Sie hatte ein paar Kilo zu viel auf den Hüften, das wusste sie. Aber selbst wenn sie täglich eine Runde joggen würde, hätte sie das in diesem Moment wohl kaum vor einem möglichen Herzinfarkt bewahrt. Sie atmete tief durch, Sauerstoff füllte ihre Lungen. Sie musste sich beruhigen, schließlich war sie Polizistin, Herrgott. Mit der Hand über den Augen, wodurch sie sich vor der Sonne schützte, sah sie erneut nach oben. »Was ist das? Lieber Himmel, was ist das?« Sie beugte sich zurück in den geparkten Wagen und tastete nach dem Funkgerät: »Zentrale, hier Einheit 3, hört ihr mich?«. Aus dem Augenwinkel heraus versuchte sie das Objekt am Himmel nicht aus dem Blick zu verlieren, während sie sprach.
»Hier Zentrale«, meldete sich Officer Humperton vorschriftsgemäß. »Einheit 3, ich höre.«
»Pete!«, rief Trudy aufgeregt. »Gib mir sofort Simmons!«
Es folgte eine kurze Pause. »Officer Cline, ist alles in Ordnung?«
»Gib mir den Chief, verdammt!« Trudy richtete den Blick wieder nach oben und fuhr sich mit den Fingern durch die kinnlangen, schwarzen, geglätteten Haare. »Da ist etwas am Himmel.«
Kapitel 5 – Der Tag danach
Es war bereits gegen Mittag, als Lowell langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Sein Kopf dröhnte. Was war gestern Nacht nach dem Konzert geschehen? Er konnte sich ums Verrecken nicht mehr daran erinnern, aber seine Kopfschmerzen deuteten darauf hin, dass er wohl ein paar Gläser zu viel gehoben hatte. Er kannte diesen Schmerz, der in seinem Nacken begann, über seinen Hinterkopf kroch und schließlich dumpf gegen seine Schädeldecke drückte. Als er schließlich langsam und einhergehend mit der Hoffnung, wenigstens die Jalousien geschlossen zu haben, die Augen öffnete, sah er über sich eine Styropordecke mit tausenden von kleinen Löchern darin. Er war wieder im Heartbeat Motel, zumindest das wusste er, allerdings hatte er keine Ahnung, wie er hierher gekommen war, und noch viel weniger wusste er, wer die Frau war, die auf dem Rücken neben ihm im Bett lag. Zwar hatte sie die fleckige Bettdecke über sich gezogen, aber er konnte sich denken, dass sie nackt darunter war. Wie sie da lag, mindestens so alt wie er selbst, unter dieser Decke, mit offenem Mund und dem Gesicht starr zur Zimmerdecke gerichtet, musste er unweigerlich an einen Leichensack denken. Etwa fünf Minuten lang blieb er so liegen, ungerührt nach oben starrend, und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie er nach dem Konzert wieder hierher gekommen war.