Sommer - Edith Wharton - E-Book

Sommer E-Book

Edith Wharton

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Beschreibung

Die beklemmend schöne Liebesgeschichte eines einfachen Mädchens vom Lande und eines gebildeten Städters, die an den gesellschaftlichen Konventionen zerbricht - ein amerikanischer Klassiker der Pulitzer-Preisträgerin und Autorin von »Zeit der Unschuld« Edith Wharton

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Benjamin Schwarz

 

ISBN 978-3-492-97972-6

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

© William R. Tyler 1939

Die Originalausgabe erschien 1917 unter dem Titel

»Summer« bei Charles Scribner’s Sons in New York.

© der deutschen Ausgabe: Rogner & Bernhard GmbH & Co. Verlags KG München 1986

© der deutschen Ausgabe: Piper Verlag München 1991

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

1 – Ein Mädchen trat …

2 – Die Arbeitszeit der Bibliothekarin …

3 – Mr. Royall empfing seine …

4 – Er blieb stehen und …

5 – Noch nie hatte es so …

6 – An diesem Abend saß Charity …

7 – Seit Charity wieder in Miss Hatchards …

8 – Sie hatte jegliches Zeitgefühl …

9 – Charity saß vor dem Spiegel …

10 – Endlich der See …

13 – Das Rathaus war voller …

15 – An diesem Abend nahmen …

16 – Der Regen blieb aus, …

17 – Charity lag am Boden …

18 – Im müden Trott …

1

Ein Mädchen trat aus Anwalt Royalls Haus am Ende der einzigen Straße von North Dormer und blieb davor stehen.

Es war ein früher Juninachmittag. Der durchsichtige, frühlingshafte Himmel schüttete einen Regen silbriger Sonnenstrahlen auf die Dächer des Dorfs und auf das Weideland und die Lärchenwälder, die das Dorf umgaben. Ein sanfter Wind regte sich zwischen den runden weißen Wolken auf den Schultern der Hügel und trieb ihre Schatten über die Felder und den grasbewachsenen Weg hinunter, der dort, wo er durch North Dormer führt, die Bezeichnung Straße annimmt. Der Ort liegt hoch und offen da, und es fehlt ihm der Schatten, der in den geschützter gelegenen Dörfern Neuenglands reichlich vorhanden ist. Die Gruppe Trauerweiden um den Ententeich und die Rottannen vor dem Tor zum Anwesen der Hatchards sind nahezu die einzigen Schattenspender an dem Stück Straße zwischen Anwalt Royalls Haus und der Stelle am anderen Ende des Dorfs, wo die Straße oberhalb der Kirche ansteigt und an der schwarzen Wand aus Schierlingstannen entlangführt, die den Friedhof umgibt.

Der sanfte Juniwind kam die Straße heruntergeweht, schüttelte die trübseligen Wipfel der Tannen vor dem Haus der Hatchards, erfaßte den Strohhut eines jungen Mannes, der eben unter ihnen entlangging, und wirbelte ihn geradewegs über die Straße in den Ententeich.

Während er hinüberrannte, um ihn herauszufischen, stellte das junge Mädchen vor Anwalt Royalls Tür fest, daß es sich um einen Fremden handelte, daß er städtische Kleidung trug und daß er übers ganze Gesicht lachte, wie eben ein unbekümmerter junger Mensch über derlei Mißgeschicke lacht.

Ihr Herz krampfte sich ein wenig zusammen, und aus Scheu, die sie manchmal überkam, wenn sie Leute mit Feiertagsgesichtern sah, zog sie sich ins Haus zurück und tat, als suche sie nach dem Schlüssel, obwohl sie wußte, daß sie ihn bereits in ihre Tasche gesteckt hatte. Im Flur hing ein hoher grünlicher Spiegel mit einem vergoldeten Adler darüber, und sie betrachtete kritisch ihr Spiegelbild und wünschte sich zum tausendsten Mal, sie hätte blaue Augen wie Annabel Balch, die manchmal aus Springfield kam, um eine Woche bei der alten Miss Hatchard zu verbringen; dann rückte sie den von der Sonne gebleichten Hut über ihrem kleinen braunen Gesicht zurecht und ging wieder ins Sonnenlicht hinaus.

»Wie ich das alles hasse!« murmelte sie.

Der junge Mann war durch das Tor der Hatchards verschwunden, und sie hatte die Straße für sich allein. North Dormer ist zu allen Zeiten ein öder Ort, und um drei Uhr an einem Juninachmittag sind die wenigen arbeitsfähigen Männer draußen auf den Feldern oder im Wald, und die Frauen sind drinnen und mühen sich lustlos mit dem Haushalt ab.

Das Mädchen ging die Straße entlang, ließ den Schlüssel an ihrem Finger baumeln, und blickte mit jener erhöhten Aufmerksamkeit um sich, die die Anwesenheit eines Fremden an einem vertrauten Ort hervorruft. Welchen Eindruck, fragte sie sich, machte wohl North Dormer auf Leute aus anderen Teilen der Welt? Sie wohnte dort, schon seit sie fünf Jahre alt war, und hatte das Dorf lange für einen recht bedeutenden Ort gehalten. Aber vor ungefähr einem Jahr hatte Mr. Miles, der neue Pfarrer der Episkopalgemeinde in Hepburn, der jeden zweiten Sonntag herüberkam – wenn die Wege nicht von Karrenspuren zerpflügt waren –, um in der Kirche von North Dormer Gottesdienst abzuhalten, in einem Anfall missionarischen Eifers beschlossen, die jungen Leute nach Nettleton zu einem Bildervortrag über das Heilige Land mitzunehmen; und das Dutzend Mädchen und Jungen, das die Zukunft von North Dormer verkörperte, war in einen Bauernwagen verfrachtet und über die Berge nach Hepburn gefahren, in einen Bummelzug gesetzt und nach Nettleton gebracht worden. Im Verlauf dieses unglaublichen Tages hatte Charity Royall zum ersten und einzigen Mal eine Bahnfahrt erlebt, in Läden mit Schaufenstern geguckt und Kokosnußtorte probiert, sie hatte in einem Theater gesessen und einem Herrn zugehört, der unverständliche Dinge erzählte, begleitet von Bildern, die sie sich mit Vergnügen angesehen hätte, wenn seine Erklärungen sie nicht gehindert hätten, sie zu verstehen. Dieses Erlebnis hatte ihr bewußt gemacht, daß North Dormer ein kleiner Ort war, und es hatte einen Wissensdurst in ihr geweckt, den ihre Stellung als Betreuerin der Dorfbibliothek nicht hervorzurufen vermocht hatte. Ein, zwei Monate lang vergrub sie sich fieberhaft und wahllos in den staubigen Bänden der Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek; dann verblaßte allmählich der Eindruck, den Nettleton auf sie gemacht hatte, und sie fand es leichter, North Dormer als das Maß aller Dinge hinzunehmen, als ihre Lektüre fortzusetzen.

Der Anblick des Fremden weckte wieder Erinnerungen an Nettleton, und North Dormer schrumpfte auf seine wirkliche Größe. Während sie das Dorf hinauf und hinunter blickte, von Anwalt Royalls Haus mit dem verblaßten roten Verputz am einen Ende bis zu der weißen Kirche am anderen Ende, nahm sie es mitleidlos wahr. Da lag es, ein vom Wetter gebeuteltes, von der Sonne verbranntes Dorf in den Bergen, von der Welt vergessen, von Eisenbahn, Autobus, Telegraph und allen Mächten, die in einer Gemeinschaft von heute das Leben der einzelnen miteinander verbinden, links liegen gelassen. Es gab keine Läden, kein Theater, keine Vorträge, kein »Geschäftsviertel«; nur eine Kirche, die jeden zweiten Sonntag geöffnet wurde, sofern es der Zustand der Straßen erlaubte, und eine Bibliothek, für die seit zwanzig Jahren keine neuen Bücher mehr gekauft worden waren und in der die alten auf den muffigen Regalen ungestört vor sich hin moderten. Und doch hatte man Charity Royall stets zu verstehen gegeben, sie müsse es als Privileg betrachten, daß das Schicksal sie nach North Dormer verschlagen hatte. Sie wußte, daß North Dormer, verglichen mit dem Ort, wo sie herkam, alle Segnungen höchster Zivilisation verkörperte. Jeder im Dorf hatte ihr das gesagt, seit sie als Kind hierhergebracht worden war. Selbst die alte Miss Hatchard hatte einmal bei einer schrecklichen Gelegenheit zu ihr gesagt: »Mein Kind, du darfst nie vergessen, daß es Mr. Royall war, der dich vom Berg heruntergeholt hat.«

Sie war »vom Berg heruntergeholt« worden; von der zerklüfteten Felswand, die jäh über den niedrigeren Abhängen des Eagle Range anstieg und einen stets düsteren Hintergrund für das einsame Tal abgab. Der Berg war gut fünfzehn Meilen entfernt, aber er stieg so schroff von den niedrigeren Hügeln auf, daß es beinahe schien, als werfe er seinen Schatten auf North Dormer. Und er wirkte wie ein großer Magnet, der die Wolken anzog, um sie dann im Sturm über das Tal zu verteilen. Wann immer, selbst bei klarstem Sommerhimmel, ein feiner Dunstschleier über North Dormer hinwegzog, trieb er auf den Berg zu wie ein Schiff auf einen Strudel, verfing sich zwischen den Felsen und zerriß in viele Wolkenfetzen, um dann in Regen und Dunkelheit von neuem über das Dorf hinwegzufegen.

Charity hatte keine klare Vorstellung von dem Berg; aber sie wußte, daß es ein schlimmer Ort war und eine Schande, von dort herzustammen, und daß, was immer ihr in North Dormer auch widerführe, sie nie vergessen dürfe, wie ihr Miss Hatchard es einst ins Gedächtnis gerufen hatte, daß sie von dort heruntergeholt worden war, und daß sie ihren Mund halten und dankbar sein müsse. Sie blickte zu dem Berg hinauf, während ihr all das durch den Kopf ging, und bemühte sich wie gewöhnlich, dankbar zu sein. Doch der Anblick des jungen Mannes, wie er durch Miss Hatchards Tor gegangen war, hatte das Bild der glitzernden Straßen von Nettleton wieder in ihr wachgerufen, und sie genierte sich wegen ihres alten Sonnenhuts, hatte North Dormer satt und dachte neidisch an Annabel Balch aus Springfield, deren blaue Augen irgendwo in weiter Ferne Herrlichkeiten betrachteten, die noch imponierender waren als die Herrlichkeiten von Nettleton.

»Wie ich das alles hasse!« sagte sie noch einmal.

Auf halbem Weg die Straße hinunter blieb sie vor einem windschiefen Tor stehen. Dann ging sie hindurch und über einen ziegelgepflasterten Weg zu einem merkwürdigen kleinen Backsteintempel mit weißen Holzsäulen, die einen Giebel trugen, auf dem in verblaßten Goldbuchstaben die Inschrift stand: »Honorius-Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek, 1832«.

Honorius Hatchard war der Großonkel der alten Miss Hatchard gewesen; aber sie hätte zweifellos den Satz umgedreht und als ihren einzigen Ruhmestitel die Tatsache hervorgehoben, daß sie seine Großnichte sei. Honorius Hatchard hatte sich nämlich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einer bescheidenen Berühmtheit erfreut. Wie die Marmortafel im Inneren der Bibliothek den seltenen Besuchern mitteilte, hatte er bemerkenswerte literarische Gaben besessen, eine Reihe Prosatexte mit dem Titel »Der Einsiedler von Eagle Range« geschrieben, sich der Bekanntschaft mit Washington Irving und Fitz-Greene Halleck rühmen können und war in der Blüte seiner Jahre von einem Fieber dahingerafft worden, das er sich in Italien zugezogen hatte. Dies war die einzige Verbindung zwischen North Dormer und der Literatur gewesen, eine Verbindung, an die pietätvoll erinnert worden war durch die Errichtung der Gedenkstätte, in der Charity Royall jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag an ihrem Schreibtisch unter dem stockfleckigen Stahlstich des verstorbenen Dichters saß und sich fragte, ob er sich in seinem Grabe wohl toter fühle als sie in seiner Bibliothek.

Lustlos betrat sie ihr Gefängnis, setzte den Hut ab, hängte ihn an eine Minervabüste aus Gips, öffnete die Fensterläden und lehnte sich hinaus, um nachzusehen, ob in dem Schwalbennest über einem der Fenster vielleicht Eier lägen, setzte sich schließlich hinter den Tisch und zog eine Rolle Baumwollspitze und eine stählerne Häkelnadel hervor. Sie war keine geschickte Handarbeiterin, und sie hatte viele Wochen gebraucht, um den halben Meter Spitze zu häkeln, den sie um den Leinenrücken einer aus dem Leim gegangenen Ausgabe des »Lamplighter« gewickelt hatte. Aber es war die einzige Möglichkeit, an eine Spitze für ihre Sommerbluse zu kommen, und seit Ally Hawes, das ärmste Mädchen im Dorf, mit einem neiderweckenden durchsichtigen Gebilde um die Schultern in der Kirche erschienen war, hatte Charitys Häkelnadel schneller gearbeitet. Sie entrollte die Spitze, steckte die Nadel in eine Schlinge und beugte sich mit gerunzelten Brauen über ihre Arbeit.

Plötzlich ging die Tür auf, und noch bevor sie die Augen hob, wußte sie, daß der junge Mann, den sie durch das Tor der Hatchards hatte gehen sehen, die Bibliothek betreten hatte.

Ohne sie zu beachten, begann er gemächlich in dem langen, gewölbeartigen Raum herumzuwandern, wobei er die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt und mit kurzsichtigen Augen die Reihen der modrigen Bucheinbände musterte. Schließlich gelangte er zu ihrem Schreibtisch und blieb vor ihr stehen.

»Gibt es hier eine Kartei?« fragte er unvermittelt mit angenehmer Stimme; sie ließ die Häkelarbeit sinken, so eigenartig erschien ihr die Frage.

»Eine was?«

»Nun, Sie wissen doch –« Er unterbrach sich, und ihr wurde bewußt, daß er sie zum erstenmal ansah, nachdem er sie beim Eintreten mit einem flüchtigen kurzsichtigen Blick offenbar mit zum Bibliotheksmobiliar gerechnet hatte. Daß er den Faden verlor, als er sie auf einmal wahrnahm, entging nicht ihrer Aufmerksamkeit, und lächelnd senkte sie den Blick.

»Nein, vermutlich wissen Sie es nicht«, verbesserte er sich. »Eigentlich wäre es sogar beinahe schade –«

Sie glaubte, leichte Herablassung aus seinem Ton herauszuhören, und fragte scharf: »Warum?«

»Weil es viel mehr Spaß macht, in so einer kleinen Bibliothek selbst herumzustöbern – mit Hilfe der Bibliothekarin.«

Er sagte diesen Nachsatz in so respektvollem Ton, daß sie sofort beschwichtigt war und mit einem Seufzer erwiderte: »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel helfen.«

»Warum?« fragte er nun seinerseits; und sie antwortete, es seien ohnehin nicht viele Bücher und sie habe nur ganz wenige gelesen. »Die Würmer machen sich dran«, fügte sie düster hinzu.

»Tatsächlich? Jammerschade, es sind nämlich ein paar gute dabei, wie ich sehe.« Er schien das Interesse an dem Gespräch verloren zu haben, schlenderte wieder davon und vergaß sie offenbar. Seine Gleichgültigkeit ärgerte sie, und sie nahm ihre Häkelarbeit wieder auf, entschlossen, auch nicht den kleinsten Finger für ihn zu rühren. Offensichtlich brauchte er sie auch gar nicht, denn er drehte ihr den Rücken zu und holte nacheinander die großen, mit Spinnweben bedeckten Bände von einem Regal herunter, das weiter weg stand.

»Also wahrhaftig!« rief er aus; und als sie aufblickte, sah sie, daß er sein Taschentuch hervorgezogen hatte und sorgfältig die Kanten des Buchs abwischte, das er in der Hand hielt. Das erschien ihr wie eine ungerechtfertigte Kritik an ihrer Betreuung der Bücher, und gereizt sagte sie: »Es ist nicht meine Schuld, wenn sie schmutzig sind.«

Er wandte sich um und sah sie mit neu erwachtem Interesse an. »Ach – dann sind Sie gar nicht die Bibliothekarin?«

»Doch, natürlich; aber ich kann nicht alle diese Bücher abstauben. Außerdem schaut sie sich keiner mehr an, seit Miss Hatchard zu schlecht zu Fuß ist, um vorbeizukommen.«

»Nein, offenbar nicht.« Er legte das Buch hin, das er gerade abgewischt hatte, und sah sie schweigend an. Sie überlegte, ob Miss Hatchard ihn hergeschickt habe, um auszukundschaften, wie für die Bibliothek gesorgt werde, und dieser Verdacht steigerte noch ihren Unmut. »Ich habe Sie doch vorhin in ihr Haus gehen sehen, stimmt’s?« fragte sie, wobei sie es nach neuenglischer Art vermied, den Familiennamen auszusprechen. Sie war entschlossen herauszufinden, warum er in ihren Büchern herumschnüffelte.

»In Miss Hatchards Haus? Ja – sie ist meine Cousine, ich wohne dort«, antwortete der junge Mann und setzte hinzu, wie um ein sichtliches Mißtrauen zu zerstreuen: »Mein Name ist Harney – Lucius Harney. Vielleicht hat sie schon einmal meinen Namen erwähnt.«

»Nein, das hat sie nicht«, sagte Charity und wünschte, sie hätte sagen können: Ja, das hat sie.

»Ja dann –«, sagte Miss Hatchards Cousin lachend; und nach einer weiteren Pause, während der Charity der Gedanke kam, daß ihre Antwort nicht gerade ermutigend gewesen sei, bemerkte er: »Architektur scheint nicht Ihre Stärke zu sein.«

Nun war sie vollends verwirrt: je mehr sie den Eindruck zu erwecken wünschte, sie verstehe ihn, desto unverständlicher wurden seine Bemerkungen. Er erinnerte sie an den Herrn, der in Nettleton die Bilder »erklärt« hatte, und die Last ihres Unwissens legte sich wieder wie eine schwere Decke über sie.

»Ich wollte sagen, ich sehe hier kein einziges Buch über die alten Häuser in der Umgebung. Uberhaupt ist die Gegend wohl kaum erforscht. Alle beschäftigen sich unentwegt mit Plymouth und Salem. So etwas Dummes. Und dabei ist das Haus meiner Cousine zum Beispiel sehr bemerkenswert. Dieses Dorf muß eine Vergangenheit gehabt haben – früher muß es einmal mehr dargestellt haben.« Unvermittelt hielt er inne und errötete, so wie ein scheuer Mensch errötet, der sich gewissermaßen selbst zuhört und fürchtet, er sei zu redselig gewesen. »Sehen Sie, ich bin Architekt und auf der Suche nach alten Häusern in dieser Gegend.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Alte Häuser? In North Dormer ist alles alt, oder nicht? Die Leute jedenfalls sind es.«

Er lachte und schlenderte wieder davon.

»Haben Sie nicht irgendein Geschichtsbuch über die Gegend? Ich glaube, um 1840 ist eines geschrieben worden: ein Buch oder eine Broschüre über die früheste Besiedlung«, sagte er nun vom anderen Ende des Raumes her.

Sie legte die Häkelnadel an die Lippen und überlegte. Es gab so etwas, das wußte sie: »North Dormer und die frühen Siedlungen in Eagle County«. Gegen dieses Buch hegte sie einen besonderen Groll, denn es war ein schmächtiges Bändchen, das dauernd entweder vom Regal fiel oder nach hinten rutschte und verschwand, wenn man es zwischen andere Bücher klemmte, die es stützen sollten. Sie erinnerte sich, wie sie es das letztemal aufgehoben und sich gefragt hatte, warum sich jemand überhaupt die Mühe gemacht habe, ein Buch über North Dormer und seine Nachbarorte zu schreiben: Dormer, Hamblin, Creston und Creston River. Sie kannte sie alle, nichts als gottverlassene Häuseransammlungen in den Falten der öden Gebirgskämme: Dormer, wo die Bewohner von North Dormer sich die Äpfel holten, Creston River, wo einst eine Papiermühle gestanden hatte, deren graue Mauern nun am Fluß verfielen, und Hamblin, wo stets der erste Schnee fiel. Darin bestand ihre ganze Berühmtheit.

Sie erhob sich und begann ziellos vor den Regalen herumzuwandern. Aber sie hatte keine Ahnung, wo sie das Buch zuletzt hingestellt hatte, und irgend etwas sagte ihr, es werde ihr den üblichen Streich spielen und unauffindbar bleiben. Heute war kein Glückstag für sie.

»Es muß hier irgendwo sein«, sagte sie, um ihren Eifer zu beweisen; doch sie sprach ohne Überzeugung und spürte, daß ihre Worte auch so klangen.

»Ja dann –«, sagte er noch einmal. Sie wußte, daß er nun ging, und wünschte sich mehr denn je, das Buch zu finden.

»Eben das nächste Mal«, fügte er hinzu; er nahm den Band, den er auf den Tisch gelegt hatte, und reichte ihn ihr. »Übrigens, ein bißchen Luft und Sonne täten ihm gut; es ist ziemlich wertvoll.«

Er nickte ihr lächelnd zu und ging hinaus.

2

Die Arbeitszeit der Bibliothekarin der Hatchard-Gedächtnis-Bibliothek dauerte von drei bis fünf; und Charity Royalls Pflichtgefühl hielt sie gewöhnlich bis gegen halb fünf an ihrem Schreibtisch.

Aber sie hatte nie feststellen können, daß dies für sie selbst oder für North Dormer von irgendwelchem praktischen Nutzen gewesen wäre, und sie hatte keine Skrupel, die Schließung der Bibliothek eine Stunde früher zu verfügen, wenn es ihr beliebte. Ein paar Minuten, nachdem Mr. Harney gegangen war, faßte sie diesen Entschluß, legte die Spitze weg, machte die Fensterläden zu und drehte den Schlüssel in der Tür zum Tempel des Wissens um.

Die Straße, auf die sie hinaustrat, war noch leer: und nachdem sie einen Blick hinauf und hinunter geworfen hatte, machte sie sich langsam auf den Weg nach Hause. Doch statt hineinzugehen, spazierte sie an dem Haus vorbei, bog in einen Feldweg ein und stieg zu einer Weide auf dem Hügel hinauf. Sie öffnete das Gatter, folgte einem Pfad entlang der zerbröckelten Mauer, die das Weideland umgab, und ging weiter, bis sie zu einer Kuppe kam, wo eine Gruppe Lärchen ihre frischen Triebe dem Wind entgegenreckten. Dort legte sie sich auf den Hang, warf ihren Hut beiseite und verbarg das Gesicht im Gras.

Sie war vielen Dingen gegenüber blind und unempfänglich und sich dessen auch vage bewußt; aber jede Faser ihres Herzens reagierte auf alles, was Licht und Luft, Duft und Farbe war. Sie liebte die Rauheit des trockenen Berggrases unter ihren Handflächen, den Geruch des Thymians, in den sie ihr Gesicht preßte, den Wind, der über ihr Haar strich und durch ihr Baumwollkleid blies, und das Knarren der Lärchen, die sich darin wiegten.

Sie stieg oft auf den Hügel und lag dort allein, nur weil sie es genoß, den Wind zu spüren und das Gras an ihren Wangen entlangstreifen zu lassen. Gewöhnlich dachte sie dabei an gar nichts, sondern lag nur da, in ein unbestimmbares Wohlbehagen eingetaucht. Heute kam zu ihrem Wohlbehagen noch die Freude darüber, der Bibliothek entkommen zu sein. Sie mochte es zwar, wenn eine Freundin während der Dienststunden hereinschaute und mit ihr plauderte, aber sie haßte es, wegen Büchern belästigt zu werden. Wie sollte sie sich erinnern, wo welches stand, wenn so selten danach gefragt wurde? Orma Fry nahm gelegentlich einen Roman mit, und ihr Bruder Ben interessierte sich für »Dscheographie«, wie er es nannte, und für Bücher, die mit Handel und Buchhaltung zu tun hatten; aber sonst fragte keiner je nach einem Buch, außer gelegentlich nach »Onkel Toms Hütte«, »Opening a Chestnut Burr« oder Longfellow. Die hatte sie griffbereit und hätte sie selbst im Dunkeln finden können; doch unerwartete Nachfragen kamen so selten vor, daß sie sich darüber ärgerte wie über eine Ungerechtigkeit.

Das Äußere des jungen Mannes hatte ihr gefallen, seine kurzsichtigen Augen und seine merkwürdige Redeweise, die abrupt, doch sanft war, genau wie seine Hände sonnengebräunt und kräftig waren, die Nägel aber so gepflegt wie die einer Frau. Auch sein Haar sah aus wie von der Sonne verbrannt, oder vielmehr hatte es die Farbe von Adlerfarn nach dem Frost; die grauen Augen hatten den bittenden Ausdruck der Kurzsichtigen, sein Lächeln war scheu, doch selbstsicher, als wisse er viele Dinge, von denen sie nie geträumt hatte, und wolle sie doch um keinen Preis seine Überlegenheit spüren lassen. Doch sie spürte sie und mochte das Gefühl, denn es war ihr neu, So arm und ungebildet sie war (und daß sie das war, wußte sie selbst) – die Geringste von allen sogar in North Dormer, wo es als die schlimmste Schande galt, vom Berg zu kommen –, sie hatte doch in ihrer begrenzten Welt stets geherrscht. Zum Teil rührte dies natürlich daher, daß Anwalt Royall »der bedeutendste Mann in North Dormer« war; eigentlich viel zu bedeutend für den Ort, so daß Außenstehende, die nicht im Bilde waren, sich stets fragten, was ihn hier hielt. Trotz allem – und sogar trotz Miss Hatchard – herrschte Anwalt Royall in North Dormer; und Charity herrschte in Anwalt Royalls Haus. Sie hätte es vor sich selbst nie so ausgedrückt, doch sie kannte ihre Macht, wußte, woher sie rührte, und haßte sie. Der junge Mann in der Bibliothek hatte sie zum erstenmal unbestimmt fühlen lassen, wie süß vielleicht Abhängigkeit wäre.

Sie richtete sich auf, strich sich die Grashalme aus dem Haar und blickte auf das Haus hinab, in dem sie herrschte. Es stand direkt unter ihr, düster und vernachlässigt, die verblaßte rote Fassade von der Straße durch einen »Hof« getrennt, den ein von Stachelbeerbüschen gesäumter Weg durchquerte; in dem Hof sah man einen steinernen Brunnen, der von Waldrebe überwachsen war, und eine kümmerliche rote Kletterrose an einem fächerförmigen Spalier, die Mr. Royall einmal von Hepburn mitgebracht hatte, um ihr eine Freude zu machen. Hinter dem Haus erstreckte sich ein Stück unebenes Gelände mit quer darüber gespannten Wäscheleinen bis zu einer Trockenmauer, und hinter der Mauer verloren sich ein kleiner Getreideacker und ein paar Reihen Kartoffeln in der angrenzenden Wildnis aus Fels und Farn.

Charity konnte sich nicht entsinnen, wann sie das Haus zum erstenmal gesehen hatte. Man hatte ihr erzählt, daß sie an einem Fieber gelitten habe, als sie vom Berg heruntergeholt worden war; und sie konnte sich nur daran erinnern, daß sie eines Tages in einem Kinderbett am Fuße von Mrs. Royalls Bett aufgewacht war und das nüchterne, ordentlich aufgeräumte Zimmer erblickt hatte, das später ihr eigenes werden sollte.

Mrs. Royall starb sieben oder acht Jahre später; zu der Zeit hatte Charity bereits das meiste von dem, was um sie herum vorging, einzuschätzen gelernt. Sie wußte, daß Mrs. Royall traurig, scheu und labil war; sie wußte, daß Anwalt Royall schroff, jähzornig und noch labiler war. Sie wußte, daß man sie auf den Namen Charity getauft hatte (in der weißen Kirche am anderen Ende des Dorfes), zum Andenken daran, wie uneigennützig es von Mr. Royall gewesen war, sie »herunterzuholen«, und um in ihr das geziemende Gefühl von Abhängigkeit wachzuhalten; sie wußte, daß Mr. Royall ihr Vormund war, daß er sie aber nicht adoptiert hatte, obwohl jedermann von ihr als Charity Royall sprach; und sie wußte, warum er nach North Dormer zurückgekehrt war, anstatt in Nettleton eine Kanzlei zu betreiben, wo seine juristische Laufbahn begann.

Nach Mrs. Royalls Tod hieß es vage, Charity solle in ein Pensionat geschickt werden. Miss Hatchard machte den Vorschlag und führte eine lange Unterredung mit Mr. Royall, der, um ihren Plan zu verfolgen, eines Tages nach Starkfield fuhr, um das Institut zu besichtigen, das sie empfohlen hatte. Er kam am folgenden Abend mit finsterem Gesicht zurück – finsterer, stellte Charity fest, als sie ihn je zuvor erlebt hatte; und zu der Zeit hatte sie schon einige Erfahrung mit ihm.

Als sie ihn fragte, wie bald sie denn dort anfangen solle, erwiderte er kurz angebunden: »Du gehst nicht« und schloß sich in dem Zimmer ein, das er sein Büro nannte; und am nächsten Tag schrieb die Dame, die die Schule in Starkfield leitete, daß sie »in Anbetracht der Umstände« derzeit leider keine neue Schülerin aufnehmen könne.

Charity war enttäuscht, aber sie begriff. Nicht die Versuchungen von Starkfield hatten Mr. Royall von seinen Plänen abgebracht; es war die Vorstellung, sie zu verlieren. Er war ein entsetzlich »einsamer Mensch«; das hatte sie herausgefunden, weil sie selbst so »einsam« war. Er und sie, allein miteinander in diesem traurigen Haus, hatten die Tiefen der Einsamkeit ausgelotet; und obwohl sie ihm gegenüber keine besondere Zuneigung und nicht die geringste Dankbarkeit empfand, tat er ihr leid, weil sie wußte, daß er den Leuten um sich herum überlegen, und daß sie das einzige Wesen zwischen ihm und der Einsamkeit war. Und als Miss Hatchard ein oder zwei Tage später Charity holen ließ, um mit ihr über eine Schule in Nettleton zu sprechen und ihr zu sagen, diesmal werde eine Freundin von ihr »die notwendigen Schritte einleiten«, unterbrach Charity ihre Ankündigung und erklärte, sie habe beschlossen, North Dormer nicht zu verlassen.

Miss Hatchard redete ihr freundlich zu, doch es nutzte nichts; Charity wiederholte schlicht: »Ich glaube, Mr. Royall ist zu einsam.«

Miss Hatchard blinzelte verwirrt hinter ihren Brillengläsern. Ihr langes zartes Gesicht war voller verdutzter Falten, und sie beugte sich vor, die Hände auf den Armlehnen ihres Mahagonisessels, offensichtlich bestrebt, etwas zu sagen, was gesagt werden müßte.

»Dieses Gefühl ehrt dich, meine Liebe.«

Ihr Blick irrte auf den blassen Wänden ihres Wohnzimmers herum und suchte Rat bei den Daguerreotypien ihrer Ahnen und den gerahmten Sticktüchern; aber sie schienen ihr das Sprechen nur noch schwerer zu machen.

»Weißt du… es ist nicht nur… nicht nur wegen der Vorteile. Es gibt noch andere Gründe. Du bist zu jung, um zu verstehen –«

»O nein, das bin ich nicht«, sagte Charity schroff, und Miss Hatchard errötete bis zu den Wurzeln ihres blonden Haars. Doch muß sie eine unbestimmte Erleichterung darüber empfunden haben, daß ihre Erklärung unterbrochen worden war, denn sie beendete das Gespräch, wobei sie sich noch einmal hilfesuchend an die Daguerreotypien wandte, und sagte: »Natürlich werde ich stets alles für dich tun, was in meinen Kräften steht; und falls… falls… du weißt, daß du immer zu mir kommen kannst…«

Anwalt Royall erwartete Charity auf der Veranda, als sie von diesem Besuch zurückkam. Er hatte sich rasiert und seinen schwarzen Rock gebürstet und wirkte wie das würdevolle Denkmal eines Mannes; in solchen Augenblicken bewunderte sie ihn wirklich.

»Nun«, fragte er, »ist alles geregelt?«

»Ja, es ist geregelt. Ich gehe nicht.«

»Nicht in die Schule nach Nettleton?«

»Nirgendwohin.«

Er räusperte sich und fragte streng; »Warum?«

»Ich möchte lieber nicht«, sagte sie und marschierte an ihm vorbei in ihr Zimmer. In der folgenden Woche brachte er ihr die Kletterrose und das Fächerspalier aus Hepburn mit. Er hatte ihr noch nie etwas geschenkt.

Der nächste außergewöhnliche Vorfall in ihrem Leben hatte sich zwei Jahre später ereignet, als sie siebzehn war. Anwalt Royall, der es verabscheute, nach Nettleton zu fahren, war im Zusammenhang mit einem Fall dorthin gerufen worden. Er übte seinen Beruf noch immer aus, obwohl es in North Dormer und den umliegenden Weilern nur selten zu Rechtshändeln kam; und ausnahmsweise bot sich ihm eine Gelegenheit, die auszulassen er sich nicht leisten konnte. Er verbrachte drei Tage in Nettleton, gewann den Prozeß und kam bester Laune zurück. Das war eine seltene Stimmung bei ihm, und sie drückte sich in diesem Fall dadurch aus, daß er beim Abendessen eindrucksvoll von dem »stürmischen Empfang« erzählte, den ihm seine alten Freunde bereitet hatten. Er schloß vertraulich: »Es war verdammt dumm von mir, daß ich von Nettleton weggegangen bin. Aber Mrs. Royall hat es so haben wollen.«

Charity begriff sofort, daß ihm etwas Schmerzliches in seinem Leben widerfahren war und daß er versuchte, die Erinnerung daran durch Reden auszulöschen. Sie ging früh zu Bett und überließ ihn am Tisch seinen düsteren Gedanken, wo er saß, die Ellbogen auf das abgenutzte Wachstuch gestützt. Auf dem Weg nach oben hatte sie aus seiner Manteltasche den Schlüssel zu dem Schrank herausgeholt, in dem die Whiskeyflasche stand.

Sie wurde von einem Rütteln an der Tür geweckt und sprang aus dem Bett. Sie hörte Mr. Royall leise und gebieterisch reden und schloß die Tür auf, weil sie fürchtete, es sei etwas passiert. Das war ihr erster Gedanke; doch als sie ihn in der Tür stehen sah, während ein Strahl des Herbstmondes auf seine aufgelösten Züge fiel, begriff sie.

Einen Augenblick lang sahen sie sich schweigend an; als er dann seinen Fuß über die Schwelle setzte, streckte sie den Arm aus und hielt ihn auf.

»Du gehst sofort weg«, sagte sie in einem schrillen Ton, über den sie selbst erschrak. »Heute nacht bekommst du den Schlüssel nicht.«

»Laß mich rein, Charity. Ich will nicht den Schlüssel. Ich bin einsam«, fing er an, mit der tiefen Stimme, die sie manchmal rührte.