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Ein unvergesslicher Sommer der ungeplanten Möglichkeiten – der große lebensfrohe Frühjahrsbestseller aus Schweden Die perfektionistische Cassi führt in Stockholm ein Restaurant, aber dann ist plötzlich Schluss: Burnout. Cassi erkennt, dass sie so nicht weitermachen kann und fasst einen spontanen Entschluss: Sie kauft eine Waldhütte und verlässt die Stadt. Doch dummerweise geht im nahegelegenen Dorf bald das Gerücht um, sie wäre eine erfahrene Selbsthilfe-Guru. Immer mehr ihrer neuen Nachbarn stehen vor ihrer Tür. Doch statt das kuriose Missverständnis aufzuklären, beschließt Cassi, einfach mitzuspielen – und tritt ungewollt eine Lawine aberwitziger Ereignisse los ... Dieser umwerfend warmherzige, lustige und anrührende Roman über den Mut zur Planlosigkeit hat ganz Schweden in Begeisterung versetzt. »Ein cleverer, ein sehr lustiger Roman!« Fredrik Backman
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2025
Johanna Swanberg
Roman
Nina Hoyer
Sie war nicht immer so.
Jetzt wird sie vom Wecker des Handys wach. Es ist Samstagmorgen, halb fünf, der gestrige Wein ist noch in ihrem Blut, und das Glas steht immer noch neben dem Bett, also beginnt Cassi den Tag, auch diesen, wie gewohnt: Sie kippt den Rest herunter. So als hätte sie noch, ganz fürsorglich, ein kleines Frühstück für sich vorbereitet, ehe sie wenige Stunden zuvor wie betäubt in die Kissen gesunken ist.
Der braune sechzehn Kilo schwere Klumpen am Fußende bemüht sich noch nicht mal, den Kopf zu heben, streckt nur alle vier Pfoten von sich, bevor er wieder einschläft, während sie benommen die Beine über die Bettkante hievt, bis ihre Füße auf dem kalten Boden landen. Sie zieht die Hose vom Vortag an, weil sie eben noch daliegt, und den Hoodie von gestern, weil er auch noch daliegt.
Im Bad geht sie aufs Klo und trinkt zwei zahnpastaverschmierte Gläser Wasser auf ex. Sie putzt sich nicht die Zähne, kramt nur irgendein Haargummi hervor. Wenn sie es vermeiden kann, schaut sie nicht in den Spiegel. Dass ihr Haar, mit den kaputten Spitzen und dem fettigen stumpfbraunen Ansatz, ihr bald bis über die Schultern reicht, muss man nicht sehen, um es zu wissen. Dass ihre Kleidung weiter geworden ist, ist weniger wahrscheinlich, als dass sie abgenommen hat. Braune Augen und eine spitze Nase hatte sie immer schon, aber ihre Lippen waren nicht immer derart malträtiert von zu viel Rotwein und beständig knibbelnden Fingern.
Jemand, der Cassi noch von früher kennt, würde diese Cassi kaum wiedererkennen. Allen voran sie selbst. Ihr altes Ich hätte niemals zugelassen, sich als derart schmuddeliges Wrack – in Leggings mit ausgebeulten Knien und Pullis mit fleckigen Ärmeln – zu präsentieren. Ihr altes Ich hatte mindestens fünfundvierzig Minuten für die Morgentoilette gebraucht, hätte am Vorabend schon die Checkliste für den kommenden Tag parat gehabt. Die alte Cassi hielt nichts von halben Sachen, hatte das nie getan.
»Wenn man etwas tut, dann richtig«, hätte ihr Motto lauten können, wenn sie die Art von Mensch gewesen wäre, die Motivationssprüche nötig gehabt hätte. Das hatte sie, Cassi, zwar nicht, dafür aber hatte ihr Personal Trainer bei jeder Gelegenheit einen Slogan mit ähnlicher Aussagekraft angebracht: »Wenn man zum Sport geht, furzt man nicht rum.« Zweimal pro Woche arbeitete Cassi mit dem Trainer und dreimal pro Woche allein. Sie hielt ihre helle, frisch renovierte, genau angemessen stylishe Altbauwohnung sauber und ordentlich, ließ sich freitags frische Schnittblumen liefern und in diversen Salons so häufig Haut-, Haar-, Augenbrauen-, Nagelpflege und sonstige Behandlungen vornehmen, wie es die dort angestellten Spezialistinnen eben empfahlen; ihr Outfit war stets makellos. Mindestens zehn Stunden täglich verbrachte sie auf der Arbeit – eine Arbeit, die sie liebte! –, hatte eine Beziehung zu einem Mann, den sie – ebenfalls! – liebte, pflegte ihre Freundschaften, stellte sicher, dass sie immer über die Nachrichten, Kulturereignisse, Wettervorhersagen und den Promitalk auf dem Laufenden war. Sie war diejenige, die Geburtstagspartys organisierte, Geschenke besorgte, zu Abendessen einlud. Cassi hatte ihren Schlafbedarf auf vier Stunden pro Nacht gesenkt, und die übrige Zeit war sorgfältig bis in die kleinste Viertelstunde eingeteilt, ihr rappelvoller Kalender bereits Monate im Voraus ausgebucht. Sie sorgte dafür, dass alles so lief, wie sie es wollte. Dass alles so lief, wie es sollte.
Aber jetzt ist es, ehrlich gesagt, sehr unwahrscheinlich, dass sie auf eine Person aus ihrem alten Leben trifft. Cassi hat keinen Kontakt mehr zu Leuten von früher, obwohl »altes Leben« und »von früher« sich hier auf eine Zeit bis vor höchstens einem Jahr bezieht. Man könnte fast sagen, dass sie nicht einmal mehr Kontakt zu sich selbst hat, mal abgesehen von der unumstößlichen Tatsache, dass sie irgendwie existiert.
Dass ihr die Dinge einfach egal sind, ist eine Sache unter vielen, die sich im letzten Jahr geändert haben. Es fällt ihr leichter abzuschalten. Dieser Prozess hat ein paar Monate gedauert, aber am Ende war sie ihrem wahren Ich näher. Gewissermaßen aufs Wesentliche reduziert. So als hätte man alles Überflüssige weggekratzt, bis nur noch ihr Innerstes, ihr Wesenskern übrig blieb. Dieser Kern braucht keine Besitztümer. Braucht nicht mal mehr einen BH. Ihr Körper ist einfach da, und ihr Geist gesellt sich dazu. Die Tage übersteht sie, indem sie so wenig nachdenkt wie möglich, sich so wenig Widerständen aussetzt wie möglich.
Der Kellerraum, den sie jetzt bewohnt (oder auch: »das Souterrain mit eigenem Bad«, wie es die Anzeige formulierte), befindet sich in einem Haus, das einer geschiedenen Frau gehört, die Cassi nicht näher kennt. Das Untermietverhältnis ist eine praktische Lösung für beide Seiten. Die Frau hat zusätzliche Einnahmen, und Cassi muss sich um nichts sorgen. Sie verlässt ihre zwanzig Quadratmeter nur, wenn sie die Küche benutzen muss, und selbst das vermeidet sie gern jede zweite Woche, um nicht zu riskieren, den beiden Söhnen der Frau zu begegnen. Sie sind sechs und acht, mit unbändiger Lebenslust gesegnet, und eigentlich nur für eines gut: Sie lieben Cassis Hund und gehen gerne mit ihm Gassi.
Während Cassi ihr Haar zu einem nachlässigen Zopf bindet, schlurft sie die Treppe zur Küche hinauf und dreht den Hahn auf, damit das Wasser heiß wird. Unter der Spüle fischt sie eine kleine PET-Flasche heraus, von der sie den Deckel abschraubt. Kurz schnüffelt sie daran, zuckt gleichmütig die Achseln und schüttet Instantkaffee hinein, direkt aus dem Glas. Als das Wasser dampft, füllt sie die Flasche bis gut zur Hälfte und gibt dann einen Schuss Milch aus dem Kühlschrank hinzu. Sie schüttelt die Flasche ein paarmal, nimmt ihre Tasche, schlüpft in die Schuhe und verlässt das Haus.
Der Arbeitsweg dauert mit dem Bus nur eine Viertelstunde, wenn sie das Glück hat, ihn zu erwischen, und an ebendiesem frühen Morgen hat sie Glück. Sich hinzusetzen lohnt sich nicht, weshalb sie sich an die Fahrgaststange lehnt, den PET-Kaffee kippt und auf neblige Fußballfelder und verlassene Kreisverkehre hinausschaut, während der Fahrer Talkradio in einer ihr unverständlichen Sprache hört.
Nur fünf Minuten zu spät stempelt sie sich auf der Arbeit ein. Zieht die obligatorischen beigen Hosen an, das beige karierte Hemd und die braune Weste. Geht ins Lager.
Acht Stunden später zieht sie sich wieder um und macht sich auf den umgekehrten Weg. Um diese Zeit sind der Bus, die Kreisverkehre und Fußballfelder mit Leuten übersät, die fröhlich in ihr Wochenende starten, und der Busfahrer singt zu einem Werbesong. Kindergeschrei. Handyklingeln. Cassi steigt zwei Haltestellen früher aus, nur um das alles nicht länger ertragen zu müssen. Sie nimmt die Abkürzung durch den Wald – oder, na ja, was sich so Wald nennt … eigentlich ist es nur eine Ansammlung von Bäumen, gerade groß genug, dass sie als Kind dort hatte Verstecken spielen oder Schmuddelhefte finden können, die jemand hastig in einem hohlen Baumstamm hatte verschwinden lassen. Wann immer ihr jemand auf dem Weg entgegenkommt, sieht sie weg. Sie kennt dieses Kaff in- und auswendig, und als ihre Freundinnen und sie direkt nach dem Abi nach Stockholm gezogen waren, hatte sie sich geschworen, nie zurückzukehren.
Doch nun ist sie wieder hier. Und weil sie sich in vielerlei Hinsicht in einer alles andere als traumhaften Situation befindet, ist ihr Keller der einzige Ort, an dem sie sich wohlfühlt, der einzige Ort, an dem sie sein will. Wo sie sich einen Drink einschenken, den Hund am Bauch kraulen, sich im Bett zurücklehnen und eine Serie gucken kann. Die Stunden verstreichen lassen kann. Momentan hat Cassi für ihre Tage nur ein Ziel: dass sie enden. Dass Nacht aus ihnen wird. Es ist nicht so, dass sie sterben will. Sie lehnt es nur ab, an dem teilzunehmen, was die anderen, die da draußen, Leben nennen. Ihr Leben spielt sich nicht mehr unter Menschen ab, unter sogenannten Freunden, in einer Gemeinschaft, in einer Außenwelt. Ihr Leben ist das, was zwischen die vier Wände ihres Kellers passt, und wenn sie zur Arbeit muss, dann drückt sie innerlich sozusagen auf die Pause-Taste und steht die Stunden einfach durch. Als würde sie den Atem anhalten.
Einmal, gleich zu Beginn, als sie gerade erst in den Keller gezogen und vorübergehend optimistisch gestimmt war, erleichtert, an einem Ort zu sein, an dem niemand sie vermutete und finden konnte, hatte sie für die Jungs und Maine eine Schatzsuche organisiert. Eine einfache Karte mit kniffligen Rätseln und im Gelände verteilten Schätzen – in Zellophantüten verpackte Leckereien. Wie begeistert die Kinder gewesen waren! Wie bewundernd sie Cassi angesehen hatten! Aber diese kreative Energie war nur von kurzer Dauer gewesen. Danach versank Cassi umso tiefer in ihrer Erschöpfung. War nur umso zermürbter davon, tagein, tagaus den Erwartungen anderer zu entsprechen. Die Kraft aufzubringen weiterzumachen.
Und trotzdem zehren die Jungs immer noch von der Erinnerung, hoffen auf eine Wiederholung. Weigern sich zu akzeptieren, dass Cassi nicht mehr ihre gute Fee ist, dass sie sich in ein Schreckgespenst verwandelt hat.
Als sie an diesem Samstag heimkommt, ist das Haus leer. Das ist nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr der Grund dafür, dass es überhaupt möglich ist, mit einer Unbekannten und ihren Halbzeitkindern unter einem Dach zu leben.
Das Leben der Hausbewohner spielt sich auf unterschiedlichen Ebenen ab, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne. Die anderen treffen Freunde, spielen, grillen, bekommen Besuch. Bereiten plappernd Lasagne zu, jagen einander lautstark mit Wasserpistolen, begrüßen sich jubelnd zum gemeinsamen Fernsehgucken am Freitagabend.
Cassi bleibt im Keller für sich.
Da kommt Maine ihr schwanzwedelnd entgegen. Cassi lässt ihn hinaus auf die kleine umzäunte Rasenfläche im Vorgarten – obwohl sie weiß, dass sie das eigentlich nicht darf –, wo er in seine übliche Ecke läuft und sein übliches Geschäft macht. Dann kommt er wieder herein. Er ist ein Hund, der keine übertriebenen Ansprüche an das Leben stellt.
Cassi kocht Makkaroni und füllt ein Bierglas mit Wein aus dem mit Zapfhahn versehenen Karton, den sie aus dem ihr zugeteilten, schmalen Küchenschrank holt. Für Cassi ist Rotwein ein Getränk für den Tag. Ist vielmehr wie eine Mahlzeit, Nahrung, weil er dunkel und kräftig ist. Weißwein ist für den Abend, weil er eher wie Wasser ist. Kaum relevant. Für die alte Cassi wäre diese Einstellung natürlich völlig hirnrissig gewesen, die Argumentationskette einer Idiotin. Aber hier und jetzt ist sie nur logisch, nicht die Spur seltsam. Cassi würde sich auch nicht als jemand mit einem Alkoholproblem betrachten. Der Wein ist ein Mittel, um alles auszuhalten. Die Tage reibungslos und schmerzfrei mit Hilfe eines angenehmen, konstanten Pegels durchzustehen, darauf läuft es bei Cassi zurzeit hinaus. Ihre solide Sommelière-Ausbildung würde nach Luft schnappen, wenn ihr nicht schon längst der Garaus gemacht worden wäre.
Als die Makkaroni fertig sind, trägt sie alles hinunter in ihre Kellerfestung, wo die Zeit seit heute Morgen stehen geblieben ist. Früher bekam Maine wegen seines Magens ein spezielles Futter, heute aber frisst er gewöhnliches Hundefutter aus dem Großmarkt, was nebenbei bemerkt nicht gerade von Vorteil für die Luftqualität im Raum ist. Vor den tief liegenden Fenstern hängen zugezogene Gardinen im Schottenkaro, passend zur Tagesdecke (die während der ganzen Zeit, in der Cassi hier wohnt, nie auf dem Bett gelegen hat) und zu den von ihrer Kleidung bedeckten Sofakissen.
Cassi setzt sich auf den Klamottenhaufen und winkelt die Beine an. Maine macht es sich neben ihr bequem, legt seinen Kopf auf ihren Oberschenkel. Sie schaufelt die Nudeln in sich hinein, die heute ihre erste feste Mahlzeit sind. In so mancher Beziehung führt sie das Leben einer Siebzehnjährigen, dabei ist sie siebenunddreißig; das merkt man, wenn sie auf dem Laptop eine Serie anklickt, in der veränderungshungrigen Briten geholfen wird, eine Ferienwohnung in wärmeren Gefilden zu finden. Gleichzeitig scrollt Cassi durch ihre Feeds und sieht, dass die eine auf einem Familienfest ist, die andere im Spa und dass, ganz in der Nähe, alte Bekannte aus ihrem früheren Leben einen Junggesellinnenabschied feiern. Sie war eingeladen, sie ist eingeladen, hat jedoch alles Alte hinter sich gelassen und antwortet nicht, wenn jemand sich bei ihr meldet.
Auf einmal bekommt sie Lust wegzufahren. Weit weg. Wo liegt noch gleich dieses Spa? Aber an und für sich will sie gar nicht ins Spa, sich unter eine Horde badender Leiber und Leute mischen, die mit einer hellroten Erdbeere in einem Glas lauwarmen Sekts dem Genuss frönen.
Was will sie überhaupt? Über so etwas versucht diese Cassi nicht nachzudenken, doch manchmal taucht der Gedanke auf und ist jedes Mal gleichermaßen lästig. Lieber greift sie nach dem billigen Handpropeller und richtet den Ventilator auf den Hund, der gerade wieder zufrieden seufzt: ein sicheres Zeichen für eine bevorstehende Furzattacke.
Dann geht Cassi die Treppe hinauf, um ihr Glas nachzufüllen. Als sie wieder herunterkommt – jetzt mit dem ganzen Weinkarton in der Hand –, hat sich der Junggesellinnenabschied den letzten Beiträgen zufolge auf eine Kartbahn verlagert. Doch das ist ihr immer noch viel zu nahe. So als könnten sie jederzeit vor ihrem Fenster erscheinen und in ihre Wohnung und ihr Leben hineinspähen. Als eine schaurig-schöne Station des Junggesellinnenabends, als ein Besuch in einem deprimierenden Zoo. Ein Ort, an dem niemand sein möchte und wo niemand sich wohlfühlt.
Ob sie vielleicht ins Ausland ziehen sollte? Sich den Briten an der Costa del Sol anschließen? Sie trinkt einen Schluck und googelt »FeWo Nerja«, die Stadt, die von Kaufinteressenten in der Sendung zuletzt empfohlen wurde. Doch die jäh aufgeflackerte Lust vergeht ihr, als sie die Preise sieht. Gedankenverloren klickt sie auf einige andere aufpoppende Links von Maklern, aber ihr Interesse flaut ab. Von Neuem übermannt sie die Erschöpfung, und während die Gewinnerin des Kartrennens mit einer Plastiktrophäe unter großem Jubel gefeiert wird (was unzählige Bilder im Gruppenchat der Junggesellinnengang belegen), macht es sich Cassi mit ihrem Hund gemütlich und schließt die Augen.
Erst Stunden später wird sie wach, als die Besitzerin des Hauses heimkommt, ein demonstratives »Cathrin!« die Treppe herunterbrüllt und dabei scheppernd mit der Kelle gegen den ungespülten Nudeltopf schlägt. Und der Abend ist noch lange nicht zu Ende. Cassi sucht einen Film aus, den sie schon einmal gesehen hat, füllt ihr Glas und versucht sich von ihren Feeds fernzuhalten – vergeblich.
Mit anderen Worten war Cassi also sturzbesoffen, als die Werbealgorithmen ihr später in dieser Nacht ein baufälliges Häuschen auf Facebook servierten und sie es likte. Und als sie am nächsten Morgen aufwachte und eine ziemlich verzweifelt klingende Nachricht eines Provinzmaklers wegen einer Hausbesichtigung vorfand, war sie sicherlich immer noch besoffen.
Sein Profilbild löste diffuse Beklemmungen in ihr aus: sein dünnes, mit Wasser zurückgekämmtes Haar, obwohl er noch ziemlich jung sein musste, sein bemühtes Lächeln, sein pappgrauer Anzug, steif wie eine Theaterkulisse …
Also, ja, dass sie seine Nachricht nicht sofort löschte, lag wohl daran, dass sie Mitleid mit ihm hatte. Ihr Profil hatte sie auf privat gestellt, sodass er ihren totalen Mangel an Beiträgen in den letzten zwölf Monaten nicht sehen konnte. Aber ihr Profilbild – eine ironische Yoga-Pose am Strand bei Sonnenuntergang – könnte definitiv der Auslöser dafür gewesen sein, weshalb die Dinge später kamen, wie sie kamen. Sie hätte das Foto vielleicht schon längst austauschen sollen, aber, mal ehrlich, wer hat für so was schon Zeit? Man muss ja noch nicht mal an unbehandeltem Burn-out und einer Depression leiden, um solche Dinge zu vernachlässigen!
Ihren jetzigen Job hat Cassi schon sehr lange – eine gefühlte Ewigkeit. So empfindet sie das jedenfalls. Es sind immerhin mehr als sechs Monate. Davor konnte es sein, dass sie wochenlang nicht den Keller verließ. An diese Zeit erinnert sie sich kaum noch – obwohl, doch, sie erinnert sich an nächtliche Spaziergänge mit Maine, wie sie ihn damals bei Regen und Eiseskälte vor die Tür gezwungen hatte, nur weil sie nicht schlafen konnte. Wie er sich gesträubt hatte und wieder heimwollte, während sie sich den Kragen vom Nacken gezupft hatte und kalte Tropfen ihren Rücken hinuntergeronnen waren.
Den Job hatte Cassi sich nicht selbst gesucht; Cassis Vermieterin hatte ihn ihr nahegelegt. Die Frau war es offenbar leid gewesen, dass Cassi immer nur zu Hause herumhing. Cassi glaubt nicht an selbstlose Motive. Es gibt immer einen Hintergedanken.
Doch obwohl Cassi also eigentlich nicht sonderlich daran interessiert war, wieder eine Arbeit anzunehmen, war es einfacher, Ja als Nein zu sagen. Letzteres hätte verlangt, dass sie ihrer Vermieterin irgendeine Erklärung lieferte. Aber sie nahm die Arbeit auch an, weil sie sich schon als Jugendliche geschworen hatte, auf keinen Fall, niemals, von Sozialhilfe abhängig zu werden. Rein logisch heißt das demnach, arbeiten zu gehen, selbst wenn man – im Augenblick – noch genügend Erspartes hatte. Nicht zuletzt war diese Arbeit in Cassis von Selbstmitleid durchdrungenem Dasein eine Strafe, zu der sie sich selbst verurteilt hatte.
Nein, ihre Gedankengänge sind nicht immer logisch. Und sie ist im Moment auch kein netter Mensch. Sie verbreitet keine positive Aura, und nichts könnte sie weniger kratzen.
Auf der Arbeit macht Cassi in etwa das, was sie soll, versucht zumindest halbherzig, manchmal wenigstens, es richtig zu machen, verlässt ihren Arbeitsplatz allerdings jeden Tag ein paar Minuten früher, als offiziell gestattet ist.
Hier würde niemand für möglich halten, dass sie früher eine leitende Angestellte eines der angesagtesten Restaurants der Hauptstadt gewesen war – ein Restaurant, in dem von morgens bis abends auf hohem Niveau gearbeitet wurde und sie die Verantwortung für etwa fünfzig Angestellte trug, mit einem Adlerblick für jedes noch so winzige Detail.
Heutzutage besteht ihre Aufgabe größtenteils darin, die Regale des Großmarkts aufzufüllen. Cassi arbeitet still vor sich hin, vermeidet bis zuletzt Kontakte zu Kunden und dem übrigen Personal.
»Füll nicht nur da die Regale auf, wo etwas fehlt«, rät ihr der Schichtvorgesetzte auf seine bedächtige Art. Er macht eine ausschweifende Handbewegung, hält sogar ein verlorenes Marmeladenglas in die Luft, um es ihr zu demonstrieren. »Sieh gründlich nach! Manchmal sieht man die leeren Stellen nicht sofort.«
»Natürlich«, erwidert Cassi, wie jedes Mal, weil das eine klare und schnell dahingesagte Antwort ist. Ihr Vorgesetzter, den Cassi heimlich »Winzgesicht« nennt, mustert sie und fährt sich mit der Hand über das Kinn, überlegt, ob er sich noch deutlicher ausdrücken sollte. Dass Cassi »Natürlich« gesagt hat, bedeutet nicht, dass das, worum er sie gebeten hat, auch getan wird, das hat er mittlerweile kapiert.
Am liebsten würde Cassi alle Stunden in einem Rutsch hinter sich bringen und dann nach Hause flüchten, aber das ist nicht erlaubt. Nach der Hälfte der Schicht muss sie ihre Arbeit unterbrechen und dreißig Minuten lang Pause machen. Darf sich nicht über die gesetzlich festgeschriebene Pause hinwegsetzen. Winzgesicht will hier keinen weiteren Burn-out, weshalb er penibel auf die Einhaltung der Vorschriften pocht. Da kann Cassi im Stillen so viel protestieren, wie sie will. Selbst wenn es bemerkt worden wäre, würde das nichts daran ändern.
Aber womit Cassi ihre Pause verbringt, das können sie ihr nicht vorschreiben. So würde es ihr nicht im Traum einfallen, bei der Arbeit etwas zu essen. Nicht nur deshalb, weil sie selbst momentan kaum Hunger hat, sondern weil sie es eklig findet, wie andere ihr Essen in sich hineinstopfen: der Geruch der Lunchboxen ihrer Kollegen … die Verärgerung darüber, wie unausgewogen ihre Mahlzeiten zusammengesetzt sind … braune Pampe. Instantnudeln mit Mais. In Soße aufgeweichte Spaghetti.
Wenn Cassi sich also im Personalraum aufhält, dann nur, um die Zeit totzuschlagen. Um zu warten, inmitten von runden Tischen und gerahmten Motivationssprüchen wie »Es gibt kein ICH im Team« und »Nur noch ein Kaffee, dann verändern wir die Welt«. »Freude an der Inspiration, am Essen, der Gemeinschaft« steht auf einer Tafel, die Cassi besonders verachtet. Jedes dieser Worte ist ihr fremd.
Alte Tageszeitungen schreien sie vom Beistelltisch an, wochenlang vergessen, bevor sie endlich weggeschmissen werden. Aber Cassi schert sich in etwa so viel um die weltpolitische Lage wie um die detaillierten Verhaltensregeln am Arbeitsplatz, die jemand mit Klebeband über der Spüle befestigt hat.
Einmal, als niemand sonst im Personalraum war, tauschte sie die Regeln deshalb gegen den Wunschzettel eines Kindes aus, den sie im Bus gefunden hatte. Die Leute lachten.
Die Verhaltensregeln kehrten zurück.
Eine Woche später hängte sie stattdessen eine Liste der beliebtesten Babynamen des Jahres auf, die sie aus einer Zeitschrift herausgerissen hatte. Die Leute lachten. Fragten sich, wer dahintersteckte.
Die Verhaltensregeln kehrten zurück.
Beim dritten Mal war sie den Gag eigentlich schon leid, amüsierte sich aber immer noch darüber, wie die Leute sich in Spekulationen darüber ergingen, wer wohl dafür verantwortlich sei. Niemand schien in Betracht zu ziehen, dass sie es war. Eines frühen Morgens tauschte Cassi die Regeln gegen eine Tabelle aus – »Das sind die Höchstverdiener in deiner Gemeinde« –, die gerade in einer Abendzeitung veröffentlicht worden war und auf der ihr Arbeitgeber auf dem zweiten Platz stand.
Die Verhaltensregeln kehrten zurück – diesmal auf DIN-A4-Papier. Laminiert. Mit Panzertape bombenfest an den Schranktüren festgeklebt.
Draußen regnet es. In ihrer Ecke des durchgesessenen Sofas versucht Cassi, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, sich sozusagen selbst dazu zu zwingen, in einen anderen Zustand zu wechseln, ihre Atome dazu zu nötigen, sich zu einer anderen Lebensform zusammenzusetzen. Mittlerweile hat sie, wenn auch widerstrebend, ihre Träume, in ein schwarzes Loch gesogen zu werden, aufgegeben. Aber sie findet immer noch, dass es möglich sein sollte, ihren Körper Stück für Stück zusammenzufalten – eine Art Origami, bei dem man am Ende einfach verschwindet.
Ihre Konzentration wird von einer Diskussion über Beziehungen an einem der Nebentische gestört. Oder, besser gesagt, einem Monolog.
»Es ist Zeit, dass du diesen Kerl verlässt. Er hat dich nicht verdient«, sagt die Frau, die den Bereich Obst und Gemüse leitet, zu einer anderen, die sonst an der Verkaufstheke bedient. »Entscheide dich dafür, eine Weile allein zu bleiben. Dich um dich selbst zu kümmern. Ein bisschen Selfcare, Süße.«
Tuttifrutti streckt ihre Hand mit geöffneter Handfläche über den Tisch. Zögernd greift die Hand der Theken-Tussi danach.
»Selbstliebe ist der Beginn einer lebenslangen Romanze. Das habe ich mal irgendwo gelesen, ist das nicht schön?« Tuttifrutti wartet keine Erwiderung ab, redet einfach weiter. »Du verdienst das Allerbeste. Aber nur, indem du auf dich achtgibst, kannst du hell strahlen.«
Die Theke nickt, fährt sich über die Augen.
Cassi seufzt, hörbar zu laut. Sie findet es lächerlich, dass Leute glauben, sie könnten anderen Ratschläge erteilen, wie sie ihr Leben leben sollen, so als wären sie allwissend. Die Theke und Tuttifrutti schauen sie missbilligend an.
»Hör einfach weg, weißt du!«, motzt Tuttifrutti. »Das hier ist privat.«
Die Theke und Tuttifrutti wenden sich wieder einvernehmlich einander zu. Einen Moment lang ist es still.
»Apropos«, fügt Tuttifrutti hinzu, jetzt mit neuer Energie. Sie dreht sich zu Cassi um, ihre gewichtigen Unterarme auf den Tisch gestemmt. »Ich muss dir kündigen.«
Cassi gelingt es nicht, ihre Reaktion zu kontrollieren. Sie schaut auf und sieht sich Tuttifruttis finsterem Blick gegenüber.
»Äh, hallo …? Du kannst mich nicht feuern, du bist nicht meine Vorgesetzte«, sagt sie trotzig.
Tuttifrutti schürzt die Lippen. »Der Kellerraum«, stellt sie klar. »Ich habe Eigenbedarf.«
Tuttifrutti und die Theke tauschen einen kurzen Blick.
Tuttifrutti macht sich inzwischen nicht einmal mehr die Mühe, freundlich zu klingen. Dieses Stadium haben Cassi und sie schon vor Wochen hinter sich gelassen, etwa zur selben Zeit, als Cassi aus dem Keller »KLAPPE, VERDAMMT NOCH MAL, IHR BLÖDEN PISSER!« nach oben geschrien hatte, als Tuttifruttis Söhne auf den Stufen zu ihrer, Cassis, Wohnung spielten.
Denn Tuttifrutti ist die Besitzerin des Hauses mit der Kellerwohnung, in der Cassi lebt; Cassi hat diesen Job durch sie bekommen. Cassi kennt natürlich Tuttifruttis richtigen Namen, will aber nicht daran denken. Ihn anzuerkennen, hieße, sich ihre eigene Unterlegenheit einzugestehen. Ihre Dankbarkeitsschuld. Und Cassi hat nicht vor, das zu tun.
»Kein Problem«, sagt Cassi und schaut dabei auf ihre heruntergekauten, abgebrochenen Nägel. Sie weiß noch, wie glatt sie sich immer anfühlten, wenn sie aus dem Kosmetiksalon kam, frisch manikürt. »Ich wollte sowieso ausziehen.«
Dann steht sie auf und geht zur Tür hinaus ins Lager. Ihr Herz rast. Sie nickt Burn-outie zu, die kürzlich aus der Krankschreibung zurückgekommen ist und die bei Cassi davor unter dem Namen »Heulsuse« lief.
Burn-outie sitzt vornübergebeugt auf ihrem Stuhl und schreibt langsam etwas mit einem Füller auf dickes Papier. Es ist eine Achtsamkeitsübung, die ihr der Therapeut empfohlen hat, hatte sie Cassi einmal erklärt, als diese für Small Talk empfänglich gewesen war. Cassi hat festgestellt, dass es ihr leichter fällt, sich mit Leuten abzugeben, denen es schlecht geht. Außerdem ist Burn-outie schon ein bisschen älter und gehört damit zu der ungefähr einzigen Bevölkerungsgruppe, für die Cassi noch etwas Geduld aufbringt.
Hinter Burn-outie an der Wand kleben handgeschriebene Weisheiten. »Keina ist so wie du«, und: »Wir haben keinen Einflus auf den Wint, aber wir können die Segel entsprechent ausrichten.«
Cassi lässt die Rechtschreibfehler unkommentiert. Selbst den Satz: »All deine Treume sind in Reichweihte.«
Sie holt sich lieber ihren Flachmann, den sie für Notfälle – einfach um auf der sicheren Seite zu sein – hinter dem Feuermelder ganz hinten im Lager versteckt hat. Er ist in mehrfacher Hinsicht nützlich, und obwohl er so gut wie leer ist, nimmt Cassi ihn mit nach draußen zur Anlieferung und zeichnet mit den Fingern das silberne Muster des Logos nach, während sie die letzten Tropfen in sich hineinschüttet.
Als sie zurück in den Personalraum kommt, wo sie den Mund mit Kaffee ausspült und den Flachmann in die Tasche legt, damit sie nicht vergisst, ihn wieder aufzufüllen, sitzt Tuttifrutti immer noch da.
Sie schauen sich an, doch ausgerechnet da plingt Cassis Handy. Schon wieder dieser Makler! Diesmal will er, obwohl sie sich immer noch nicht auf seine vorige Nachricht gemeldet hat, »mal nachfragen, ob noch Interesse an der Besichtigung heute Nachmittag besteht«. Um es zu vermeiden, Tuttifrutti wieder ansehen zu müssen, heftet Cassi ihre Augen weiterhin auf das Telefon, während sie überlegt, was sie schreiben soll.
Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, überhaupt zu antworten. Warum auch? Ein baufälliges Häuschen zu besitzen, davon hat sie nie geträumt. Seine Anzeige gestern zu liken, war nur ein versehentlicher Impuls – wenn überhaupt! –, nur ein Finger, der zufällig über den Bildschirm gerutscht war. Der Keller hatte bisher gut für sie funktioniert, sie hatte so lange dortbleiben wollen, bis sie einen besseren Plan gefasst hätte.
Aber jetzt hat sich die Situation plötzlich geändert. Und sie ist gezwungen, etwas zu unternehmen. Ihr Herz hört nicht auf zu rasen. Cassi muss hier weg. Sofort. Es würde ja nicht schaden, es einmal anzuschauen. Vielleicht hatte dieser Makler ja auch noch andere, ansprechendere Objekte, über die man reden könnte.
Gerade als sie eine Antwort tippen will, betritt Winzgesicht den Raum. Er schaut demonstrativ auf seine Armbanduhr, wie um zu fragen, weshalb Cassi noch nicht wieder bei der Arbeit ist, obwohl ihre Pause schon seit zwei Minuten vorbei ist, bevor er seinen Thermobecher am Spülbecken auswäscht.
Keine Sekunde länger erträgt sie das hier! Alle Menschen, die sie kannte, hat sie aus ihrem Leben verbannt, es ist unfassbar, dass sie sich immer noch mit diesen hier abgeben muss.
Deshalb schickt sie dem tristen Makler nur kurz ein Daumen-hoch-Zeichen, nimmt ihre Tasche vom Haken und murmelt über die Schulter: »Ich habe Fieber, ich fahr nach Haus.«
Die Tür hinter ihr fällt zu. Das Geräusch klingt wie ein tiefer Seufzer. Oder vielmehr wie ein Luftholen?
Auch Cassi kennt noch Grenzen. Es sind nur nicht mehr so viele wie früher, als sie, unter anderem, bei Riesling im Pinot-noir-Glas verliefen, bei drei Minuten Verspätung, ohne sich zu melden, bei unsauber gefalteten Handtüchern im Badezimmerschrank, bei demselben Pulli zwei Tage hintereinander, einer festen Mahlzeit vor zwölf Uhr, rissiger Nagelhaut und Menschen, die Gnocchi »Gnotschi« aussprechen.
Heutzutage, wo ihr meistens alles scheißegal ist und sie sich noch nicht einmal mehr über den »Expresso« von Winzgesicht empört, kann man dankbar sein, dass Trunkenheit am Steuer selbst für sie zu weit geht.
Das zumindest ist der Grund, warum sie nicht mit dem Auto zur Arbeit fährt. Sie hat es sowieso nur behalten, weil der Leasingvertrag erst in einem Jahr ausläuft, es hat monatelang ungenutzt am Straßenrand gestanden. Lieber nimmt sie den Bus, um sich keinen Stärkungstrunk versagen zu müssen.
An diesem speziellen Tag erweist sich die Tatsache, das Auto nicht abgegeben zu haben, aber als Glücksfall: Es ist das beste Mittel, um schnell weit weg zu gelangen, auch wenn sie nur wegfährt, um eine alte Hütte zu besichtigen.
Als sie losfährt, ist Cassi immer noch in Selbstmitleid versunken. Aber es verfliegt, während sie Kilometer um Kilometer hinter sich lässt.
So etwas sollte sie öfter tun. Sie hatte ganz vergessen, welches Gefühl von Freiheit es einem gibt, auf der leeren Autobahn dahinzugleiten. Die Fahrt verschafft ihr eine Auszeit von den Dingen. Einen Gleichmut, alles an sich vorbeiziehen zu lassen, sich nicht in Details zu verheddern – bevor ein Gedanke zu Ende geführt wird, ist man schon wieder ganz woanders.
Cassi wendet ihr bewährtes System an: erlaubte Geschwindigkeit plus zwanzig Prozent Bonus. Dieses Verhalten kommt ganz automatisch, wie eine sinnlose Reminiszenz an die vielen Jahre in der Gastro-Branche. Sie wechselt zwischen verschiedenen Radiosendern, deren Anzahl im Verlauf der Fahrt immer mehr abnimmt. Im Handschuhfach, in der Fahrertür und in der Mittelkonsole findet sie angebrochene Tüten mit Süßigkeiten. Cassi kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie die gekauft hat. Egal, sie isst alles auf, leert eine Tüte nach der anderen bis auf wirklich uraltes Salzlakritz, das verschmolzen zu einem grauen Klumpen an der Verpackung klebt.
Cassi ist beinahe richtig fröhlich. Wann hat sie sich das letzte Mal so gefühlt? Dass sie niemanden sehen muss, während sie Auto fährt, trägt anscheinend dazu bei. Nichts als Natur und gelegentlich ein anderes Fahrzeug, aber ansonsten: eine Welt, in der es nur sie und Maine gibt. Der Hund sitzt auf dem Beifahrersitz und hechelt Atemwölkchen gegen die Scheibe. Zwischendurch dreht sie sie herunter, lässt frische Luft herein und den Hund den Fahrtwind genießen.
Draußen herrscht trister, nasser Mai, aber überall sprießt die Natur: Äcker in einer Art Zwischenstadium, Bäume, die in den Startlöchern für ein bevorstehendes Fest stehen, der Seitenstreifen übersät mit bis vor kurzem noch lebenden Hasen, Igeln, Füchsen, Dachsen, das alles zieht an ihr vorbei.
Auf halber Strecke kauft Cassi sich einen Kaffee und tankt, lässt Maine hinaus, damit er sein Geschäft machen kann, fährt davon abgesehen aber, ohne an wirklich viel zu denken.
Das Dorf Bäcken liegt dem Navi zufolge zwischen Berg und Berget; eine Gegend ohne viel Schnickschnack. Cassi nickt zustimmend, als hätte sie jemand gefragt, was sie denkt. Sie fährt im Schneckentempo, als sie die Hauptstraße erreicht, wo verblichene Schilder davon zeugen, dass es hier einmal eine Tankstelle, ein Café, einen Friseur und einen Eisenwarenladen gab. Übrig geblieben sind ein Lebensmittelladen und eine Pizzeria, die auch für Burger, Thai Food und Kebab Werbung macht. Die niedrigen dreistöckigen Gebäude wirken, als ob sie auf etwas warten. Bei der Kirche gibt es einen heruntergekommenen Blumenladen; ob er noch existiert oder nur an Sonntagnachmittagen geschlossen hat, ist schwer zu sagen.
Cassi passiert den Friedhof und fährt eine Allee mit knospenden Birken entlang. Felder ziehen an ihr vorbei, der Wald aber bleibt ihr konstanter Begleiter. Als sie an einem spindeldürren Verkaufsschild rechts abbiegt, verwandelt sich die zuvor asphaltierte Straße in eine Schotterpiste mit ziemlich großen Schlaglöchern. Der Weg wird von Bäumen gesäumt. In der Ferne sieht sie ein rotes Häuschen mit weißen Fensterrahmen.
Als sie dort ankommt, steht draußen ein grüner Wagen, der farblich fast mit dem Wald verschmilzt. Der Makler lehnt dagegen. Er versucht, schwer beschäftigt zu wirken, blättert durch einen Stapel Papiere, hat ihre rumpelnde Ankunft aber längst registriert. Sein Haar ist weniger dünn, als sie vermutet hatte, und blonder. Der Anzug – heute ist es ein blauer – ist ihm zu klein, spannt an den Schultern und flattert um den Bauch herum. Der Makler ist jung, aber vielleicht doch nicht so jung, wie es den Anschein hatte.
Die Zufriedenheit, die Cassi während der Fahrt hierher verspürt hat, gerät ins Wanken. Ihr Selbstvertrauen ist erschüttert. Während der Makler Sicherheit in seinem klaren beruflichen Auftrag findet, ist sie jemand, der vor der Obdachlosigkeit steht, der kaum noch einen Job hat. Kaum noch ein Leben. Aber sie muss das hier nur irgendwie überstehen. Es als kurze Unterbrechung sehen. Zum Beispiel als ein Rollenspiel. Sie wird sich ihm einfach als völlig normale Interessentin auf der Suche nach einem Sommerhäuschen präsentieren, sich anschließend höflich bedanken und dann verschwinden. Das sollte machbar sein. Er weiß nichts über sie. Und sie war einmal Profi im Umgang mit Menschen. Du lieber Himmel, in ihrem alten Leben hat sie von morgens bis abends nichts anderes getan! Es sollte also möglich sein, dieses Talent vorübergehend wieder abzurufen.
Also nimmt sie ihren Mut zusammen und steigt aus, streckt den Rücken durch, um Selbstbewusstsein auszustrahlen. Schenkt dem Makler ein Lächeln und öffnet die Autotür, um Maine herauszulassen. Der Hund trottet direkt auf den Mann zu und leckt ihm freundlich über die Hand. Der Makler zuckt auf eine Weise zusammen, die deutlich macht, dass er Tiere nicht gewohnt ist, aber er nimmt sein Lächeln schnell wieder auf, wischt seine Hand am Anzug ab und reicht sie Cassi, die jetzt vor ihm steht.
»Hallo zusammen, Max Ljung mein Name«, stellt er sich vor. »Herzlich willkommen in Bäcken. Ein herrlicher Ort, um das Landleben zu genießen, wie ich zu sagen pflege.«
Selbst aus der Nähe betrachtet lässt sich das Alter des Maklers schwer bestimmen, aber sie schätzt ihn auf etwa dreißig. Seine rötlichen Wangen zeigen fast keine Anzeichen von Gesichtsbehaarung, sein blondes Haar sieht babyweich aus und fällt von selbst zu einem exakten Seitenscheitel. Cassi spürt an seinem Blick, dass er sie einzuordnen versucht, genau wie sie ihn. Wahrscheinlich achtet er auf ihren staubigen, aber relativ modernen Mittelklassewagen und ihr – scheinbar – sportliches Outfit, bestehend aus marineblauen Leggings und einem grauen Kapuzenpulli. Das silberne Halskettchen mit dem rosa Stein. Die ausgelatschten Nikes an ihren Füßen. Cassis Haare sind zu einem Knäuel oben auf dem Kopf zusammengefasst, vor allem, damit sie nicht unangenehm verschwitzt an der Kopfstütze des Autos reiben. Trägt sie Make-up? Auf keinen Fall! Sie investiert genau so viel Zeit in ihre äußere Erscheinung, wie sie möchte, dass andere Leute darüber nachdenken und sie wahrnehmen – so gut wie keine.
»Hübsch hier«, sagt sie und bemerkt selbst, wie zaghaft ihre Stimme klingt. Unsicher. Sie räuspert sich. Reißt sich zusammen.
Es ist nicht so, dass Cassi ihre momentane Lebenssituation gefällt, aber eine Alternative dafür zu finden erscheint ihr wie eine übermächtige Anstrengung. Allerdings muss sie ja irgendwo wohnen. Und die beste Lösung wäre auf jeden Fall etwas Eigenes. Allein zu sein, ohne eine miesepetrige Tuttifrutti, die ihr die Regeln diktiert. Cassi schaut sich um.
Dem intensiven Blick des Immobilienmaklers kann sie entnehmen, dass er große Hoffnungen in sie setzt. Sie mag in vielerlei Hinsicht ein Kotzbrocken sein, ist aber trotzdem nicht ganz blind gegenüber der Welt um sich herum. Sie weiß, dass dieser Mann nicht schuld daran ist, dass ihr Leben so ist, wie es ist. Na gut, man könnte dasselbe von ihren Kollegen im Großmarkt sagen, dass sie auch nicht daran schuld sind, aber wer hat je behauptet, Cassis Argumentationsweise sei stringent? Außerdem sind die Gefühle, die sie für ihren Arbeitsplatz hegt, untrennbar mit den Gefühlen verbunden, die sie für ihren Wohnort hat, was wiederum mit ihren Gefühlen für frühere Ereignisse in ihrem Leben zusammenhängt. Das macht die Sache kompliziert.
Aber mit solchen Assoziationen haben dieser Ort und dieser Mann nichts zu tun. Sie sind unverdorben. Ein neues Betätigungsfeld. Zumindest kann sie also so auftreten, wie es von ihr erwartet wird: sich wie eine glaubwürdige potenzielle Kaufinteressentin verhalten. Später kann sie sich immer noch nach anderen Wohnungen an einem ganz anderen Ort erkundigen.
Also richtet sich Cassi auf. Als sie die Arme über den Kopf streckt, knacken ihre Schulterblätter.
»Ich war noch nicht oft in dieser Gegend«, sagt sie. »So ein friedlicher Ort. Und erst diese Luft!«
Sie atmet tief ein, sieht sich um. Die Auffahrt ist zugewuchert. Auf dem Weg zum Haus blitzt hier und da Kies zwischen vergilbten Grashalmen auf, und hinter dem Haus bildet der Nadelwald einen grünen Samtvorhang. Von der kleinen Lichtung aus sind keine Nachbarn zu sehen. Moos gedeiht auf den Betonstufen, die zu der kleinen Veranda führen.
Maine nimmt ebenfalls Witterung auf, er hat mit offensichtlichem Interesse eine Scheune am Waldrand erschnüffelt.
Der Makler nickt und sieht auf eine Art zufrieden aus, wie es eben nur Makler vermögen.
»Ja, hier fällt es einem leicht, sich wohlzufühlen«, sagt er, bevor eine laute Fanfare, die eine Textnachricht ankündigt, ihn unterbricht und er auf das Handy in der Hand schaut, in der er auch den Papierstapel hält. Nach einem hastigen Blick auf den Bildschirm schiebt er das Telefon in die Tasche des Jacketts, faltet seine losen Blätter und stopft sie in seine Gesäßtasche. Dann dreht er sich lächelnd zum Haus um, die Hände in die Hüfte gestemmt, enthusiastisch, so als wäre er glücklich über ihre gemeinsame Aktion.
»Es ist ein bezauberndes Häuschen«, fährt er fort. »Einfach toll. Braucht ein bisschen Liebe, nicht wahr, aber wer braucht die nicht.«
Cassi betrachtet ihn skeptisch. Zwingt sich zu lächeln, wie es sich gehört. Nachsichtig. Schon bald wird er wieder aus ihrem Leben verschwunden sein.
Sie imitiert seine Pose, stemmt die Hände in die Hüften und mustert ihrerseits das Haus – allerdings weniger enthusiastisch als prüfend. So als ob der bloße Anblick von Fassade und Schornstein ihr wichtige Erkenntnisse offenbaren würde.
Max sagt, dass er für die heutige Besichtigung nur sie eingeplant hat.
»Ich mag es, wenn es irgendwie persönlich bleibt, wissen Sie. Ich finde es wichtig, den Leuten etwas Raum zu geben. Etwas Privatsphäre. Aber gestern war ein Pärchen hier, und die waren sehr angetan. Das Interesse ist also groß. Wobei man natürlich auch den richtigen Käufer finden möchte. Und das kostet eben ein bisschen Zeit.«
Wenn es etwas gibt, von dem Cassi glaubt, dass sie es während ihrer langjährigen Tätigkeit als Restaurantmanagerin gelernt hat, dann ist es, in Menschen zu lesen. Zu erkennen, wer sie sind, was sie meinen, was unter der Oberfläche steckt. Zugegeben, dieses Selbstvertrauen hatte später einen herben Rückschlag erlitten, aber dieses Babyface glaubt anscheinend, sie sei ein offenes Buch für ihn. Sie weiß, dass der Makler den Verkauf dieser Immobilie gerne abhaken möchte. Dass es länger gedauert hat, als er es sich vorgestellt hat. Und das kratzt an seinem Selbstbild.
»Das Haus hat die letzten Jahre überwiegend leer gestanden«, spricht er weiter. »Der Eigentümer ist schon älter, und das Anwesen verkaufen Verwandte, die woanders leben.«
Er fischt einen Schlüssel aus seiner Tasche und hält ihn hoch. Sie gehen zur Treppe.
Als er vor der Eingangstür steht, klemmt sie. Der Makler muss sie erst zu sich heranziehen und sich dann dagegen lehnen und sie anheben, um sie zu öffnen. Klirrende Fensterscheiben, quietschende Scharniere, dann ein Hauch abgestandener Luft von innen.
»Ja, im Moment braucht es zum Öffnen ein paar Fachkenntnisse, aber das Ölen der Scharniere wird es schon richten«, sagt er grinsend und tritt zur Seite.
Cassi bewältigt die Treppe mit einem Satz, Maine folgt ihr auf dem Fuß. Mit einem Finger tippt sie an ein Glöckchen, das über der Tür hängt. Es gibt ein leises Bimmeln von sich.
Vom Flur aus geht es geradeaus in das Wohnzimmer. Die Küche liegt auf der linken und ein kleines Badezimmer auf der rechten Seite. Cassi folgt Maine, der direkt auf einen Stapel Flickenteppiche neben dem Kamin im Wohnzimmer zusteuert. Der Raum ist in einem hellen Blau gestrichen worden, das muss allerdings schon länger her sein, und das Medaillonmuster der Strukturtapete ist durch die Farbe hindurch sichtbar. Cassi dreht eine Runde durch den Raum und schaut durch das Fenster hinaus zur Scheune. Sie kann hören, wie Maine sich mit einem Seufzer auf den Stapel Flickenteppiche fallen lässt.
Vom Wohnzimmer aus gelangt man in ein kleines Schlafzimmer mit einem Einzelbett. Ein dünner, von der Sonne ausgeblichener roter Bettüberwurf ist über eine Schaumstoffmatratze gespannt. Ein dunkelblaues Rollo verdeckt das Fenster, befestigt mit einem Haken am Fensterrahmen. Es macht ein laut schnappendes Geräusch, als Cassi es vom Haken löst. Draußen rauscht der Wald.
Eine schmale Treppe führt zu zwei Räumen im ersten Stock, wo eine große Person nur in der Mitte aufrecht stehen kann. Ein Doppelbett mit hölzernen Lattenrosten, aber ohne Matratze steht unter einem halbrunden Fenster in einem der Räume. Einbauschränke auf beiden Seiten unter der Dachschräge. Wie auch im Erdgeschoss besteht der Boden aus breiten grauen Holzdielen.
»Sie sollten auch noch wissen, dass das Haus so verkauft wird, wie Sie es hier sehen«, gibt ihr der Makler Auskunft, der im Wohnzimmer wartet, als sie wieder nach unten kommt.
»Es gibt eine Klärgrube und einen eigenen Brunnen. Beide müssen wahrscheinlich überprüft werden. Aber das Wasser wurde letztes Jahr getestet, und es wurde nichts beanstandet. Ich würde einem Käufer empfehlen, die Rohre, die elektrischen Leitungen, das Dach und das Fundament zu überprüfen, aber wie Sie sehen können, hat das Haus keine offensichtlichen Mängel. Ich war jetzt schon mehrere Male hier und habe keinerlei Hinweise auf Schimmel oder Feuchtigkeit entdeckt. Solide gebaut. Alte Häuser wie diese sind für die Ewigkeit gemacht.«
Er klopft gegen die Wand neben der Tür. Dahinter ist prompt ein Rieseln wie von losem Mörtel zu hören. Er räuspert sich.
»Die Verkäufer sind bereit, umgehend zu verkaufen, an den richtigen Interessenten natürlich.«
Er spricht weiter, von dem weiteren Land, das dazugehört, von der Nähe zu Norwegen, von einer »Gekauft-wie-gesehen-Klausel« und »beweglichem Vermögen« und von der »Grundsteuer« und der »Grundbucheintragungsgebühr«.
Cassi hat nur Ohren für das Haus. Da, eine Fliege, die gegen ein Fenster prallt … Ein Luftzug von der Tür trägt Kieferngeruch herein. Sie stellt fest, dass sie die Augen geschlossen hat. Als sie sie wieder öffnet, sieht sie, wie der Makler sie neugierig anschaut, aber dann wendet er seinen Blick ab und zeigt ihr den Verteilerkasten, demonstriert ihr mit dem Einschalten der Hauptsicherung, dass diese intakt ist. Der Kühlschrank erwacht zum Leben und beginnt zu brummen.
Die Küche ist altmodisch und hat einen grau gefleckten Linoleumboden. Die abgewetzten Handgriffe der Küchenschränke fühlen sich vertraut unter ihren Fingern an. Wie zu Hause. Vielleicht hatten sie auch solche, als sie ein Kind war? Sie dreht den Wasserhahn auf, nur um irgendwas zu tun. In der Leitung gurgelt es, und braunes Wasser sprudelt heraus, zögerlich, aber dann in einem gleichmäßigen Strahl.
»So ein wenig Verfärbung ist völlig unproblematisch«, sagt der Makler, der im Türrahmen erscheint. »Es liegt nur daran, dass hier eine Weile niemand mehr gewohnt hat.«
Cassi nickt.
Durch das Fenster erspäht sie einen Johannisbeerstrauch, oder ist es Stachelbeere, was weiß sie schon, irgendein Strauch eben neben dem roten Gebäude da drüben.
»Können wir uns das auch einmal anschauen?«, fragt sie und zeigt auf die Scheune.
Der Makler unterbricht seine Ausführungen über die lokale Infrastruktur und stimmt ihr zu: »Selbstverständlich!« Dann quasselt er weiter, während sie aus der Küche gehen, die Stufen hinunter über den grasbewachsenen Kies und den vermoosten Rasen zur Scheune, die auf der Vorderseite eine große Doppeltür für die Durchfahrt eines Traktors hat. Eine kleinere Tür in der großen schwingt mit Hilfe geschmeidiger Scharniere auf, als gehöre sie zu einem ganz anderen Objekt.
In der Scheune hat man sofort das Gefühl, dass hier die Zeit stehengeblieben ist. Auf dem erdverschmierten Zementboden liegen, scheinbar wahllos verstreut, Heuballen, der Raum ist von Spinnweben durchzogen. Stapel von Kaminholz ziehen sich an einer Schmalseite entlang. Vogelfüße kratzen auf dem Blechdach, etwas Winziges huscht hektisch in eine Ecke. Das einzige Licht kommt von den Sonnenstrahlen, die durch die Tür und die Ritzen in den Holzwänden in den Raum fallen, aber der Makler drückt einen Lichtschalter, und eine grünlich weiß flackernde Leuchtstoffröhre erwacht über ihnen zum Leben.
»Ja, die Möglichkeiten der Nutzung sind unendlich!«, sagt er mit neuer Begeisterung. »Manche mögen denken, das ist ja bloß eine alte Scheune, aber die richtige Person – jemand mit Visionen – könnte hier im Prinzip alles verwirklichen. Man kann sich leicht einen Stall vorstellen, Hühner – oder ein Künstleratelier! Ja und natürlich Yoga, Meditation, für alles in dieser Richtung wäre die Scheune perfekt. Oooommm!«
Bei dem letzten Teil hat er seine Handflächen vor der Brust aneinandergelegt und die Augen kurz geschlossen. Dann lächelt er ihr zu und zwinkert, so als ob es ein Einvernehmen zwischen ihnen gäbe, das ihr bis jetzt entgangen ist. Cassi will die Stimmung nicht verderben oder seinen Enthusiasmus dämpfen. Also nickt sie bekräftigend, als wäre sie ganz seiner Meinung. Dann atmet sie tief ein und langsam aus.
»Ja, es hat etwas von einem Saal«, sagt sie. »Eine unglaubliche Atmosphäre. Fast feierlich. Die Vergangenheit trifft auf die Gegenwart, außen auf innen. Das erzeugt eine Harmonie, die man geradezu in der Luft spüren kann. Ein nahezu magisches Flair!«
Sie macht ein paar Schritte, richtet sich auf und breitet die Arme aus wie ein aufgeblasener Schauspieler, der sich der Szene hingibt.
»Es gibt so viel Raum hier. Mehr als genug Platz für zwanzig, dreißig Personen.«
Wovon redet sie da? Redet sie von Gästen, genauer gesagt Restaurantgästen? Stellt sie sich schön gedeckte Tische vor? Sie weiß es vermutlich selbst nicht, aber der Makler ist Feuer und Flamme. Er nickt so eifrig wie sie selbst noch vor ein paar Minuten. Seine Zustimmung ermuntert sie, noch mehr zu übertreiben. Sie deutet auf eine Wand.
»Stellen Sie sich hier ein Panoramafenster vor, mit Blick auf den Wald, und einen hochwertigen Fußboden. Es könnte ein Ort der Inspiration sein. Eine leere Fläche, mit der man neu anfangen kann, neue Energie tanken. Wie sieht es eigentlich mit den Baugenehmigungen aus, dürfte man das Grundstück noch weiter bebauen? Wenn man hier etwas Eigenes aufziehen würde, meine ich?«
Diese Vision steht plötzlich so klar vor ihr, ist so konkret, obwohl sie völlig aus der Luft gegriffen ist, dass sie fast Gänsehaut bekommt. Und dass das Wort »Baugenehmigung« so plötzlich aus ihrem Unterbewusstsein aufgetaucht ist und sich in einen vollständigen Satz eingefügt hat, ist allein schon erstaunlich. Sind das Dinge, die sie unterschwellig gelernt hat, weil sie all diese Immobiliensendungen geschaut hat? All die Scheunen, die in schicke Anwesen verwandelt wurden, all die phantasievollen Entwürfe der Teilnehmer, die Wirklichkeit wurden. Der Makler sieht aus, als hätte sie ihn zum Tanz aufgefordert.
»Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht aus dem Stegreif, aber ich schaue es nach. Unter uns gesagt, ich glaube nicht, dass das irgendein Problem darstellt. Es gibt keine direkten Nachbarn, und das Grundstück ist groß. Ich kann schon die Städter vor mir sehen, die hier rausfahren, um die Stille zu erleben. Um zu meditieren und abzuschalten. Es ist eine Region im Aufblühen, viele Dinge sind in Planung, aber warum nicht größer denken? Waldbaden, ist das nicht der letzte Schrei?«
Das war nicht das, was sie von ihm erwartet hatte, aber so viel hat sie inzwischen gelernt: Wenn man eines über Menschen wissen kann, dann, dass man nichts über sie weiß.
»Waldbaden, ja, das ist die Einstiegsdroge«, sagt sie scherzhaft, nur um irgendwas zu sagen. Er scheint ja auf solche Dinge zu stehen, und sie ist nicht abgeneigt, mit dem Strom zu schwimmen. Sie hört sich selbst einen Satz nach dem anderen bilden, wobei jeder Satzteil irgendwie über den folgenden überrascht zu sein scheint.
»Einen Baum zu umarmen, kann den gleichen positiven Effekt auf das menschliche Wohlbefinden haben, wie einen anderen Menschen zu umarmen. Wenn man einmal diese Erhabenheit in und mit der Natur erlebt hat, kann man es sich nicht mehr ohne sie vorstellen. Manche Menschen finden ihr Glück gleich um die Ecke, andere müssen weit reisen.«
Es ist ein Zitat-Sammelsurium aus verschiedensten Sendungen, die sie kürzlich gesehen hat. Das letzte ist auf jeden Fall aus dieser britischen Immo-Show.
Max nickt und lächelt breit. »Persönlichkeitsentwicklung und Wellness sind rasant wachsende Branchen«, sagt er. »Ich habe gerade einen Podcast darüber gehört. Viele interessante Dinge passieren da momentan auf dem Gebiet. Die Leute brauchen Orientierung. Das ist gut!«
Cassi lächelt einfach, weiß nicht so richtig, was sie dazu sagen soll. Was genau ist jetzt gut?
Sie gehen wieder hinaus, zurück auf den Platz vor dem Haus. Max blättert durch seine Papiere, schaut auf sein Handy und stellt fest, dass das Bieterverfahren in Kürze beginnen wird.
»Wenn Sie interessiert sind, rate ich Ihnen also, sich bald zu melden«, sagt er. »Natürlich will ich Sie nicht unter Druck setzen. Aber man weiß ja nie … Die Dinge können sich schnell ändern. Das tun sie oft. Wie ich Ihnen schon sagte, sind die Verkäufer erpicht auf einen schnellen Abschluss, und ein potenzieller Käufer könnte das Gebäude sofort übernehmen, wenn das gewünscht ist.«
Er wiederholt im Wesentlichen nur noch einmal seine Worte von vorhin, als sie zum ersten Mal hier standen, aber die Aussagen klingen für Cassi diesmal anders. Max sieht sie erwartungsvoll an, mit dem gleichen Blick, den Maine aufsetzt, wenn man ihm ein Stück seiner geliebten Banane hinhält.
Es ist ein seltsamer Tag. Zu viel ist passiert. Als sie heute Morgen aufwachte, war noch alles wie immer. Vor ihr lagen nur viele Stunden, die es zu überstehen galt. Einen langen Tag, bis es endlich wieder Nacht wurde. Zuerst die Arbeit, dann ein Gläschen Wein und eine Sendung im Fernsehen anschauen, das Gehirn abschalten. Das hier war ganz und gar nicht geplant. Es gab keine Sturmwarnung, nichts deutete darauf hin, dass heute ihr Kopf und ihre Lebensplanung durcheinandergewirbelt würden. Aber genau das ereignet sich gerade.
Cassi schaut zum Haus, überlegt, wie es sich für sie anfühlen würde, wenn jemand anders dort einzog. Sie betritt die Treppe. Läutet noch einmal das Glöckchen, weil es eben dort hängt und so aussieht, als wolle es geläutet werden. Holt noch einmal tief Luft. Es fühlt sich an, als ob der Sauerstoff sie von oben bis in die Zehen komplett durchdringt. Ihr Herz rast. Cassi legt sich eine Hand auf die Brust.
»Ich lasse es mir durch den Kopf gehen und sage Ihnen dann Bescheid«, sagt sie, sich leicht verbeugend. »Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben.«
»Natürlich, natürlich, tun Sie das«, erwidert Max. »Und Sie haben im Augenblick keine weiteren Fragen?«
Cassi öffnet die Beifahrertür für Maine, der widerwillig ins Auto hüpft. Ein Spaziergang im Wald wäre ihm wahrscheinlich lieber gewesen. Sie zieht angestrengt die Mundwinkel hoch.
»Nein, ich muss …«, antwortet sie mit einer vagen Geste, steigt ein, schließt die Tür und startet den Motor.
»Namaste«, verabschiedet Max sie, legt die Hände aneinander und verbeugt sich ein wenig. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie noch Fragen haben sollten!«
Cassi wendet den Wagen und holpert die Schotterpiste hinunter, biegt ab in Richtung Ort, beachtet alle Geschwindigkeitsbegrenzungen bis zum Tempo-siebzig-Schild. Dann gibt sie Gas.
Cassi hat keine Ahnung von Häusern. Mal davon abgesehen, dass sie momentan im Keller von einem wohnt, hat sie bisher nur in Wohnungen gelebt. Aber als sie gerade in der veralteten Küche mit dem nachgebenden Fußboden gestanden und durch das schmuddelige Fenster zum Nadelwald gesehen hat, da hat sie fast das gleiche Gefühl gehabt wie damals beim Lesen der Adoptionsanzeige von Maine im Netz: Dieses Haus braucht sie. Sie sollte diejenige sein, die die Wände streicht, die Dachrinnen reinigt und sicherstellt, dass die Scheune nicht zusammenbricht. Sie sollte sich um das Haus kümmern. Und, was noch wichtiger ist: Das Haus sollte sich um sie kümmern.
Am nächsten Morgen, direkt nachdem sie mit dem Bus bei der Arbeit angekommen ist, schickt sie dem Makler eine Nachricht, in der sie ihn bittet, für sie ein Angebot etwas unter dem Startpreis abzugeben. Als sie gestern nach Hause kam und den letzten Tropfen Wein aus dem Karton getrunken hatte, hatte sie etwas über Immobilienkäufe in verschiedenen Onlineforen gelesen. Trotz des mulmigen Gefühls in ihrem Bauch ist sie nun informiert und weiß ungefähr, was sie da tut. Es ist so, als umgäbe sie eine Aura von Selbstvertrauen und Entschlossenheit, Unerschütterlichkeit geradezu.
So empfindet sie das – zumindest bis sie in den Großmarkt kommt und wieder einmal gezwungen ist, sich mit Menschen auseinanderzusetzen. Winzgesicht steht im Personalraum und löffelt Thunfisch aus einer Dose. Auf der Theke neben ihm steht eine Dose zuckerfreie Limo. Na, da weiß man ja, welche Rülpser man nach diesem Katzenfutter zu erwarten hat!
»Wohin bist du gestern verschwunden?«, fragt er, und Cassi wiederholt ihre Lüge mit dem Fieber.
Winzgesicht stopft sich einen weiteren Bissen in den Mund.
»Aber ich bin wieder okay. Ich denke, es war bloß ein übler Anflug von PMS«, fügt sie hinzu, um ihm das Nachfragen unangenehmer zu machen. Die Periode ist das letzte Refugium der Frauen. Sie kann einem immer noch aus einer Reihe von Situationen heraushelfen wie Eltern von kleinen Kindern, die die »Magen-Darm«-Karte ausspielen, wenn sie Verpflichtungen eingegangen sind, für die sie nach einer Ausrede suchen.
Cassi fährt sich durch ihr ungewaschenes Haar, bindet es zu einem Zopf und geht ins Warenlager, wo Burn-outie laut esoterische Massagemusik hört und ihr mitteilt, dass die Musik entspannend ist und »ihr guttut«. Cassi würde darüber die Augen verdrehen, aber es gab heute Morgen schon so viele Anlässe dafür – die gesamte Busfahrt zur Arbeit war eine einzige Aneinanderreihung von Ärgernissen –, dass sie befürchtet, ihre Augenhöhlen könnten durch die übermäßige Reibung Schaden nehmen.
Um sich zu beruhigen, beschwört Cassi das Bild des Häuschens mit dem Nadelwald im Hintergrund herauf. Die vollkommene Stille. Wie es wohl wäre, ganz neu anzufangen, aufzutanken, ganz für sich zu sein? Keine Menschen um sich herum zu haben. Nur sie und Maine, in Freiheit, im Schoß der Natur.
Burn-outie hat die erste Palette mit Waren herausgezogen, die in den Großmarkt sollen, und lehnt sich nun auf ihrem Stuhl zurück, die Augen vor dem Computer geschlossen. In diesem Moment brummt Cassis Handy in der Gesäßtasche. Da jeder weiß, wie empfindlich Burn-outie auf störende Geräusche reagiert, und es die pure Dummheit wäre, bei ihr schon zu dieser frühen Stunde einen Migräneanfall auszulösen, verzieht Cassi sich in eine Ecke und meldet sich mit ihrer leisesten Stimme.
Es ist dieser Makler. Wer auch sonst?
»Oh, habe ich Sie gerade bei etwas unterbrochen?«, fragt er, vermutlich in Anspielung auf das Gedudel im Hintergrund, quasselt aber trotzdem weiter. Er informiert sie, dass die Verkäufer ihr Angebot angenommen haben. Wann sie denn kommen und den Vertrag unterzeichnen könne?
Auf einmal fühlt Cassi sich extrem erschöpft, regelrecht krank. Gerade noch hatte sie davon geträumt, und nun ist nur noch pure Angst übrig. Müssen die Leute sie ständig behelligen? Woher wissen sie überhaupt, dass es sie gibt? Können sie sie bitte, bitte nicht einfach in Ruhe lassen und sich nie mehr melden?
Eine plötzliche Stille im Hörer lässt das esoterische Pling-Plong stärker in den Vordergrund treten, nun durch eine besinnliche Panflöte und einen Buckelwalschrei komplettiert. Cassi hört sich dem Makler antworten, immer noch mit leiser, fast flüsternder Stimme, dass das großartige Neuigkeiten sind, sie ihn aber später zurückrufen muss.
»Natürlich, entschuldigen Sie, wenn ich …«, setzt er an, aber dann bricht das Gespräch ab, weil sie den roten Button zum Auflegen mehrere Male so fest gedrückt hat, als wäre es ein echter Knopf und als könnte sie die Welt um sich herum damit zum Stillstand bringen.
Burn-outie sieht auf, wirft ihr einen durchdringenden Blick zu, als sie vorbeigeht, sagt aber nichts. Cassi starrt zurück und schiebt die Palette aus dem Lager.
Ihr Geld liegt seit fast einem Jahr unangetastet auf dem Konto. Als Cassi am Vormittag ihre E-Mails abruft, versteckt hinter einer turmhohen Mauer aus Cornflakes-Kartons, hat ihr der Makler einen Haufen Unterlagen geschickt. Sie leitet alles an ihre Bankberaterin weiter, die bei Cassi gelegentlich nachhört, ob sie ihr Geld nicht besser anlegen möchte, als es auf dem Konto zu parken, wo es keine Zinsen abwirft. Cassi entscheidet, dass die beiden das mit dem Haus untereinander ausmachen können.
In der Mittagspause geht sie hinüber zur Pizzeria an der Ecke und bestellt, ohne groß auf die Speisekarte zu schauen, ein Bier und einen Pizza-Beilagensalat.
»Sie können nicht einfach nur einen Pizza-Beilagensalat bestellen, der Salat kostet nur fünf Kronen, wenn Sie auch eine Pizza bestellen.«
Wenn einer von ihnen beiden grinsen würde, könnte es einfach irgendein Insiderwitz sein, weil er sich fast jeden Tag wiederholt. Aber der Mann hinter der Theke mit dem schmutzigen Küchenhandtuch über der Schulter ist Cassi genauso leid, wie sie ihn satthat, und so bezahlt sie das Bier, ohne auch nur eine Krone Trinkgeld zu geben, und geht zu ihrem Stammplatz. Das Bierglas stellt sie auf der Tischplatte aus Holzlaminat ab, wo es feuchte Ringe hinterlässt.
Wenn Cassi auf diesem Platz sitzt, kann man sie von draußen nicht sehen. Nicht dass sie sich für ihr flüssiges Mittagessen schämt. Warum auch? Sie will einfach mit niemandem reden. Fühlt sich leer gequatscht. Sie stellt sich vor, wie sie auf der Treppe des Häuschens steht. Nichts als der rauschende Wald ist zu hören. Maine liegt neben ihr. Hach, bei diesem Gedanken wird sie ganz sentimental.
Sie holt ihr Handy hervor und befasst sich mit einem Spiel, bei dem sie verschiedene Arten von Süßigkeiten aneinanderreihen muss.
Am Nachmittag scheint der ganze Immobilienverkauf geregelt, und Cassi musste sich dazu verpflichten, in der kommenden Woche die Papiere zu unterzeichnen und die Schlüssel abzuholen. Ihr ist ganz schwindelig; aber so ist das jetzt nun mal. Und warum sollte dieser Hauskauf schlimmer sein als das, was sie schon kennt? Doch ihr Magen signalisiert ihr etwas anderes: Zweifel und Selbsthass und eine Art Angstgefühl. Was soll sie da draußen auf dem Land machen? Warum nicht einfach in der Stadt bleiben – im Warenlager, in dem, was es schon gibt und weiterhin geben wird? Aber für Reue ist es nun zu spät.
Die elektronischen Verträge sind bereits unterschrieben, und beide, sowohl der Makler als auch die Bankberaterin, scheinen mit dem Tag höchst zufrieden. Und Cassi wird dann zumindest eines haben: ihre Ruhe. Fast – etwa jede zweite Minute – fühlt sie sich auch bereit dafür.
Die Straße zum Haus ist noch holpriger, als sie sie in Erinnerung hat. Wenn Maine, der wie ein Rallye-Beifahrer neben ihr sitzt, nicht bei jedem Schlagloch fast vom Sitz fallen würde, hätte sie das Gaspedal trotzdem einfach durchgedrückt. So aber kommt sie nur im Kriechtempo voran. Das Haus nähert sich, wie eine Katze sich einer Maus nähert.
Cassi parkt vor den Eingangsstufen und bemerkt, dass das alte Gras gemäht ist. Als sie die Autotür öffnet, ist der kindische Moderator einer Radioshow augenblicklich still. Es ist eine Stille, die in den Ohren dröhnt – und macht, dass sie ihre Blase spürt. Noch nicht mal die Baumwipfel bewegen sich, und als Maine beim Anblick eines vorwitzigen Hasen, der sich am Waldrand zeigt, bellt, ist das Geräusch wie ein willkommener Schock.
»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagt sie zu dem Hund und wahrscheinlich genauso zu sich selbst.
Das Schloss und die Tür machen diesmal nicht annähernd so viele Scherereien wie bei der Besichtigung, aber als sie eintritt, scheinen die Räume sich zu fragen, was sie hier macht. Oder wahrscheinlich ist es wieder sie selbst, die sich das fragt.
Nachdem sie die trübe Küchenlampe eingeschaltet hat, schleppt sie ihre Tüten und Kisten herein.