Sommer, Sand und Campingterror - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch

Sommer, Sand und Campingterror E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

5,0

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Beschreibung

Ein neuer Fall auf Langeoog! Der achte Fall mit Martin von Schlechtinger Martin von Schlechtinger ist nicht gerade begeistert. Für mindestens vier Wochen soll er seine beschauliche Insel Langeoog verlassen, um einen heruntergekommenen Campingplatz auf Vordermann zu bringen. Warum nur musste Frieder Hansen den Platz auch unbedingt an Martins bessere Hälfte Annemarie vererben? Hätte der sich nicht jemand anderen aus der Verwandtschaft aussuchen können? Auf dem Campingplatz angekommen, wird Martin eins schnell klar: Frieders Tod war kein Unfall! Irgendeiner der doch recht skurrilen Camper hat den ehemaligen Besitzer eiskalt umgebracht.

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Für BärbelDanke, dass du immer an mich geglaubt hast.… und wenn es dann gut ist, sitzen wir alle wieder am Meer.

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8449-8

Micha KrämerSommer, SandundCampingterror

Prolog

Ostfriesland im Frühsommer 2023

Wie sollte man in diesem Irrenhaus bloß auch nur ein Auge zumachen können?

„Seemann, lass das Träumen … Denk nicht an daheim“, grölte Frieder Hansen sturzbetrunken direkt den nächsten Klassiker seines Lieblingssängers Freddy Quinn in die Nacht.

Wütend zog er sein Kopfkissen unter seinem Kopf hervor und presste es sich über Gesicht und Ohren.

„Lieber Gott, mach, dass dieser Idiot aufhört … sonst muss ich ihn umbringen … das willst du doch bestimmt nicht …, oder?“, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel.

Doch anstatt der Stimme des Herrn hörte er nur wieder dumpf die von Frieder Hansen.

„Deine Heimat ist das Meer. Deine Freunde sind die Sterne. Über Rio und Shanghai. Über Bali und Ha­waiiiiii“, krächzte der vollkommen schief aus seiner rauen Kehle.

„Jetzt reicht’s“, schimpfte er, warf wütend das Kissen von sich fort und schwang sich aus der Koje.

„Deine Liebe ist dein Schiff … Deine Sehnsucht ist die Ferne“, vernahm er das nächtliche Katzengejammer, als er die Türe aufriss, noch deutlicher.

„Frieder … verdammt noch mal. Wenn da draußen jetzt nicht endlich Ruhe ist, dann klatscht das hier … aber bestimmt keinen Beifall“, schrie er so laut er konnte in die Dunkelheit. Er war es so leid mit diesem Ignoranten. Beinahe jede Nacht dasselbe Spektakel. Immer und immer wieder. Und da fragten sich diese studierten Psychologen in ihren Universitäten, wie es sein konnte, dass Menschen zu Mördern und Amokläufern wurden. Die sollten mal eine Nacht hier bei diesem Sammelsurium der Narretei verbringen. Dann bräuchten die das mit dem Amoklauf gar nicht mehr studieren. Dann konnten die das in echt miterleben.

Im Schein der Notbeleuchtung erkannte er Frieders schwankende Gestalt zwischen zwei Wohnwagen hindurchtorkeln. Eieiei, was hatte der wieder getankt.

„Deine Freunde ist das Meer. Deine Heimat ist die Sterne“, schallte es ziemlich schief und so gar nicht textsicher zurück.

„Ruuuuhhhhheeee“, schrie er nun noch einmal so laut er konnte und bemerkte, wie in einem der anderen Wohnwagen ebenfalls das Licht angeschaltet wurde. Frieder Hansen hatte seinen Camper nun erreicht und sang immer noch aus voller Kehle. Der Kerl schien ihn überhaupt nicht zu hören und würdigte ihn noch nicht einmal eines Blickes. Aber nu war Schluss. Das Fass lief gerade über. Aber so richtig. Er drehte sich um und schlüpfte in seine Birkenstocklatschen. Als er aus seinem Wohnwagen stieg, hatte Frieder den seinigen gerade erreicht und öffnete die Türe. Wütend stapfte er los. Jede Nacht dasselbe Theater. Doch damit war nun Schluss. Morgen würde er sich einen neuen Stellplatz suchen, weit weg von Frieder Hansen und dessen Campingplatz. Nur weil diesem alten Suffkopp der Platz gehörte, konnte der doch hier nicht machen, was er wollte, und alle anderen terrorisieren. Frieder hatte die Wohnwagentüre nun hinter sich zugezogen. Sein Gesinge klang nun etwas gedämpfter.

Dann mit einem Mal war es taghell. Ein Blitz, ein Donner, gefolgt von einer Wahnsinnsdruckwelle, die ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, aus den Latschen haute. Er spürte, wie er von den Füßen gerissen wurde, um dann unsanft zwischen Werner Koschinskis Gartenzwergen zu landen. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte und aufrichtete, sah er es. Da, wo eben noch Frieders alter Wohnwagen gestanden hatte, loderten die Flammen aus einem Haufen von Trümmern. Die Wände des Campers sahen aus wie nach außen geklappt. Vom Dach fehlte jede Spur. Frieders Gesang war verstummt. Das Einzige, was er noch hörte, war ein hochfrequentes Pfeifen. Er blickte zum Himmel. Dass der liebe Gott zu solch drastischen Maßnahmen greifen würde – das hätte er jetzt auch nicht zu hoffen gewagt. Aber nu war wenigstens Ruhe!

„Jo … dann hat sich das wohl mit der Stellplatzsuche erledigt“, flüsterte er, erhob sich und ging zurück zu seinem Wohnwagen. Irgendwer würde schon die Feuerwehr rufen.

Kapitel 1

Montag, 19. Juni 2023Strand Insel Langeoog

Endlich war der Sommer da. Nach all dem Schmuddelwetter, welches das Frühjahr mit sich gebracht hatte, ging es täglich und stetig mit den Temperaturen aufwärts. Selbst die Wetterleute im Internet hatten für die nächsten Tage und Wochen ein stabiles Hoch gemeldet. Was immer das auch heißen mochte.

So genau kannte Martin von Schlechtinger sich mit diesen Fachbegriffen der Meteorologen nicht mehr aus. Früher hatte er immer geglaubt, dass ein Hoch unbedingt gutes und ein Tief schlechtes Wetter bedeutete. Doch mittlerweile hatte er da ein wenig den Überblick verloren. Weil, auch bei einem Hoch konnte es mal regnen, während es bei einem Tief auch nicht unbedingt schlecht sein musste. Egal wie es war, er verstand es nicht. Was aber auch eigentlich nicht schlimm war, da er derzeit ganz andere Probleme hatte.

Übel war derzeit nämlich lediglich das Tief im Hause Hansen und von Schlechtinger.

Ja, bei ihm und Annemarie war derzeit tatsächlich irgendwie der Wurm drin. Weshalb Martins Laune auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt war.

Er liebte seine Frau Annemarie und die liebte ihn. Das war schon mal eine Basis.

Wie hatte der Mann vom Standesamt noch gesagt? In guten wie in schlechten Tagen. Seit beinahe zwei Monaten waren sie beide nun verheiratet. Ein Paar waren sie ja bereits seit Jahren.

An Weihnachten, genauer gesagt am Heiligabend, war es Martin dann spontan in den Sinn gekommen, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Er hatte ihr, wie es sich gehörte, einen Antrag gemacht und sie auch prompt Ja gesagt. Nun gut, damit hatte er eigentlich nicht gerechnet, da Annemarie einen Trauschein bisher immer als Firlefanz bezeichnete.

An Ostern hatten sie sich an Bord der ANNE II, nur im Kreis ihrer engsten Freunde, das Jawort gegeben. Onkel Piet, der Käpt’n leitete in Anwesenheit eines Standesbeamten die kleine, aber feine Zeremonie nach altem Seemannsbrauch. Sehr schön! Der anwesende Beamte musste dies dann nur noch schriftlich festhalten.

Viel reden hatte der nämlich gar nicht gekonnt, da der Herr so gar nicht seefest gewesen war und die meiste Zeit mit einem kalkweißen Gesicht an der Reling saß. Was aber auch jetzt mal egal war.

Alles war gut so, wie es war. Bis vor einigen Tagen.

Annemarie verlangte von ihm nun allen Ernstes, er solle die Insel auf unbestimmte Zeit verlassen. Eine absolute Katastrophe. Alles, was Martin liebte und schätzte, war hier auf Langeoog. Seine Freunde, seine Kinder, sein Hund und auch seine Frau. Er brauchte sein morgendliches Bad im Meer, den Strand, die Dünen und den Wind. Ja, er, der gebürtige Kölner, hatte hier seine Heimat gefunden. Sogar seine demente Mama lebte seit einem Dreivierteljahr im Seniorenheim hier auf der Insel. Nun gut, die würde ihn nicht vermissen, da sie ihn schon länger nicht mehr als ihren Sohn erkannte. Stattdessen dachte sie zumeist, er sei der Herr Pfarrer. Wie auch immer sie darauf kam. Aber mal egal.

Angefangen hatte das häusliche Drama mit einem Brief von Herrn Notar Bilerbeck aus Esens. Dass Frieder Hansen, der Bruder von Annemaries schon lange verstorbenem Gatten Heiner, das Zeitliche gesegnet hatte, war ihnen ja bereits bekannt. Sie waren sogar alle auf seiner Beerdigung gewesen, obgleich Martin den Mann noch nicht einmal gekannt hatte.

„Da hast du auch nix verpasst, bei dem ollen Suffkopp“, hatte Käpt’n Piet auf Martins Bedenken diesbezüglich geäußert.

Wenn Martin damals geahnt hätte, welche Unruhe der Tod Frieders in sein Leben bringen würde … ja … dann hätte er es auch nicht mehr ändern können, da die Tinte unter Frieders letztem Willen zu der Zeit schon lange getrocknet war.

Frieder Hansen hinterließ seinen kompletten Besitz nämlich ausdrücklich seinem Bruder Heiner und dessen Ehefrau Annemarie. Dass der Heiner zwischenzeitlich verstorben und dessen Frau mittlerweile neu vermählt war, galt nicht, da Annemarie ausdrücklich und namentlich als Erbin erwähnt worden war. Zumindest behauptete dies der Notar, dessen Vater das Schreiben vor über zwanzig Jahren aufgesetzt hatte.

Warum Frieder nach dem Tod seines Bruders sein Testament nicht geändert habe, das wisse nur der Teufel. Bei dem in der Hölle würde der Frieder, zumindest laut Onkel Piet, nämlich gerade schmorren.

Aber es war jetzt, wie es war. Seine Annemarie war nun die Erbin eines angeblich baufälligen Resthofes mit angrenzendem Campingplatz drüben auf dem Festland. Was im Grunde auch nichts Schlimmes war. Erben war zumeist ja eine wunderbare Sache, außer natürlich für den, der dafür ins Gras beißen musste.

Martin war in den letzten Tagen mehrfach der Gedanke gekommen, dass seine Gemahlin den Hals nicht vollbekam. Sie hätte das Erbe nämlich auch einfach ausschlagen können. Dann hätte sich irgendwer anderes damit herumschlagen können.

Annemarie war von Haus aus nicht arm. Seiner besseren Hälfte gehörten einige sehr kostspielige Immobilien auf der Insel. Auch der Notgroschen seiner Gattin war, das wusste er aus sicherer Quelle, nicht zu verachten. Martin selbst hatte vor der Hochzeit ausdrücklich auf einen Ehevertrag bestanden. Sollte ihre Ehe einmal scheitern, wovon er nicht ausging, würde er selbst im Anschluss wieder genauso arm sein wie zuvor. Auch für den Fall ihres Ablebens war alles geklärt. Annemarie hatte alles geregelt und festgelegt. Martin würde lediglich ein lebenslanges Wohnrecht in Annemaries Friesenhaus erhalten. Mehr brauchte er auch nicht. Die Geschäftsführung und sogar einen Teil der Firma sollte Martins Tochter Gina Marie bekommen. Der große Rest ging an Annemaries Ziehsohn Krischan.

Martin stellte sich seit Tagen die Frage, weshalb seine Annemarie das Erbe ihres ehemaligen Schwagers Frieder Hansen angenommen hatte? Was in drei Teufels Namen wollte sie mit einem Campingplatz, der sich, wie man hörte, in einem desolaten Zustand befand?

An diesem Punkt kam Martin nämlich ins Spiel. Annemarie hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass er eben diesen Platz wieder instandsetzen sollte. Sie würde sich dann um einen Pächter bemühen, damit der das Objekt profitabel in ihrem Sinne führte. So, wie der Platz im Moment aussah wolle da vermutlich niemand seine Ferien verbringen oder ihn gar haben wollen. Zumindest niemand außer seiner Annemarie.

„Nä Lumpi. Wat is dat ein Elend. Dat Frau Annemarie lässt aber auch nit mit sich schwätzen tun. Ich sag dir dat. Wenn die Weibsleut sich wat in den Kopp gesetzt haben, dann muss der arme Mann springen tun. Ob der will oder nit“, erklärte er Lumpi noch einmal die Ausweglosigkeit seiner Lage.

Heute nach dem Frühstück sollte es losgehen. Annemarie hatte bereits seine Koffer gepackt. Das Werkzeug aus dem Schuppen war verstaut und gestern von einem Lastkarren abgeholt worden, der es zur Fähre brachte.

Im Gegensatz zu Annemarie kannte Martin bisher nur Fotos von dem Gelände und dem Haus.

Hätte er sie mal nicht alleine aufs Festland zu diesem Notar fahren lassen. Wenn er bei der Besichtigung dabei gewesen wäre, hätte er vermutlich zig Gründe gefunden, um ihr das Erbe auszureden. Doch jetzt war es zu spät.

Martin zog seine Latzhose und das T-Shirt mit dem Geißbocklogo des 1. FC Köln aus und legte die Sachen, wie er es immer tat, ordentlich zusammen. Dann ging er schwimmen. Wer wusste schon, wann er dazu noch einmal die Gelegenheit haben würde.

Annemarie Hansen ließ sich auf die Bank vor dem Haus sinken, atmete mehrmals tief ein und aus und streifte dann erst einmal die Laufschuhe von ihren Füßen. Es wurde wahrlich Zeit, sich noch einmal nach neuen Schuhen umzuschauen. Bei diesen waren die Gelpolster in den Sohlen, so wie ihre Füße gerade schmerzten, ziemlich am Ende.

Annemarie joggte täglich. Bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit drehte sie ihre allmorgendliche Runde über die Insel. Das Laufen hielt sie nicht nur körperlich fit, sondern machte auch den Kopf frei.

Zugegeben, heute hatte es nicht wirklich funktioniert. Ohne Unterlass waren ihre Gedanken bei Martin und dem neuen Projekt gewesen. Nein, bereut hatte sie es noch nicht, das Erbe angenommen zu haben. Dennoch kamen ihr Bedenken, ob es nicht doch eine zu große Belastung für sie und vor allem für Martin war. Begeistert war ihr Gatte nicht, sich die nächsten paar Wochen um den Platz zu kümmern. Und ja, sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen, dass sie ihm diese Arbeit aufbürdete. Ihr Plan war es, dass Martin sich vorerst alleine um das alte Hofgebäude und den Campingplatz kümmerte, während sie selbst hin- und herpendelte. Derzeit war Hauptsaison. Da hatte sie alle Hände voll zu tun. Wobei es in ihrer Ferienhausvermietung bei Weitem nicht mehr so hektisch war wie noch vor einigen Jahren. Annemarie hatte es tatsächlich geschafft, sich ein wenig aus dem Alltagsgeschäft zurückzuziehen.

Gina Marie, Martins Tochter aus erster Ehe, konnte den Laden zumindest stunden- oder tageweise bereits wunderbar alleine schmeißen. Die junge Frau war wahrlich ein Segen. Dank Gina Marie würde Annemarie in den nächsten Wochen immer drei Tage am Stück zum Festland fahren können, um Martin zu helfen. Der sollte im ersten Schritt eine Übernachtungsmöglichkeit für sie beide schaffen. Der Wohnwagen, in dem ihr Schwager Frieder gehaust hatte, war ja explodiert und das Haus derzeit nicht bewohnbar.

An den Wochenenden, dann wenn die meisten Gäste wieder abreisten und neue Urlauber ankamen, musste sie dann wieder auf der Insel sein, um Gina Marie im Geschäft zu unterstützen. So weit der Plan.

Annemarie erhob sich, ging ins Haus und setzte Wasser für Martins Kaffee und ihren Tee an. Dann flitzte sie nach oben, um zu duschen und sich zurechtzumachen.

Als sie zurück nach unten kam, war Martin gerade dabei, den Frühstückstisch auf der Terrasse einzudecken. Ja, das würde sie in den nächsten Tagen wahrlich vermissen.

Dass die Laune ihres Gatten immer noch auf einem Tiefpunkt war, war nicht zu übersehen. Männer machten aber auch aus allem immer so ein Drama. Martin tat ja fast, als würde sie ihn auf ewig verbannen. Was sollten denn die Seeleute sagen. Die armen Kerls waren oft monatelang von ihrer Familie getrennt.

Martin mochte die Überfahrten mit der Fähre zwischen dem Festland und der Insel. Wie zumeist setzte er sich auf das Oberdeck auf einen Platz in der Sonne und entzündete seine Meerschaumpfeife. Dabei waren seine Gedanken bei der Baustelle und was ihn dort wohl erwarten würde.

Nicht genug, dass er dort Instandhaltungsarbeiten durchführen sollte. Nein, er war darüber hinaus auch der Platzwart und würde sich um die Buchungen und Wehwehchen der Gäste kümmern müssen. Falls es da überhaupt Gäste gab. Mit Sicherheit wusste er das nicht. Sein Gefühl sagte ihm, dass das ganze Projekt Campingplatz nur in einer Katastrophe enden konnte.

Zum Glück gehörte der Campingplatz mit derzeit etwa zwanzig Stellplätzen nur zu den eher kleineren seiner Art. Da würde die Katastrophe dann wenigstens nicht so schlimm wie bei einem der großen Plätze, die es überall an der Küste gab, werden.

Vor dem Fährterminal in Bensersiel wartete bereits sein Sohn Kevin auf Martin. Sie hatten ausgemacht, dass der Bube ihn abholen und zu dem etwas abseits gelegenen Resthof bringen sollte.

„Moin Papa, alles paletti?“, erkundigte sich Kevin.

„Na, wie man dat nimmt. Paletti is eigentlich wat anderes“, erwiderte er schon gar nicht mehr so missmutig, da er sich gerade tatsächlich freute, seinen Jungen zu sehen.

Nachdem sie gemeinsam alles Gepäck und Werkzeug in Martins altem Ford Capri verstaut hatten, ging es los.

„Also, wenn du magst, kann ich dir gelegentlich zur Hand gehen“, schlug Kevin irgendwann vor, nachdem Martin ihm zumindest in Ansätzen sein Leid geklagt hatte.

„Nä … Kevin. Dat musst du nit. Du und dat Paulina, ihr habt doch auf eurem Biohof auch genug zu tun“, wehrte Martin ab.

„Ja … Nee … im Moment geht es. Wir haben das Heu schon fertig eingefahren, und bis zu den Kartoffeln sind es noch ein paar Wochen. Außerdem haben wir derzeit gleich zwei Praktikantinnen“, erklärte sein Junge.

„Praktikantinnen? Tun die für umsonst arbeiten tun?“, war Martin erstaunt.

„Ja, so in etwa. Die studieren beide Agrarwissenschaften. Die helfen uns auf dem Hof, lernen etwas dabei und haben dafür Kost und Logis frei“, meinte Kevin.

Martin nickte anerkennend. Leute, die nur für Essen und einen Schlafplatz arbeiteten, konnte man nie genug haben. Von denen bräuchte er eigentlich eine ganze Horde auf dem Campingplatz. Nur wollte da bestimmt kein Student für lau malochen.

Einige Kilometer hinter Dornumersiel, irgendwo im Nirgendwo, drosselte Kevin die Geschwindigkeit und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf sein Mobiltelefon, das er mit einer Halterung in der Lüftung des Oldies befestigt hatte.

„Is wat?“, erkundigte sich Martin.

„Laut der Naviapp geht es hier rechts ab. Dann noch zwei Kilometer und wir sind da … also eigentlich“, sagte er und blickte sich um.

„Jo, wie Sie sehen … sehen Sie nix …, Herr von Schlechtinger Junior“, erwiderte Martin, da er außer einer Menge Gegend nichts entdeckte, was auf einen Campingplatz hindeutete.

„Da vorne geht ein Feldweg ab“, meinte Kevin und deutete auf einen geschotterten Weg zu seiner Rechten.

Martin kniff die Augen zusammen. Tatsächlich war da ein Weg, der aussah, als sei da seit Jahren keiner mehr hergefahren. Auf dem Mittelstreifen zwischen zwei ausgefahrenen Spuren wuchs üppiges Grün.

„Halt mal an“, gab er seinem Sprössling Anweisung und stieg aus.

Obgleich es noch immer früher Vormittag war, stach die Sonne bereits heftig von dem wolkenlosen Himmel. Martin watschelte zum Wegesrand und hob dort einen hölzernen Pfosten auf, an dessen Ende ein verbogenes rostiges Blechschild pappte.

„Frieders Camping achtern Diek“, las er die eindeutig handgemalte verwitterte Aufschrift. Ein Versuch Martins, den Pfosten wieder zurück ins trockene Erdreich zu rammen, scheiterte an der morschen Konsistenz des Holzes. Na, das fing ja schon mal super an.

„Den erneuern wir am besten heute noch“, rief Kevin ihm aus dem Wagen her zu.

„Nä besser nit. Nachher tut den Campingplatz noch einer finden tun. Dat fehlt mir noch, wenn da Leut kommen“, knurrte er und meinte es auch genauso. Je mehr Menschen auf dem Platz auftauchten, umso mehr musste er sich kümmern und umso länger würde sein Aufenthalt dort dauern.

Nach etwa zwei Kilometern und gefühlten eintausend Schlaglöchern stoppte Kevin den Wagen vor einer rot-weißen Schranke. Dahinter waren zwischen einigen Bäumen und Sträuchern mehrere Campingwagen zu sehen. Rechter Hand befand sich das Hofgebäude. Martin musste schlucken, als er den windschiefen Kasten erblickte.

„Eieieieieieiei … huihuihui …“, entfuhr es ihm.

„Wow! Das sieht nach viel Arbeit aus“, untertrieb Kevin noch.

„Nä ming Jung. Dat sieht nach Abriss us. Da hilft nur noch ein großer Bagger oder ein Kanister Benzin und Streichhölzer“, schätzte Martin die Lage ein.

„Guck mal. Da wachsen sogar kleine Bäume aus den Mauern und dem Dach“, staunte Kevin.

Martin hatte mit nichts Gutem gerechnet. Dennoch musste er zugeben, dass der Hof auf den Fotos, die Annemarie mit ihrem Mobiltelefon geschossen hatte, wesentlich besser aussahen, als es live tatsächlich war.

Kevin stellte den Motor ab und stieg aus. Martin folgte ihm zögerlich. Das Erste, was er wahrnahm, war leise Schlagermusik, die aus Richtung der Campingwagen zu ihnen herüberschallte. Waren da etwa Menschen? War der Platz schon bewohnt? Davon hatte Annemarie ihm gar nichts erzählt. Wobei er aber auch nicht nachgefragt hatte. Er war einfach davon ausgegangen, dass der Platz verlassen war.

Aber nun gut, derzeit war Hauptsaison, und Frieder Hansen war ja erst vor drei Wochen verschieden. Da war es nur logisch, dass der noch Buchungen gehabt hatte. Irgendwem mussten die Campingwagen ja auch gehören. Die Dinger standen hier ja bestimmt nicht herrenlos herum.

Martin folgte Kevin um die Schranke herum und blieb dann wenige Meter dahinter vor einem Wegweiser stehen.

„Sanitäre Anlagen, Kiosk, Anmeldung, Bar, Deich, Badestrand, Streichelzoo“, las er die Pfeilschilder daran, die in alle Himmelsrichtungen deuteten.

„Sogar einen Streichelzoo gibt es“, staunte Kevin.

Martin schluckte und war sich nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, welche Tiere es da wohl zu streicheln gab.

„Moin, kann ich Ihnen helfen?“, quakte die hohe Stimme eines Mannes.

„Moin moin, Martin von Schlechtinger, und dat ist mein Sohn, der Kevin. Ebenfalls von Schlechtinger“, erwiderte Martin den Gruß und stellte sich dem Mann auch gleich einmal vor. Dabei taxierte er ihn genau.

Zugegeben, der Typ hatte etwas Merkwürdiges an sich. Er trug einen vorne offenen blau-weiß gestreiften Bademantel. Die Enden des Gürtels reichten bis zum Boden. Dazu geblümte Boxershorts. Die unbehaarte Brust und der etwas vorstehende Bauch des ansonsten eher dürren Kerls leuchteten weiß in der Sonne. Martin streckte ihm, wie es sich gehörte, die Hand hin. Dabei ruhte sein Blick auf den Füßen des etwa Dreißigjährigen, die in braunen Cowboystiefeln steckten.

„Billy the Kid … also eigentlich Wilhelm Waldbach … aber alle nennen mich hier nur Billy“, stellte auch der Bursche sich nun vor, ergriff Martins Hand und schüttelte sie.

Martin behauptete von sich, eine gute Menschenkenntnis zu besitzen. Er konnte seine Mitmenschen immer schnell in Kategorien einteilen und hatte sich dabei bisher nur selten geirrt. Billy gehörte eindeutig in die Schublade „total bekloppt, aber vermutlich harmlos“.

„Jo, Billy …, ich bin der Maddin“, bot er dem Kerl nun auch mal direkt das Du an.

Billy nickte und strahlte dabei.

„Angenehm, Maddin. Was sagtet ihr beiden noch mal, was ihr hier wollt?“, erkundigte er sich.

„Wir …, also ich bin der neue Platzwart?“, stellte Martin klar. Billy verzog verwundert das Gesicht.

„Du? Ich hatte gehört, dass das so ein oller Drachen von der Insel sei“, erwiderte Billy und nickte mit dem Kopf in Richtung Deich, hinter dem sich irgendwo weit draußen Langeoog befinden musste.

Martin glaubte sich indes verhört zu haben. Er merkte, wie sein Hals anschwoll. Was erlaubte sich dieser kleine Spinner mit dem Morgenmantel!

„Janz dünnes Eis, ming Fründ. Janz dünnes Eis. Dat Frau Annemarie, dat is eine sehr liebenswerte Person. Also pass uff, wat du sagen tust“, stellte Martin klar.

Wenn jemand behaupten durfte, dass Annemarie ein Drache sei, dann war das er selbst und sonst niemand. Auf seine Annemarie würde Martin nichts kommen lassen. Schon gar nicht von so einem dahergelaufenen Sonntagscowboy im Bademantel.

„Ähm sorry. Das is mir nur so rausgerutscht. Ich muss dann aber auch mal los. Termine. Sie verstehen?“, stotterte er, machte auf dem Absatz seiner Cowboystiefel kehrt und suchte das Weite.

Martin sah zu Kevin, der grinste wie ein Honigkuchenpferd.

„Also wenn ich eins nit leiden tun kann, dann is dat, wenn einer wat gegen dat Frau Annemarie sagen tut“, zischte Martin seinem Sohn zu.

„Da hast du vollkommen recht, Papa. Lass dir hier nix gefallen. Immerhin bist du hier jetzt der Platzwart. Da musst du knallhart durchgreifen. Sonst tanzen dir die Camper auf der Nase rum“, sagte Kevin, und Martin war sich gerade nicht sicher, ob sein Junior dies ernst meinte oder ob der ihn auf den Arm nahm.

Aber wo er recht hatte, da hatte er recht. Martin war nun hier der Chef. Und wie ein Chef sich zu benehmen hatte, wusste er nur zu genau. Immerhin hatte er zwanzig Jahre lang einen Sanitär- und Heizungsfachbetrieb geleitet.

„Genau, Kevin. Und sujet wie dat da vorne, dat geht auf meinem Platz schon mal gar nit“, erwiderte er und deutete auf eine der Wohnwagenparzellen.

Hinter einem weiß getünchten Gartenzaun hatte der Camper einen Fahnenmast errichtet, an dem eine Flagge im Wind knatterte. Martin hatte nichts gegen Fahnen. Nein, er fand Fahnen und Windspiele, die sich bewegten, sogar toll. Je bunter, umso besser. Aber eine mit dem Logo des 1. FC Bayern auf seinem Campingplatz. Nein! So etwas ging überhaupt nicht.

Bis auf wenige Stellplätze war der Platz tatsächlich belegt. Zwischen den teils sehr heruntergekommenen Campingwagen verlief ein Kiesweg zu dem langgezogenen Gulfhof.

Diese Höfe, die Wohnhaus, Stall und Scheune unter einem Dach vereinten, waren typisch für den Norden.

„Du, das Dach sieht gar nicht mal so übel aus“, fand Kevin.

„Jo, da häst du recht. Am besten, mir reißen die Bude untenherum ab und lassen nur dat Dach stehen“, unkte Martin und ging schnurgerade auf eine der Campingparzellen zu.

„Ach du meine Güte. Was ist denn hier passiert?“, erkundigte sich Kevin beim Anblick der verkohlten Trümmer, die wohl einmal ein Wohnwagen gewesen waren.

„Hier is et wohl passiert“, antwortete Martin.

Auch von diesem Schandfleck hatte er bereits Fotos gesehen.

„Was passiert?“, hakte Kevin nach.

„Hier hät der Frieder Hansen quasi seinen letzten Furz gelassen. Angeblich hat der vergessen, dat Gas abzudrehen. Als der dann nachts besoffen in seinen Wagen ist und dat Licht angemacht hat, da hat dat dann Bumm gemacht“, fasste Martin die Ereignisse der Unglücksnacht zusammen.

„Der Vorbesitzer des Platzes ist bei einer Gasexplosion ums Leben gekommen? Wie kann denn so etwas passieren? Diese Gaskocher und Geräte schalten sich doch ab, sobald keine Flamme mehr brennt“, war Kevin fassungslos.

Martin klopfte seinem Junior auf die Schulter.

„Richtig, mein Junge. Du wärst bestimmt ein guter Klempner geworden. Von Schlechtinger und Sohn. Mir zwei im Außendienst und dat Mariechen im Büro“, sinnierte Martin. Ja, es war tatsächlich immer sein Traum gewesen, dass der Junge einmal in seine Fußstapfen treten und zusammen mit seiner Schwester den Betrieb übernehmen würde. Doch wie so oft im Leben war alles anders gekommen.

„Nee, Papa, lass mal. Das wäre nichts für mich gewesen. So wie es jetzt ist, ist alles okay“, winkte Kevin ab und stieg über einige Trümmerteile näher an den Explosionsherd.

Ja, wenn Martin es recht überlegte, hatte der Bursche recht. Es wäre tatsächlich alles gut, wenn er nicht noch diesen verflixten Campingplatz an der Backe hätte.

Kapitel 2

Montag. 19. Juni 2023Kriminalinspektion Friedrichstraße / Betzdorf, Westerwald

Kriminaloberkommissar Thomas Kübler war das, was man gemeinhin als ziemlich durch oder reif für die Insel bezeichnete. Die letzten Wochen waren wirklich stressig gewesen. Sowohl dienstlich als auch privat. Ständig war irgendein Kollege krank, im Urlaub oder auf Fortbildung. Da das Arbeitsaufkommen derzeit eh ziemlich heftig war, hatte es sich halt ziemlich geknubbelt.

Zu Hause das gleiche Spiel. Wobei da keiner auf Fortbildung oder in Urlaub war. Nein, die letzten Monate hatten ganz im Zeichen von Alexandras Erbe gestanden. Ihre Oma Fini hatte sie zur Alleinerbin ihres Hauses bei Münster bestimmt. Seinen Plan, die Bude zu verscherbeln, hatte Alexandra bereits verworfen, bevor Thomas ihn zu Ende formulieren konnte.

Nein, seine Frau wollte das Haus erhalten. Als eine Wertanlage, wie sie stets betonte. Vermieten statt verkaufen. Im Grunde keine blöde Idee. Doch dank der Wertanlage waren sie beide nun ziemlich pleite, mit den Nerven runter und vollkommen urlaubsreif.

Die Renovierungen hatten Thomas handwerklich und finanziell alles abverlangt. Doch am Ende hatten sie es geschafft. Ab dem nächsten Ersten war die Hütte an ein junges Paar mit drei Kindern vermietet. Die beiden waren, das hatte Thomas gründlich gecheckt, seriös, liquide und nicht vorbestraft. Die Schlüssel waren bereits übergeben und die Kaution gezahlt.

Er sah zum Kalender an der Wand. Heute war Montag der neunzehnte Juni. Rechnete man den heutigen Tag mit ein, waren es exakt noch fünf Tage bis zu seinem Urlaubsantritt. Freitag um Punkt vier fiel hier der Hammer. Komme, was da wolle!

Dies alles sollte eigentlich ein Grund zur Freude sein. Zwei Wochen lang dem Alltag den Rücken kehren und einfach einmal ausspannen. Ein Urlaub im Liegestuhl auf Balkonien, mit einem Buch neben dem Planschbecken der Kinder und in der Nähe des Eiswürfelspenders könnte ein absoluter Traum werden.

Doch wie so oft würde es wieder einmal anders kommen. Seine Frau wollte in Urlaub fahren. Dem Haus mit den bequemen Betten und den klimatisierten Schlafräumen den Rücken kehren und an die See verreisen.

„Wir fahren einfach los und schauen, wo das Schicksal uns hinführt. Da schlagen wir dann unser Zelt auf und genießen die Freiheit“, hatte sie gemeint. Wobei die Sache mit dem Zelt beinahe wörtlich zu verstehen war. Campingurlaub sei voll im Trend, hatte sie ihm allen Ernstes erklärt. Thomas sah dies vollkommen anders. Warum sollte er freiwillig mitten in der Pampa in einem über fünfzig Jahre altem VW Bus pennen? Was war daran Freiheit, wenn man mit zwei Erwachsenen, zwei Kindern und zwei Hunden auf nicht einmal sechs Quadratmetern hauste? Nichts!

Dennoch würde ihm des lieben Friedens wegen wohl nichts anderes übrig bleiben, als mitzufahren.

Wobei es überhaupt fraglich war, ob der fahrbare Untersatz es überhaupt bis zur Autobahnauffahrt schaffte, bevor er liegen blieb.

Den Hühnerstall, wie sie alle den alten Bulli gerne zu nennen pflegten, hatten sie in einem Schuppen hinter dem Haus von Alexandras Oma gefunden.

Die erste Idee seiner Frau war es tatsächlich gewesen, das Ding als Deko und Hühnerbehausung in den heimischen Garten zu stellen. Daher auch der passende Name für das Vehikel.

Nachdem ein Freund gemeint hatte, das Teil sähe für sein Alter noch gar nicht mal so übel aus, hatte sich Alex dann in den Kopf gesetzt, den Bulli wieder fahrtüchtig zu machen.

Da weder sie noch er Ahnung von solchen Dingen besaßen, hatte dies eine Fachwerkstatt erledigen müssen. Als die Rechnung über die technische Instandsetzung ins Haus flatterte, musste Thomas sich dann erst einmal für einige Minuten hinsetzen und tief mehrmals ein- und ausatmen. Für die Kohle hätten sie locker zu viert für zwei Wochen in den Süden fliegen können. Fünf Sterne all inclusive, versteht sich!

Dem verwitterten und angerosteten Lack des Oldies war Alexandra dann selbst mit Schmirgelpapier und Dutzenden von Sprühdosen zu Leibe gerückt. Die neuen Bezüge für die Polster nähte ihr eine Bekannte aus Stoffresten.

Das Ergebnis war ein kunterbunter Hippiebus, wie man ihn aus Dokumentaraufnahmen des Woodstock-Festivals kannte. Nur dass dieser Bulli niemals in Woodstock gewesen war. Vergammelte Flugblätter und Plakate unter dem Klappbett zeugten von einer bewegten Vergangenheit an der Frankfurter Startbahn West und der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage im bayrischen Wackersdorf. Sogar ein originales Fahndungsplakat nach den Terroristen der RAF war beim Ausräumen unter der Klappbank zum Vorschein gekommen.

Thomas seufzte und griff nach einer Akte von dem noch viel zu großen Stapel auf seinem Schreibtisch. Er war gewiss kein Spießer. Doch diese Ferien widersprachen all den Dingen, für die er einstand. Aber was tat man nicht alles für den lieben Familienfrieden.

Martin von Schlechtinger stand an der Schranke und sah dem kanariengelben Ford Capri mit seinem Sohn am Steuer noch eine Weile hinterher. Gemeinsam hatten sie noch das Werkzeug und Martins Gepäck vor dem Kiosk ausgeräumt.

Kevin würde morgen früh wiederkommen, um ihm ein wenig zur Hand zu gehen. Was Martin nun brauchte, war ein Plan. Er musste das Ganze systematisch angehen. Als Erstes musste er sich eine Übernachtungsmöglichkeit schaffen. Das Haus schied definitiv aus. In dem Zustand, in dem sich der alte Hof befand, konnten da vielleicht Ratten und Mäuse nächtigen. Aber kein Martin von Schlechtinger. Es hatte schon einen Grund gehabt, warum Frieder Hansen in dem Wohnwagen wohnte und nicht im Haus.

Auf den ersten Blick schien der Kiosk im alten Kuhstall der einzig nicht vollkommen verwahrloste Raum zu sein. Den würde er sich gleich als Erstes ansehen. Vielleicht fand er ja irgendwo noch eine Matratze oder ein altes Sofa, auf dem er schlafen könnte.

Martin ging den Kiesweg zurück und besah sich die Wohnwagen. Da war nicht ein einziger dabei, der in den letzten Jahren einmal bewegt worden war. Nein, die alten Vehikel waren vermutlich schon mit dem Boden, auf dem sie standen, verwachsen.

Außer dem Spinner mit dem Bademantel, diesem Billy, war er bisher auch noch keiner Menschenseele begegnet.

Vor einem rosa angemalten Wagen mit einem roten, aus Pappe ausgeschnittenen Herz in der Scheibe blieb er stehen. Zwar war ihm der bunte Camper vorhin schon aufgefallen, doch hatte da der obere Teil der Türe noch nicht aufgestanden. Er reckte die Nase in die Luft. Es roch eindeutig nach frisch aufgebrühtem Kaffee, und das am Mittag.

„Hallo?“, rief er.

In dem Wagen polterte es, dann lugte eine junge Dame mit blaugrünblonden total verwuschelten Haaren aus der Türe.

„Du bist zu früh. Ick bin noch nich so weit. Komm noch mal in zwei, drei Stunden wieder“, beschied sie ihn eindeutig in Berliner Dialekt.

Martin kratzte sich am Kopf. Verwechselte die ihn mit jemand anderem? Könnte schon sein.

„Ähm … Hüren Sie, Fräulein. Ich wollte mich nur kurz vorstellen tun. Ich bin der neue Platzwart“, erklärte er sich daher.

„Ach so … du bist der Neue“, lächelte sie, öffnete auch die untere Hälfte der teilbaren Eingangstüre und trat hinaus. Tatsächlich schien sie auch untenherum nichts anzuhaben. Zum Glück reichte aber das T-Shirt wenigstens bis über ihren Popo. Eieiei, da wusste Mann ja gar nicht, wo man hinsehen sollte. Hübsch war die kesse Berlinerin allemal. Obwohl sie vom Alter her seine Tochter sein könnte, machte die Martin gerade total nervös. Wenn er es sich recht überlegte, würde er sie ungefähr auf Kevins Alter schätzen.

„Martin von Schlechtinger, aber du kannst ruhig Maddin zu mir sagen tun“, bot er ihr nun das Du an.

„Hallo Maddin, ick bin die Trixi“, antwortete sie und griff seine Hand.

„Und wie weiter? Also ich mein, du hast doch bestimmt auch einen Nachnamen“, erkundigte er sich, da er als Platzwart solche Informationen schließlich benötigte. Zumindest glaubt er dies.

„Einfach nur Trixi. Det reicht vollkommen. Magst du einen Kaffee?“, fragte sie und deutete auf einen kleinen schiefen Campingtisch, um den vier Stühle gruppiert waren.

Martin musste nicht lange überlegen. Bei einem guten Kaffee war er immer dabei.

Während Trixi im Wagen verschwand, ließ Martin sich nieder und blickte sich um.

Schräg gegenüber befand sich der Wohnwagen mit dem Fahnenmast, an dem die Bayernflagge im Wind knatterte.

„Magst du Milch oder Zucker?“, rief Trixi aus dem Wageninneren.

„Wenn dat keine Umstände machen tut, dann bitte beides“, erwiderte er und betrachtete den nächsten Wagen in der gegenüberliegenden Reihe. Die Parzelle war eindeutig die ordentlichste auf dem Platz. Die Beete hinter dem kniehohen Zäunchen mit den bunten blühenden Blumen waren sehr gepflegt. Hübsch fand er auch die Schar von Gartenzwergen, die überall verteilt dazwischen weilten.

„So, bitte schön“, meinte Trixi und stellte einen großen Pott mit Kaffee vor ihn auf den Tisch.

„Danke. Dat tut jut“, meinte er, nachdem er kurz an der heißen Tasse genippt hatte.

Trixi trug nun ein eng anliegendes T-Shirt und eine wirklich sehr kurze Jeanshose, die mehr enthüllte, als sie verbarg.

„Tust du hier länger Urlaub machen tun?“, erkundigte sich Martin, da Trixis Wohnwagen auf ihn den Eindruck machte, als könne der nicht mehr gezogen werden, ohne dabei auseinanderzubrechen.

„Ja, so ungefähr“, antwortete sie wieder ausweichend, setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl und nippte ebenfalls an ihrem Kaffee.

„Sag nit, du tust hier fest wohnen tun?“, kam ihm ein Gedanke.

„Nee, nee. Dat is quasi mehr so übergangsweise“, beschied sie ihn und lächelte.

„Aha … und wie lang tut dat schon so übergangsweise gehen?“, blieb Martin hartnäckig.

Trixi sah zum Himmel und überlegte.

„Noch nicht so lang“, wich sie ihm wieder aus.

Nun gut. Das Mädchen würde schon seine Gründe haben, warum es Martin nicht vertraute. Er selbst hatte seiner Tochter Gina Marie immer eingetrichtert, dass sie bei fremden Kerlen vorsichtig sein solle. Bestimmt hatten das die Eltern von Trixi ebenfalls getan.

„Hör mal, Trixi, wat tun hier denn derzeit sonst noch so für Leute wohnen oder campen tun? Wat ist dat zum Beispiel für einer mit der Fahne da vorne? Kommt der aus Bayern?“, änderte Martin jetzt erst einmal die Taktik.

„Das sind Hans Werner und Heidi Paschulke. Keine Ahnung, wo die herkommen. Die sind aber auch meist nur am Wochenende da“, wusste sie.

„Und der mit den Gartenzwergen?“, erkundigte er sich.

„Das ist der Werner Koschinski, der kommt ursprünglich aus dem Kohlenpott. Der war früher mal Bergmann. Also so unter der Erde und so. Der wohnt hier wegen der guten Seeluft“, erklärte sie, beugte sich dann näher zu Martin über den Tisch und flüsterte, „und weil der im Pott keine Kohle mehr hatte, um die Miete zu zahlen. Tagsüber is er oft unterwegs und sammelt Pfandflaschen.“

„Wie, der wohnt hier, weil die Rente zu knapp is? Dat is ja schlimm“, erschrak Martin förmlich. So etwas hörte man ja immer öfter. Er selbst hatte auch als selbstständiger Handwerker immer brav in die Kasse eingezahlt und hoffte irgendwann später nicht einmal so wie dieser Herr Werner Koschinski dazustehen.

„Na ja. Ick sag mal. Der wohnt hier ja nicht schlecht. In Berlin, wo ick herkomme, da gibt det auch genug, die unter der Brücke pennen müssen“, fand Trixi.

„Jo, dat tut natürlich stimmen tun. Besser wie unter der Brück ist dat hier allemal“, meinte er, obgleich er es dennoch schlimm fand, dass ein alter Mann in einem Camper leben und leere Flaschen sammeln musste.

„Da vorne in dem silbernen Wagen wohnt E.T.“, meinte sie und grinste.

Auch dieser Camper war Martin bereits aufgefallen, da er komplett mit Alufolie beklebt worden war und in der Sonne glitzerte wie ein Diamant.

„E.T. Du meinst der kleine Außerirdische aus dem Film“, erkundigte er sich vorsichtig, da es ja auch sein könnte, er habe sich verhört.

„Genau der. Wobei unser E.T. jetzt nicht wirklich klein ist, sondern groß wie ein Bär.“

„Also ist der eher wie der Wuki bei Sternen Krieg oder wie dat heißen tut“, amüsierte sich Martin.

„Ja, das würde vielleicht eher passen. Nee … mal Spaß beiseite“, winkte sie ab und beugte sich zu ihm herüber. „Der heißt eigentlich Ewald. Ick glaub mit Nachnamen Tappert oder so ähnlich. Auf alle Fälle was mit T am Anfang. Deshalb nennen den alle nur E.T.“, klärte sie Martin auf.

„Aha. Und weil die Leute den so nennen tun, hat der sein Vehikel silber beklebt wie ein Ufo“, kombinierte Martin.

„Nee, det is wegen der Strahlung. Der verlässt die Bude meist auch nur, wenn det schon dunkel ist. Und dann nur mit Regenschirm. Den hat er auch mit Folie beklebt … von wegen der Strahlung“, flüsterte Trixi und machte an ihrer Schläfe eine kreisende Bewegung mit dem Finger.

„Ach … du meinst, der ist bekloppt“, brachte Martin es auf den Punkt.

Trixi nickte und schlürfte an ihrem Kaffee bevor sie weitererzählte.

„Ja, und dann ist da noch Billy, der wohnt in dem großen Wagen da drüben. Evi und Ralle, denen ist der Camper mit dem orangenen Vorzelt“, wusste sie und zählte noch einige weitere Platzbewohner auf.

Da Martin sich eh keine Namen merken konnte, zählte er lediglich die Anzahl der genannten Personen mit. Wenn er sich nicht verzählt hatte, kam er, als Trixi endete, auf dreizehn Bewohner des Platzes.

„Aber von denen macht hier keiner Ferien? Dat sind quasi alles Dauercamper?“, fragte er noch einmal nach.

Trixi nickte.

„Ja! Aber wie gesagt, einige von denen sind meist nur am Wochenende da. Dann is hier manchmal richtig Halligalli. Det sind alles Einwohner von Frieder City.“

„Frieder Wat?“, fragte Martin, da er glaubte, sich verhört zu haben.

„Frieder City. So hat er selbst den Platz immer genannt“, bestätigte sie ihm, dass er sich nicht verhört hatte.

„Ach so. Und er selbst war der Herr Oberbürgermeister von der City“, schloss Martin darauf.

Trixi kicherte.

„Quatsch, Maddin. Der Frieder war schon echt knorke. Auf den konnte ick mir immer verlassen. Der war für seine Freunde da. Außer wenn der mal wieder getrunken hat. Dann konntest den nicht gebrauchen“, fand sie.

„Häst du dat eigentlich mitbekommen? Den Unfall mein ich“, interessierte es ihn.

„Icke? Ja klar. Det war ja nüch zu überhören. Mordsknall, sag ick dir“, beschied sie ihn und beugte sich dann wieder über den Tisch. „Aber ob det ein Unfall war … da bin icke mir nüch so sicher“, flüsterte sie erneut.

„Ja, aber wat soll dat denn sonst gewesen sein? Meinst du, der hät sich selbst dat Licht ausgeknipst“, kam ihm ein schlimmer Verdacht.

Trixi schüttelte den Kopf, sah sich kurz um, ob niemand zuhörte, und zischte dann: „Ick wette mit dir, den hat einer abgemurkst.“

„Nä?“, erschrak Martin.

„Doch!“, schien sie sich sicher.

„Und wie kommst du da drauf?“, wollte er wissen.

„Na, ganz einfach. Wie soll denn da Gas explodieren, wenn der gar kein Gas in seinem Wagen benutzt hat. Der Frieder hat mit Strom geheizt. Der hatte da so eine elektrische Heizung“, beschwor sie ihn.

„Aber der hatte doch bestimmt auch einen Gasherd in dem Wagen. Sujet han die Vehikel doch all?“, wandte Martin ein.

„Klar. Aber der Frieder hatte seinen nicht angeschlossen. Der hat nie in seinem Wohnwagen gekocht, sondern immer nur auf dem Elektroherd im Kiosk“, war Trixi tatsächlich bestens informiert.

Martin lehnte sich zurück, sah zu den verbrannten Überresten, die sich schräg gegenüber der Parzelle mit den Gartenzwergen befanden, und dachte nach.

„Aber wer sollte den armen Mann dann umbringen tun?“, fragte er nach einer Weile.

Trixi zuckte mit den Schultern.

„Wat sagt denn die Polizei dazu? Häst du denen von deinem Verdacht erzählt?“, erkundigte er sich.

So verlegen, wie Trixi gerade schaute und sich hinter dem Pott Kaffee versteckte, schien sie dies nicht getan zu haben. Zögerlich schüttelte sie den Kopf.

„Ja, Mädchen. Warum dat dann nit? Wenn man sujet wissen tut, dann muss man dat doch sagen tun“, belehrte er sie.

„Die Bullen haben mich aber auch nicht gefragt. Die waren hier, haben mit der Feuerwehr gequatscht, und eine halbe Stunde später sind sie wieder weg“, antwortete sie.

Martin trank den letzten Schluck Kaffee aus, bedankte sich dafür und erhob sich. Diese Trixi war ihm überaus sympathisch. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass die ihm noch mehr verheimlichte außer ihrem Nachnamen. Nein, mit dem Mädchen war irgendetwas faul. Sie direkt darauf anzusprechen würde nur Sinn ergeben, wenn er darauf aus war, von ihr belogen zu werden. Er würde es schon noch herausfinden, was sie verheimlichte. Jetzt musste er sich erst einmal um ein Nachtlager kümmern. Auf seinem Weg zum Haus blieb er noch einmal vor den Trümmern des Wohnwagens stehen. Die würde er als Erstes beseitigen müssen und sich dann um das Haus kümmern. So einen Schandfleck konnte er als Chef hier nicht dulden.

„Rezeption und Kiosk“, las er das Schild an der Hauswand oberhalb eines Fensters und einer Türe. Aus seiner Latztasche kramte er den Schlüsselbund heraus, den Annemarie ihm ausgehändigt hatte, und probierte die verschiedenen Schlüssel durch. Es war einer der letzten an dem Bund, der sich endlich in dem Schloss drehte. Er schob die Türe auf und betrat den kleinen Laden, der gar nicht so schlimm aussah, wie er ihn erwartet hatte. Hinter einer Theke gab es einen Schreibtisch, auf dem sich sogar ein Computer befand. Auch mit so etwas hatte er nicht gerechnet. An den Wänden ringsherum Regale mit Konserven, Zeitschriften und auch allerlei Nippes und Souvenirs.

Martin trat an einen Postkartenständer, der auf der Ecke der Theke sein Dasein fristete, und drehte ihn. Nicht eine Karte zeigte den Campingplatz. Nein, zu den Motiven gehörten Aufnahmen von Seehunden, Möwen, Meer und Strand. Der ganz normale Wahnsinn wie in jedem der anderen Büdchen an der Küste. Als Nächstes inspizierte er die beiden Kühlschränke mit den gläsernen Türen. Es gab Limo, Cola, Wasser, Eistee, Bier und andere Kaltgetränke. Kölsch suchte er vergeblich. Doch das würde er ändern. In einem Nebenraum hinter dem Schreibtisch entdeckte er eine kleine Küchenzeile. Auch dort öffnete er den Kühlschrank und schloss ihn bei dem Anblick und dem Geruch, der ihm entgegenschlug, schnell wieder. Nun gut, es waren ja auch schon ein paar Wochen vergangen seit Frieders plötzlichem Ableben.

Ob an dem, was Trixi vorhin erzählt hatte, tatsächlich etwas dran sein könnte?, kam es ihm in den Sinn.

Martin besaß ein großes Vertrauen in die ostfriesische Polizei. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es den Beamten verborgen geblieben wäre, wenn Frieder Hansen tatsächlich durch einen Mordanschlag ums Leben gekommen war. Nein, das konnte einfach nicht sein.

Dennoch hatten Trixis Worte ihn ein wenig verunsichert. Immerhin war er, Martin von Schlechtinger, quasi Frieders Nachfolger. Was, wenn jemand den alten Campingplatzbesitzer getötet und es nun auf Martin abgesehen hatte? Vielleicht wurde er hier gerade, ohne es zu merken, zur Zielscheibe eines Bekloppten?

Dass es auf dem Platz einige ziemlich gestörte Individuen, wie zum Beispiel diesen Herrn E.T. oder Billy the Kid gab, war nicht von der Hand zu weisen.

Nein, dieser Gedanke behagte ihm überhaupt nicht. Das Beste würde sein, dass er sich selbst des Falles annahm und eigene Ermittlungen anstellte. Er hatte auch schon so eine Ahnung, wer ihm dabei helfe könnte.

Polizeihauptmeister Onno Feddersen saß an seinem Schreibtisch in der Polizeiamtsstube Langeoog und schrieb mit seinem bewährten Zwei-Finger-Suchsystem das Protokoll der morgendlichen Fahrradkarambolage. An der Einmündung der Barkhausenstraße in die Hauptstraße hatte es wieder einmal dermaßen gescheppert, dass man es kaum glauben konnte. Gerade als er wieder einmal das ß auf der Tastatur suchte, schellte das Telefon. In diesem Tollhaus hatte man niemals seine Ruhe, um ordentlich arbeiten zu können.

„Lotta, würdest du das bitte noch übernehmen?“, bat er die Kollegin Lotta Dönges, deren Hand bereits auf der Klinke der Ausgangstüre lag.

Lotta schnaufte.

„Mensch Onno, ich hab’ schon seit zwanzig Minuten Feierabend. Ich muss Eike an der Kita abholen“, stöhnte die Halbtagskollegin, ging dann aber doch zurück zu ihrem Schreibtisch und ließ sich schwerfällig auf ihren Stuhl sinken.

Ja, seine Lieblingskollegin Lotta hatte in den letzten Monaten wahrlich heftig zugelegt. Wobei dies im achten Monat der Schwangerschaft auch so sein musste. In nicht einmal mehr zwei Monaten sollte der dann bereits sechsjährige Eike endlich ein Geschwisterchen bekommen. Ob Junge oder Mädchen verriet Lotta nicht, obwohl Onno sie schon mehrfach danach gefragt hatte.

„Moin. Inselpolizei Langeoog. Sie sprechen mit Polizeimeisterin Lotta Dönges“, meldete sie sich freundlich. „Ach du bist das, Martin. Du, ich hab’ echt keine Zeit … Ach so, du willst eh den Onno. Okay, dann verbinde ich dich. Tschüss“, sagte sie und drückte dann auf mehrere Tasten, bis es wieder bei Onno auf dem Schreibtisch klingelte.

„Das ist Martin. Er müsse dringend etwas mit dir bequatschen. Scheint wohl eher privat zu sein“, meinte sie, klopfte Onno im Vorbeigehen auf die Schulter und verließ die Wache.

Onno blickte auf das Telefon, das munter weiter Radau schlug.

Was Martin wohl von ihm wollte? Seiner Kenntnis nach weilte der Freund doch seit heute auf dem Festland.

„Inselpolizei Langeoog. Polizeihauptmeister Onno Feddersen“, meldete er sich erst einmal förmlich. Man konnte ja nie wissen, wer da bei Martin saß und mithörte. Im Dienst immer schön Haltung bewahren.

„Moin Onno. Ich bin dat. Der Maddin“, hörte er die vertraute Stimme seines zugegebenermaßen besten Freundes Martin von Schlechtinger.

„Moin, mein lieber Martin. Wie ist denn die Lage auf dem Festland?“, erkundigte sich Onno.

„Et is noch immer jot jejange. Beschissen, aber nit hoffnungslos. Wie man bei uns in Kölle sagen tut“, erwiderte der Kölner.

„Na, das klingt aber gar nicht gut“, fand Onno.

„Is dat auch nit. Aber dat tu ich dir irgendwann mal in Ruhe verzählen tun“, meinte Martin.

„Genau, bei einem leckeren Kölsch und einer Bratwurst vom Grill“, bestätigte er. An dieses Bier aus Köln, das es bei Martin öfter gab, hatte Onno sich mittlerweile sehr gut gewöhnt, obgleich das Zeug tückisch war. Da es nicht so herb, sondern eher sehr mild schmeckte, konnte man das trinken wie Wasser, wurde aber davon genauso betrunken wie von den einheimischen friesischen Bieren.

„Dat tun wir machen. Wobei ich dich eigentlich mal zu mir hier auf den Platz einladen wollte“, meinte Martin.

„Ja natürlich, Martin. Da komme ich doch gerne mal vorbei. Aber momentan ist ja Hochsaison, da kann ich hier nicht so einfach weg. Das muss also noch Zeit haben“, erwiderte er.

„Ja, nä. Zick hat dat, wat mir klären müssten, eigentlich nit. Et geht sozusagen um Leben und Tod. Wobei? Nä! Eigentlich geht dat nur um Tod. Genauer gesagt um Mord“, meinte Martin und flüsterte nun beinahe in seinen Hörer.

„Um Mord? Ist denn jemand umgebracht worden?“, hakte Onno erstaunt nach.

„Ja, nä. Nix Genaues weiß man nit. Ich hab’ dir doch von dem Frieder Hansen erzählt“, meinte Martin.

„Du meinst den Herrn, der sich mit seinem Campingwagen selbst in die Luft gesprengt hat“, wusste Onno sofort, um wen es sich handelte.

„Genau der! Nur dat der sich nit selbst in die Luft gesprengt hat, sondern gesprengt worden ist“, behauptete Martin.

„Ui, na das ist ja nun ein Ding“, war Onno erstaunt.

„Dat kannst du laut sagen tun, mein Fründ“, schnaufte Martin in sein Telefon und klang dabei irgendwie missmutig. Was ja nicht ungewöhnlich war, wenn ein Familienangehöriger gemeuchelt worden war. Auch wenn man diesen nicht persönlich gekannt hatte.

„Was sagen denn die Kollegen von der Kripo? Haben sie schon eine Spur?“, erkundigte Onno sich, da ihn die Ermittlungen in dem Fall doch interessierten.

„Nä, da liegt nämlich dat Problem. Deine Kollegen, die tun da gar nit mehr ermitteln tun. Die waren ein paar Minütchen hier, haben wohl gemeint, dat wäre ein Unfall, und sind dann wieder hoppigaloppi abgedampft“, schimpfte Martin.

„Aber wenn die Polizei nicht ermittelt, wer behauptet denn dann, dass es sich um einen Mord handelt?“, verstand Onno gerade überhaupt nicht.

„Dat Tri … mein Informant tut dat sagen tun“, tat Martin geheimnisvoll.

„Und wer ist dein Informant?“, hakte Onno nach, da er das, was Martin gerade tat, sehr albern fand. Unter Freunden vertraute man sich doch.

„Dat Mädchen tust du eh nit kennen tun, Onno. Die wohnt in einem der Camper im näheren Umkreis von dem explodierten Wagen. Und die hat gesagt, dat der Frieder Hansen in seinem Wohnwagen überhaupt kein Gas drinnen hatte, wat explodieren hätte tun können“, wurde Martin konkreter.

„Hat sie Beweise?“, fragte er weiter.

„Nä. Soweit ich weiß nit“, antwortete Martin das, was Onno bereits vermutete. Außer der ominösen Behauptung gab es bestimmt nichts, was auf einen Mord hindeutete. Die Kollegen vor Ort würden bestimmt ihre Gründe haben, warum sie nicht aktiv geworden waren.

„Gibt es noch weitere Befürworter dieser These, oder ist die Nachbarin die Einzige, die behauptet, der Herr wäre ermordet worden?“, fragte Onno und wusste bereits im Voraus, was Martin ihm nun antworten würde.

„Also bisher noch nit. Deshalb sollst du ja kommen und mit mir hier ermitteln tun“, flehte Martin nun fast.

„Mein lieber Maddin, du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich hier nicht alles stehen und liegen lassen kann, um mit dir in einem Mordfall zu ermitteln, der eigentlich gar keiner ist“, stellte Onno klar. Natürlich wusste er, welch ein hohes Gut eine Freundschaft wie die zwischen ihnen beiden war. Und ja, er würde tatsächlich sofort kommen und Martin bei weiß der Kuckuck was helfen, wenn es Sinn ergab.

„Dann eben nit“, meinte Martin nun lediglich noch und legte dann einfach auf.

Onno blickte auf den Telefonhörer in seiner Hand. War sein Kumpel Martin jetzt tatsächlich wegen dieser blöden Geschichte eingeschnappt? Ja, es schien wohl so zu sein.

Kapitel 3

Montag, 19. Juni 2023Frieders Camping achtern Diek

Martin war enttäuscht von Onno. Der hatte ihm kein Wort geglaubt. Nun gut, ganz sicher war er sich ebenfalls nicht, dass Frieder tatsächlich ermordet worden war. Doch es könnte immerhin sein. War es denn nicht die Aufgabe der Polizei, solchen Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen? Doch, war es!

„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, hatte schon seine Mama immer gesagt. Und wer wusste besser als Martin, dass dem tatsächlich so war. Er war ganz unten gewesen, als seine Firma damals den Bach beziehungsweise den Rhein herunterging. Und jetzt war er wieder da. Seine finanzielle Lage hatte sich merklich gebessert, und er schwamm auf einer Welle der Glückseligkeit. Wenn man mal von dieser Sache mit dem Campingplatz absah.

Nun gut, das Erste, was er für seine Ermittlungen benötigte, war eine Art Kommandozentrale. Einen Platz, wo er sein Lager aufschlug. Der Kiosk erschien ihm als ein geeigneter Ort. Hier gab es ein Telefon, einen Schreibtisch samt Computer, ein Faxgerät und einen Kühlschrank. Er schritt die Regale mit den Souvenirs und den Strand- und Badespaßartikeln ab. Zwischen einem aufblasbaren Krokodil und einem Minischlauchboot entdeckte er eine Luftmatratze samt Luftpumpe. Diese rollte er in der an den Ladenraum angrenzenden Teeküche aus und pumpte sie auf. Bis er etwas anderes fand, würde dies so gehen. Es war allemal besser als damals nach seiner Pleite. Da hatte er wochenlang in seinem Ford Capri geschlafen. Eine üble Zeit. Wenn er daran zurückdachte, tat ihm noch heute der Rücken weh.

Nachdem er sein Nachtlager aufgebaut hatte, kümmerte er sich um den Schreibtisch. Um zu sehen, dass Frieder Hansen ein Chaot gewesen war, brauchte es nicht viel. Die Arbeitsplatte war mit Briefen und Unrat übersät. Zwischen Rechnungen, Mahnungen, Werbung und Briefen vom Amt befand sich auch jede Menge Abfall, Zigarettenkippen und Asche. Auch hier würde er systematisch vorgehen müssen. Er schnappte sich einen großen Karton und einen Müllsack und sortierte erst einmal nur nach Müll und eventuell wichtig. Den Müll in den Sack. Sämtliche Post und Zettelwirtschaft in die Kiste. Die Feinsortierung des Kartons sollte mal lieber Annemarie machen, wenn sie zum Helfen kam. Solche Dinge waren einfach nicht sein Ding.

Nachdem er den Tisch mit einem feuchten Tuch gewischt hatte, kümmerte er sich um den Computer. Obgleich Martin nicht viel Ahnung von solchen Dingen hatte, glaubte er zu wissen, dass der Kasten mit dem dicken Monitor schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte.