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Manchmal bemerkt man erst beim Donnern, dass sich der Himmel längst verdunkelt hat. In der Familie von Olga gibt es nur Frauen – abgesehen vom Großvater, der wie ein schlecht gelaunter König über allen thront. Seinetwegen muss Olga auch Medizin studieren – sein Auftrag an sie als letztgeborenes Mädchen. Den öden Uni-Alltag bewältigt sie nur dank ihres indischen Kommilitonen Radj und ihrer besten Freundin Mascha, die Abwechslung in Olgas Leben bringen. Die Dinge ändern sich, als David, ein alter Freund des Großvaters, auftaucht, im Gepäck ein lang gehütetes Geheimnis. Olga ahnt bald, dass es ihr Leben komplett auf den Kopf stellen wird, sobald es ans Licht kommt. Bietet sich Olga eine Chance, aus ihrem starren Gefüge auszubrechen? Es ist der Sommer 2014, die Hitze liegt über der Stadt, und das unbeschwerte Odessa steht vor einem Wendepunkt.
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Seitenzahl: 304
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Irina Kilimnik wurde 1978 in Odessa (Ukraine) geboren und kam mit fünfzehn Jahren nach Deutschland, wo sie später Humanmedizin und Mediapublishing studierte. Sie ist die Autorin zahlreicher Essays, Buchrezensionen und Kurzgeschichten, war Teilnehmerin am 18. Klagenfurter Literaturkurs und wurde beim MDR-Literaturwettbewerb mit zwei Preisen ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
Mit ihrer Mutter, ihren beiden Tanten und drei Cousinen lebt Olga in einem reinen Frauenhaushalt – wäre da nicht der Großvater, der sie alle fest im Griff hat. Ihm verdankt Olga auch das ungeliebte Medizinstudium – sein Auftrag an sie als letztgeborenes Mädchen. Den öden Unialltag bewältigt sie nur dank ihrem indischen Kommilitonen Radj und ihrer besten Freundin Mascha, die Abwechslung in Olgas Leben bringen. Die Dinge ändern sich, als David, ein alter Freund des Großvaters, mit einem Geheimnis im Gepäck auftaucht. Olga versucht, es zu lüften, und ahnt bald, dass es ihr Leben komplett auf den Kopf stellen wird, sobald es ans Licht kommt.
Unterhaltsam und bewegend erzählt Irina Kilimnik in ihrem Debüt von einer unvergesslichen Familie und einer Stadt an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Ein bemerkenswerter Roman über Liebe, Verrat und eine Gesellschaft, in der in diesem Sommer erste große Risse sichtbar werden.
Ich bin mir immer noch nicht sicher, wer von uns weniger Lust aufs Medizinstudium hat, Rajdesh oder ich. Aber ich bin überzeugt, dass wir, falls wir tatsächlich mal Ärzte werden sollten, beide gleich miserabel sein werden. Rajdesh, ein schmächtiger Inder mit großen dunklen Augen, hat panische Angst vor Krankheiten und bildet sich dauernd ein, er hätte sich was eingefangen. Und ich fühle mich hier sowieso fehl am Platz. Vielleicht hängen wir auch deswegen ständig zusammen herum, wie zwei Loser, die sich in einer fremden Welt gegenseitig den Rücken stärken. Nun sitzen wir nebeneinander im Hörsaal, und während unser Professor die Symptome einer weiteren Krankheit aufzählt, zeichnet Rajdesh kleine Äffchen. Das kann Radj, wie ich ihn nenne, richtig gut. Ich kann nicht mal das und fühle mich von der Langeweile fast erschlagen.
Um ehrlich zu sein, hat der Tag schon übel angefangen. Geweckt wurde ich vom Raucherhusten meines Großvaters, dessen Zimmer an meines grenzt. Das pfeifend-bellende Geräusch rettete mich zwar aus meinem Albtraum, in dem ich mich in einem Aufzug befand, der, anstatt im gewünschten Stockwerk zu halten, immer weiterfuhr, dennoch war es nicht die schönste Art aufzuwachen. Ich riss die Vorhänge auf, öffnete das Fenster und ließ die viel zu milde Luft ins Zimmer. Odessa schlief noch. Nur ihre Lichter flackerten in der Ferne und erzeugten die Illusion einer Normalität, die einen heißen Sommer versprach, gefüllt mit gebratenem Fisch und Auberginen, vielen Strandausflügen und dem Gefühl, vom Studium aufatmen zu können. Kam allerdings ein leichter Wind auf und löschte kurzzeitig dieses Flackern, entstand für eine Sekunde eine allumfassende Dunkelheit, die mir die Luft raubte.
Als ich wenig später unsere Küche betrat, schlug meine Tante Ludmila bereits eine Unmenge an Eiweiß mit einem Schneebesen zu einem steifen Gebilde und tupfte sich dabei dauernd den Schweiß von der Stirn. Rechts von ihr saß mein Großvater und gab den Takt an. Er trug eines dieser alten Hemden, die schon lange nicht mehr hergestellt werden, mit zwei Brusttaschen und einer Seitentasche, und aus allen drei quollen Notizzettelchen heraus. Diese ersetzten ihm seit jeher ein Rezeptbuch und enthielten ein nur für ihn nachvollziehbares System aus Mengenangaben und Zutaten, zusammenhangslos und nie vollständig.
»Schneller«, motzte Opa Ludmila an, »sonst fällt das Eiweiß wieder in sich zusammen.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, und ich las dem Gesicht meiner Tante den sehnlichen Wunsch ab, das Eiweiß aus dem Fenster zu schleudern.
Um diese Küchenidylle nicht zu stören, verzichtete ich auf meinen Kaffee und verschwand, bevor mich Opa einspannen konnte. Ich vernahm noch Ludmilas Rufe, ich solle heute nicht zu spät kommen, zog aber in dem Moment die Eingangstür zu und hoffte, damit aus dem Schneider zu sein – sicherlich das Beste, was ich in diesem Fall tun konnte. Die Putzaktion der letzten Tage steckte mir immer noch tief in den Knochen, und ich war nicht bereit, mich erneut Opas Launen auszusetzen.
Die überraschende Ansage meines Großvaters – der Grund für die unzähligen Überstunden in der Küche –, dieses Jahr seinen Geburtstag groß feiern zu wollen, geht heute in die entscheidende Runde und soll morgen im grandiosen Finale enden. Aus welchen Gründen auch immer er sich dazu entschlossen hat, eines ist definitiv: Es können keine konventionellen gewesen sein, denn normalerweise ignoriert er diesen Tag. Selbst die Glückwunschkarten lässt er sonst mindestens zwei, drei Monate liegen, bevor er sie überhaupt öffnet und den einen oder anderen bissigen Kommentar dazu abgibt. Welcher Teufel ihn diesmal geritten hat, weiß keiner, und wir warten nervös auf die große Enthüllung.
Ich muss schon wieder gähnen. Radj stößt mir leicht in die Rippen. Mittlerweile ist das Blatt mit lauter kleinen Äffchen übersät. Der Affenanführer ist an seinem halb ausgefahrenen Penis leicht zu erkennen, während bei den meisten Weibchen Säuglinge an den Brüsten nuckeln. Ich klopfe ihm anerkennend auf die Schulter, und er blättert um.
»Ich male jetzt was anderes«, flüstert er mir zu und gleitet in seine eigene Welt, weit weg von den sterilen OP-Räumen, den blutigen Eingeweiden und dem leicht säuerlichen Geruch von Desinfektionsmitteln, der uns überallhin verfolgt.
Radjs Familie lebt in der Hafenstadt Kochi im Süden Indiens. Die Stadt sei fast europäisch, meint er, wenn da nicht die Inder wären. Als jüngstes Kind und als langersehnter Junge wurde er von seinen drei älteren Schwestern und den Eltern total verzogen. Im Grunde ist er immer noch ein Milchgesicht, da hilft auch kein Dreitagebart. Radjs Familie träumt davon, dass er eines Tages ein hochangesehener Arzt wird. Radj selbst träumt davon, eine blonde Russin zu heiraten und mit ihr Söhne zu zeugen. Damit liegt er mir ständig in den Ohren. Finde mir eine Ehefrau, Olga, ich will heiraten, sagt er halb ernst und schaut mich dabei vielsagend an. Heirate doch eine Inderin, schlage ich ihm vor und meide seinen Blick, da weißt du wenigstens, was dich erwartet. Eben, sagt er, meine Eltern finden eine Frau, die eher ihren Vorstellungen als meinen Bedürfnissen entspricht, und mit der muss ich mich mein Leben lang herumquälen. Such dir erst mal eine Freundin, rate ich ihm, das genügt für deine Bedürfnisse. Er guckt mich dann mit glasigen Augen an und lacht blöde, denn Radj ist dauernd bekifft. Nicht völlig zugedröhnt, nur leicht, gerade mal so viel, dass er alles um sich herum wie durch einen luftigen Schleier wahrnimmt. Sonst ertrage er das Leben nicht, sagt er und nimmt noch einen Zug.
Meine Tante Ludmila meint, Radj sei so spindeldürr, weil er Vegetarier ist, und jedes Mal wenn er bei uns zum Essen bleibt, versucht sie, ihn zu bekehren. Seit sie Anschluss an eine etwas suspekte Glaubensgemeinde gefunden hat, sieht Ludmila überall Verschwörungen, besonders im Vegetarismus: Die – wer auch immer die sind – wollen wegen der drohenden Überbevölkerung die menschliche Rasse reduzieren, und Vegetarismus sei ihre Waffe. Wenn bei uns gekocht wird, befindet sich folglich immer etwas Fleischiges in den Töpfen und Pfannen. Radj lächelt freundlich und isst seine Beilagen. Das Fleisch schiebt er mit der Gabel an den Tellerrand und achtet darauf, dass es das Gemüse nicht berührt. »Schmeckt sehr gut«, sagt er, worauf Ludmila nur die Nase rümpft.
Als Konsequenz kommt Radj immer seltener zu uns. Meine andere Tante Polina findet, es sei auch besser so, denn die Nachbarn würden sich bereits ihre Mäuler zerreißen, wir hätten Zimmer an Ausländer untervermietet. Mein Rajdesh scheine tatsächlich oft bei uns zu sein, sagt sie und guckt mich dabei mit diesem Blick an, bei dem die Augenbrauen nach oben rutschen und ihr Gesicht einen dämlichen Ausdruck bekommt. Ich versichere ihr zum zigsten Mal, er sei nicht mein Rajdesh und dass ich nicht vorhabe, ihn zu heiraten.
Meine Mutter pflichtet ebenfalls ihrer Schwester bei, ich solle nicht auf falsche Gedanken kommen: Erst das Studium zu Ende bringen, sagt sie, dann würdenwir schon weiterschauen, wobei mich das »wir« erheblich mehr stört als das Studium, das bei ihr wie gewöhnlich an erster Stelle kommt. Ich entgegne ihr, dass es da nichts zu schauen gebe und dass sie sich alle wieder entspannen können.
Wenn es um meinen besten Freund geht, sind sich meine Mutter und ihre beiden Schwestern wenigstens mal einig.
Nach der Vorlesung fahre ich mit Radj ins Zentrum.
»Dieser Geburtstag ufert langsam aus. Die Vorbereitungen machen mich fertig«, beklage ich mich bei ihm, und er schaut mich prüfend an.
»Und trotzdem hast du noch Zeit für mich?«, fragt er.
»Lernen geht vor. Das ist die einzige Ausrede, die meine Familie gelten lässt«, sage ich und hoffe, er interpretiert nicht wieder etwas in die Antwort hinein.
»Ja, lernen …«, sagt er und zwinkert mir zu.
Die Sonne glüht beinahe ununterbrochen auf die Stadt herunter und heizt alles auf hochsommerliche Temperaturen auf. Auf der Deribasovskaja-Straße herrscht trotz der jüngsten Ereignisse eine ausgelassene Stimmung. Touristen mit Selfiestangen, Kaffeeterrassen, die mittlerweile fast den gesamten Bürgersteig in Anspruch nehmen und die Odessiter in Rage versetzen, eine Schlange vor der französischen Konditorei, die vor einem Jahr aufgemacht hat und bereits in jedem Reiseführer steht. Pferde, die weiße Kutschen hinter sich herziehen und mit ihren Hufen rhythmisch auf die Pflastersteine schlagen, Kinder, die an ihrem Eis lecken, sowie deren Großmütter mit einem Taschentuch in der Hand, immer bereit einzugreifen. Und die Sonne, die in jeden Winkel, jede Ecke dringt und gnadenlos die Frühlingsreste vertreibt. Ein idyllisches Bild, ein Bild, das jenes einer plötzlich besetzten Halbinsel, einer gespaltenen Gesellschaft überlagert, die gesamte Situation glättet, eine Normalität vortäuscht, die es vielleicht nicht mehr gibt.
Zielsicher marschiert Radj zu einem Kiosk und kauft seinen Lieblingssnack: Piroggen mit Kartoffeln, zwei für mich, vier für ihn. Wir biegen auf die Puschkin-Straße, dann nach links auf die Bunin-Straße, packen die ersten Piroggen aus und vertilgen sie im Schatten der Bäume des Schewtschenko-Parks. Es riecht nach Flieder und gelber Akazie.
»Zum Strand?«, fragt Radj nach einer Weile und steht auf.
Wir gehen fast immer zum Lanzheron, dem ältesten Strand im Zentrum von Odessa. Lanzheron war einst der Jugendstrand meiner Mutter und ihrer Schwestern, jetzt setzen sie keinen Fuß mehr darauf. Zu voll, sagen sie, zu laut, zu viel Getöse – man habe dort keine Ruhe. Als wären Odessas Strände jemals für ihre Ruhe oder viel Platz berühmt gewesen. Zurzeit fahren sie wieder zur 16. Fontan-Station, dem Strand ihrer Kindheit. Nach jedem dieser Ausflüge schwärmen sie noch tagelang von den Datschen, der Luft und den herrlichsten Blumen und schmieden Pläne, unsere alte Datscha zu verkaufen, um dort etwas Kleineres zu erwerben. »Nur über meine Leiche!«, schreit mein Großvater dann, und sie flüstern leise weiter. »Könnt ihr euch noch an die Tram 29 erinnern? Und an das Männerkloster nahe Lustdorf?« Sie nicken sich zu, ihre Augen glänzen, aber ich bin mir dennoch sicher, dass sie auch diesmal auf Opa Rücksicht nehmen werden.
Das Meer strahlt türkisblau. Ich lasse mich auf den heißen Sand fallen, während Radj seine letzte Pirogge verputzt. Er beißt gierig ab, ein Teil der fettigen Kartoffelfüllung landet neben mir und bleibt liegen, bis ich den Anblick nicht länger ertrage und den Klumpen vergrabe.
»Schmeckts?«, frage ich vorwurfsvoll.
Er nickt zufrieden und meckert nicht, dass die Würze fehlt, was er normalerweise tut, wenn wir uns in der Stadt etwas zu essen besorgen. Die Gerichte in Indien seien viel spannender, und stellvertretend für ganz Odessa oder gar Europa wirft er mir dann vor, wir könnten nicht mit Gewürzen umgehen, wüssten außer Salz und Pfeffer nichts anderes, womit man die Speisen geschmacklich verändern könnte. Und Dill und Petersilie seien die einzigen Kräuter, die wir uns trauen, aufs Essen zu streuen. Manchmal, wenn er gut drauf ist, bereitet er etwas für uns zu, und seine ganze Wohnung riecht nach Kardamom, Nelken und sonstigen Sachen, die er in seinen kleinen Döschen aufbewahrt und nur sparsam verwendet. Das Zeug ist meistens viel zu scharf für mich, und ich trinke anschließend literweise Kamillentee, um meinen Magen zu beruhigen. Irgendwann würde ich mich schon daran gewöhnen, meint Radj und sieht nicht ein, die Gerichte für mich etwas abzumildern.
Jedes Mal kommen wir mit dem festen Vorhaben zu lernen an den Strand: Wenn der Stoff schon so deprimierend ist, kann ja wenigstens die Umgebung schön sein. Dann relativieren sich womöglich die Gefahren, die von diesen mit Krankheiten gespickten Büchern ausgehen, oder man nimmt sie zumindest nicht mehr als bedrohlich wahr. Wir lesen »Herzinfarkt« oder »Nierenversagen«, und anstatt dass Radj seinen Körper sofort nach möglichen Krankheitssymptomen abhorcht und ich mein gesamtes Leben infrage stelle, gucken wir lieber den Wellen zu, wie sie gegen das Ufer brechen und schaumig auslaufen. Wir strecken unsere Gesichter der Sonne entgegen und denken nicht an Krankenhäuser, nicht an ansteckende Krankheiten und schon gar nicht an die bevorstehende Prüfung. Wir lesen ein paar Zeilen und driften langsam ab, starren auf den Horizont und vergessen dabei die Zeit. Manchmal ziehe ich an Radjs Joint und warte darauf, dass ich abhebe. Aber es passiert nie etwas. Bei manchen Menschen wirke das Zeug nicht, sagt er, ich solle was Härteres versuchen. »Nein danke«, sage ich, »kein Bedarf.« Obwohl ich schon mal Bedarf hätte, ein bisschen aufzuatmen und einfach in ein Nichts zu versinken. Kein Studium, keine Albträume, kein stupides Auswendiglernen.
Ich nehme einen Zug.
»Du musst richtig inhalieren«, sagt Radj, »sonst ist es reine Verschwendung.«
»Woher hast du das Zeug?«, frage ich. Doch er lacht nur, greift nach meiner Hand und zieht mich zu sich. Sein Körper ist ganz steif, ich spüre sein Herz rasen und befreie mich schnell aus seinem Griff.
»Komm mit mir nach Indien«, sagt er. Seine Augen sind ganz klar.
Ich stecke ihm den Joint zwischen die Lippen. Ich mag nicht, wenn er solche Sachen sagt und dabei nicht bekifft ist. Er nimmt wieder einen Zug, starrt mich mit seinen pechschwarzen verrückt-verliebten Augen an und jagt mir Angst ein. Bitte nicht schon wieder, flehe ich ihn schweigend an, und er guckt weg.
Mit unserer Freundschaft ist es wie mit Odessas Stränden. Oft werden sie durch die harten Winterstürme weggespült und müssen dann im Frühling, sofern sie nicht von allein wieder zurückkommen, künstlich mit Sand aufgeschüttet werden. Radjs Gefühle brechen ähnlich einem Orkan über unsere Freundschaft herein, und es erfordert viel Kraft, bis wieder eine solide Basis hergestellt werden kann. Besser, man lässt diese Stürme gar nicht aufkommen.
»Ich gehe mal kurz zum Wasser«, sage ich nach einer Weile, die wir schweigend nebeneinander verbringen, und kremple meine Hose hoch.
»Ist gut.« Er zieht Kopfhörer aus seiner Tasche und legt sich auf den Sand, ohne mich anzuschauen. Ich vermute, es ist Eminem, der seinem Gesicht endlich einen etwas besonneneren Ausdruck verleiht.
Meine Freundin Mascha hält nicht viel von Radj, wie eigentlich alle in meinem Umfeld.
»Du begreifst einfach nicht, dass er in dich verliebt ist«, meinte sie gestern am Telefon. »Das wird noch böse enden mit euch.«
»Ach, das ist doch höchstens eine Phase«, entgegnete ich. Ich wollte das nicht hören.
»Was findest du bloß an ihm?«, gab Mascha keine Ruhe. »In mir weckt er eher mütterliche Instinkte als sexuelle Gelüste.«
»Wer redet denn von sexuellen Gelüsten!« Meine Stimme klang unnatürlich hoch. »Wir sind einfach befreundet.«
»Wenn das so ist«, sagte sie trocken, »dann wird er dich schon bald dafür hassen, dass du seine Liebe nicht erwiderst.«
»Klopf auf Holz«, verlangte ich. »Das fehlte mir noch, dass auch er mich hasst. Dann wärst du ja die Einzige, mit der ich mich noch abgeben kann.«
Wobei das nicht einmal das schlimmste Szenario für mich wäre. So gut wie Mascha kennt mich niemand. Sie weiß, dass ich fast ertrunken wäre, während meine Mutter wie versteinert dastand und keinen Schritt machen konnte. Sie weiß, dass ich einmal von unserer Datscha weggelaufen bin, weil man mich beschuldigte, alle Kirschen gegessen zu haben. Sie weiß, wem mein Herz eigentlich gehört.
Ich berühre Radjs Schulter, und er reißt erschrocken die Augen auf. Die Musik strömt mittlerweile direkt aus dem Smartphone, das neben ihm im Sand liegt, und er starrt mich eine Weile verwirrt an, bis sein Verstand wieder einsetzt.
»Schon zurück?«, fragt er.
Ich bitte ihn, mehr Begeisterung an den Tag zu legen, und schalte das Gedudel aus.
»Hey!«, ärgert er sich. »Ich habe geschlafen.«
Radj reibt sich die Augen und streckt seine schlaksigen Glieder in alle Richtungen. Wir lesen Dinge, die uns nicht im Geringsten interessieren. Wir wiederholen alles wie gut trainierte Papageien und sind umso frustrierter, wenn nur wenig davon in unseren Köpfen bleibt. Als wären unsere Gehirne immun gegen das medizinische Wissen.
»Ich muss mich von dir fernhalten«, sage ich schließlich. »Deine grauen Zellen sind eh schon vom Hasch zerfressen, und jetzt haben die giftigen Dämpfe auch meine angegriffen.«
Er lacht. »Dann geh doch zu deinem Sergej. Er ist sicherlich ein besserer Umgang für dich.«
Ich schmeiße eine Handvoll Sand auf sein aufgeschlagenes Buch und lege mich auf den Rücken.
»Seht ihr euch denn noch, du und Sergej?«, fragt Radj und legt sich neben mich.
»Nein«, lüge ich und wundere mich, wie gut ich es mittlerweile kann. »Zuletzt habe ich ihn in unserem Hof getroffen, zufällig. Aber das ist Wochen her.«
Radj nickt nachdenklich, und bevor er mir weitere Fragen stellt, die sicherlich zu nichts Gutem führen, wechsle ich schnell das Thema.
»Erinnerst du dich an dieses Café nicht weit von der Uni, das dir so gut gefallen hat?«
Er runzelt die Stirn.
»Na, das mit den komischen Tapeten mit Papageien.«
»Ah ja.«
»Die suchen gerade nach Leuten für den Service. Das wäre doch was für dich.«
»Woher weißt du das?«
»Von Mascha.«
Radj zieht eine Grimasse.
»Hör mal, willst du einen Job oder nicht? Ich sag am besten gar nichts mehr, kümmer dich selber darum, wenn es dir nicht passt.«
»Glaubst du, die würden mich nehmen?«, fragt Radj dann doch nach. »Ich habe keine Erfahrung als Kellner.«
Doch meine gute Stimmung ist mittlerweile verflogen. »Wenn du nicht zu bekifft bist, vielleicht schon, aber das schaffst du ja eh nie.«
Er lacht kurz auf, verstummt dann, und ich fühle mich einen Augenblick lang schuldig.
»Wenn der Tipp von Mascha kommt, kann es wohl nichts allzu Ernstes sein«, kann er dann doch nicht aufhören, und mein Schuldgefühl zieht sich schlagartig zurück. Radj hält von Mascha in etwa genauso wenig wie sie von ihm, und beide lassen mich das regelmäßig spüren. Dabei hat er eigentlich nur Angst vor ihr, auch wenn er das nie zugeben würde. Er meint, sie sei zu freizügig, er nennt sie abfällig »ein Meter dreiundsiebzig geballte Sexladung« und bekommt wackelige Knie und feuchte Hände, wenn er sie sieht.
»Du und deine Freundin habt keine Ahnung, wie die Welt funktioniert«, schnaubt er auch jetzt wieder. »Sie denkt tatsächlich, die im Westen warten auf sie. Dabei wollen sie die Frauen in erster Linie ausnehmen. Wie die Hühner, aus denen dein Großvater seine Brühe zubereitet.«
»Und in zweiter Linie? Was wollen die da mit uns machen?«
»In zweiter?«, sagt er und überlegt kurz. »Wahrscheinlich standardisieren. Sodass auch ihr endgültig die westlichen Maßstäbe übernehmt und euer Leben nach diesen Pseudoidealen ausrichtet.«
Er hat recht, dass Mascha Gefahr läuft, den Westen zu verklären, auch wenn ich das lieber für mich behalte. Stattdessen sage ich ihm, der Westen sei mir egal, und wie dessen Welt funktioniert eigentlich auch. Hauptsache, er würde endlich aufhören, mich zu belehren.
Radj murmelt etwas auf Indisch, ich vermute Beschimpfungen. Dann sagt er mit fester Stimme: »Ihr werdet noch bittere Tränen vergießen, wenn eure schöne Welt endgültig zugrunde geht. Schau, was gerade mit der Krim passiert.«
»Du meckerst wie mein Großvater«, unterbreche ich ihn, und er wird wütend, verspricht, nie mehr mit mir über solche Dinge zu reden, um mein Spatzenhirn nicht zu überfordern. Eine Weile herrscht Ruhe zwischen uns, bis er es nicht aushält und mir vorwirft, von Mascha manipuliert zu werden.
»Du tanzt nach ihrer Pfeife und merkst das nicht mal.«
Und wir streiten uns erneut.
Eigentlich wollte Radj gar nicht nach Odessa. In dieselbe Stadt zu gehen, in der vor Jahren bereits sein Vater studiert hatte, fand er irgendwie pervers. Er wäre lieber nach Italien gegangen. Doch man stellte ihn vor die Wahl: entweder Odessa oder zu Hause bleiben. Und er ging dahin, wo er nicht hinwollte, um das zu studieren, was er nicht mochte. Immerhin ist er nun weit weg von seiner Familie. Anstatt in kleinen, schnuckeligen italienischen Cafés zu sitzen und sich mit Kuchen vollzustopfen, lebt er in Odessa, in einer schmuddeligen Wohnung, kifft zu viel und hat panische Angst, sich irgendwann bei einem Patienten mit einer schlimmen Krankheit anzustecken.
»Du magst doch gar keinen Kaffee. Warum wolltest du ausgerechnet nach Italien?«, habe ich ihn mal gefragt.
»Aus Protest«, sagte er.
»Protest?«
»Ja. Aus Protest gegen die widerliche englische kolonialistische Kultur.«
»Wieso ist sie denn widerlich?«
»Wie kannst du nur so was fragen?« Er wurde wütend. »Sie haben unsere Traditionen zerstört und ihre eigenen mitgebracht. Sie haben unsere Gewohnheiten infrage gestellt und uns ihre diktiert. Und dann noch ihr schlechter Geschmack! Ich meine, sie haben tatsächlich geglaubt, ihre steife protestantische Kultur wäre unserer überlegen, nur weil sie angeblich ach so rational sind und sich von ihren Gefühlen nicht leiten lassen.«
Er schimpfte noch eine Weile auf die Queen und auf das gesamte Königshaus und wünschte ihnen die Pest. Anschließend schlürfte er wie gewohnt seinen Tee, zog an dem Joint und fantasierte im Rausch, was wohl aus seinem Land geworden wäre, wären damals statt Engländern die Italiener nach Indien gekommen.
Ich weiß nicht, wie lange wir nun schon schweigend nebeneinanderliegen, beide sauer auf den anderen. Der Sand wird langsam kälter, der Wind dreht sich, kommt jetzt vom Meer, ist frisch, scharf, augenschneidend. Ich spüre einen Druck im Kopf, befürchte, meine Migräne kündigt sich wieder an, und schaue nach, ob die Kopfschmerztabletten wie immer in dem kleinen Kosmetiktäschchen liegen. Die ersten dicken Regentropfen fallen auf den Sand, zuerst verhalten, dann stürzen sie plötzlich mit ganzer Kraft auf uns herunter. Radj und ich sind völlig durchnässt, ehe wir die ersten Bäume erreichen. Er schimpft auf Indisch, ich vermute wegen seines Buches, das einiges abgekriegt hat, und dreht sich sofort wieder einen Joint – seine Antwort auf beinahe alles. Ein, zwei Züge, und sein Ärger löst sich in der Rauchwolke auf. Es dauert nicht mal fünf Minuten, und er lächelt wieder, findet das alles witzig, während ich am ganzen Körper zittere und wünschte, er würde wenigstens auf die Idee kommen, mir seine Jacke zu geben oder sogar zum Parkeingang zu laufen, um uns ein Taxi zu rufen.
»Auch einen Zug?«, fragt er und kommt ganz nah an mich ran. Ich spüre seinen Atem, der meine Wange berührt, und dann legt er mir seine Hand auf die Taille und küsst plötzlich meinen Hals. Wut überkommt mich, vielleicht auch Enttäuschung, und ich stoße ihn sofort weg.
»Was soll das, Radj? Bist du jetzt völlig benebelt?«
Er schaut mich erstaunt an und murmelt etwas von einer romantischen Stimmung.
»Romantisch? Wach endlich auf!«, schreie ich. »Du gehst mir auf die Nerven!«
Radj guckt perplex. »Was habe ich denn so Schlimmes getan? War doch nur ein Kuss.«
Mir bleibt die Luft weg. Ist er tatsächlich so naiv? Ich remple ihn leicht mit der Schulter an und laufe zur Haltestelle. Seine ständige Präsenz, seine Erwartungen an mich und seine Liebe, oder wie auch immer man dieses Anhimmeln nennen soll, ertrage ich gerade nicht mehr.
»Olga«, höre ich ihn lange hinterherrufen, »warte doch!«, bis seine Stimme endgültig im Rauschen des Regens untergeht.
Dass ich Ärztin werden soll, hat meine Verwandtschaft beschlossen, als ich sieben Jahre alt war. Im Nachhinein wurde zwar behauptet, es sei mein eigener Wunsch gewesen, aber das ist gelogen. Denn mit sieben hatte ich noch keinen blassen Schimmer, was ich werden wollte. Meine Berufswünsche gingen nie über die Vorstellung einer im Turm eingeschlossenen Prinzessin, die auf ihren Prinzen wartet, hinaus. Und damit war ich vollkommen zufrieden. Wessen Idee die Medizin genau war, kann ich heute nicht mehr sagen. Damals kam es mir so vor, als sei die Entscheidung kollektiv gefallen, wie beim Obersten Gericht, das den Angeklagten nach eigenem Ermessen und im Namen des Volkes verurteilt.
Es muss an einem Sonntag Ende Mai gewesen sein. Draußen hörte ich aufgeregte Kinderstimmen über etwas streiten, und auf dem Balkon neben unserem hängte meine Lieblingsnachbarin, die dicke Tamara, frisch gewaschene Bettwäsche auf. Zuerst schüttelte sie kräftig die einzelnen Teile in Form, bevor diese an der Leine flattern durften. Tamara sagte, es gäbe keinen besseren Duft in der Welt als den von der Sonne getrockneter Bettwäsche und führte einen erbitterten Kampf mit ihrem Ehemann Boris, der es tatsächlich wagte, neben ihrer Wäsche zu rauchen. Es kann aber auch sein, dass ich mich irre, und es war gar nicht Ende Mai. Und vielleicht befand sich die dicke Tamara nicht auf dem Balkon, sondern auf dem Weg zum Zentralmarkt, dem Privoz, um ihrem Boris ein gutes Landhühnchen zu kaufen. Und möglicherweise bilde ich mir nur ein, alles wäre allein die Schuld meiner Cousine Lena gewesen. Denn eigentlich löste sie bloß alles aus. Die Schuld lag bei jemand anderem, auch wenn ich es lange Zeit nicht akzeptieren wollte.
Von meinen drei Cousinen kam ich mit Lena am wenigsten aus, obwohl uns gerade mal ein Jahr trennte. Hielten wir uns länger als eine halbe Stunde in ein und demselben Raum auf, endete das meist in einem Streit. Sosehr ich auch bemüht war, nicht auszurasten, brachte sie mich jedes Mal mit ihren altklugen Bemerkungen, die sie den Erwachsenengesprächen ablauschte, oder dem Versuch, mich herumzukommandieren, aus der Fassung. Besonders aber nervten mich die Dauervergleiche meiner Mutter mit ihr, bei denen ich nie gut wegkam. Immer wenn ich etwas anstellte, und das passierte häufig, predigte sie mir, ich solle mir ein Beispiel an Lena nehmen. Sie wüsste nämlich, wie man sich richtig benehme. Und während ich meine zerkratzten Knie oder ein Loch im Kleid zu verdecken versuchte, gähnte Lena wie eine dicke verwöhnte Hauskatze oder lächelte über Opas Witze, die er zum hundertsten Mal erzählte und die ich schon längst nicht mehr ertrug.
An dem Tag, an dem mein Schicksal als Ärztin besiegelt wurde, kam unsere ganze Familie, wie fast jeden Sonntag, zusammen. Wir saßen nach einem üppigen, von Opa zubereiteten Mittagessen im Wohnzimmer, verdauten Hering im Pelzmantel, Borschtsch, Wareniki und Apfelstrudel und unterhielten uns über die Sommerferien und die baldige Pflichtfahrt zu unserer Stranddatscha. Während meine Mutter und ihre Schwestern über ihre Pläne stritten, beschimpften auch meine Cousinen Natascha, Alina, Lena und ich uns gegenseitig im Flüsterton, bis Lena, Polinas Tochter, mich eine hässliche Kröte nannte und ich ihr daraufhin an den Hals sprang und sie würgte. Lena rang nach Luft und schlug um sich, während man mich von ihr wegzog und in eine Ecke beorderte. Woher sie nur so viel Wut hat, sagte Tante Polina und warf mir böse Blicke zu.
Als ich zwanzig Minuten später aus meiner Ecke rausdurfte, wurde ich mit allgemeiner Nichtbeachtung bestraft. Nur meine Mutter fragte, was aus mir bloß werden solle, wenn ich mich weiter so unmöglich benehme. In ihren Augen war ich auf dem besten Weg, eine Köchin, Näherin oder Fabrikarbeiterin zu werden – alles für ihr Verständnis niedere Berufe, die einem unweigerlich blühten, wenn man so ungezogen war wie ich. Ich sagte, ich könne es mir durchaus vorstellen, als Köchin zu arbeiten, woraufhin sie mich mit einer Handbewegung unterbrach und anschnauzte. Garantiert sagte sie etwas in der Art, ich solle mir Lena zum Vorbild nehmen, anstatt ihr den letzten Nerv zu rauben, und höchstwahrscheinlich erwähnte sie auch meinen Vater, dessen schlechte Charakterzüge ich trug. Meine Mutter reagierte schon immer allergisch, wenn ich über meine Zukunft scherzte, und sie mochte es nicht, wenn sich Ludmila, Polina oder Opa über mich beschwerten. Sie behandelte mich wie ihre Schülerinnen beim Turnen: Solange ich ihre Anforderungen erfüllte, hart an mir arbeitete und mich nach ihren Vorstellungen formen ließ, war sie überzeugt, eine gute Mutter zu sein.
Ich setzte mich auf die Couch und starrte Löcher in die Luft. Keiner sprach mit mir. Und hätte sich Lena einen Augenblick später nicht in die Hand geschnitten, hätte man mich wahrscheinlich für den restlichen Tag ignoriert. Aber sie musste ja unbedingt ohne Unterlage einen Apfel schneiden. Dabei rutschte ihr die Klinge weg, und plötzlich war da ein Riesenschnitt quer über die Handinnenfläche. Lena musste sehr geschockt gewesen sein, denn sie schrie nicht, sondern stand einfach da, blass, mit weit aufgerissenen Augen, und schaute zu, wie das Blut auf die Tischdecke tropfte. Bevor die Erwachsenen sich aus ihrer Starre lösten, war ich bereits bei ihr, drückte eine Serviette auf ihre Hand und zerrte sie ins Badezimmer. Ich ließ kaltes Wasser über ihre Wunde laufen, rannte in die Küche, holte aus dem Schrank Jodfläschchen und Verbandszeug und eilte zurück ins Bad. Lena hielt sich mit einer Hand an Ludmila fest und sah zu, wie eine rote Rinne das Becken hinunterlief. Polina und meine Mutter nahmen mir das Verbandszeug ab und sagten, ich solle zurück ins Wohnzimmer gehen. Ich war ganz aufgewühlt. Meine Hände zitterten, und mein Herz schlug mit so einer Kraft gegen die Rippen, dass ich dachte, sie brächen gleich. Nach einer Ewigkeit kamen die anderen endlich. Lena mit ganz roten Augen und immer noch blass, setzte sich aufs Sofa und schwieg. In dem Moment bekam ich eine ungeheure Lust auf einen Apfel. Ich stellte mir vor, wie lecker und saftig er schmecken würde und wie er knacken würde, wenn ich reinbiss. Schließlich schlich ich mich in die Küche und schnappte aus dem Korb das grünste Exemplar. Als ich abbiss, kam jemand herein. Ich fühlte mich auf frischer Tat ertappt und wusste nicht, ob ich das abgebissene Stück jetzt runterschlucken oder doch lieber schnell in meine Hand ausspucken sollte. »Du hast Nerven aus Stahl«, sagte meine Tante Ludmila, als ich mich umdrehte. »Ich könnte jetzt nichts essen, nach so viel Blut.« Dann lächelte sie mich plötzlich an und ging wieder hinaus.
Ich kaute zu Ende. Der Rest landete im Mülleimer. Mit ihrem Gerede hatte sie mir den Appetit verdorben.
Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, lag Lena auf dem Sofa, ihren Kopf auf Polinas Schoß gebettet. Ab und zu wischte sie sich die Tränen fort, die ihre Wangen hinunterkullerten. Alina und Natascha saßen auf dem Boden und trösteten sie. Ich setzte mich dazu, und Lena streckte ihre gesunde Hand nach meiner aus. Einen Moment lang herrschte vollkommene Stille, die mich ganz nervös machte. Und dann sagten mir auf einmal alle, wie schön und praktisch es doch wäre, einen Arzt in der Familie zu haben. Sie erzählten laut, aufgewühlt und einander unterbrechend von den Vorzügen dieses Berufes, und ihre Augen leuchteten dabei wie bei Kindern, die unter dem Weihnachtsbaum das Geschenkpapier aufreißen und darunter das langersehnte Spielzeug entdecken. So ein kollektives Glücklichsein hatte ich bis dahin selten erlebt, und es muss mich wohl sehr beeindruckt haben, wenn ich auch mit den genannten vermeintlichen Vorzügen des Arztseins nicht viel anfangen konnte. Außer der Tatsache, dass man immer einen schön gebügelten und gestärkten weißen Kittel trug, der einen unheimlich wichtig erscheinen ließ. Ich nickte und verstand nicht, was sie eigentlich wollten.
Am nächsten Tag lächelten sie mich immer noch an und nannten mich ihre Ärztin und ihr gutes Mädchen. Zugegeben, darauf bin ich reingefallen, denn bis dahin hatte man mich noch nie ein gutes Mädchen genannt. Eher einen sturköpfigen Esel oder ein ungehorsames kleines Ding. Ein gutes Mädchen klang gut, das wollte ich unbedingt sein. Und ich wollte einen weißen Kittel tragen. Also widersprach ich nicht und sagte allen, ich würde Ärztin werden, wenn ich groß wäre, und genoss das Rampenlicht, das mir den Weg direkt ins Krankenhaus leuchtete. In was für eine Scheiße ich da geraten war, kapierte ich erst viel später.
***
Die Tram bewegt sich im Schneckentempo entlang restaurierter Fassaden und alter, halb verfallener Häuser, an deren nachträglich angebrachten Balkonen Wäsche im Wind und Regen flattert. Menschen eilen die Straßen entlang, springen, wo es geht, über die Pfützen und drücken sich an die Häuser, wenn ein Auto zu nah vorüberfährt und Wellen von Schmutzwasser erzeugt. Da, wo die Pfützen bereits zu groß sind, müssen sie durch das schmutzige Abwasser gehen, nicht wissend, was alles unter ihren Füßen lauert.
Ich drücke Radjs mittlerweile dritten Anruf weg und starre aus dem Fenster. Jetzt denkt er weiß Gott was, sein Hirn hat ihm sicherlich mehrere Optionen geboten, warum ich so heftig reagiert habe, und ich wette, bei jeder sieht es so aus, als ob ich Gefühle für ihn hätte.
Die Tram wird immer langsamer, und ich hoffe inständig, dass sie nicht stehen bleibt. Die Wassermassen fallen mittlerweile sintflutartig vom Himmel herunter und überfordern die Kanalisation der Stadt, die vor Kurzem für viel Geld gereinigt wurde. Die Autos kämpfen sich vorwärts und weichen auf die Bürgersteige aus. Noch eine Viertelstunde, und man wird hier nur schwimmend vorankommen.
»Na hoffentlich geht es weiter mit dem Assoziierungsabkommen und der EU«, höre ich jemanden hinter mir sagen. »Wir können nicht mal mit ein bisschen Regen fertigwerden.«
Ich drehe mich halb um und sehe einen älteren Herrn, der ein ähnliches Hemd wie mein Großvater trägt. Er seufzt und schüttelt den Kopf.
»Natürlich geht es weiter, du Schwachkopf! Vergifte hier nicht die Atmosphäre mit deinem Pessimismus!«, keift sofort eine in die Breite gegangene Frau mit riesiger Oberweite. »Wegen solchen Idioten wie dir geht es nicht schnell genug voran.«
»Was habe ich damit zu tun?« Der Herr, der wahrscheinlich schon bedauert, überhaupt etwas gesagt zu haben, versucht, sich zu verteidigen. »Ich habe ja nichts dagegen.«
»Schön wärs! Was kann man überhaupt dagegen haben? Endlich wie Menschen zu leben und nicht wie Vieh! Der neue Präsident wird es schon richten, so ein kluger Kopf, habt ihr gehört, wie gut er Englisch spricht?«, sagt sie stolz.
»Dein ›kluger Kopf‹ soll erst mal seine Schokoladenfabrik aufgeben!«, schreit jemand von hinten. »Der ist so klug, dass er sich noch mehr bereichern wird, während wir auf Wunder warten! Und Englisch kann er, weil er ein amerikanischer Agent ist!«
Die Stimme bekommt Unterstützung, und innerhalb kürzester Zeit hört man gegenseitige Beschimpfungen, Verwünschungen und Drohungen.
»Alles Putins Schuld!«, schreit die Dame. »Jetzt will er sich auch noch unsere schöne Odessa schnappen. Aber nichts da!« Sie steht sogar von ihrem Sitz auf und streckt entschieden den Mittelfinger in die Höhe. Auf einmal fühlen sich so gut wie alle angegriffen, und es geht weiter hin und her, bis der Tramfahrer, ein kahler Typ mit blauen Augen, schmalem Gesicht und einem riesigen Kreuz an der behaarten Brust, sich kurz aus seiner Kabine rausbeugt und halbherzig zur Ordnung mahnt. Dann sagt er mit einem für diese Stadt typischen Akzent, er sei in erster Linie ein Odessiter – alles andere sei in seinen Augen zweitrangig. Komischerweise bewirken seine Worte Wunder. Ich höre Phrasen wie »Recht hat er« und »Was soll das Ganze überhaupt«.
»Um Gottes willen, dass uns so was noch mal widerfährt«, flüstert der Greis hinter mir, und ich weiß, was er meint. Viele andere in dieser Tram auch – das sehe ich an den betroffenen Blicken, doch niemand erwähnt das Geschehene. Als würde man sonst die Geister wieder heraufbeschwören.
»Normalität hält uns am Leben«, meint Mascha immer, wahrscheinlich die normalste Person in meiner Umgebung, und passt sich an die neuen Lebensumstände an, als wäre es das Natürlichste der Welt. Neuerdings hat sie in sich so etwas wie ukrainischen Nationalstolz entdeckt und findet zudem alles klasse, was vom Westen kommt. »Schau dir nur deren Lebensstandard an«, sagt sie, »wir werden Jahrhunderte brauchen, um sie einzuholen«, seufzt sie und lernt seitdem abwechselnd Englisch, Deutsch und Schwedisch, um sich mehrere Optionen offenzuhalten.
Vor einem Jahr ist sie einem amerikanischen Ehevermittlungsbüro auf den Leim gegangen und hat sich für eine Stange Geld in die Kartei aufnehmen lassen. Es folgten Tage und Wochen des Wartens und Hoffens auf die ultimative Chance ihres Lebens, begleitet von Yoga- und Pole-Dance-Kursen und dem Schmieden grandioser Pläne. Umso ernüchternder war es dann, als sie nur zwei Anfragen von mittelmäßig situierten Männern bekam, die eher auf der Suche nach einer billigen Putzkraft als nach einer Ehefrau waren. Mascha verlangte ihr Geld zurück, wurde aber mit der Begründung, Asiatinnen seien momentan gefragter als Russinnen, rigoros abgewimmelt. Ihr Selbstwertgefühl bekam dabei kleine Risse, die sie durch zahlreiche Affären wieder zu flicken versuchte.
Als ich mit einiger Verspätung zu Hause ankomme, bedaure ich, nicht noch später gekommen zu sein. Oder gar nicht.