Sommergewitter - Erich Loest - E-Book

Sommergewitter E-Book

Erich Loest

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Beschreibung

Ein großer Roman über den Volksaufstand 1953 Mit »Sommergewitter« aus dem Jahr 2005 widmet Erich Loest dem Volksaufstand von 1953 einen großen und den ersten überzeugend realistischen Roman. Er schildert die Schicksale unterschiedlichster Menschen während des 17. Juni. Er erzählt von Mutigen und Mitläufern, Nachdenklichen und Nachbetern. Sie geraten mitten hinein in die Ereignisse dieses historischen Tages, an dem eine unbedachte Äußerung, eine leichtsinnige Unterschrift, ein übermütiger Auftritt über Knast oder Karriere entscheidet. Nach »Swallow, mein wackerer Mustang«, »Jungen die übrigblieben«, »Durch die Erde ein Riss« und »Der elfte Mann« ist »Sommergewitter« der fünfte Band der Loest-Werkausgabe als Taschenbuch im Mitteldeutschen Verlag.

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Seitenzahl: 430

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Erich Loestwurde 1926 im sächsischen Mittweida geboren. Seinem Romandebüt »Jungen die übrigblieben« (1950) folgten zahlreiche weitere Werke, darunter die bekanntesten wie »Es geht seinen Gang« (1977) sowie die Leipzig-Romane »Völkerschlachtdenkmal« (1984) und »Nikolaikirche« (1995). Letzterer wurde im gleichen Jahr von Frank Beyer verfilmt. 1981 verließ Loest die DDR und kehrte 1990 nach Leipzig zurück, nachdem er im Jahr zuvor seine Autobiographie »Durch die Erde ein Riß« veröffentlicht hatte. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er u. a. den Hans-Fallada-Preis, den Marburger Literaturpreis, zweimal den Jakob-Kaiser-Preis, 2009 den Deutschen Nationalpreis sowie den Kulturgroschen 2010 des Deutschen Kulturrates. Im September 2013 suchte der 87-Jährige den Freitod.

Der Verlag dankt der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig für die freundliche Unterstützung.

1. Auflage

© 2021 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Linden-Verlags, Leipzig

© Linden-Verlag, Leipzig 2005

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: Der hallische Marktplatz am 17. Juni 1953,

Foto: Stadtarchivar Werner Piechocki (Quelle: Stadtarchiv Halle)

ISBN 978-3-96311-520-2

Inhalt

Der Tod des weisen Führers

Bremsspuren

Gewitterböe

Nicht provozieren lassen!

»Der Spitzbart muß weg!«

Auf der Kippe

Panzer, Panzer

Deutschlandlied

Aus der Traum

Arbeiterwürde

Kuhhandel

Beim nächsten Mal klappt’s

Nachwort

Zu dieser Ausgabe

Der Tod des weisen Führers

1

Der Teller, fast eine Platte, war bis über den Rand bepackt mit drei Scheiben Blutwurst, in ihnen rötliche Streifen von Zunge, zwei Stück Leberwurst, einer kleinen, scharf geräucherten Knackwurst, zwei Gürkchen, vier Quadraten Schnittkäse und einem Würfel Butter, den Mannschatz auf knapp fünfzig Gramm schätzte. Es war tatsächlich Butter und keine Margarine, das merkte er beim Streichen und dem ersten Bissen, den die Zunge drehte und wendete, gegen den Gaumen drückte, durchspeichelte, dem alle Geschmacksnerven überrascht beizukommen suchten und die ans Gehirn meldeten: Genuß, Hochgenuß, Mann, wann hast du zum letzten Mal derartig duftige Knacker zwischen die Kiemen gequetscht, zur Hälfte Speckbrocken, und dir bleiben noch dreißig, vierzig Bissen. Nun Leberwurst kosten, Lebenswurst hatte sie ein Kumpel in der Gefangenschaft gepriesen. In der Mitte des Tischs, an dem sie zu sechst saßen, waren Brotscheiben getürmt, pro Nase nicht weniger als acht; hoffentlich führte sich keiner unverschämt auf. Schüsseln mit Kartoffelsalat, für jeden eine Flasche Bier – der Genosse ihm gegenüber fand den treffenden Ausdruck: Total friedensmäßig! Mannschatz richtete schon die zweite Scheibe her, während er noch an der ersten kaute. Er überlegte, wann er sich zum letzten Mal ähnlich üppig hatte vollschlagen können, in Rußland organisierten sie zwei Schweine für dreißig Mann, hatten aber weder Brot noch Kartoffeln und mampften wochenlang Makkaroni – Völlerei und Barbarei in einem. Jetzt paßte alles zueinander, höchstens Senf fehlte zur Blutwurst, aber schon dieser Gedanke grenzte an Meckerei. Behaglichkeit überkam ihn, er ließ Bier einlaufen und hatte vergessen, daß man dabei das Glas schief halten muß; gerade noch rechtzeitig schlürfte er Schaum ab. Als auf seinem Teller ein wenig Platz geworden war, hob er Kartoffelsalat in die Lücke und reichte die Schüssel weiter, schmeckte Zwiebel, Möhre auch und mahnte sich zur Vorsicht: Mayonnaise konnte steinern im Magen liegen. Rascher, peinigender Gedanke: Bloß nicht alles rauskotzen müssen. Ihm gegenüber saß einer mit Schlips und grobkariertem Jackett, hell die Augen über freundlichen Grübchen, und Mannschatz wunderte sich beim Aufblicken: Der Genosse belegte geruhsam eine Scheibe Brot mit Schnittkäse und bedeckte sie mit einer anderen. Kaute nicht, und sein Teller war fast leer.

Er komme aus Eisleben. Ein gebeugter Glatzkopf von sicherlich achtzig Jahren fragte: Und ihr? Aus Bitterfeld, antwortete Mannschatz und hörte: Leuna, Halle, Wolfen. Der Alte fragte: Alle bei der Märzaktion dabei gewesen?

Nö. Der Nette mit den hellen Augen packte die vierte Doppelschnitte neben den Teller. Dafür sei er zu jung. 1933 im KZ Colditz. Mannschatz überschlug die Zahl der Genossen im Saal auf fast hundert, meist Sechziger und Siebziger, wenige Dreißig- bis Vierzigjährige, das waren vermutlich Funktionäre der Bezirksleitung oder verschiedener Kreisleitungen, dazu drei Frauen, wahrscheinlich Sekretärinnen.

Genossen, rief ein sportlicher Blondschopf am Präsidiumstisch, breit waren die Revers seines Anzugs und bretteben von reichlichem Steifleinen. Er wünsche strammen proletarischen Appetit und wolle, ehe er Horst Sindermann das Wort erteile, noch einige organisatorische Bemerkungen loswerden: Die Genossen Fahrer seien im Erdgeschoß im Raum neun untergebracht, Reisekosten könnten in Raum elf abgerechnet werden. Wer eine Übernachtung brauche, solle sich im Orgbüro melden. Genosse Otto Gotsche, der allen bekannte berühmte Schriftsteller, habe von Berlin angerufen, er sei leider verhindert und wünsche der Tagung den besten Erfolg. Jetzt also ein Begrüßungswort des Genossen Horst Sindermann.

Jede Silbe klang gewichtig. Im Namen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands des Bezirks Halle, als Chefredakteur der »Freiheit« und Leitungsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes begrüße er verdiente und bewährte Kämpfer. Als vor Wochen diese Tagung anberaumt worden sei, habe niemand voraussehen können, welche Wolken unterdessen die Welt verdüsterten. Alle heißen Wünsche richteten sich nach Moskau. Trotz bohrenden Schmerzes müsse die Arbeit weitergehen, das sei gewiß auch im Sinne des Genius, für den alle hier im Saal baldige Genesung ersehnten. Bisweilen scheine es, als ob kein Wind wehen und kein Vogel singen dürfe. Bert Brecht habe gedichtet, wie kasachische Bauern Lenin ehrten, indem sie einen Kanal gruben für Wasser und Leben. In diesem Sinne begreife er alles heutige Tun. Er heiße folglich eine Reihe Kämpfer gegen den Faschismus von der Revolution 1918 an über die Abwehr des Kapp-Putsches und die Märzaktion 1921 bis zum Widerstand in den Konzentrationslagern herzlich willkommen. Beifall pladderte prompt.

Alfred Mannschatz hatte Sindermann auf Kundgebungen gehört, hoch oben und weit weg. Ein Bündel von Gesundheit und Energie, erstaunlich, wie er mit zehn Jahren KZ fertig geworden war; als Achtzehnjährigen hatten ihn die Nazis eingesperrt. Eine seiner berühmten Aktionen: Am 1. Mai 1933 hißte er auf einem Fabrikschornstein in Chemnitz die rote Fahne und brachte unten einen Zettel an: »Vorsicht, vermint!« Dunkel war die Stimme, beinahe dialektfrei, in Mitteldeutschland selten. Da sehe er den Genossen Bruno Pfefferkorn, 1921 Stoßtruppführer in der Arbeiterwehr von Mansfeld. Bruno mit der Zündschnur, der gelegentlich eine Fabrikantenvilla flach legte, weil die angreifenden Kämpfer einen Rauchvorhang brauchten. Alle Blicke richteten sich auf einen untersetzten Mann mit rundlichem Gesicht und braunen Knopfaugen, der nun lächelte, wobei sich sein Gesichtsausdruck von hart und verbissen zu verschmitzt wandelte. »Wenn wir nachts ruhig schlafen können, was durchaus nicht im Sinne von allerhand Spionage- und Diversantengesindel ist, dann danken wir das dem Genossen Pfefferkorn.«

Noch während des Beifalls bückte sich der Mann mit den fröhlichen Grübchen und verstaute seine Stullen in einer Brotbüchse, ungeniert tat er das, und barg die Beute in einer Aktentasche neben dem Stuhlbein. Er brachte seiner Familie etwas mit, begriff Mannschatz, das hätte er auch tun sollen. Eine kräftige Scheibe Blutwurst für seinen Schwiegersohn auf die Frühstücksstulle wäre ein hilfreicher solidarischer Akt gewesen. Zu spät. Da trugen Kellnerinnen Schüsseln mit Kartoffeln und Rotkraut herein, Platten mit Schweinebraten, Saucieren stellten sie dazwischen, und Mannschatz wußte, daß er ein Esel gewesen war, sich mit der Vorspeise vollzustopfen. Aber wie hätte er ahnen können, daß derlei Opulenz nur die Ouvertüre bildete! Der Grübchengenosse war schlauer, kannte wohl solchen Ablauf; nun lud er sich geruhsam den Teller voll. Fingerdick waren die Fleischscheiben, von Fettadern durchzogen und krustig. Haut rein, Leute! Kümmelduft stieg auf, mehliggelb schimmerten Kartoffelberge, aber Mannschatz fühlte sich satt bis oben hin, durfte gar nicht an Leberwurst denken, an die Speckbrocken darin, er war ein Idiot, und es war zum Heulen.

Ein Randstückchen Braten, ein paar Löffel Kraut, mehr schaffte er nicht und schalt sich abermals völlig bekloppt. Vom Gefecht bei Beesenstedt war unterdessen die Rede, auf dem Marsch dorthin war gekocht worden, aus der Feldküche sollte gekellt werden. Plötzlich schleppte einer zehn Würste an. Aus dem Rittergut Nette. Tagelang hatten sie gehungert, nun entdeckten sie Regale voll Speck und Schinken und Gläsern mit Fett. »Seh ich noch vor mir.« Mannschatz nahm sich immerhin zwei Kartoffelstücke. »In der Feldküche schwappte eine Rüben- und Kartoffelplempe, und auf einmal diese Schwemme!« Nette, ja, so hieß das Dorf.

Noch ein Schluck Bier und Schluß. »Ich müßte mir die Gegend wieder mal angucken. Wir lagen hinter ’nem Damm, ’ne Feldbahn führte zu ’ner Ziegelei. Die Sipo deckte uns mit Artillerie ein. Ich hab versucht, hinzulangen, aber mein Richtgerät hatte Macken.« Nun war von Grabenkämpfen an der Westfront die Rede, die Minenwerfer der Engländer, ich kann dir sagen, bei Wyschede, wir in den flachen Trichtern, alle Gräben voll Wasser, der Tommy rasierte uns die Arschbacken ab, ich kann dir heute noch die Narbe …

»Guten Tag, Genosse.« Mannschatz fühlte eine Hand auf der Schulter; hinter ihm stand Pfefferkorn. »Erinnerst du dich an die Flucht über die Saale? Als die Fähre sank? Ich hab ein paar ausm Wasser gezogen.«

»Ich war an der Mulde.«

»Die Sipo schoß ’ne Fähre in Klump.«

Mulde, Saale – die Sicherheitspolizei hatte sie an den Flanken umgangen und wollte den Sack zuziehen; alle hatten gewußt: Wenn sie nicht in der nächsten halben Stunde über den Fluß kamen und sich am anderen Ufer zerstreuten, waren sie erledigt. Die Handgranaten am Koppel zogen ihn runter. Tiefer als zweieinhalb Meter war der Fluß nicht, seine Stiefel fanden Halt, er hakte das Koppel auf und stieß sich ab, schnappte nach Luft. »Mich hat wirklich einer rausgefischt. Du?«

»Geht es dir gut? Was machst du jetzt?«

»Invalidenrentner seit zwei Jahren.«

»Wir unterhalten uns noch. Ich muß erst mal …« Pfefferkorn wies aufs Präsidium. »Also bis gleich.«

Alle am Tisch hatten zugehört. Einer fragte: »War das so?«

»Wenn er’s sagt.«

Mannschatz trat ans Fenster zu einer Gruppe von Rauchern. Auf einem Tisch lagen Zigarettenschachteln, weiß und ohne Aufdruck, die Zigaretten oval. Mannschatz schnupperte: Orienttabak. Wodkaflaschen und Bierkästen, er dachte: Bloß gut, daß draußen niemand auch nur ahnt, wie hier gepraßt wird. In Bitterfeld konnten letztens die Buttermarken nicht beliefert werden, auf Fleischmarken gab’s Eier und Quark; die Leute schimpften. Das wußten Sindermann und Pfefferkorn natürlich, aber sie hätten die Brauen hochgezogen, wenn sie auf diese Diskrepanz hingewiesen worden wären – keine Gleichmacherei, Genosse! Mannschatz sog den Rauch bis in die letzten Lungenwinkel, das Kraut war etwas anderes als das Zeug, das er in seinem Garten zog. Jetzt könnte er immerzu eine Zigarette an der anderen anzünden, zwei Stunden lang, könnte sich eine in jeden Mundwinkel klemmen, rauchen satt, quarzen bis zum Umfallen. Wurst und Butter und Brot im Magen und die Lungen voller Rauch. Ein Bier noch, phantastischer Tag. Glück gepreßt, das portioniert für ein halbes Jahr gereicht hätte.

Pfefferkorn trat mit zwei gefüllten Schnapsgläsern heran. Auf die Gesundheit! Und sonst? Rücken und Knie machten nicht mehr mit, Berufskrankheit. »Warst du mal zur Kur?« Pfefferkorn bot Hilfe an, Bad Elster, Bad Lausick. Die Veteranenkommission sollte sich kümmern, wozu war sie da? Prost Alfred, Prost Bruno. »Mensch, Alfred, wie ich mich freue!«

»Und du hast mich wiedererkannt nach all den Jahren?«

»Ach was. Wir haben Polizeiakten gefunden. Die sollten sicherlich in Prozessen gegen uns verwendet werden. Die beiden, die ich rausgezogen habe, hießen Mannschatz und Kleinefeld. Als diese Zusammenkunft vorbereitet wurde, stieß ich auf deinen Namen. So einfach ist das. Du hast getrieft wie ’ne Ratte, aber geschossen wie der Teufel. Wir sind zurückgerobbt, dabei krieg ich ’n Ding in den Oberschenkel. Du hast mich bis an diese Straße geschleppt.«

Der Wodka brannte, Mannschatz hatte sich noch nie was aus harten Sachen gemacht, aber vielleicht legte sich nun das Völlegefühl. Er auf dem Boden des Kahns, Wasser hatte er gurgelnd ausgespuckt, über ihm Pfefferkorns Lachen, Landserlachen, sie waren abgebrühte Grabenschweine wie die Sicherheitsbullen auf der anderen Seite auch.

»Wird Zeit, daß alles genau aufgeschrieben wird. Die meisten in unserem Abschnitt kamen aus Bitterfeld und Holzweißig, wir haben Gröbers bis zu diesem Gefecht um Beesenstedt verteidigt. Was warst du draußen, Alfred?«

»Gefreiter bei den Minenwerfern.« Jetzt ein drittes Bier, für ein Stück Fleisch und eine Kartoffel wäre mittlerweile im Magen leidlich Platz, aber die Tische waren schon abgeräumt. Wenn er zu Hause erzählte … Wäre Gift für Hartmut, den kriegte er dann noch schwerer in die Partei. Sindermann verabschiedete sich gerade, er müsse in die Redaktion, die morgige Ausgabe vorbereiten. Ihm sei das Herz schwer wie allen. Trotzdem, und so sei es ja immer gewesen: Trotz alledem finde er diese Zusammenkunft nützlich, um Verbindungen zu erneuern, nach verschollenen Genossen zu fragen, herauszufinden, wer auf welche Weise den Hitlerterror überstanden hatte. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes vervollständige ihre Listen, wer sich noch nicht eingetragen hatte, sollte das tun.

Keinen Schnaps mehr bitte. Jemand wollte wissen, das Bier hier sei stärker als üblich, Brauerei-Haustrunk. Wenn noch ein paar gegangen waren, wollte Mannschatz vielleicht fragen, ob er eine Flasche für seinen Schwiegersohn einsacken dürfe, der trank Bier viel lieber als er. Bruno fragen.

»In welcher Partei warst du damals, Alfred?«

»In der USPD, später wieder in der SPD.« Mannschatz registrierte knappes Nicken. Auf das kurzgeschnittene eisengraue Haar und die Stirnfalten schaute er hinab, auf strähnige Brauen und die Nase mit einer Narbe von der Wurzel bis zur Spitze. Dieses Nicken kannte er, feststellend, wertend. Genauer: abwertend. KP-Genossen reagierten so gegenüber dem kleinen, großmütig geduldeten Bruder.

»Schreib mir deine Adresse auf wegen der Kur. Ich hab manchmal in Bitterfeld zu tun, da besuch ich dich, Meiner.« Wenn Hallenser Freunde sich begegneten, rief der erste dieses Wort halb fragend, der zweite antwortete bestätigend ebenso eine Terz tiefer. »Wie steht’s mit der Familie?«

Seine Frau arbeite in einer Betriebsküche, habe noch ein Jahr bis zur Rente. Die Tochter bei der Reichsbahn, der Schwiegersohn seit kurzem Meister. Zwei Enkel.

»Mit der Wohnung alles in Ordnung?«

»Siedlungshaus, reicht für uns.«

»Ich komm mal vorbei.«

Seit einundvierzig Jahren in der Partei, die Nazipause großzügig mitgerechnet, manchmal in einer minderen Funktion, beispielsweise für Schulungsmaterial zuständig, nie eingesperrt, nie verprügelt, immer das brav beitragzahlende Mitglied, ausgenommen die wilden zehn Tage während des Mitteldeutschen Aufstands im März 1921, über den immer noch diskutiert wurde – galt er nun als ruhmvoller revolutionärer Akt, oder war er ein von kurzsichtigen Revoluzzern angezetteltes, von vornherein zum Scheitern verurteiltes Abenteuer? Über den zeitweiligen militärischen Anführer Max Hoelz gingen die Meinungen genauso auseinander. Nun hier mit Sindermann und Pfefferkorn, er würde Herta haarklein davon erzählen. Noch ein lungenfüllender Zug, ein hübscher kleiner Wirbel im Hirn.

Jemand öffnete ein Fenster, kalte Luft stürzte herein, erst jetzt merkte Mannschatz, in welchem Qualm sie standen. In einer halben Stunde ging sein Zug. Wenn er schon keine Flasche Bier abstauben konnte, sollte er wenigstens eine Schachtel Zigaretten für Hartmut verhaften. Daheim würde er keine Frühstücksbüchse mit Wurststullen auf den Tisch stellen können wie dieser Schlaubengel – schön, er ließ sich nicht korrumpieren. Ziemlich dußliger Gedanke, vielleicht hatte er doch einen in der Krone. Nach irrsinnigen Umwegen war es endlich geschafft wie erträumt, als er als Lehrling in die Gewerkschaft eingetreten war: Du gehörst dazu, Brüder in eins nun, die Internationale erkämpft das Menschenrecht. Wurstsatt war er, fleischsatt, bier- und rauchvoll. Das sollte er Hartmut klar machen: Du erreichst nichts ohne die Partei, du kannst nur was ändern, wenn du drinne bist. Nimm dir noch ’ne Flasche, Junge, wir gehn rüber zu Pfefferkorn, wir sind die stärkste der Partein. Wir stecken uns ’ne Schachtel ein, wie wir heute rauchen, werden in drei Jahren alle rauchen.

»Genossen, ich bitte um Ruhe, um Ruhe. Genossen, der Genosse Josef Wissarionowitsch Stalin, so wird eben gemeldet, der geliebte Führer des Weltproletariats und aller friedliebenden Völker, der Vater des Fortschritts und der Freiheit, unser Genosse Stalin ist in Moskau gestorben.«

Mannschatz stellte das Glas ab und wischte sich über den Mund. Alle um ihn standen nun, das Gesicht dem Podium zugewendet. So würden sie eine Weile verharren, erstarrt. Vielleicht hielt jemand eine Rede. Flammender Appell oder so was. Unverbrüchlich. Mit einer Flasche Bier für Hartmut war es nun natürlich aus. Ziemlich kläglicher Einfall, wenn man die Umstände bedachte. Typisch für einen, der aus der SPD kam, würde Pfefferkorn urteilen. Nun mal ganz klar: Du hast keinen Grund, Alfred, einen so blöden Gedanken auszuspinnen, so besoffen bist du nicht, bist du überhaupt nicht.

2

Wann hatten sie das letzte Mal getanzt? Die Combo – Klavier, Schlagzeug und Saxophon – jazzte sanft vor sich hin mit einem Streifzug von »Blueberry Hill« über »Basin Street Blues« bis zu einer Andeutung von »Lili Marleen« und schloß mit »Mack the Knife«, was Clara Brücken lächeln ließ. Der Pianist ahmte den heiseren Louis nicht übel nach. Ihr schien, als spielten die drei vor allem zum eigenen Vergnügen, nicht immer zerhackten sie den Auftritt in tanzübliche drei Häppchen mit Trommeltusch am Schluß. Clara Brücken hätte so stundenlang tanzen mögen, sie betrachtete den vollbärtigen Fünfzigjährigen am Klavier, den hohlwangigen Saxophonisten und den Bubi am Schlagzeug, der sich vom Pianisten die Einsätze zunicken ließ. Sie hätte gern mitgesungen, konnte aber kein Englisch, und ein Irgendwie-Dabdudei wäre ihr und vor allem Hartmut albern vorgekommen; das riskierte sie allenfalls bei einem Schwips. Davon blieb sie an diesem Abend und in nächster Zukunft meilenweit entfernt, das stand fest.

Sie gingen zurück an den Tisch mit ihren Freunden Gitti und Heinz Gärtner. Inzwischen waren vier Portionen Eis nebst zwei Spezi serviert worden, ein landesüblicher brauner Schnaps. Der sei gefährlicher als weißer, erklärte Heinz Gärtner, den weißen sehe die Leber nämlich nicht, der fließe, ohne Schaden anzurichten, unbemerkt um sie herum. Trotzdem Prost! Neben den bunten Eiskugeln lag gekochter Rhabarber, denn die Kreation hieß »Eis mit Früchten«. Jetzt das Thema: Bier genehmigten sie hier in der Leipziger »Femina« nur zusammen mit Sekt als sogenanntes Herrengedeck, an der Tür machten sie Sperenzien, wenn einer ohne Krawatte kam. Vornehm nur einmal! Clara fragte dazwischen: »Was würdet ihr sagen, wenn wir im Sommer nach Mecklenburg ziehen?«

Da staunten Gärtners, und Hartmut Brücken erläuterte, die Gewerkschaft hätte ihn und zwanzig andere Metaller nach Halle beordert. »Großer Bahnhof: Facharbeiter aufs Land! Vorher vierteljähriger Lehrgang an Traktoren und Mähdreschern. Die Besten werden sofort als Leiter von Reparaturstationen eingesetzt, die andern steigen nach einem Jahr auf.«

Die liebsten Freunde zu verlieren wäre bitter, beteuerten Gärtners. Brücken schätzte, vermutlich müßte er die erste Zeit allein dort oben vegetieren, eine Wohnung wäre natürlich nicht im Handumdrehen zu ergattern. Später sollten neben den Reparaturstationen dreistökkige Wohnblocks mit städtischem Komfort hochgezogen werden. Darauf könne natürlich niemand warten, also bliebe erst einmal eine hoffentlich nicht zu baufällige Kate. Wenn es überhaupt zu all dem kommen sollte.

Vielleicht hauten noch mehr Großbauern nach dem Westen ab, vermutete Gärtner, und Brückens könnten sich ins warme Nest setzen? Und? Gärtner rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. Ehe Brücken antworten konnte, setzte die Musik ein. Clara sprang sofort hoch. »Dauernd Damenwahl«, maulte Hartmut ergeben.

Auf der Tanzfläche fanden ihre Körper sofort zueinander, Arm paßte um Hüfte, Brust an Brust, Schenkel in Schoß. Sie spürte hochwachsenden Druck und lobte: »He, du Stehaufmännchen!« Er brummte geschmeichelt, nun begänne eine rasante Zeit ohne Vorsicht und Sorge, alle Kraft voraus: Jetzt kommen die lustigen Tage, Schätzel olé!

»Ham Se nich ein Hemd für Friedolin«, sang der Schlagzeuger. Bis Bitterfeld hatte sich herumgesprochen, daß im Süden Leipzigs ein Sexualtäter nachts durch offene Fenster stieg, schlafende Frauen erschreckte und Unterwäsche mitgehen ließ. Fetischist, kein Vergewaltiger, noch nicht. Clara legte den Arm um Hartmuts Hals und biß ihn ins Ohrläppchen. Ein wunderbarer Abend, wie er bestenfalls einmal im Monat zu organisieren war, denn beide arbeiteten im Schichtdienst, und Gärtners mußten jemanden finden, der auf die Kinder aufpaßte. Eintrittskarten waren schwer zu ergattern; wenigstens konnte Clara von ihrem Schreibtisch aus telefonieren. Letzte Woche hatte der Bahnhofsvorsteher Krach geschlagen: Der private Mißbrauch des Telefons nehme überhand, er werde durchgreifen. Hemsberger, ihr Schreibtischgegenüber, lästerte natürlich: Im Mittelpunkt die Sorge um den Menschen!

Am Tisch setzten sie das Thema fort: Brücken verdiene dort oben ein Drittel mehr als in Bitterfeld, dabei wäre noch nicht einmal mitgerechnet, was die jetzige Kampagne anrichten könnte: Mal war von völlig neu zu begründenden Normen die Rede, dann vom pauschalen Anheben um mindestens zehn Prozent. Jeden Tag neue Hektik.

»Ich weiß selber nicht, was ich will«, sagte Clara. »Manchmal denke ich: Um keinen Preis bringt mich jemand in diese Einöde. Dann wieder träume ich von sauberer Luft, ohne daß es ständig Ruß regnet.«

Gärtner war auf Rügen gewesen. Dort erzählten alle, die Insel solle zur Festung ausgebaut werden, Hotels würden enteignet. Der Jasminer Bodden werde als Liegeplatz für eine gewaltige Flotte aufgerüstet, ein rotes Scapa Flow. »Die Armee kriegt fünfzig Generäle und die Flotte sieben Admirale. Könnt ihr euch das vorstellen?« Jetzt müßte man dort oben sein, was da alles gebraucht würde: Verwaltungsdirektoren, Kulturleiter, Parteisekretäre – wer sofort mitmischte, schnitt sich die besten Stücke aus dem Kuchen.

Clara fragte fröhlich: »Und was würdest du am liebsten?«

Gärtner blickte ernst. Nach seinen Fähigkeiten vielleicht am besten in die Kaderleitung, Fachkräfte nachziehen, Schulungen organisieren, ja.

Da fingerte Hartmut Brücken eine weiße Schachtel aus der Tasche und klopfte Zigaretten heraus. »Hat mir mein Schwiegervater geschenkt.« Der Genosse Alfred habe das Edelkraut bei einer Parteiveranstaltung in Halle abgestaubt. In solch noblen Kreisen verkehre er für gewöhnlich nicht, sie hätten Stalins Tod gefeiert – na, das war nun keinesfalls der richtige Ausdruck. Brücken vermutete, die Lullen würden in Dresden hergestellt, die Russen hatten sich die dortigen Zigarettenfabriken unter den Nagel gerissen. Die deutschen Spitzengenossen kriegten hin und wieder ein paar Schachteln ab, oder?

»Mein Vater hat danach ziemlich rumgedruckst.« Clara war sich nicht sicher – wegen des Katers, oder weil ihm das ganze gestunken hatte? »Er maulte: Du mußt doch nicht denken, daß sich Pieck seine Papyrossi selber dreht.«

»Aug in Aug mit der Macht.« Brücken war bester Stimmung. »Der schlichte Genosse von der Basis schnuppert Höhenluft. Gut, daß mein Schwiegervater mal ahnt, wie Politik wirklich abläuft.«

»Ich laß nichts auf meinen Papa kommen.«

»Brauchst auch nicht.«

»Und dann«, Gärtner wollte gewichtig klingen, »Hartmut, mußte in die Partei.«

»Muß nicht.«

»Wenn du Leiter werden willst …«

»Ob ich eintrete, ist die Frage, ob ich jemals da reinlatsche. Aber als Koppelgeschäft – nie.«

Gärtner habe brutalsten Gruppendruck erlebt, als er und seine Kameraden im Wehrertüchtigungslager in die Waffen-SS gepreßt werden sollten. Nachdem die ersten drei unterschrieben …

»Ach, kein Thema für heute abend.«

Clara schaute bewundernd auf ihren Mann – allerliebster Dickschädel, herrlicher Sturkopp, und nur sie wickelte ihn um den Finger, manchmal. Sie sah sich vor einem Bauernhaus, Windeln flatterten. »Opa und Oma kommen auf ein paar Wochen. Euch quartieren wir im Gasthof ein. Die Bäuerlein drängen Hartmut ihre Gänse und Schweinchen förmlich auf, denn er repariert ihnen am Abend ihren Schrott. Ihr fahrt zurück mit dem Koffer voll Räucheraal, denn nahebei ist ein See und der Fischer mein Verehrer. Die Hauptsache: Unsere drei Kinder wachsen in sauberer Luft zu Prachtkerlen heran.«

Gitta Gärtner begriff zuerst: »Drei?«

Clara strahlte, Hartmut warf sich in Siegerpose, tja, die Sache stünde fest, zum Thomas und dem Bienchen gesellte sich demnächst die Nummer drei. Oma und Opa, die Kindernarren, seien geradezu aus dem Häuschen.

»Sieben Tage lang wart ich schon auf dich« stand auf der RIAS-Hitparade weit oben. Der Schlagzeuger griff zur Klarinette, reckte sie steil, schwenkte sie über die Kante des Podiums. Der Pianist drosch aus Augenhöhe auf die Tasten, wildes Bekenntnis: Jetzt stürmen, stürzen alle Gedanken nach Westberlin, zum RIAS und seinem Tanzorchester, zu Bully Buhlan und Rita Paul in der Waldbühne. Wenn die Combo jetzt eins draufsetzte mit »Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm«, verbannten die Verantwortlichen womöglich den Gaststättenleiter in eine Bruchbude der Preisstufe II ins Vogtland, und die Musikanten verloren ihre Auftrittsgenehmigung. Aber es blieb bei halber Provokation. Pause.

Kein anderes Thema mehr als das im Anmarsch befindliche Kindchen. Bestürzung zunächst, als die Periode ausgeblieben war und sich trotz sanfter Hausmittelchen nicht einstellen wollte. Das kannten alle vier und nickten bitterernst. Gärtner rief nach Sekt, den brauche er auf den freudigen Schreck. Eine künftige Mutter finde nichts Belebenderes für die Milchproduktion als ein perlendes Schlückchen – da kriegte er von seiner Frau eins auf den Mund. Hehe, eine Runde auf Gärtners Rechnung! Vier Herrengedecke, und wenn Clara vernünftigerweise nicht mittrinken wolle, genüge ein symbolisches Nippen. Was für ein Abend!

Mecklenburg oder nicht – Brücken fühlte sich oben. In seiner Bude zerrten sie an ihm und bewiesen jeden Tag, was er ihnen wert war. Wenn er in die Taiga zog, lag es an ihm, wie er sein Leben aufbaute, ausbaute. Wenn er Bitterfeld »die Treue hielt«, wie es ein Arsch von der Parteileitung formuliert hatte, konnte er Forderungen stellen: Ich brauche zwei von den neusten Schweißapparaten für meine Brigade, sonst …

Mit dem Rhythmus kam der Schlagzeuger schlecht zurecht, hilfesuchend blickte er zum Pianisten. Brücken vermutete Südamerikanisches, Samba vielleicht. Wenn er von derlei Taktgewirr auf der Tanzfläche überrascht wurde, schaltete er resolut auf Foxschritt. Der Saxophonist ließ sein Instrument sinken und starrte vor sich hin. Aus seinem Mundwinkel kroch ein dunkler Faden und sickerte zum Kinn. Brücken wollte Gärtner anstoßen, da ruckte der Saxophonist nach vorn, ein Schwall brach aus seinem Mund, Kotze oder Blut. Brücken war sofort hoch und ein paar Schritte über die Tanzfläche, packte schlaffe Schultern und begriff: Blutsturz, wie er ihn bei einem Kollegen erlebt hatte in spätem Stadium der Tbc. Der Schlagzeuger öffnete die Schlaufe des Saxophons und legte das Instrument behutsam zur Seite, murmelte: Ganz ruhig, Gustl, ganz ruhig. Brücken blickte an sich hinunter, er hatte nichts abbekommen. Am Tisch waren sie sich einig: Unverantwortlich, so herumzulaufen und seine Tuberkel in die Luft zu pusten. Bloß raus!

Während Brücken und Gärtner zahlten, setzten sich Pianist und Schlagzeuger wieder hinter ihre Instrumente. Sie begannen mit »Moonlight Serenade«. Nein, versicherte der Kellner, so was sei noch nie passiert, der Mann arbeite hier seit Wochen. Ja, sie hätten einen Arzt gerufen. Bei »Pennsylvania 6-5000« riefen die Musikanten dazwischen: »Zwo-drei-vier – jetzt ein Bier.« Clara fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn sie nicht sofort ins Freie kam. Sie liefen die Treppe hinab und durch die Passage auf den Markt. Tagelang freue man sich auf einen schönen Abend, und dann das. Gärtner schüttelte den Kopf; sogar in russischen Gefangenenlagern habe es Isolierbaracken gegeben.

Langsam gingen sie zum Hauptbahnhof; andermal waren sie gerannt, um den letzten Zug zu erwischen. Clara spürte ein Kribbeln in den Brustspitzen – schwer vorstellbar, daß die Dingerchen sich jetzt schon aufs Stillen einrichteten. Ihre Gedanken kreisten unablässig ums Würmchen, bei den beiden anderen Kindern war das nicht so kraß gewesen. Wenn es zehnmal bei der Reichsbahn drunter und drüber ging, das Muttertier baute sich seine Höhle. Sie stellte sich vor, sie wohnten am Rande eines Dorfes, den Korb stellte sie neben der Hoftür in die Sonne. Das Baby lauschte aufs Sirren der Schwalben, das mochte es. Katze auf der Türschwelle. Kein Gestank aus Chemieküchen, kein Rußregen.

Ihr Zug stand vor der Halle in völliger Dunkelheit. Erst im sechsten Abteil fanden sie einigermaßen schließende Fenster. In die »Femina« kämen sie nicht so bald wieder, darüber waren sie sich einig. Nächstes Wochenende sollten sie daheim ein Gesöff aus Bergmannsschnaps und Kunsthonig mixen, »Kumpeltod« der sanften Variante. Herrliche Zeiten brachen an, sie soffen nur noch zu dritt.

Der Zug war pünktlich.

3

Bruno Pfefferkorn spürte ein quälendes Zerren die Beine hinauf; die Muskulatur hatte in der Haft stärker gelitten, als er sich eingestehen wollte. Daran würde er eines Tages zugrunde gehen. Nichts besserte sich trotz Tabletten und Spritzen und Massagen, das Elend konnte nur hinausgezögert werden. Zwischenstadium: Rollstuhl.

Er stand leise auf, um seine Frau nicht zu wecken, und setzte sich in der Küche ans offene Fenster. Die Nacht war lau, die Stadt still, bald würden die ersten Straßenbahnen ausrücken.

Thekla schlief wie immer ihre acht oder zehn Stunden durch, gesunder Schlaf der Jugend. Es lebte sich voller Glück und ohne jeden Konflikt mit ihr, noch. Sie sah in ihm den Helden; wie sie schwärmte gleich nach dem Krieg so manches Mädchen im frischen Blauhemd. Ihr Elan spornte ihn an, das konnte in fünf oder zwei Jahren schon Vergangenheit sein. Er hielt nicht mehr viel aus, ein simpler Schnupfen, den andere wegsteckten, schmiß ihn für Wochen um. Irgendwann verfaulte er im Sanatorium, sie war dann an einen alten Knakker gekettet. Verzichtete auf Scheidung aus Mitleid und Respekt; einen verdienten Kämpfer ließ eine Genossin nicht im Stich. Sie mußte höllisch aufpassen, wenn sie einen Mann mit ins Bett nahm, war von Moralgetue und Gehässigkeit umzingelt. Er hatte nicht auf seine Mutter gehört, als sie ihn warnte: Du zerrst das blühende Ding mit in deinen Sarg.

Er rührte Haferflocken an, endlich wurde es fünf. Wenigstens war es hell, die Vögel begannen, ihre Reviere abzustecken. Vor dem Winter grauste ihn. Halb sieben würde er endlich abgeholt werden. Die Frühnachrichten im Radio: Um den großen weisen Stalin zu ehren, verpflichtete sich das Walzwerk Hettstedt, im Wettbewerb des zweiten Quartals durch fünfzehnprozentige Normerhöhung die Bruttoproduktion um zehn Prozent und die Arbeitsproduktivität um vier Prozent zu steigern, während die Selbstkosten vermindert würden. Das bedeutete Senkung der Löhne, was sonst.

Leise öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, erkannte im Dämmerlicht hinter der zugezogenen Gardine, daß sich Thekla halb aufgedeckt hatte, eine Schulter lag bloß. Er streichelte ihren Nacken und murmelte einen Morgengruß und daß er jetzt fort müsse; sie reagierte stöhnend. Er legte seine Lippen auf ihre Schulter, und während er ihren Duft einsog, überlegte er, ob wohl ein Fünfundzwanzigjähriger in solcher Situation die Decke wegzog und stürmisch über die Geliebte herfiel, sie »nahm«, wie es in Büchern hieß, ein wenig Gewalt war zumindest am Anfang dabei, war »im Spiel«, das klang schon doppeldeutig. Das war passiert in seiner ersten kurzen Ehe, als er aus dem Knast gekommen war nach dem halben Jahr in Zwickau, 1929, wegen Waffenschmuggels aus Böhmen herüber. Wann hatten Thekla und er sich zuletzt geliebt, diese Woche nicht, jetzt war sie beinahe jeden Abend unterwegs. Ihren Stalin-Vortrag wiederholte sie immerzu, besonders tiefgründig fand er ihn nicht, fürs Parteilehrjahr gerade noch geeignet. Er nahm ein Stück Haut zwischen die Zähne, festes Fleisch, biß sanft zu, ließ locker, als sie zuckte. Bis heute abend irgendwann.

Kodelwitz hatte das Arbeitszimmer schon gelüftet und den Tischkalender umgestellt. Vierzehn Stunden im Dienst, meist gutgelaunt, fähig, ein Dutzend Probleme aufeinander abzustimmen und zu verzahnen. Nicht immer mit dem Blick auf das Wesentliche, das würde sich mit der Zeit ergeben. Er war kaum dreißig, seit kurzem Hauptmann, so einem stand jede Laufbahn offen. »Sechs Termine heute, Bruno. Du wolltest mit dem U-Knast beginnen, Vernehmung von Schmolka. Nachmittags Vorbereitung der Veteranenkommission, vielleicht mit Mannschatz. Danach tanzt aus Eisleben ein Genosse an und berichtet über diese Panne bei der Mitgliederwerbung.«

»Das erzählst du mir am Mittag noch mal.«

Auf dem Schreibtisch »Neues Deutschland« und »Freiheit«. Die Beteiligung am Parteilehrjahr war von siebzig auf fünfzig Prozent abgerutscht, erstaunlich, daß derlei öffentlich gemacht wurde. Verhaftungen im Zeiss-Werk Jena, eine Bande von Spezialisten hatte Forschungsunterlagen nach dem Westen verschoben. Appell der Volkskammer an den Bonner Bundestag, alle Bemühungen zu unterstützen, »eine Konferenz zur Vorbereitung des Friedensvertrags mit Deutschland und der Wiederherstellung der deutschen Einheit einzuberufen, was voll und ganz dem Standpunkt der Sowjetregierung in dieser Frage entspricht«. Theaterdonner. »Und sonst?«

»Lästiges Zeug vom Bezirksgericht, wieder die Sache Erna Dorn.« Kodelwitz wedelte mißmutig über eine Anfrage hin. »Die Dorn schwindelt das Blaue vom Himmel. Oberrichter Brettmann will unsre Untersuchungsergebnisse zurückweisen, ein unerhörter Fall.«

»So was darf unter keinen Umständen einreißen.«

»Hab ich unseren Leuten auch gesagt. Der Vernehmer der Dorn ist ziemlich neu in dieser Funktion.«

»Wenn alle Stränge reißen, muß Wendler ran. Unsere Ermittlung muß sozusagen Gesetzeskraft erhalten, daran darf keiner rütteln dürfen, und ein Weichling wie Brettmann schon gar nicht.«

»Vielleicht ist die Dorn einfach übergeschnappt und spinnt.«

Pfefferkorn wußte: Wenn Häftlinge wochenlang zusammen auf Zelle lagen und der Gesprächsstoff ausging, begannen endlose Prahlereien. Bei Frauen am stärksten. Die eine behauptete, in Schlesien sechs Mietshäuser besessen zu haben, die andere, in Pommern eine Brikettfabrik. Und jede zwei Dienstmädchen. Männer, die fürs Ritterkreuz vorgeschlagen waren, fanden sich haufenweise – leider wäre das Kriegsende dazwischengekommen; der Führer hätte schon … Erna Dorn, Diebin und Betrügerin, zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, wollte im KZ Ravensbrück Aufseherin über drei Baracken gewesen sein.

»Ich hab mir die Dorn mal angesehen, Bruno, mickrig, nicht fürn Sechser hübsch, aber wilde Phantasie. Heute das, morgen das absolute Gegenteil. Dünne Beweislage voller Widersprüche. Drei verschiedene Geburtsorte in Ostpreußen.«

»Soll das Bezirksgericht seinen Mist selber ausbaden.« Die Richter dort hatten Punkte gegenüber dem mächtigen Leipzig sammeln wollen, die Pfeife Brettmann und der vor Ehrgeiz stinkende Holls. Keiner mit Augenmaß. Leipzig verdonnerte Fälscher von Lebensmittelkarten, daß die Schwarte krachte: Todesstrafe und zweimal lebenslänglich. Brettmann kriegte von allen Seiten Pfeffer: Der Klassenkampf verschärft sich gesetzmäßig, und was passiert bei dir? Erst versöhnlerisch, bürgerlich-formalistisch, plötzlich ultralinks. Brettmann, blasse Lusche, eventuell christlich angehaucht von seiner Frau. Aktenwissen – wenn seine Knochen auch schlappmachten, bestärkte sich Pfefferkorn, sein Gedächtnis war eisern, er kannte seine Pappenheimer bis zu den Saufgewohnheiten und Seitensprüngen. »Also, Wendler soll sich die Dorn noch mal vorknöpfen.«

Jetzt die Akte Schmolka. Die Bezirksleitung bohrte, drückte. Es war die Frage, und die Bezirksleitung »stellte sie scharf«, ob dieser Fall mit vergleichbaren Verbrechen gekoppelt zu einem Prozeß mit propagandistischer Wirkung ausgebaut werden oder ob Schmolka rasch und allein verknackt werden sollte, mit zwanzig gesiebten Zuhörern statt zweihundert. Zehn Jahre Zuchthaus oder zwölf. Besitzer einer Bauschlosserei mit dreißig Beschäftigten, zweckfremder Einsatz von Material, bei der Hausdurchsuchung siebzehn Gläser mit eingekochter Wurst, eine halbe Speckseite und drei Pfund Rohkaffee gefunden, acht Kartons Friedensseife, Anzugstoffe. In diesen Kreisen wusch immer eine Hand die andere. Hatte Arbeitskräfte und Material abgezweigt, um eine Pension im Harz in Schuß zu halten, dort machte er mit seiner Familie Urlaub. Im Kirchenvorstand, seine Kinder in der Jungen Gemeinde. Mal ansehen, den Burschen.

Kodelwitz telefonierte zum Untersuchungsgefängnis hinüber – ja, Schmolka werde gerade vernommen. Kodelwitz bestellte den Dienstwagen und gab als Ziel an: Steinstraße. Jedesmal, wenn Pfefferkorn durch die Schleuse fuhr, wenn das Tageslicht ausgesperrt wurde und es nach feuchter Mauer, Keller und Angst roch, überfiel ihn die Erinnerung, daß ihn die Nazis hier geprügelt hatten, bis die Haut platzte. Sie schleppten ihn nach Buchenwald, da baute Schmolkas Vater gerade seinen Betrieb aus, verdiente sich dumm und dämlich an der Rüstung, beschäftigte im Krieg Zwangsarbeiter. Darüber standen im Vernehmungsbericht nur Bruchstücke, das würde zum Part des Staatsanwalts gehören, zum politisch-moralischen Umfeld. Der Angeklagte als Leutnant im Afrika-Korps. Pfefferkorns frischentdeckter alter Kumpel zu dieser Zeit Bauarbeiter in der Organisation Todt, er hatte sich die Kaderunterlagen zustellen lassen. Mannschatz beim Bunkerbau in Norwegen, beim Reparieren von Brücken in der Ukraine. Er mußte alles wissen, ehe er ihn in die Veteranenkommission einbaute. Beide Söhne bei der Infanterie, der eine in Griechenland, der andere vor Leningrad gefallen. Niemand aus der Familie in der Waffen-SS. Mannschatz kurz in sowjetischer Gefangenschaft. Alles im üblichen Maß.

Als Pfefferkorn in den Vernehmerraum trat, hob Schmolka den Kopf. Pfefferkorn nickte seinem Genossen zu: Weitermachen. Er schaute scheinbar interessiert auf das beherrschende Stalinbild, der Führer des Weltproletariats im Soldatenmantel, im Hintergrund angreifende Panzer. Trauerflor um eine untere Ecke.

»Warum haben Sie Arbeitskräfte von Buna abgezogen?«

»Weil es dort kein Material gab. Die Bleche kamen nicht.«

»Das konnte doch nicht ewig dauern.«

Schmolka wendete den Blick zu Pfefferkorn, ohne Scheu, prüfend. Der Untersuchungsgefangene saß auf einem an die Wand geschraubten Schemel, die Hände vorschriftsmäßig flach auf den Oberschenkeln. Er steckte in einem Drillichanzug mit eingenähten gelben Streifen, das Haar war an den Seiten mit der Maschine geschnitten, oben blieb eine komische Bürste. Schmolkas Antworten klangen nicht wie von einem, der mit den Nerven am Ende war; fünf Monate Haft hatten ihn keineswegs zermürbt. Wenn sie ihn in ein paar Wochen vor Gericht stellten, würde er kein schlotterndes Häuflein Elend darstellen. Also Ausschluß der Öffentlichkeit.

»Ich hatte vier Leute dort, zwei ließ ich für Restarbeiten, die beiden anderen setzte ich zum Bahnhof Eisleben um. Dort sollte meine Firma Bahnsteigüberdachungen abbrechen.«

»Das ist nicht mehr Ihre Firma, Schmolka!«

»Damals war sie es, und wir reden von damals.«

»Werden Sie nicht frech, Schmolka!«

Diese Schärfe fand Pfefferkorn übertrieben, der Vernehmer wollte wohl Eindruck auf seinen Chef machen. Überall beim MfS waren zu junge Genossen am Werk, wenigstens verfügten einige über gewisse Erfahrungen bei der Kripo. Schmolka schwieg, und Pfefferkorn überlegte: Mit dem da konnte schwerlich ein Sündenbock für alle Mängel in der Schwerindustrie gefunden werden, er gab allenfalls ein Sündenböckchen ab, wenn Sindermanns schärfste Jungs bei der Berichterstattung kräftig draufsattelten. Pfefferkorn nahm einen stärker werdenden Geruch wahr – Fäkalien und Chlor, in einem der Stockwerke über ihm wurde gekübelt: Die Häftlinge trugen ihre Eimer zu einer Zelle am Ende des Gangs, dort kippten sie aus, spülten mit Wasser nach, füllten Chlorkalk ein, blankes Mittelalter. Das kannte er: Wer zuwenig Chlor einlöffelte, hatte den Scheißegestank um die Nase, bei zuviel blubberte das Gas unter dem Deckel hoch. Das richtige Maß fand ein Häftling erst nach Wochen. Der Antrag, wenigstens einen Flügel auf Wasserspülung umzubauen, war gerade erst wieder abgelehnt worden – Überbelegung und zu hohe Kosten, im nächsten Plan vielleicht.

»Wie war das mit dem Verschieben von Lötzinn nach Westberlin durch Ihre Leute?«

»Davon weiß ich nichts, und ich halte es auch für unwahrscheinlich. Die Zuteilung war zuletzt so minimal, daß die Kontrolle leicht fiel.«

»Und Sie selber?«

Schmolka schwieg, legte den Kopf schief, lächelte.

»Ihnen wird das Lachen noch vergehen, Schmolka!«

»Ist schon weitgehend.«

»Also raus mit der Sprache!«

Schmolka war seine Klitsche los, dazu reichte es immer. Ein Ausbeuter weniger, Prozeß ohne Schmiß und Eleganz. Wahrscheinlich mußte die halbe Speckseite doch noch herhalten. Pfefferkorn wünschte sich einen schurkischen Angeklagten, einen wuchtigen Vernehmer und ein knalliges Verbrechen, eine runde große Sauerei. Die Firma würde einem volkseigenen Betrieb angegliedert, das Wohnhaus enteignet, die Frau haute mit ihren Kindern nach dem Westen ab – Routine.

Nach einer halben Stunde ging Pfefferkorn leise hinaus. Von seiner Dienststelle aus rief er daheim an – Thekla saß längst vor ihren Büchern. Die Bezirksparteischule experimentierte mit einem häuslichen Studientag, schwierig für alle, die noch nicht gelernt hatten, wie man ihn nutzte. »Guten Morgen, großer Genosse!« rief sie, »und herzliche Grüße von der wissenschaftlichen Front!« Sie lese im »Antidühring« von Engels ein paar Stellen, die von der Schulleitung nicht zur Lektüre ausgewählt worden seien, und finde sie spannend. Verzettele dich nur nicht, wollte er ihr raten und behielt es für sich. Sein Tag sei noch lang, ja, er sei herzlich einverstanden, wenn sie am Abend seine Mutter besuchte. Er käme diese Woche bestimmt nicht mehr dazu. Und frohes Schaffen!

Kodelwitz war fort zu einer Kreisdienststelle, den Terminplan hatte er ergänzt: Bei Wettin war ein Hetzballon niedergegangen. Die Sekretärin wußte mehr: Er war in einer Starkstromleitung hängengeblieben, Gefahr von Kurzschluß und Waldbrand bestand. Außerdem: Der Genosse Oberstleutnant möge in Ammendorf nachfragen, was in einer Entwicklungsabteilung passiert war – Drohung mit Streik, sollte das Betriebsessen nicht besser werden. Neuerdings nahm das Wort »Streik« überhand – begriff denn niemand, daß es in eine überwundene Epoche gehörte? Ermitteln, in welchem Maße dort ehemalige Nazis oder Offiziere konzentriert waren. In Merseburg stockte die Kartoffelversorgung, wer nicht reichlich eingekellert hatte, stand hungrig da. Es wurde verdammt Zeit, daß das erste Frühgemüse in die Läden kam. Wozu war er eigentlich da, Mädchen für alles? Wenn er sämtliche Leiter für Versorgung vor den Kadi brachte, wuchs deshalb kein einziges Radieschen zusätzlich.

Der Ballon, den ihm der Leiter der Kreisdienststelle vorführte, hatte einen Durchmesser von knapp einem Meter und trug eine Vorrichtung, die nacheinander bis zu zweihundert Flugblätter ausklinken konnte. Die Mechanik – Bastelarbeit. Der Text sprach von Druck auf Mittel- und Großbauern. Die Versorgung mit Saatgut in der Zone werde von Jahr zu Jahr miserabler. Neuerdings gelte die Anweisung, jede Fläche mit irgendeiner Frucht zu bestellen ohne Rücksicht auf Bedarf oder Versorgungsplan – das stimmte, leider. Überall ginge die Milchleistung zurück. Stimmte auch. Karikaturen von Ulbricht und Grotewohl wie üblich. Ein Bauer aus dem Harzvorland, jetzt in Schleswig-Holstein, gab seinen Namen für einen Artikel her, der unmöglich aus der eigenen Pfote stammen konnte: SED-Funktionäre hätten ihn zur Verzweiflung getrieben, weil er sich nicht in die LPG habe pressen lassen, sein Ablieferungssoll sei unerträglich hochgetrieben worden, bis ihm keine Luft mehr blieb. Roter Terror, selbst seine Kinder … Pfefferkorn riet, den Ballon in einem Schaufenster auszustellen, Erläuterungen dazu: Um ein Haar sei er aufs Dach eines Kindergartens gefallen. Vor nichts schreckten die Kriegstreiber zurück – etwa in diesem Sinne. »Macht was draus, Genossen!«

Jetzt noch einen Besuch? Es mußte nicht bei jedem Gespräch etwas Konkretes herauskommen. Pfefferkorn ließ am Haus von Mannschatz vorbeifahren und wenden; hundert Meter entfernt sollte der Genosse Fahrer warten. Doppelte Konspiration, sein Berater schärfte ihm das immerzu ein. Keine Kumpanei mit dem Fahrer! Sie waren per du, das ließ sich nicht rückgängig machen. Die sowjetischen Genossen lebten derlei vor: Einem Offizier, der zum Bahnhof ging, trug ein kurz geschorener Muschik mit zwei Schritten Abstand den Sperrholzkoffer hinterher.

Die Gartentür stand offen, Pfefferkorn ging langsam an der Giebelseite entlang. Vom Sitzen im Auto waren seine Beinmuskeln schlaff geworden, er »eierte«, ein Begriff aus der Kindheit. Ein etwa achtjähriger Junge hockte an einem Sandplatz, Mannschatz kratzte Farbreste von einer Schuppentür. Jetzt, im fleckigen Hemd, das dünne Haar wirr, erschien er älter und verbrauchter als beim Wiedersehen in Halle.

»Das ist aber mal ’ne Überraschung!«

»Die Seele meines Berufs, Alfred.«

Mannschatz legte die Drahtbürste weg und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Wird Zeit, daß alles wieder bißchen Farbe kriegt.«

»Hast du genug?«

»Man muß sich kümmern.«

Pfefferkorn schaute sich um: Kaninchenstall mit gut einem Dutzend Boxen, Hühner in einem Drahtkäfig.

»Gehn wir rein, Bruno?«

»Ist doch hübsch draußen.« Stühle um einen Gartentisch, SPD wie aus dem Bilderbuch – er würde jede Bemerkung in diese Richtung vermeiden. Mannschatz wolle Kissen holen. Und was zu trinken. Stachelbeerwein? Nach ein paar Minuten war er mit einem Tablett wieder da, hatte eine Drillichjacke übergezogen. Unterdessen fragte Pfefferkorn den Jungen, wie er heiße und in welche Klasse er gehe. Etwas anderes fiel ihm bei Kindern selten ein. Thomas, aha, schöner Name. Der Junge machte sich hinters Haus davon.

Mannschatz goß ein, der Wein schimmerte tief dunkel. Seine Frau habe Spätschicht in ihrer Betriebsküche, Tochter und Schwiegersohn müßten bald kommen. Ja, seine Tochter habe bei der Reichsbahn gelernt von der Pike auf. Reichsbahn sei wie eine Familie, dort gäbe es nicht diese Fluktuation wie in der Industrie neuerdings. Und kaum Republikflucht. Stachelbeerwein hätte er letztes Jahr soviel angesetzt, wie er Flaschen auftreiben konnte. »Prost, Meiner! Hast in der Nähe zu tun?«

»Das auch.« Pfefferkorn bot Zigaretten an, diesmal aus normaler Schachtel. Er hätte Schnaps mitbringen können, hätte womöglich großkotzig gewirkt. »Vor allem will ich dich wiedersehen. Nicht immer im Dienst stecken mit immer den gleichen Problemen. Schmeckt, dein Wein.«

»Und geht in die Birne.«

»Wie bist du denn durch den Krieg gekommen?«

Zur Organisation Todt sei Mannschatz ab 1943 gezogen worden; soviel wußte Pfefferkorn. Vorher unabkömmlich im Betrieb. Danach kurze Zeit in sowjetischer Gefangenschaft, ein paar Wochen in der Tschechoslowakei. Und wo im Einsatz? Norwegen, Ukraine, Bau und Reparatur von Brücken. Auch die Organisation Todt war zur Partisanenbekämpfung herangezogen worden, zumindest hatte sie ihre Baustellen bewacht und verteidigt. So war es bei neunzig Prozent aller Genossen in diesem Alter – kein Lebenslauf ohne Flecken, das Klassenbewußtsein versaut. »Hab wegen deiner Kur angefragt.« Das stimmte nicht, er würde es nächste Woche nachholen. »Wäre was für dich, Alfred, Mitarbeit in der Veteranenkommission.«

»Ehrlich, Bruno, bei uns in Bitterfeld sind da nur Genossen aus der KP drin.«

»Ist grundsätzlich nicht so, kann ja gar nicht. Vielleicht drängt sich niemand sonst zu dieser Arbeit? Mir ist inzwischen einiges eingefallen. Wir lagen damals noch eine ganze Weile auf diesem Damm. Drüben zog die Sipo auf in Schützenkette, und wir hatten fast keine Munition mehr. Du hast mir ’nen Patronenrahmen zugeworfen.«

»Ich denk kaum noch an die alten Geschichten. Der Aufstand war von Anfang an falsch, wir mußten schließlich verlieren. Hunderte Tote, ein paar tausend Jahre Zuchthaus. Ich bin ja mit ’nem blauen Auge davongekommen.«

»Mit deinen Patronen hab ich mir den Weg freigeschossen. Sonst hätten sie mich totgeschlagen.«

»Dann sind wir ja quitt.«

»Unsere große Zeit, Alfred.«

Ein Mann in einem Schlosseranzug schob sein Fahrrad in den Gang. Mannschatz stellte vor: Hartmut Brükken, der Schwiegersohn, frischgebackener Meister. »Ach Scheiße«, sagte Brücken, »den Titel kannste dir an den Hut stecken.« Der Genosse Pfefferkorn aus Halle – aha, sein Schwiegervater habe von der Zusammenkunft neulich erzählt. Brücken stellte sein Fahrrad ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Mannschatz fragte: »Wie war’s heute?«

»Wenn wir so weitermachen, ist der Plan gleich wieder im Eimer.«

Pfefferkorn: »Welcher Plan und warum?«

»Wir bauen ’ne Rohrbrücke, das heißt, wir sollen sie bauen. Aber die meisten Zeichnungen sind Pfusch. Ich hab noch nie so ’ne Hektik erlebt.« An diesem Wort klebte Brücken: Hektik, als ob damit irgend etwas schneller ginge, Hektik in der Planung und ohne Sicherheit beim Material, Hektik in der Werkleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung dort hätte der Vorsitzende den Krempel hingeschmissen. Natürlich diente nun die Gewerkschaft als Sündenbock.

Pfefferkorn: »Und warum haust du nicht auf den Tisch?«

»Da hauen schon viel zu viele auf zu viele Tische. Wir brauchen Ruhe und Material, das isses.«

Ein Kerl wie ein Baum, fand Pfefferkorn, der konnte von Glück reden, daß ihn die Waffen-SS nicht geschnappt hatte. Vielleicht hatte sie ihn zu keilen versucht, aber ein Arbeiterjunge meldete sich freiwillig weder dorthin noch zur Marine oder den Fallschirmjägern, sondern ließ sich einziehen. Helle Augen, die den Gesprächspartner nicht losließen. Schnelle Sprechweise. So einer gehörte ins Studium, mußte die bürgerliche Intelligenz ersetzen. Wenn Thekla so einen kennenlernte – dieser Gedanke war neu, Pfefferkorn versuchte nachzuspüren, inwieweit er quälte oder zur Beschwichtigung einlud: So war der Lauf der Welt. Warum sollte es nicht funken, wenn ihr so einer über den Weg lief. Das wäre nicht fremdgehen im landläufigen Sinne, sondern Ausgleich für Opfer, Belohnung für Opfer, er müßte es schaffen, solch eine Situation, sollte sie eintreten, von außen zu sehen, schön, schlecht, schönschlecht. Kein Thema für heute, ein Problem hoffentlich nie. Pfefferkorn überlegte, wie lange er noch bleiben sollte. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand trat an den Tisch. »Meine Tochter Clara mit dem sonnigen Enkelkind.« Mannschatz beugte sich hinab, flüsterte: »Bienchen, Bienchen« und ließ ein Summen folgen. Eine hübsche, gesunde, fröhliche Frau – Pfefferkorn fühlte ein Stechen in der Brust wie stets, wenn er an seine Tochter und die beiden Enkelinnen erinnert wurde, ums Leben gekommen bei einem Bombenangriff auf Dessau.

Thomas kam hinzu und quengelte, sein Vater habe ihm versprochen, ihn auf dem Fahrrad um die Siedlung zu fahren – wann denn endlich? Jaja, nach dem Abendbrot. »Das hast du schon gestern gesagt!« Clara verzog sich mit den Kindern – jetzt aber ab in die Wanne, ihr Ferkelchen! Pfefferkorn tat überrascht, er müsse los und wolle den Familienbetrieb hier keinesfalls aufhalten. Brücken schenkte sich noch einmal Obstwein ein und blieb bei seinem Bild: Der ganze Betrieb voller Tische, an denen unentwegt und immerfort entschieden wurde, und niemand ahnte oder wollte auch nur wissen, wie es an den Nachbartischen zuging. Keinen treffe irgendeine Schuld außer der Gewerkschaft und natürlich dem Schuft von Dispatcher, der angeblich die geheimsten Papiere mitgenommen hatte. Und ihn an der Rohrbrükke beiße jeder irgendwie zuständige Hund.

»Gute Formulierung«, lobte Pfefferkorn.

»Müßtest Hartmut mal in seiner Brigade erleben, wenn er in Fahrt kommt.«

»Und nichts ändert.«

Pfefferkorn bedankte sich für Wein und Gesang und überlegte, ob es großkotzig wirken würde, wenn er die halbvolle Packung liegen ließe. Er nahm noch zwei Zigaretten heraus und steckte sie in die obere Jackettasche. Also auf, Genossen, der Tag sei für ihn noch nicht vorbei.

Mannschatz ging mit zur Pforte. Genossen wie sein Schwiegersohn würden überall gebraucht, versicherte Pfefferkorn, in jedem Betrieb, jeder Verwaltung, bei der Kasernierten Polizei. Hartmut sei nicht in der Partei, sagte Mannschatz, und Pfefferkorn erwiderte, das ließe sich ändern. Mann, diese Perspektiven, nie war es der Jugend so leicht gemacht worden!

Familie wie aus dem DDR-Bilderbuch, fand Pfefferkorn während der Rückfahrt, natürlich nicht ohne verquere Vergangenheit. Vor zehn Jahren stand Mannschatz Wache an einer Brücke gegen die Partisanen, seine Söhne waren Soldat oder schon tot. Clara lernte bei der Reichsbahn unter der Parole, Räder müßten rollen für den Sieg. Er selbst im KZ bei der Produktion von Karabinern 98k als Vorarbeiter von Serben, Griechen und rumänischen Juden. Als Funktionshäftling mußte er sich keine Glatze schneiden lassen. Den Karabiner, den Mannschatz an der Schulter trug, hatte er als Kontrolleur abgenommen. Die Waffe war erstklassig, keineswegs hatte ein Häftling sabotierend den Schlagbolzen abgebrochen, wie er es neulich in einer Erzählung gelesen hatte. Tja, die jungen Genossen Dichter.

Wieder Schmerzen in den Beinen. Zwei Stunden lang heute abend noch eine Beratung mit den führenden Genossen des Bezirks, Sindermanns berühmtes Referat über die Lage. Vielleicht schoß er selber ein paar Spitzen gegen Richter Brettmann ab, lobte strategisch geschickt den Stellvertreter Holls. Dann daheim endlich die Treppen hoch. Thekla. Er sollte umziehen irgendwohin ins Parterre. Was in drei, in zehn Jahren?

Bremsspuren

1

Gestank drang beißender als am Vortag über die Bahngleise, da hatte der Wind auch aus dieser Richtung geweht; vielleicht war es wärmer geworden. Ammoniak dominierte, gefolgt von Chlor, etwas wie verfaultes Weißkraut war eingemischt; Erbsen schienen auf glühender Herdplatte zu schwelen. Noch tränten die Augen nicht, das würde im hohen Sommer kommen. Niemand wußte, aus welcher Mistbude das Giftzeug herantrieb, wahrscheinlich nicht einmal der große Genosse, der kürzlich daheim im Garten gesessen hatte, Vaters neuer alter Freund.

Clara Brücken war wie immer zehn Minuten vor Schichtwechsel im Büro; Hemsberger hielt es genauso. Es war besser, den Dienst mit ein paar erklärenden Worten zu übergeben, als die Kladden kalt über den Tisch zu schieben. Sechs Waggons mit Zement galten als überfällig, berichtete der Kollege, den Papieren nach müßten sie auf der Strecke sein. Ziel: Rummelsburg, Nachschub für die berühmte Stalinallee. Keine Auskunft von irgendwoher. Die Forderung der Bezirksdirektion, verstärkt Schwerlastzüge zusammenzustellen, ginge ihm allmählich auf den Senkel. Wieder ’ne Neuerung, für die einer fette Prämien einsacken wollte, im Grunde Stuß. Da blähten sie aus einem Verkehrsministerium drei, den großen Chefs wurde angekreidet, sie zeigten zu wenig Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse. »Zeitung gelesen?«

Woher nahm Hemsberger nach einer langen Nacht die Kraft zu solchem Palaver? Wahrscheinlich aus seiner Wut. Clara zuckte die Schultern.

»Jetzt diese Fahrpreiserhöhung. Heute morgen gab’s an den Schaltern den ersten Krach.«

Clara Brücken fragte sich, was in Hemsberger überwiegen mochte, Mitleid mit Schichtarbeitern und Schülern, deren Dauerkarten teurer werden sollten, oder die Häme, daß wieder etwas in der DDR nicht klappte oder sich verschlechterte. Hemsberger war im Krieg Oberleutnant gewesen, sie wunderte sich seit langem, daß er nicht nach dem Westen abhaute. »Bißchen viel auf einmal.« Was sollte sie sonst sagen.

»Kommt alles von den Russen.« Seine Kollegin tat ihm fast leid. Astreine Arbeiterfamilie, die Hübsche nicht in der SED, das hielt er für eine Frage der Zeit. Ein wenig hinterhältige Agitation, die Verlockung, auf der Rangleiter eine Sprosse nach oben zu steigen, und sie unterschrieb. Marschierte auf Lehrgang, zog an ihm vorbei. »Viel Feind, viel Ehr.« Was brachte das, es gab keinen Grund, sie zu ärgern, und er sollte sich nicht dauernd aus dem Fenster lehnen. Der Ratschlag in Westberlin neulich war bedenkenswert gewesen, in die Nationaldemokratische Partei einzutreten, den Reuigen zu mimen, der am Aufbau teilhaben wollte: Nie wieder faschistischer Raubkrieg! Also zurück zur Praxis: Die Zementwaggons waren vielleicht wie letztens in Dessau hängengeblieben. Ende. Er habe ein paar Tage frei und denke nicht daran, irgendwelchen Frust mitzuschleppen. »Ich fahr hoch zu meinem Bruder. Haben Sie mal Nutriafleisch gegessen? Hochfein!«

»Viel Spaß, Kollege.«

»Danke.« Hemsberger schaute noch zwei Minuten aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Hofes wurde ein Haufen immer niedriger: Jeder der Helden vom Gleisbau nahm nach der Schicht vier oder sechs Briketts mit, ehe sie hier zu Grus zerfielen. Dieser Spruch war neu und großartig: Wer nicht stiehlt, bestiehlt seine Familie.

Hemsberger ließ sich eine Dienstfahrkarte bis Oranienburg ausstellen, über Berlin hinaus also. Vor der Elbbrücke bei Wittenberg zockelte der Zug so langsam, daß es möglich war, auf dem Kasernengelände der Sowjets die Zahl der abgestellten Pontons, Lastautos aus amerikanischer und eigener Produktion, Jeeps und Schützenpanzer zu schätzen. Mehr Schrottplatz als militärisches Objekt. Aber den Krieg hatten die Russen schließlich gewonnen.