Sommer unter Sternen - Miriam Covi - E-Book
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Sommer unter Sternen E-Book

Miriam Covi

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Beschreibung

Du und ich und immer Meer

Als die Hamburger Konditorin Ella Altenburger von ihrem Ehemann verlassen wird, schlägt ihre beste Freundin Maggie vor, dass Ella und ihre Zwillingstöchter ein paar Wochen lang in das Ferienhaus von Maggies Eltern auf Fire Island ziehen. Bei ihrem letzten Besuch auf der Insel vor New York war Ella ein Teenager, doch auch mit sechsunddreißig wird sie erneut von Fire Islands Charme verzaubert. Der Zauber verpufft allerdings rasch, als sie im Ferienhaus Nathan Goodman antrifft: Maggies rebellischer älterer Bruder, ein gefeierter Sternekoch, hat sich dort einquartiert und begrüßt Ella und ihre Kinder alles andere als freundlich. Nur langsam klären sich die Fronten zwischen Ella und Nathan, der auch einen Grund zu haben scheint, warum er auf die Insel geflüchtet ist. Peu à peu beginnt er, sich mit seinem köstlichen Essen in Ellas Herz zu kochen – und das, obwohl sie schon einmal unglücklich in Nathan verliebt war. Könnte ihr verwundetes Herz eine weitere Enttäuschung verkraften? Oder steht diesmal alles unter einem guten Stern?

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Seitenzahl: 686

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Das Buch

Als die Hamburger Konditorin Ella Altenburger von ihrem Ehemann verlassen wird, schlägt ihre beste Freundin Maggie vor, dass Ella und ihre Zwillingstöchter ein paar Wochen lang in das Ferienhaus von Maggies Eltern auf Fire Island ziehen. Bei ihrem letzten Besuch auf der Insel vor New York war Ella ein Teenager, doch auch mit sechsunddreißig wird sie erneut von Fire Islands Charme verzaubert. Der Zauber verpufft allerdings rasch, als sie im Ferienhaus Nathan Goodman antrifft: Maggies rebellischer älterer Bruder, ein gefeierter Sternekoch, hat sich dort einquartiert und begrüßt Ella und ihre Kinder alles andere als freundlich. Nur langsam klären sich die Fronten zwischen Ella und Nathan, der auch einen Grund zu haben scheint, warum er auf die Insel geflüchtet ist. Peu à peu beginnt er, sich mit seinem köstlichen Essen in Ellas Herz zu kochen – und das, obwohl sie schon einmal unglücklich in Nathan verliebt war. Könnte ihr verwundetes Herz eine weitere Enttäuschung verkraften? Oder steht diesmal alles unter einem guten Stern?

Die Autorin

Miriam Covi wurde 1979 in Gütersloh geboren und entdeckte schon früh ihre Leidenschaft für zwei Dinge: Schreiben und Reisen. Ihre Tätigkeit als Fremdsprachenassistentin führte sie 2005 nach New York. Dort verliebte sie sich nicht nur in ihren Mann, sondern auch in die Insel Fire Island mit ihren Bollerwagen und endlosen Stränden. Von den USA aus ging es für die Autorin und ihren Mann zunächst nach Berlin und Rom, wo ihre beiden Töchter geboren wurden. Seit 2017 lebt die Familie in Bangkok, und auch dort arbeitet Miriam Covi weiterhin an neuen Romanen.

Lieferbare Titel

Sommer in Atlantikblau

MIRIAMCOVI

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Originalausgabe 06 / 2019Copyright © 2019 by Miriam CoviCopyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Dr. Diana MantelUmschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von Gettyimages / Stephen Oliver; Bigstock (jakkapan, inxti)Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-22873-6V002www.heyne.de

Für Marco Unsere Reise über die Kontinente ist nicht immer eine leichte, aber ich möchte sie mit niemand anderem erleben als mit dir.

Kapitel 1

Wie so oft liege ich gleichzeitig auf zwei kleinen rosa Betten, mit meinem halben Oberkörper im einen, mit den angewinkelten Beinen im anderen und wünsche mir sehnlichst ein Glas Wein. Die Kanten der zusammengeschobenen Betten in meinem Rücken bringen mich beinahe um, unbequemer geht es kaum noch. Als ich versuche, mich möglichst leise und ohne allzu heftige Bewegungen in eine erträglichere Position zu manövrieren, greift sofort eine kleine Hand in mein Haar und hält meinen Kopf fest.

»Mama, hierbleiben«, murmelt Paula. Verdammt noch mal, warum schläft sie nicht endlich? Der Tag war so anstrengend, dass ich selbst liebend gern einschlummern würde. Und obwohl es erst halb acht ist, bin ich versucht, genau das zu tun, unbequeme Haltung hin oder her. Aber Thomas ist noch nicht zu Hause, und einmal am Tag unterhalte ich mich gern mit meinem Göttergatten. Immerhin habe ich tagsüber ziemlich wenig mit anderen Erwachsenen zu tun, weshalb ich abends regelrecht nach einer Unterhaltung lechze, die sich nicht um Walt Disneycharaktere dreht. Und heute freue ich mich besonders auf meinen Mann, denn ich habe es tatsächlich geschafft, mir die Zeit freizuschaufeln (indem ich die Kinder, zu ihrer grenzenlosen Begeisterung, eine halbe Stunde vor den Disney Channel gesetzt habe), um Thomas’ Lieblingsessen zu zaubern: Die Quiche Lorraine steht im Backofen und wartet nur darauf, aufgewärmt zu werden, sobald mein Schatz nach Hause kommt. Mist, da fällt mir ein, dass ich vergessen habe, ihm eine Nachricht zu schicken, mit der Bitte, ausnahmsweise nicht allzu spät hier zu sein. Wenn er erst nach zehn aus dem Büro kommt, wie vor ein paar Tagen, bin ich mit Sicherheit schon auf dem Sofa eingepennt. Erst recht, wenn ich während des Wartens ein Glas Rotwein trinke. Eine Flasche des guten Barolo habe ich vorhin schon geöffnet, damit der Wein atmen kann. Und ich habe bei Netflix einen politischen Thriller ausgesucht, der Thomas gefallen wird – sollte er also zu einer humanen Uhrzeit hier sein, könnten wir uns endlich mal wieder einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher machen. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, welchen Film wir zuletzt gemeinsam gesehen haben – das ist eine halbe Ewigkeit her. Meist gucke ich mir abends allein eine meiner liebsten Back-Serien an, oder, wenn ich besonders nostalgisch drauf bin, eine alte »Alfredissimo«-Folge auf YouTube – für diese Sendung habe ich früher quasi gelebt, als ich noch Köchin werden wollte.

»Aber klar, mein Schatz, ich bleibe hier«, wispere ich Paula zu, während meine Füße taub werden. Ich muss dringend meine Beine ausstrecken, doch ich weiß nicht wie. Thomas sagt immer, dass ich selbst schuld daran sei, Abend für Abend in unbequemer Haltung in den Betten unserer Töchter darauf zu warten, dass unsere Engel endlich einschlafen. Er hat leicht reden, schließlich ist er fast nie zu Hause, wenn die Mädchen ins Bett müssen. Darum bekommt er auch die Dramen nicht mit, die sich abspielen, wenn ich versuche, nach dem Gute-Nacht-Kuss einfach das Zimmer zu verlassen. »Mama, kuscheln!«, schreien Paula und Clara dann einstimmig und stehen einfach immer wieder auf, watscheln in ihren Schlafsäcken hinter mir her, bis ich klein beigebe und mich in ihre Betten falte, um mir einmal mehr den Rücken zu verrenken.

Ja, der Alltag mit unseren Zwillingen ist alles andere als leicht. Aber wenn ich Gefahr laufe, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden, weil sich Clara mal wieder weigert, auf die Toilette zu gehen und Minuten später auf das Sofa pinkelt oder Paula mit einem Kugelschreiber die Vorhänge »verschönert«, dann muss ich mich nur an die Hormonspritzen erinnern, und mir wird erneut klar, was wir für ein riesiges Glück hatten. Glück im Doppelpack, wie wir es oft nennen – zumindest an den weniger anstrengenden Tagen.

Zu Beginn unserer Ehe, als wir uns einig waren, dass wir möglichst bald Eltern werden wollten, da erschien uns noch alles so einfach. Ich war neunundzwanzig Jahre alt, Thomas einunddreißig. Diese Aufregung, als ich die Pille absetzte, wir das erste Mal ohne Verhütung Sex hatten! Diese Ernüchterung, als dann nichts passierte, über ein Jahr lang. Ich ließ mich untersuchen, bei mir war alles in Ordnung. Nach einiger Überzeugungsarbeit ging auch Thomas zum Arzt, was zu der Erkenntnis führte, dass seine Samenzellen zu langsam schwammen, um meine Eizellen ohne medizinische Hilfe zu befruchten. Also trat Plan B in Kraft, von dem ich nie geglaubt hatte, dass wir ihn brauchen würden: Der Besuch einer Kinderwunschpraxis. Es folgten zwei aufreibende Jahre voller Hormonspritzen, Hoffen, Heulen. Fünfmal wurden mir Eizellen entnommen, zehnmal befruchtete Eizellen eingesetzt. Und beim zehnten Versuch war der Schwangerschaftstest endlich positiv – ein Foto dieses Urinsticks liegt noch heute in der Schublade meines Nachttischchens. Niemals werde ich das Glück dieses Augenblicks vergessen, als mir zwei rote Striche auf dem Stick entgegenschimmerten. Wenig später waren es dann zwei Herzschläge, die Thomas und ich auf dem Ultraschallbildschirm in der Praxis meiner Gynäkologin zu sehen bekamen. Natürlich hatten wir durchaus mit der Möglichkeit einer Mehrlingsschwangerschaft gerechnet, schließlich waren mir seit dem ersten, erfolglosen Befruchtungsversuch bei jedem weiteren Versuch immer zwei befruchtete Eizellen auf einmal eingesetzt worden, um meine Chance, schwanger zu werden, zu erhöhen. Aber dann plötzlich zwei pochende Herzen auf dem Ultraschallbildschirm zu sehen, das war trotz allem im ersten Moment ein kleiner Schock.

»Ach du Schande«, waren Thomas’ erste Worte.

»Au weia!«, sagte ich. Dann strahlten wir uns an. Wir hatten so lange auf ein Baby gehofft – nun waren es also zwei. Wir würden die Kleinen schon schaukeln.

Aber, zugegeben, die erste Zeit mit unseren Töchtern war eher Hölle statt siebter Himmel. Natürlich waren wir überglücklich, dass ich die Schwangerschaft gut überstanden hatte und die Babys nur vier Wochen zu früh per Kaiserschnitt auf die Welt geholt worden waren, was für Zwillinge einen echten Erfolg bedeutete. Und dass die Mädchen beide gesund und munter waren, war ebenfalls ein gigantisches Geschenk – was die ersten Monate mit Clara und Paula trotzdem nicht leichter machte. Ich hatte bis dahin wirklich nicht geahnt, was es bedeutet, dauerhaft viel zu wenig Schlaf zu bekommen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, wie ein Zombie durch die Gegend zu schleichen. Thomas und ich stritten uns, wie wir uns noch nie in unserer siebenjährigen Beziehung gestritten hatten, nicht einmal in den schlimmsten hormongebeutelten In-vitro-Zeiten. Schlafmangel führt leider nicht dazu, die besten Charaktereigenschaften von Menschen hervorzukehren. Ich begriff plötzlich, warum sich laut eines Artikels in einer Elternzeitschrift, den ich im Wartezimmer meiner Gynäkologin überflogen hatte, überdurchschnittlich viele Paare im ersten Lebensjahr ihres Babys trennen.

Doch Thomas und ich haben nicht nur das erste Lebensjahr unserer Zwillinge als Paar überstanden, sondern auch das zweite und dritte. Nun sind unsere Mädchen bereits dreieinhalb Jahre alt, mitten in der schlimmsten Trotzphase, und trotzdem lieben wir sie natürlich heiß und innig. Und uns lieben wir auch noch, selbst wenn oft wenig Zeit bleibt für Zweisamkeit. Aber die Kleinen werden ja so schnell größer, und ehe wir uns versehen, werden sie nicht mehr so viel Aufmerksamkeit fordern, werden selbstständiger sein, können abends mal bei einem Babysitter bleiben, sodass Thomas und ich endlich wieder ausgehen werden, ins Kino zum Beispiel. Bisher wollte ich das nicht. Ich kann mir einfach noch nicht vorstellen, meine Kinder einem Fremden anzuvertrauen. Doch, im Kindergarten sind sie natürlich, aber das ist ja etwas anderes. Wer weiß schon, was so ein Babysitter wirklich treibt, wenn man nicht zu Hause ist?

Endlich klingen Paulas Atemzüge tief und gleichmäßig. Vorsichtig versuche ich, mich aufzurichten, ohne zu viele verräterische Geräusche zu machen. Elegant wie ein Plumpsack schwinge ich meine eingeschlafenen Beine aus dem Bett, quäle mich mit einem unterdrückten Stöhnen in die Höhe und reibe mir den schmerzenden Rücken, während in meine Beine langsam kribbelndes Leben zurückkehrt. Sorgsam darauf bedacht, die Stelle zu umrunden, an der das Parkett quietscht, schleiche ich auf die Tür des Kinderzimmers zu. Als ich die Tür öffne, halte ich den Atem an, denn das Flurlicht scheint nun hell ins Zimmer, und einen Augenblick lang befürchte ich, dass eines der Mädchen wieder aufwacht. Doch sie schlafen nun tatsächlich tief genug, und ich bleibe ein paar Sekunden lang im Türrahmen stehen und betrachte sie: Claras blonde Locken kringeln sich um ihren Kopf wie ein Heiligenschein, während Paulas dunkles Haar störrisch in alle Richtungen steht. Du meine Güte, wenn die Mädchen so friedlich schlummern, sehen sie wirklich aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Man mag gar nicht glauben, dass Clara ihrem Zwilling noch vor einer Stunde ein Playmobilauto auf den Kopf gehauen hat, woraufhin sich Paula mit einem Biss in die schwesterliche Schulter revanchiert hat. Ja, meine Mädchen können sich sehr leidenschaftlich streiten und verwandeln sich beide rasch in tobende Trolle, wenn ihnen etwas nicht passt – aber ansonsten unterscheiden sie sich in ihrem Verhalten eigentlich sehr: Clara ist der eher schüchterne Zwilling mit einem Hang zu Wehleidigkeit und Theatralik, was dazu führt, dass sie schon beim Haarekämmen empört losheult, weil ich ihr angeblich so wehtue. Paula wiederum ist eine kleine Draufgängerin, die unfassbar stur sein kann und selten getröstet werden will, wenn sie sich verletzt. Aber, so unterschiedlich sie auch sein mögen – manchmal sind sie dann doch wieder ein Herz und eine Seele, vergessen ihre Kämpfe und spielen wunderbar miteinander. Bis zum nächsten Streit.

Liebe erfüllt mich, während ich Claras im Schlaf zuckende Augenlider betrachte und Paulas leichtem Schnarchen lausche. Dann schließe ich mit einem erschöpften Gähnen die Tür und will mich auf den Weg in die Küche machen, um mir ein wohlverdientes Glas Wein einzuschenken, als mein Blick ins Wohnzimmer fällt und ich merke, dass Thomas nach Hause gekommen ist.

»Hey«, flüstere ich erfreut und schließe die Tür zum Flur hinter mir, bevor ich lauter sage: »Du bist ja schon da! Heute so früh?«

Thomas sitzt auf dem Sofa und schaut von seinem Smartphone auf. Er hat seine Anzugsjacke über den Esszimmerstuhl gehängt, seine Krawatte abgenommen, den obersten Hemdknopf geöffnet. Zum ersten Mal seit langer Zeit fällt mir auf, wie gut er immer noch aussieht. Keine Ahnung, warum ich das heute plötzlich wahrnehme. Vielleicht liegt es an der Art, wie sein Haar leicht verstrubbelt von seinem Kopf absteht, ganz wie bei Paula. Ich mag sein Haar, wenn es nicht ordentlich glatt gekämmt ist.

»Ja. Hi«, erwidert Thomas und räuspert sich. Er wirkt angespannt. Der Tag im Büro scheint anstrengend gewesen zu sein. Thomas arbeitet als Rechtsanwalt für eine Internationale Sozietät und ist für Steuerrecht zuständig. Seine Klienten nehmen viel Zeit in Anspruch, in den letzten Monaten ist er immer später nach Hause gekommen und hat sogar am Wochenende oft gearbeitet. Ich habe mich daran gewöhnt, auch wenn ich mich häufig allein gelassen fühle mit den Zwillingen. Aber einer muss ja Geld verdienen, schließlich werde ich nicht so bald in meinen alten Beruf zurückkehren. Bis zur Schwangerschaft habe ich als Konditorin in der Konditorei »Behrens« in unserem Hamburger Stadtteil Ottensen gearbeitet und war regelrecht berühmt für meine Hochzeitstorten. Doch während meiner Elternzeit musste die Konditorei leider Insolvenz anmelden, wodurch ich natürlich meinen Job verlor. Zwar war ich mir gar nicht sicher gewesen, ob ich nach Ende der zweijährigen Elternzeit zurück in die Backstube gegangen wäre, doch die Tatsache, dass es meine alte Wirkungsstätte plötzlich nicht mehr gab, traf mich sehr. Umso glücklicher war ich, dass ich zu Hause gebraucht wurde und mich nicht so schnell nach etwas Neuem umsehen musste.

Ich bin gern daheim, bin gern »nur Mama«, wie es oft herablassend heißt. Mich erfüllt diese Aufgabe – selbst wenn es Tage gibt, an denen ich ständig schreien könnte, weil mich die Kinder in den Wahnsinn treiben. Aber ich bin trotz allem viel zu glücklich darüber, die Zwillinge in meinem Leben zu haben, als dass ich etwas anderes machen wollte, als mit ihnen zusammen zu sein, sie groß werden zu sehen. Zumindest vorerst. Sollte es mich doch wieder in den Fingern jucken und ich mich danach sehnen, raffinierte Petit Fours, fantasievolle Teilchen und prachtvolle Torten zu kreieren, werde ich mich nach einer geeigneten Teilzeitstelle umsehen. Bis dahin tobe ich mich hin und wieder in unserer Küche aus, backe glutenfreie Cupcakes für den Kindergarten, zuckerfreie Kekse für den Spielnachmittag mit der Zwillingselterngruppe, vollwertiges Bananenbrot fürs Wochenende.

»Was ist mit deinem Haar passiert?« Ich mache einen Schritt auf Thomas zu, will mit meiner Hand über seinen dunklen Schopf streichen, der hier und da von silbergrauen Strähnen durchzogen wird. Thomas zuckt leicht zurück, streicht sich selbst das Haar glatt und erwidert: »Ach, hmm, da habe ich mir eben wohl etwas zu stark die Haare gerauft, das ist alles.« Er lächelt mich schief an. Mir fällt auf, wie müde er aussieht. Vielleicht ist das mit dem Film doch keine so gute Idee.

»Probleme mit einem Klienten?«

»Mhhm«, murmelt er und sieht wieder auf sein Smartphone. »Wie geht es den Kindern?«

»Ach, sie hätten sich vor einer Stunde fast gegenseitig umgebracht, weil sie sich mal wieder nicht einigen konnten, wer von ihnen Elsa und wer Anna sein durfte, aber ansonsten geht es ihnen gut.«

»Anna und Elsa?« Thomas sieht mich ratlos an. Ich atme tief durch. Ganz ehrlich, wie kann er das nicht wissen? Die Mädchen reden doch von kaum etwas anderem!

»Na, die beiden Charaktere aus diesem Disneyfilm, ›Die Eiskönigin‹. Ich hasse die Eltern von Mia dafür, dass die Kinder dort neulich den Film gucken durften. Seitdem dreht sich hier alles nur noch um Schneemänner und Rentiere.«

Thomas lächelt flüchtig, nickt und murmelt »Mhhm«, ohne den Blick von seinem Telefon zu lösen. Ich unterdrücke einen Seufzer. Wir haben schon so viele Abende mit Streit darüber verbracht, dass er nicht abschalten kann, mit seinen Gedanken ständig beim Job ist. Heute bin ich zu müde für eine Auseinandersetzung. Stattdessen ringe ich mich zu einem gut gelaunten Lächeln durch und sage: »Es passt übrigens wunderbar, dass du heute so früh zu Hause bist, denn ich habe dein Lieblingsessen im Backofen!«

Erwartungsvoll sehe ich Thomas an. Er lässt sein Telefon sinken und erwidert meinen Blick mit einer gewissen Ratlosigkeit. »Lieblingsessen?«, wiederholt er zerstreut. »Pilzrisotto?«

»Ähm … nein, eine Quiche Lorraine. Die liebst du doch. Oder etwa nicht mehr?«

Als Thomas mich immer noch ratlos anstarrt, verschränke ich irritiert die Arme vor der Brust. Ich hatte auf mehr Begeisterung gehofft. »Ehrlich gesagt habe ich schon gegessen.«

Es ist beinahe lächerlich, wie enttäuscht ich bei seinen Worten bin. Warum habe ich ihm auch nicht angekündigt, dass ich mit Essen auf ihn warte? Das war schließlich ewig nicht mehr der Fall. Weil Thomas in letzter Zeit immer später heimgekommen ist, habe ich mir angewöhnt, gegen halb sieben mit den Mädels zu essen. Mit den Kindern zu essen bedeutet, dass ich zwischen dem Aufwischen von Apfelsaftpfützen und der x-ten Diskussion darüber, dass es abends keine Cornflakes gibt, nebenher ein paar Bissen herunterschlinge. Oft esse ich hinterher noch die Überbleibsel der Raubtierfütterung: die Kante von Paulas Leberwurstbrot, angenagte Gurkenscheiben, den Rest von Claras Brötchen, das nicht zu Ende gegessen wurde, weil der Käse nicht genug Löcher hatte. Wenn ich bei solchen kulinarischen Highlights daran denke, dass ich vor einer gefühlten Ewigkeit Köchin werden wollte – und zwar in meinen kühnsten Träumen eine mit Michelin-Stern – dann könnte ich gleichzeitig lachen und heulen.

»Ach, egal«, seufze ich und versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Die Quiche kann man morgen noch aufwärmen. Ich wollte mir gerade ein Glas Wein einschenken. Möchtest du auch eins haben?«

»Ein Wein wäre großartig, danke.« Ich gehe in die Küche, schenke uns zwei Gläser Barolo ein und versuche, weiterhin optimistisch zu sein. Vielleicht können wir trotzdem noch den Film gucken. So früh wie heute war Thomas schließlich ewig nicht zu Hause, vielleicht hat er auch Lust darauf. »Hier«, sage ich, als ich zurück im Wohnzimmer bin, und reiche Thomas ein Glas, setze mich neben ihn aufs Sofa.

»Danke dir.« Endlich legt er sein Telefon zur Seite, greift nach dem Wein, lächelt mich an. Es ist ein flüchtiges Lächeln, irgendwie gezwungen. Von dieser Sorte habe ich in letzter Zeit einige bekommen. Ich nippe an meinem Wein, frage dann: »Ist alles in Ordnung? Stress im Büro?«

Thomas nimmt einen großen Schluck Wein und starrt ein paar Sekunden lang in sein Glas, als habe er Korkkrümel entdeckt.

»Was ist los?«, hake ich sanft nach, streiche über seine glatt rasierte Wange. Thomas zuckt leicht zusammen, sieht mich ernst an. Erstaunt lasse ich meine Hand sinken, ziehe fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Hör zu, Ella, ich muss dir etwas sagen«, beginnt er und rückt ein winziges Stück von mir ab. Und da weiß ich, was kommt, noch ehe er die Worte ausspricht, die meine Welt aus ihren Angeln heben.

»Hi, Ella!«

Maggies Stimme dringt bereits aus den Lautsprechern meines Laptops, bevor ihr Bild richtig zu sehen ist. Wie immer scheint ihre übersprudelnde Art das gesamte Zimmer zu fluten, sogar von New York aus, den weiten Weg über den Atlantik, bis zu mir nach Hamburg.

»Hi«, erwidere ich automatisch und starre meine Freundin an, deren vertraute dunkle Locken mal wieder so aussehen, als seien sie in der letzten Stunde mehrfach gerauft worden. Was vermutlich auch der Fall ist, denn Maggie wird von ihren Jungs mindestens so sehr auf Trab gehalten wie ich von meinen Mädchen. Und noch dazu arbeitet sie, flitzt täglich auf ihrer Vespa zwischen der Columbia Universität und ihrem Homeoffice hin und her. Wie sie das alles schafft, ist mir ein Rätsel.

»Ella? Was ist passiert?«

Natürlich weiß Maggie sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie kennt mich so gut wie niemand auf dieser Welt, außer meinen Eltern und Thomas.

Thomas. Verdammte Scheiße. Die Eiseskälte in meinem Inneren beginnt zu schmerzen. Fast wünschte ich, ich könnte heulen, aber es wollen keine Tränen kommen. Ich bin einfach nur leer, taub, kalt. Als wäre alles Leben aus mir gewichen. Wie tot.

»Ella? Was ist denn los?« Nun klingt Maggie ehrlich alarmiert, doch ich kann nicht antworten. Mein Mund öffnet und schließt sich, ohne dass ein Ton herausfindet.

»Moommmyyy!«, schreit im Hintergrund Josh – oder ist es Zack? Maggie wendet sich kurz vom Bildschirm ab, ich höre, wie sie ihrem Mann Daniel leise auf Englisch zuraunt, er solle sie bitte allein lassen und dafür sorgen, dass die Jungs nicht hereinkommen. Am Rande des Bildschirms nehme ich eine Bewegung wahr, und ich erkenne Dan, der das Wohnzimmer des traumhaften Apartments mit Blick über den Central Park durchquert. Ja, meine beste Freundin und ihr Mann können sich so ein schickes Apartment an der Upper West Side von Manhattan leisten, nur einen Block vom Central Park entfernt. Seit Dan und ein Kumpel aus Studienzeiten vor Jahren ein Software Start-up gegründet und ein Programm an Microsoft verkauft haben, läuft es bei Familie Jackson finanziell mehr als rund. Zusätzlich verdient auch Maggie als »Assistant Professor« für Englisch und Deutsch an der Eliteuniversität Columbia in Manhattan, wo schon ihr Vater gelehrt hat, recht ordentlich. Ich bin selten neidisch auf das perfekte Leben meiner Freundin, denn ich habe Maggie viel zu gern, um ihr etwas zu missgönnen. Aber jetzt, als ich die Spätnachmittagssonne durch die hohen Fenster ihres New Yorker Apartments fallen und im Hintergrund Dan verschwinden sehe, diesen liebevollen, schüchternen Computer-Nerd, der Maggie vergöttert und sie auf Händen trägt, da überrollt mich ohne Vorwarnung eine Welle des Neides. Ich schlucke schwer.

»Ella, rede mit mir. Bitte.« Maggie sieht mich eindringlich an, ich starre stumm zurück. »Ist etwas mit den Mädchen?«

Ich schüttele den Kopf, merke, wie sie leicht aufatmet. »Mit Thomas?«, fragt sie weiter. Ich kann nur nicken. »Was ist mit ihm? Ist er krank?«

»Nein«, stoße ich heiser hervor. Ich schlucke mühsam, versuche Worte zu finden. Endlich gelingt es mir. »Er verlässt mich.«

Kapitel 2

Wie bitte?«, stößt Maggie ungläubig hervor. Ich nicke. Vom Bildschirm aus starrt mich meine Freundin fassungslos an, ihre dunkelbraunen Augen wirken riesig in ihrem schmalen Gesicht. »Ist nicht dein Ernst!«

»Doch«, flüstere ich, atme tief ein und aus. Dann füge ich hinzu: »Er hat … er hat mir eben gesagt, dass er sich in eine andere Frau verliebt hat. Und zwar …« Ich muss mich kurz unterbrechen, weil mir übel wird und ich ein paar Sekunden lang befürchte, dass ich mich übergeben muss. Maggie wartet geduldig, bis ich wieder sprechen kann. Ich sehe sie an und stoße hervor: »In unsere Nachbarin.«

»Was?«, fragt Maggie und reißt ihre Augen weit auf. »Heiliges Kanonenrohr!«

Normalerweise muss ich immer lachen, wenn Maggie in ihrem nach wie vor astreinen Deutsch, das sie während ihrer vier Jahre in Hamburg gelernt und nie mehr vergessen hat, originelle und vor allem kinderfreundliche Flüche von sich gibt. Maggie hat schon immer gern und kräftig geflucht – wohl das Erbe ihrer italienischen Vorfahren, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Neapel nach New York gekommen sind. Aber seit Maggie Jackson-Goodman nicht nur Assistant Professor, sondern auch zweifache Mutter ist, sind ihre Flüche harmloser und gesellschaftsfähiger geworden – sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch. Doch kein noch so leidenschaftlicher Fluch meiner Kindheitsfreundin kann mir heute nur den Ansatz eines Lächelns entlocken.

»Ich fasse es nicht! Wer ist eure Nachbarin?«, hakt sie nach und kaut vor lauter Aufregung an ihren Fingernägeln. Das hat sie schon damals gemacht, mit zwölf Jahren, als sie die Neue aus Amerika war und noch niemanden in Hamburg kannte.

»Jasmin Bayer«, würge ich voller Verachtung hervor. Ich kenne unsere Nachbarin nur flüchtig. Hin und wieder habe ich mich im Treppenhaus vor unseren Wohnungstüren mit ihr unterhalten, über das Wetter, die lauten Nachbarn im ersten Stock, die Kanalbauarbeiten in unserer Straße. Meist lediglich sehr kurz, weil die Mädchen quengelten. Einmal hat sie unsere Blumen gegossen, als wir im Urlaub waren. Ich fand Jasmin Bayer ganz nett. Da wusste ich ja auch noch nicht, dass sie mit meinem Mann ins Bett geht.

»Sie ist Lehrerin. So Anfang dreißig. Schwarze Haare. Sehr schlank.«

Natürlich. Sie hat ja auch nicht jahrelang Hormone in sich hineingespritzt. Sie war nicht sechsunddreißig Wochen lang mit Zwillingen schwanger und hat sicherlich keine wabbelige Bauchdecke, die von Dehnungsstreifen überzogen wird.

»Verflixt und zugenäht«, flucht Maggie in New York. »Hast du sie etwa miteinander erwischt?”

Ich schüttele den Kopf, während ich versuche, mir nicht vorzustellen, wie Jasmin Bayer wohl nackt aussieht. »Nein. Thomas hat mir eben alles gestanden. Einfach so. Aus heiterem Himmel.«

»Was genau hat er gesagt? Wie hat das angefangen, mit dieser Lehrerin?«

»Er … er hat gesagt, dass sie sich oft morgens vor den Garagen unterhalten haben, bevor sie zur Arbeit gefahren sind. Irgendwann hat sie … sie hat ihn um Hilfe gebeten. Sie wollte ein Regal aufhängen. Er ist nach Feierabend zu ihr gegangen, ohne mir das zu erzählen. Da hat es angefangen.«

»Wann war das?«

»Vor vier Monaten«, antworte ich tonlos.

Ich kann das immer noch nicht glauben. Wie kann er mich vier Monate lang betrogen haben – in unserer Nachbarwohnung?

Fassungslos starrt mich Maggie an. So muss ich vorhin ausgesehen haben, als Thomas mir alles gestanden hat, den Blick auf seine Finger gerichtet, die nervös an seinem Ehering drehten. Merkte er überhaupt, womit er da spielte, oder machte er das unbewusst? Ich habe unsere schlichten, klassischen Eheringe immer geliebt. Nichts Modisches, keine funkelnden Diamanten, kein Schnickschnack. Einfach zeitlose Bänder aus Gold, wie man sie bei alten Leuten sieht, die seit fünfzig Jahren verheiratet sind. So hatte ich Thomas und mich auch immer vor mir gesehen. Bis zu dem Zeitpunkt, als er mir das Ende unserer Ehe eröffnet hat. So etwas kam doch nur in schlechten Filmen vor. Nicht im wahren Leben. Und schon gar nicht in meinem!

»Er ist abends immer zuerst in ihre Wohnung gegangen und dann zu uns«, sage ich zu Maggie, während ich an meinem eigenen Ehering herumdrehe. »Er hat die Kinder nicht ins Bett bringen können, weil er nebenan eine andere Frau gevögelt hat.«

Mit einem Mal überkommt mich die Wut auf Thomas mit einer solchen Wucht, dass ich mir die Haare raufe, um nicht schon wieder loszuschreien. Geschrien habe ich eben genug. So lange, bis mir bewusst wurde, dass SIE mich vielleicht hören konnte. Jasmin Bayer. Saß sie nebenan, in ihrem Wohnzimmer, das an unser Wohnzimmer grenzt, während Thomas seine Ehe beendete? Mich fragte, ob mir nicht aufgefallen sei, wie sehr wir uns auseinandergelebt hatten. Mir sagte, dass er die Scheidung wolle. Dass es ihm sehr leidtue. Dass er nicht aufhören würde, für die Kinder da zu sein.

An dieser Stelle verlor ich die Beherrschung. »Wann warst du denn in letzter Zeit für die Kinder da?«, habe ich gezischt, außer mir vor Wut. Aber nicht mehr allzu laut, damit Jasmin nebenan nicht alles mitbekam. Dann habe ich nach meinem Weinglas gegriffen und den guten Barolo über Thomas ausgeleert. Über seinem Hemd, das ich ihm gewaschen und gebügelt hatte, während er über Scheidung nachdachte. Daraufhin ist Thomas aufgestanden und gegangen. Nach nebenan, zu ihr.

Als mir bewusst wurde, dass dort, in unserer Nachbarwohnung, tatsächlich eine andere Frau auf meinen Ehemann wartete, konnte ich mich nicht mehr rühren, starrte regungslos auf die geschlossene Wohnungstür, während eine Erkenntnis nach der anderen erbarmungslos durch meinen Kopf raste. Obwohl mein Körper zu keiner Bewegung mehr fähig schien, lief mein Gehirn auf Hochtouren. Alles war plötzlich so klar.

Thomas hatte gar nicht mehr Überstunden gemacht als vorher. Er war nur nach Feierabend immer nebenan gewesen. Das eine Mal, als er sein Telefon nicht fand und vorgab, noch einmal zum Auto zu gehen, um es zu suchen – er hatte es bei unserer Nachbarin liegen gelassen. Der blonde Mann, der eine Zeit lang bei Jasmin Bayer ein- und ausging, der sicher ihr Freund war – ich habe ihn seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen. Das alberne Kichern, das ich vor ein paar Wochen aus Jasmins Wohnung gehört habe, abends, als ich mit meinem Glas Wein einsam vor der Tagesschau saß. Kurz darauf ein lustvolles weibliches Stöhnen. Zwanzig Minuten später kam Thomas nach Hause. »Ich glaube, die Lehrerin nebenan hat einen neuen Freund. Sie hatte gerade Sex in ihrem Wohnzimmer«, habe ich zu Thomas gesagt, der sich daraufhin an seinem Wein verschluckt hat.

War sein Haar nach Feierabend öfter verwuschelt, und ich habe es bloß nicht gemerkt? War ich so blind? So sehr auf Kinder und Haushalt fixiert, dass ich übersah, wie mein Mann wenige Meter von mir entfernt fremdging?

Scheidung, hallte es in meinem Kopf wider. Alleinerziehend. Scheiße. Scheiße. Scheiße.

Über drei Stunden lang saß ich im Schockzustand auf dem Sofa, den Geruch von Rotwein in der Nase, der um meine Füße herum in den grauen Teppich sickerte und trocknete. Dann wurde mir klar, dass ich Maggie sprechen musste. Maggie weiß immer, was zu tun ist.

Aber meine Ehe kann auch sie nicht retten, wird mir klar, während ich nun vor meinem Laptop sitze und meine Freundin anstarre, die einen Ozean weit entfernt ist und in deren Augen so viel Entsetzen und Mitgefühl und Wut liegen, dass ich einen Moment lang wirklich glaube, endlich losheulen zu können. Doch statt erlösender Tränen habe ich plötzlich das ungute Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Maggie«, stoße ich hervor und ringe nach Atem. »Wie konnte er das bloß machen? Einfach alles beenden? Wie kann ich ihm plötzlich so egal sein? Ich will die Kinder nicht allein großziehen müssen, ich will keine kaputte Familie haben!« Die Panik lässt mich immer schneller sprechen, immer heftiger nach Luft ringen. »Er hat gesagt, dass er sie liebt. Dass er Jasmin Bayer liebt. Dass er zu ihr in die Wohnung hinüberziehen will.« Ich halte inne, fürchte kurz zu kollabieren.

Alarmiert ruft Maggie mir zu: »Ella, Ella, ganz ruhig! Ruhig bleiben, bitte! Tief ein- und ausatmen. Hast du es deinen Eltern schon erzählt?«

Ich lege eine Hand auf meinen Brustkorb, tue das, was mir Maggie gesagt hat: Tief hole ich Luft, konzentriere mich auf meine Atemzüge. Ich darf hier nicht zusammenbrechen, ich bin allein mit meinen Kindern. Thomas ist nebenan. Bei ihr.

Als ich endlich wieder sprechen kann, antworte ich: »Nein. Sie sind doch seit gestern auf dem Kreuzfahrtschiff. Drei Wochen Hurtigruten.«

Mit einem Mal frage ich mich, ob mir Thomas deshalb gerade jetzt seine Affäre gestanden hat. Natürlich wären meine Eltern sofort vorbeigekommen, von Eimsbüttel, dem Hamburger Stadtteil, wo ich aufgewachsen bin, hierher zu uns nach Ottensen. Sie wären ohne Zögern zur Stelle gewesen, sobald ich ihnen eröffnet hätte, dass ihr perfekter Schwiegersohn mich sitzenlässt. Ich bin Einzelkind, der Augapfel meiner Eltern, die einfach alles für mich tun würden. Aber nun sind sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer längeren Reise und können ihrem Schwiegersohn nicht den Marsch blasen. Und das weiß Thomas.

Oh, dieser Feigling!

»Verdammt«, höre ich Maggie in New York murmeln.

»Weißt du, was er gesagt hat?«, frage ich tonlos und sehe meine Freundin an. Sacht schüttelt sie den Kopf, und das Mitleid, das so offen in ihrem Gesicht zu lesen ist, bringt mich beinahe um. »Er hat gesagt, dass die Begleitumstände doch ›ganz günstig‹ wären. Weil er ja nebenan bei Jasmin einzieht. So kann er die Kinder nach wie vor oft sehen. Praktisch, oder? Er vögelt seine Geliebte und kommt danach durchs Treppenhaus zur Noch-Ehefrau und den Kindern, um den Helden-Papa zu spielen, der sich tatsächlich die Zeit für eine Geschichte oder einen gebastelten Papierflieger nimmt.«

Ich lache auf und klinge dabei so hysterisch, dass ich mir selbst Angst einjage. Himmel, das hier ist doch ein schlechter Traum, oder? Noch nie habe ich mir so sehnlich gewünscht, aufzuwachen und festzustellen, dass mein Leben nach wie vor in geordneten Bahnen verläuft. In langweiligen Bahnen vielleicht, aber dafür ohne Drama. Nein, Thomas und ich waren in den letzten Jahren sicherlich nicht mehr das überglückliche Paar wie zu Beginn unserer Beziehung. Ja, wir hatten nur noch sehr selten Sex, seit die Kinder auf der Welt waren. Im letzten halben Jahr gar keinen mehr.

Ich korrigiere: Ich hatte keinen Sex. Thomas sehr wohl.

Aber trotz allem habe ich mein Leben gemocht, wie es war. Die Kinder haben mich so sehr auf Trab gehalten, dass ich einfach nur froh war, abends nicht auch noch Lust vorspielen zu müssen. Und die Beinrasur konnte ich mir somit auch sparen, ein echtes Plus, wenn man morgens gefühlte zweieinhalb Minuten Zeit im Bad hat, bevor es von streitenden Kleinkindern gestürmt wird.

»Ella?«, höre ich Maggies Stimme. Ich sehe sie an. Keine Ahnung, wie oft sie in den letzten Sekunden meinen Namen gesagt hat. Ich blinzele, um zurück zu unserem Gespräch zu finden. »Du musst dringend da raus, Ella.«

Maggie klingt ernsthaft besorgt. Die Kälte in meinem Inneren wird intensiver. Scheiße, wohin soll ich denn? Das hier ist mein Zuhause! Die Altbauwohnung, die wir uns wegen der teuren In-vitro-Fertilisation eigentlich nicht hätten leisten sollen, die wir aber trotzdem gekauft haben, als die Kinder gerade geboren waren. Nie werde ich unsere erste Nacht in dieser Wohnung vergessen, als Clara und Paula sechs Monate alt waren. Zwar war ich während des Umzugs mehrfach nur sehr knapp an einem Nervenzusammenbruch vorbeigeschrammt, denn Umzüge mit Schlafmangel und schreienden Babys sind nicht empfehlenswert. Aber als wir an jenem ersten Abend hier saßen, auf dem Wohnzimmerparkett, an noch volle Umzugskartons gelehnt, mit Sekt aus Plastikbechern anstießen und auf den Pizzaboten warteten, während die Mädchen zum ersten Mal in ihrem eigenen Kinderzimmer schliefen, da war ich rundum glücklich.

Wo ist das hin, dieses Glück? Es kann doch nicht einfach alles vorbei sein! Das passiert nur anderen Paaren, habe ich immer gedacht. Doch nicht uns. Nicht nach all dem, was wir gemeinsam durchgemacht haben. Wir sind doch ein Team, Thomas und ich. Oder?

»Du musst mit den Mädchen da raus«, höre ich Maggie drängend wiederholen. Ich reiße meinen Blick von der Stelle am Fußboden los, wo Thomas und ich damals saßen, und sehe meine Freundin resigniert an.

»Aber wohin sollen wir denn?«, frage ich tonlos.

»Nach Fire Island«, kommt Maggies resolute Antwort, und ich merke an der Art, wie sie ihre Schultern strafft und tief durchatmet, dass ihr dieser Gedanke just in diesem Moment gekommen ist und dass sie ihn großartig findet.

»Fire Island?«, hake ich nach. Ohne Vorwarnung schwirren Bilder durch meinen Kopf, der Kälte in meinem Inneren zum Trotz. Bilder von perfekten Sommertagen: die idyllische Insel, das grau geschindelte Holzhaus der Goodmans, nur einen Steinwurf vom Meer entfernt. Die Wege zwischen den Häusern, ohne Autos, dafür überall Bollerwagen. Und Hirsche. Die Holzplankenwege Richtung Strand, durch hohes Dünengras, eine dünne Schicht Sand auf den Brettern, wie Puderzucker. Der Strand. Dieser traumhafte, kilometerlange Strand. Maggie und ich, sorglose Teenager, braun gebrannt auf Handtüchern in der Sonne liegend, Rettungsschwimmer anhimmelnd. Zweimal durfte ich meine Sommerferien mit Maggie und ihrer Familie auf der Insel vor New York verbringen: Einmal mit sechzehn Jahren, dann noch einmal mit achtzehn Jahren. Und ich erinnere mich gern an diese langen Sommertage. Und Sommernächte. An den warmen Sand. An den Sternenhimmel.

An Nathan.

Ich blinzele und schüttele leicht den Kopf, um mich ins Hier und Jetzt zurückzuholen.

»Fire Island?«, wiederhole ich und merke, dass Maggie auf der Tastatur ihres Laptops herumhämmert.

»Ja«, bestätigt sie knapp. »Warte, ich schaue gerade nach Flügen.«

»Aber … fährst du denn auch dorthin?« Hoffnung keimt vage in mir auf, versucht der Kälte zu trotzen.

Doch Maggie schüttelt ihren Kopf, streicht sich eine ihrer unbändigen dunklen Locken aus der Stirn und sieht mich bedauernd an. »Noch nicht«, erklärt sie sanft, weil mir die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben sein muss. »Wir sind gerade dabei, die Koffer zu packen, morgen früh geht es nach San Francisco. Du weißt schon, die Hochzeit von Dans Cousin.«

Richtig, über die Kalifornienreise hatten wir gesprochen – vor ein paar Wochen, als die Welt noch in Ordnung war.

»Stimmt ja«, murmele ich und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. »Aber … wann würdest du denn nach Fire Island kommen?«

Normalerweise verbringen Maggie, Dan und die Jungs jeden Sommer mindestens vier Wochen auf der schmalen Insel vor New York, Maggies Eltern ebenfalls. Nur Maggies älterer Bruder Nathaniel, genannt Nathan, kommt nie dazu. Er ist schließlich ein gefeierter Koch in New York, ein absolutes Arbeitstier, er brennt für seinen Beruf. Nathan macht keinen Urlaub, hat Maggie irgendwann in den letzten Jahren geantwortet, als ich beiläufig gefragt habe, ob er jemals nach Fire Island kommt.

»In zweieinhalb Wochen«, erklärt Maggie ruhig. »Sobald wir aus San Francisco zurück sind, komme ich mit den Jungs auf die Insel, versprochen. Und bis dahin hast du deine Ruhe.«

»Mit den Kindern«, bemerke ich und stelle zu meinem eigenen Erstaunen fest, dass ich trotz der Taubheit in meinem Inneren sarkastisch sein kann. Maggie scheint dies ebenfalls zu registrieren, denn sie lacht beinahe erleichtert auf, ganz so, als glaubte sie, ihre alte Freundin zurückzuhaben.

Dabei wird von heute an nichts mehr so sein wie vorher.

»Na ja, wenn sich die Mädchen am Strand austoben können, schlafen sie nachts wenigstens tief und fest«, lacht Maggie. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«

Ihr älterer Sohn Joshua ist sieben, der kleine Zackary fünf.

»Und deine Eltern?«

»Sind noch auf Moms Buch-Promotion-Tour«, erwidert Maggie. »Gerade irgendwo in Michigan.«

Richtig. Maggies Mutter, Beatrice Goodman, ist mit ihrem zehnten Roman erneut auf der New York Times-Bestsellerliste gelandet. Ich habe schon ein paar Mal versucht, Beatrices Bücher zu lesen, aber ihre historischen Romane sind alles andere als leichte Kost, sodass ich bei fast allen auf halbem Wege aufgegeben habe, obwohl ich normalerweise wirklich gerne lese. Eigentlich ist Beatrice Englischlehrerin, aber sie hat schon kurz nach Maggies Geburt begonnen, Romane zu schreiben und war schließlich so erfolgreich damit, dass sie ihren Lehrerberuf mit Mitte fünfzig an den Nagel gehängt hat, um sich nur noch dem Schreiben widmen zu können.

»Dad meinte, wenn sie es dieses Jahr überhaupt für einen längeren Zeitraum auf die Insel schaffen, dann erst im August. Vorher höchstens mal ein Wochenende lang. Aber meine Eltern lieben dich, Ella. Es würde ihnen nichts ausmachen, sich das Haus mit dir zu teilen.« Ich höre, wie sie ein paar Mausklicks macht, während ich an Harry und Beatrice Goodman denken muss. Er groß und früher blond, heute grauhaarig, mit immer stärker zurückweichendem Haaransatz und freundlichen blauen Augen. Sie klein und hektisch, mit flatternden Händen und agilem Mundwerk, ihre Locken schwarz, ihre Augen dunkelbraun – beides wie bei Maggie. Und Nathan.

»Hör zu, ich habe einen Flug für dich gefunden«, verkündet Maggie und sieht mich triumphierend an. Ich würde gern lächeln, doch es klappt nicht. »Lufthansa, direkt von Hamburg nach New York, noch vier freie Plätze. Übermorgen früh um 11.30 Uhr geht es los.«

»Was, schon übermorgen?« Ich starre Maggie an und vergesse zwei Herzschläge lang, zu atmen.

»Hey«, sagt sie sanft, und ich erwidere zweifelnd ihren Blick. »Ich will dich nicht überrumpeln, Ella. Aber … Also, ich könnte das nicht. In eurer Wohnung bleiben, als wäre nichts geschehen, während Thomas nebenan was-weiß-ich mit dieser Jasmin treibt.«

Als ich an Jasmins Stöhnen vor ein paar Wochen denke, schließe ich flüchtig die Augen. Maggie hat recht, ich muss hier weg. Dringend. Aber – nach Fire Island? Was soll ich denn allein mit den Zwillingen auf einer Insel, auf der es keine Autos gibt, keinen großen Supermarkt, kein Krankenhaus? Was, wenn etwas passiert? Dann fällt mir die Insel-Arztpraxis ein, zu der mich Beatrice Goodman mit sechzehn gebracht hat, als ich in eine Glasscherbe getreten war. Für eine erste Notfallbehandlung in jedem Fall ausreichend. Und wenn man es eilig hatte, musste man nicht auf die Fähre warten, erinnere ich mich plötzlich, denn es gab doch diese Wassertaxis. Und einen netten Lebensmittelladen, wo zwar alles etwas teurer war als auf dem Festland, doch man konnte sich dort gut versorgen.

Aber ich bin noch nie allein mit den Kindern geflogen. Und dann gleich ein Transatlantikflug? Niemals. Das überlebe ich nicht.

»Du hast doch einen gültigen Pass, oder? Und die Kinder auch?«, hakt Maggie nach.

»Ähm …« Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Ja, ich habe einen gültigen Pass, und die Kinder haben auch welche, weil wir schon ein paarmal mit den beiden ins Ausland gereist sind. Zwar nur innerhalb Europas, aber sogar dafür brauchen Kinder ja Reisepässe als Ausweise. Erst im Frühling waren wir auf Teneriffa. Aber Fire Island, ich allein mit den Mädchen? Nein, schon bei der Vorstellung bekomme ich Panik. Zwar war Thomas oft nicht zu Hause, aber ganz auf mich allein gestellt war ich mit den Zwillingen trotzdem noch nie.

»Maggie, ich … ich kann das nicht so schnell entscheiden«, weiche ich daher aus. Meine Freundin sieht mich prüfend an, und ich merke, dass sie mein Zögern nicht verstehen kann, dass sie gern sofort einen Flug für mich buchen würde. Sie öffnet den Mund, hat sicherlich schon ein weiteres Argument auf den Lippen, doch mein Gesichtsausdruck scheint ihr zu sagen, dass ich im Moment wirklich zu keiner so großen Entscheidung fähig bin. Also atmet Maggie lediglich tief durch und lehnt sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. »Okay, Süße. Ich will dich nicht drängen. Aber du weißt, ein Anruf genügt und ich buche dir die Flüge. Na ja, zumindest bis morgen früh unserer Zeit, denn um acht Uhr müssen wir los, zum Flughafen. Aber auch, wenn wir in San Francisco sind, bin ich immer erreichbar, okay?«

Ich nicke und versuche erneut zu lächeln, was mir nach wie vor nicht gelingt. Momentan habe ich ernsthafte Zweifel daran, jemals wieder richtig lächeln zu können.

Es ist bereits drei Uhr morgens, als ich mich endlich dazu durchringen kann, das Sofa zu verlassen und mich ins Schlafzimmer zu schleppen. Ohne mir die Zähne zu putzen oder mich abzuschminken bleibe ich vor unserem Ehebett stehen und will mich schon erschöpft darauf fallen lassen, als mein Blick auf Thomas’ unberührte Seite fällt. Ich betrachte sein Kopfkissen, das ich gestern Morgen aufgeschüttelt habe, nicht ahnend, dass mein Mann heute Nacht nicht mehr dort liegen würde. Als ich daran denke, wie oft ich nachts meine kalten Füße unter Thomas’ Beine geschoben habe, wie oft mich sein lautes Schnarchen geweckt hat, wird mir übel vor Kummer. Was würde ich plötzlich darum geben, ihn wieder schnarchen zu hören. Unfähig, mich in unser verwaistes Ehebett zu legen, will ich gerade auf den Fußboden sinken und endlich in erlösende Tränen ausbrechen, als mich ein Geräusch aufhorchen lässt. Ein vertrautes Geräusch, leise, aus der Ferne. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, was das ist.

Ich höre Thomas schnarchen. Und zwar nebenan, in Jasmins Schlafzimmer. Erst jetzt begreife ich voller Entsetzen, dass er direkt hinter der Wand schlafen muss, an der sich das Kopfende unseres Ehebetts befindet. Auf der anderen Seite steht anscheinend Jasmins Bett. Ich war nie in ihrer Wohnung, habe nur einmal einen flüchtigen Blick durch ihre Eingangstür ins Wohnzimmer erhascht, das im Sechzigerjahre-Retro-Stil möbliert war. Aber es macht durchaus Sinn, dass nicht nur unsere Wohnzimmer aneinandergrenzen, sondern auch unsere Schlafzimmer. Diese Erkenntnis lässt mein Inneres noch kälter werden, was ich überhaupt nicht für möglich gehalten habe. Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein: Vor ungefähr einem Jahr, als noch der blonde Mann bei Jasmin ein- und ausging, habe ich nachts mal wieder wegen Thomas’ Schnarchen wach gelegen und hinter unserer Schlafzimmerwand ein Bett rhythmisch quietschen gehört. Oh mein Gott, das hatte ich völlig verdrängt! Werde ich mir von jetzt an etwa anhören müssen, wie mein Mann auf der falschen Seite unserer Schlafzimmerwand schnarcht? Und, noch schlimmer: Wie Jasmins Bett quietscht, wenn ER mit ihr dort Sex hat?

Ich versuche, ruhig zu atmen, aber es gelingt mir nicht, während ich entsetzt vom Bett zurückweiche. Rücklings stoße ich gegen die Kommode neben der Zimmertür, reibe mir leise fluchend meinen Arm und will aus dem Raum flüchten, als ich innehalte, die oberste Kommodenschublade anstarre. Was darin ist, weiß ich genau: unsere wichtigsten Unterlagen. Unter anderem die Reisepässe, nach denen Maggie eben gefragt hat. Sofort muss ich wieder an unseren letzten Familienurlaub denken, der, wie es aussieht, auch wirklich unser letzter Urlaub als komplette Familie war. Mein Inneres scheint vor schmerzender Kälte zu bersten, als ich wieder die Mädchen und mich auf Teneriffa im Babypool planschen sehe, ich auf naive Weise glücklich und zufrieden, während Thomas im Schatten eines Sonnenschirms auf einer Liege saß, sein Smartphone in der Hand.

Mein Herz droht auszusetzen. Das war im April. Jetzt haben wir Ende Juni. Seit vier Monaten schläft er mit Jasmin. Es war also nicht die Arbeit, die ihn im Schatten am Smartphone kleben ließ. Ich frage mich, was er ihr getextet hat.

»Vermisse dich. Wünschte, ich wäre mit dir hier.«

Von Entsetzen getrieben reiße ich die Schublade auf, ziehe unsere Pässe heraus. Mit einem letzten Blick auf die Schlafzimmerwand, hinter der mein Ehemann mit einer anderen Frau liegt, haste ich zurück ins Wohnzimmer. In New York ist es halb zehn am Abend, und zum Glück ist Maggie noch wach und nimmt meinen Skype-Anruf sofort an. »Okay«, sage ich atemlos, sobald ihr besorgtes Gesicht auf dem Bildschirm auftaucht. »Bitte buch die Flüge, Maggie.«

Kapitel 3

Ich schließe die Tür der Behindertentoilette im Ankunftsbereich des John F. Kennedy Flughafens ab, sinke auf den gefliesten Fußboden und breche in Tränen aus. Nein, natürlich sitze ich nicht im Rollstuhl, aber in die überfüllte Damentoilette passe ich mit Kofferkuli und Kindern kaum hinein. Außerdem soll niemand mitbekommen, wie fertig ich bin. Meine Schultern werden von Schluchzern geschüttelt, während ich meine Wut, meine Verzweiflung, meine Erschöpfung aus mir heraus heule. Ich schaffe das alles nicht allein! Wieso habe ich bloß auf Maggie gehört und bin einfach so mit den Kindern hierhergekommen, nach New York? Gerade fühle ich mich, als wäre ich einhundert Jahre alt. Mindestens. Ich bin hundemüde, mir tut alles weh, besonders der Rücken, nachdem ich eben unsere Koffer vom Gepäckband gewuchtet habe, zum ersten Mal seit Jahren. Weil sonst immer Thomas zur Stelle war und das gemacht hat.

Ja, all unsere Reisen mit den Zwillingen waren anstrengend, aber wir waren immer zwei Erwachsene. Zwar war meistens ich diejenige, die im Flugzeug mit Bilderbüchern, Wasserflaschen und Feuchttüchern hantierte und versuchte, die Prinzessinnen bei Laune zu halten, während Thomas für gewöhnlich kurz nach dem Start einschlief, als wäre er auf einer einsamen Insel. Aber: Er war trotz allem da, konnte bei Bedarf geweckt werden. Ich war nicht allein mit meinem Ärger über das Herumzicken und ständige Streiten der Mädchen. Die Scham über ihre Wutanfälle in der Öffentlichkeit wurde auf zwei Paar Schultern verteilt.

Jetzt nicht mehr. Jetzt bin da nur noch ich, die sich anhören darf, was für eine blöde Mama ich sei, weil ich den Mädchen verboten habe, auf dem Kofferband im Kreis zu fahren. »Blöde, blöde Mama! Ich will Papa!«

Ja, ich auch. Ich bin kurz davor, zu schreien: »Aber leider will Papa uns nicht mehr!«, doch ich schlucke die giftigen Worte hinunter. Die Kinder können schließlich am wenigsten für unsere Situation.

»Bist du dir sicher, dass du das ganz allein schaffst?«, hat mich Thomas zweifelnd gefragt, als er gestern nach Feierabend erstaunlich früh zu uns kam, um den Mädchen in ihren rosa Betten »Gute Nacht« zu sagen. Dass das nun so plötzlich möglich war, tat verdammt weh, und ich hasste Thomas dafür. Klar, er hatte ja nun reichlich Zeit, um Dinge mit Jasmin zu tun, die ich mir nicht vorstellen wollte, die sich aber immer wieder vor mein inneres Auge schoben. Er hatte nun, da er mir nichts mehr vorspielen musste, die ganze Nacht mit ihr. Also war für die Töchter tatsächlich eine halbe Stunde vorlesen drin.

Und das Furchtbare daran war: Die Mädchen waren außer sich vor Glück. Endlich der Papa, der ihnen die Bilderbücher immer so besonders unterhaltsam vorlas, der Stimmen imitierte, der sie noch einmal gründlich durchkitzelte, sodass sie wieder richtig aufgeputscht waren und noch später einschliefen als sonst. Ich bemühte mich nach Leibeskräften darum, mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen, doch innerlich heulte und schrie ich, als er Clara und Paula ihre Gute-Nacht-Küsse gab, sich von ihrer grenzenlosen Liebe und Bewunderung überschütten ließ und schließlich zu mir ins Wohnzimmer kam.

Würde es von nun an immer so sein? Würde Thomas abends kurz hereinschneien, sich von seinen Töchtern als Held feiern lassen, der viel lieber war als die »blöde Mama«, um dann durchs Treppenhaus zu seiner neuen Freundin zu eilen und mir die schnöden Alltagsscherereien zu überlassen? Die Diskussionen rund ums Brokkoli essen, Pipi machen, Zähne putzen?

»Mama! Kuscheln!«, ertönten die Schreie der Zwillinge.

»Ja, sofort«, rief ich zurück und drückte Thomas die Einverständniserklärung in die Hand, von der Maggie meinte, dass ich sie brauchen würde. Sonst würde man am Flughafen eventuell glauben, dass ich die Kinder entführte. Ich hasste die Tatsache, dass ich Thomas quasi um Erlaubnis bitten musste, mit den Kindern zu verreisen. Er war es doch, der fremdgegangen war, er war es, der gleich in die Nachbarwohnung verschwinden würde, als sei es das Normalste der Welt, als wohnte er schon ewig auf der rechten Seite des Treppenhauses anstatt auf der linken!

Als mich Thomas über das Schreiben hinweg zweifelnd ansah und fragte, ob ich mir den langen Flug nach New York wirklich allein mit den Kindern zutraute, verdrängte mein Stolz den letzten Rest der Angst vor der Reise, und ich erwiderte kühl: »Natürlich traue ich mir das zu. Ich bin ja sonst auch immer allein mit den Mädchen.«

»Aber du kannst doch nicht einfach so Hals über Kopf abhauen«, bat Thomas leise und sah mich eindringlich an. Ich schluckte und unterdrückte den Impuls, ihm eine Ohrfeige zu geben.

»Maaaamaaa!«, schrien Clara und Paula.

»Sofort!«, gab ich zurück und antwortete Thomas mühsam beherrscht: »Doch. Das kann ich. So wie du einfach von heute auf morgen unser Familienleben zerstören konntest. Ich brauche einen Tapetenwechsel. Und den werde ich dir gegenüber nicht lange rechtfertigen, schließlich hast du deinen Tapetenwechsel ja schon vollzogen. Wortwörtlich. Allerdings ohne mein Einverständnis. Also, bitte unterschreib jetzt, ich muss Koffer packen.«

»Aber wann kommt ihr denn zurück?«

»Der Rückflug ist für Anfang August gebucht.«

Thomas riss seine Augen weit auf. »Anfang August? Das sind ja … sechs Wochen?«

Ich nickte. »Ja. Sorry, Thomas, aber jetzt tu bitte nicht so, als würdest du eingehen, wenn du die Mädchen sechs Wochen lang nicht siehst. Du hast es schließlich auch in Kauf genommen, sie Abend für Abend nicht ins Bett zu bringen, weil du nebenan Wichtigeres zu tun hattest.«

Thomas starrte mich an, ich starrte zurück. »Hör mal, es tut mir wirklich leid«, begann er schließlich und raufte sich mit einer Hand das Haar, doch ich unterbrach ihn barsch.

»Jetzt nicht. Wirklich nicht. Spar dir deine Entschuldigungen. Egal was du sagst, du machst es nicht besser.«

Thomas zögerte, nickte schließlich stumm. Dann presste er das Schreiben an den Türrahmen, kritzelte eine Unterschrift darauf. Als er mir die Einverständniserklärung zurückreichte, bat er eindringlich: »Aber wir skypen, ja? Bitte.«

»Von mir aus«, erwiderte ich mit einem Schulterzucken und faltete das Schreiben sorgfältig zusammen. »Wenn du tatsächlich die Zeit finden solltest, um mit deinen Kindern zu skypen, werde ich die Letzte sein, die dir im Wege steht. Ich persönlich habe dir nicht mehr viel zu sagen.«

»Ich bringe euch morgen zum Flughafen«, sagte Thomas entschlossen. »Wann geht euer Flug?«

»Um 11.30 Uhr. Und wir nehmen ein Taxi. Du musst doch ins Büro.«

»Ella, bitte.«

»Mach es nicht noch schwerer für alle Beteiligten, okay?«, herrschte ich ihn aufgebracht an. »Kein tränenreicher Abschied am Flughafen! Du kannst den Mädchen Tschüs sagen, bevor du morgen früh zur Arbeit gehst. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe.«

Als unsere Wohnungstür hinter ihm zufiel, hockte ich mich auf den Fußboden und brach lautlos in Tränen aus. Es waren die ersten Tränen, die ich weinen konnte, seit meine kleine, schöne Welt am Abend zuvor zusammengebrochen war.

»Maaaamaaaaaa!«

»Ja, ich komme schon«, rief ich heiser und wischte mir schnell das Gesicht trocken. Die Mädchen sollten nicht mitbekommen, wie fertig ich war. Sie wussten noch nicht, dass ihr Papa von nun an nebenan wohnen würde.

Jetzt sitze ich erneut auf einem Fußboden und weine, aber diesmal nicht lautlos. Und die Mädchen bekommen es sehr wohl mit. Eine klebrige Hand fasst nach meinem Arm.

»Mama?«, höre ich Claras bebende Stimme. Ich wische mir unter den Augen entlang, bevor ich den Blick hebe.

»Warum weinst du, Mama?«, lispelt Paula.

Beide Mädchen stehen dicht vor mir und betrachten mich mit einer Mischung aus Faszination und Furcht. Claras blonder Pferdeschwanz ist verrutscht, die neuen Katzen-Haarklammern hängen mit scheinbar letzter Kraft am Ende ihrer Locken. Paulas Haarreif mit dem pinkfarbenen Glitzerkrönchen sitzt schief auf ihrem Kopf, die Hälfte ihres dunklen Haars hat sich aus den zwei Zöpfchen gelöst, die ich heute Morgen im Taxi auf dem Weg zum Hamburger Flughafen geflochten habe. Augenblicklich schäme ich mich in Grund und Boden, weil ich vor meinen Kindern so sehr die Fassung verloren habe. Du meine Güte, wenn ich mich nicht zusammenreiße, werden sie in zwanzig Jahren beim Psychiater auf der Couch sitzen und versuchen, ihre Kindheitstraumata von der heulenden Mama auf dem Flughafen-Klo aufzuarbeiten.

»Ist schon alles okay«, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab, während ich mich in die Höhe rappele. »Mama ist müde vom langen Flug, das ist alles.«

Mit einem Mal wird mir klar, dass die beiden auch müde sein müssen, todmüde. Schließlich haben sie im Flugzeug nur wenig geschlafen, weil das Unterhaltungsprogramm für Kinder im Bordfernsehen zu spannend war.

»Hey«, sage ich und bücke mich zu den Mädchen hinab, die mich immer noch groß ansehen, Paula aus ihren hellblauen Augen, die meinen ähneln, während mich Claras braune Augen schmerzlich an die von Thomas erinnern. »Ihr zwei, ihr habt das super gemacht. So eine lange Reise. Ihr wart wirklich toll.«

Na gut, nicht so toll war Claras Aufstand vor der Sicherheitskontrolle in Hamburg, als sie sich weigerte, den Rucksack mit ihrer Kuschelente Lulu durch den Scanner fahren zu lassen. Und die Tatsache, dass sich Paula ausgerechnet dann unter einer der Sitzreihen an unserem Gate verstecken musste, als die Familien mit Kindern dazu aufgerufen wurden, an Bord des Flugzeugs zu gehen, hat mich mindestens zwei neue graue Haare gekostet, ganz sicher. Ein weiteres ist hinzugekommen, als Clara im Flugzeug in wütendes Geheul ausgebrochen ist, weil ich wegen meiner panischen Suche nach Paula am Ende die Malbücher und Stifte auf unseren Sitzen am Gate vergessen hatte. Clara malt gern. Ihr Kummer war groß – bis sie herausfand, dass Disneys »Prinzessin Sofia« im Bordprogramm lief.

»Pinzessin Bofia!«, strahlte sie und vergaß augenblicklich Stifte und Malbücher. Wie haben Eltern bloß früher, als es noch kein Kinderfernsehen an Bord gab, lange Flugreisen überlebt? Ganz ehrlich, ohne »Pinzessin Bofia« wäre ich zwischendurch ausgestiegen, irgendwo über dem Atlantik.

»Wir nicht mehr ungezogen, Mama«, sagt Paula nun ernst. Den Kleinen kann ich nichts vormachen. Sie haben kapiert, dass ich auch wegen ihnen heule. Weil sie eben, beim endlosen Warten an der Passkontrolle, etwas zu wild Fangen gespielt haben und fast illegal in die Vereinigten Staaten eingereist wären. Eine übellaunige Grenzbeamtin brachte mir die Kinder zurück zu meinem Warteplatz in der langen Schlange, mit den Worten, dass ich gefälligst besser auf die beiden aufpassen solle.

»Mama, wir jetzt lieb«, beteuert auch Clara.

Gerührt lächele ich, verkneife mir weitere Tränen, küsse meine Mädchen auf die rosigen Wangen, die noch leicht klebrig sind von den viel zu vielen Gummibärchen, mit denen ich sie während des Flugs bei Laune gehalten habe. Energisch verdränge ich das aufsteigende schlechte Gewissen beim Gedanken an Karies. Das war eine Ausnahmesituation, sage ich mir.

Ich trete ans Waschbecken, wasche mir Gesicht und Hände. Mein Gott, was sehe ich entsetzlich aus! Mein blondes Haar, das ich nach der Geburt der Zwillinge zu einem praktischen kinnlangen Bob mit frechen Ponyfransen hatte schneiden lassen, klebt platt an meinem Kopf wie ein schlecht sitzender Helm. Unter meinen Augen lachen mir die dunklen Ringe wie alte Bekannte entgegen. Sei es drum. Es interessiert ja niemanden, wie ich aussehe. Bald werde ich in einem Holzhaus auf einer Insel sitzen, auf der ich niemanden kenne. Seit ich das letzte Mal dort war, ist so viel Zeit vergangen, keiner der Nachbarn wird sich an mich erinnern. Damals war ich ein süßer Teenager. Heute bin ich eine bittere Sechsunddreißigjährige.

Niemand wird wissen wollen, wo Thomas ist, weil keiner weiß, dass es Thomas in meinem Leben gibt. Gab.

Niemand wird fragen, warum wir nicht gemeinsam Urlaub machen. Eine verlockende Vorstellung.

Und schrecklich zugleich. Mit einem Mal sehne ich mich so sehr zurück zu unseren Reisen als komplette Familie – Mama, Papa, zwei Kinder, wie im Bilderbuch – dass ich kurz die Augen schließe und nach Luft ringe.

»Los, wir gehen«, sage ich dann entschlossen zu den Mädchen und beginne, unseren überladenen Kofferkuli unter vielen natürlich nur innerlich ausgestoßenen Flüchen aus der Behindertentoilette zu bugsieren.

Kapitel 4

Als ich in der Ankunftshalle des Flughafens den Fahrer entdecke, der ein Schild hochhält, auf dem »Mrs. Elena Altenburger & Clara & Paula« zu lesen ist, kommen mir beinahe erneut die Tränen. Du meine Güte, wird das jetzt immer so weitergehen? So viel geweint habe ich nicht mehr seit meiner Brustentzündung, vier Wochen nach der Geburt der Zwillinge. Plötzlich bin ich Maggie doch aus ganzem Herzen dankbar, dass sie mich zu dieser Reise überredet hat. Ich kann es kaum noch erwarten, den Sand unter meinen Füßen zu spüren, das Rauschen der Wellen zu hören.

Der Fahrer begrüßt uns gut gelaunt, stellt sich als Eli vor, scherzt ein wenig mit den Mädchen, die ihn nicht verstehen, weil sie natürlich kein Englisch sprechen, und schiebt dann unseren Kofferkuli Richtung Ausgang. Die Kinder und ich folgen ihm bis zu einer schwarzen Limousine, die vor dem Ankunftsterminal geparkt steht. Die wie immer perfekt organisierte Maggie hat natürlich daran gedacht, Kindersitze für uns zu buchen, sodass ich die Zwillinge mit Elis Hilfe festschnallen kann, was diese sich angesichts des fremden, freundlichen Mannes mit der lustigen Sprache ausnahmsweise ohne Aufstand gefallen lassen. Wir fahren los, lassen das Flughafengelände hinter uns, folgen kurz darauf dem Southern State Parkway nach Osten, auf die Halbinsel Long Island hinaus. Ich bin ehrlich überrascht, als wir bereits eine Dreiviertelstunde später in dem kleinen Ort Bay Shore ankommen. Die Strecke kam mir damals, als Teenager, viel länger vor. Aber in jenen zwei Sommern sind wir ja auch beide Male aus Midtown Manhattan losgefahren, vom Apartment der Goodmans. Die Straßen aus der Stadt hinaus waren völlig verstopft, weil alle New Yorker in die Hamptons wollten. Würde man von Bay Shore aus weiter nach Osten fahren, käme man geradewegs dorthin, in die noblen Hamptons, wo die New Yorker Schickeria die heißen Sommerwochen verbringt. Aber dorthin will ich nicht. Ich will rüber, nach Fire Island, auf diese schmale, lang gestreckte Barriereinsel vor der Küste von Long Island, mit ihren unter Naturschutz stehenden Dünen und Hirschen, mit ihren Bollerwagen und Fahrrädern, ihrer Ruhe und Beschaulichkeit. Das genaue Gegenteil der schicken Hamptons also.

Am Fährhafen von Bay Shore öffne ich die Beifahrertür und atme tief die salzige Meeresluft ein. Eine winzige Sekunde lang erfüllt mich fast so etwas wie ein vages Glücksgefühl. Aber wirklich nur eine winzige Sekunde lang, denn die Kinder sind während der Fahrt tief eingeschlafen und brechen deshalb in wütendes Protestgeheul aus, als ich es wage, sie zu wecken und aus der Limousine zu wuchten. Clara rollt sich heulend auf dem Asphalt, während Paula versucht, zornig schluchzend wieder in den Kindersitz zu klettern. Da ich selbst ebenfalls extrem erschöpft bin – schließlich ist es in Hamburg schon halb elf am Abend und wir sind seit über vierzehn Stunden unterwegs – merke ich, wie meine letzte Spur Geduld und Verständnis zu verpuffen droht.

»Hey, hey, you two!«, meldet sich da unser gut gelaunter Fahrer zu Wort und zieht zwei kleine Bögen mit Aufklebern aus dem Handschuhfach.

»Do you like ›Frozen‹